Traumfrau gesucht! (11-teilige Serie)

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Ein Millionär am Ende seiner Tage möchte all seine Söhne glücklich sehen und spielt Amor …

Folgende Romane der 11-teiligen Serie sind in diesem E-Book-Paket enthalten:

  • Heirat - nicht nur aus Liebe? – von Lois Faye Dyer
  • Ein Millionär entdeckt die Liebe – von Christine Flynn
  • Bitte sag Ja zur Liebe – von Patricia Kay,
  • Milliardär sucht Braut – von Allison Leigh,
  • Wie ein Wirbelwind in meinem Herzen – von Allison Leigh
  • Ich wünsch mir einen Kuss von dir – von Christine Flynn
  • Ein Womanizer fürs Leben? – von Lois Faye Dyer
  • Happy End mit Mr. Prince? – von Patricia Kay
  • Nur du bist meine Welt – von Patricia Kay
  • Weihnachtswunder in Port Orchard – von Christine Flynn
  • Es war einmal am Valentinstag ... – von Allison Leigh



  • Erscheinungstag 10.03.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751513999
  • Seitenanzahl 1760
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Lois Faye Dyer, Christine Flynn, Patricia Kay, Allison Leigh

Traumfrau gesucht! (11-teilige Serie)

IMPRESSUM

Heirat - nicht nur aus Liebe? erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2007 by Louis Faye Dyer
Originaltitel: „The Princess and the Cowboy“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA
Band 1701 - 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Stefanie Rudolph

Umschlagsmotive: GettyImages

Veröffentlicht im ePub Format in 07/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733717797

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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PROLOG

Mit dem Billardqueue in der Hand lehnte Justin Hunt lässig am Bücherregal, das mit ledergebundenen Shakespeare-Ausgaben gefüllt war. Zu verwaschenen Jeans trug er staubige schwarze Cowboystiefel, sein Stetson lag auf einem der Ledersessel. Es war die Arbeitskleidung, die er auf seiner Ranch in Idaho immer trug – schließlich hatte er nicht ahnen können, dass er ohne Vorwarnung zu einem dringenden Familientreffen in Seattle gerufen werden würde. Es war über einen Monat her, seit er und seine drei Brüder sich hier getroffen hatten – in der Nacht, als ihr Vater einen Herzinfarkt erlitten hatte.

„Verflixt, ich bin ganz schön aus der Übung“, stöhnte Gray, als er zum wiederholten Mal einen Stoß verfehlte. „Du bist dran, Justin.“

Justin stieß sich von der Bücherwand ab und ging langsam um den Billardtisch herum, um die Lage der restlichen Kugeln zu prüfen. Der ganze Raum war hell erleuchtet. Direkt über dem Tisch funkelte eine Tiffanylampe, zwischen den Bücherregalen hingen Wandleuchten, auf Beistelltischen neben den Sesseln standen Stehlampen.

Den hinteren Teil des Raums nahm Harrison Hunts imposanter Mahagonischreibtisch ein, der durch in die Decke eingelassene Strahler ins rechte Licht gesetzt wurde. Vom Chefsessel aus konnte man durch die Panoramafenster auf den privaten Strand am Lake Washington hinunterblicken. Dahinter ragte die Skyline von Seattle empor.

Justin brachte sein Queue in Position. Die luxuriöse Umgebung nahm er schon gar nicht mehr wahr. Sein Vater hatte den Billardtisch in der Bibliothek aufstellen lassen, als seine Söhne Teenager gewesen waren. Als Folge hatten sich die vier Jungs dort oft aufgehalten, wenn ihr Vater von zu Hause aus gearbeitet hatte. Zu einer engeren Vater-Söhne-Bindung hatte es deshalb trotzdem nicht geführt.

„Weiß eigentlich jemand, warum uns der alte Herr herbestellt hat?“, fragte er, während er die nächste Kugel versenkte.

Gray, der mit zweiundvierzig der älteste der vier Brüder war, zuckte die Achseln. „Er hat nichts dazu sagen wollen.“

„Harry hat dich höchstpersönlich zu sich zitiert? Mich auch.“ Alex, mit sechsunddreißig nur zwei Jahre älter als Justin, hatte es sich in einem der Ledersessel bequem gemacht. Er prostete mit seiner halb leeren Bierflasche dem zweitältesten Bruder zu, der ihm gegenübersaß. „Und was ist mit dir, J.T.? Hat dich Harry auch mit einem persönlichen Anruf beehrt?“

J.T. gähnte und rieb sich die Augen. „Allerdings. Ich habe ihm erklärt, dass ich in Neu-Delhi für den Rest der Woche alle Termine absagen und für den Hin- und Rückflug jeweils einen Tag im Flugzeug verbringen muss. Aber er hat darauf bestanden, dass ich trotzdem komme. Und bei dir, Justin?“

„Dasselbe. Ich war auf der Ranch. Er wollte unbedingt, dass ich sofort komme, hat aber nicht gesagt, warum es so eilig ist.“

Wie aufs Stichwort öffnete sich die Tür, und ihr Vater kam herein. Harrison Hunt war wie alle seine Söhne groß und schlank. In seinem schwarzen Haar zeigten sich nur vereinzelt silberne Strähnen. Die Hornbrille betonte noch den Ausdruck von Intelligenz, der in seinen blauen Augen lag. Dies war der Mann, der die Programmiersprachen und die Computersoftware entwickelt hatte, mit der HuntCom zum Marktführer geworden war. Dass er erst kürzlich einen Herzinfarkt überstanden hatte, merkte man ihm nicht im Geringsten an.

„Ah, da seid ihr ja alle. Hervorragend.“ Harry ging mit entschlossenen Schritten auf seinen Schreibtisch zu und setzte sich. „Kommt her, Jungs.“

Justin legte das Queue auf den Billardtisch, setzte seinen Stetson auf und zog ihn tief ins Gesicht. Obwohl vor dem Schreibtisch vier Stühle aufgereiht waren, zogen es alle vier Brüder vor, stehen zu bleiben.

Mit den Daumen in den Taschen seiner Jeans lehnte sich Justin an die Wand, sodass er sich ganz am Rande des Blickfelds seines Vaters befand.

„Warum setzt du dich nicht?“, fragte Harry ihn stirnrunzelnd.

„Danke, ich stehe lieber.“

Harry ließ den Blick über die anderen schweifen. Gray stützte sich auf einen der Stühle, Alex lehnte an der anderen Wand, und J.T. stand hinter dem Sideboard, das den Lesebereich vom Arbeitsbereich trennte.

Ungeduldig zuckte Harry die Achseln. „Wie ihr wollt. Ob ihr sitzt oder steht macht keinen Unterschied. Das Ergebnis des Treffens wird dasselbe sein.“

Er räusperte sich. „Seit meinem Zusammenbruch habe ich eine Menge über diese Familie nachgedacht. Bisher hat es mich nicht weiter gestört, dass ihr keine Anstalten macht, die Zukunft unseres Familiennamens zu sichern. Aber ich hätte an dem Herzinfarkt sterben können – ich kann jeden Augenblick sterben.“

Harry legte die Hände auf den Schreibtisch und erhob sich. „Und mir ist klar geworden, dass ihr vier nie freiwillig heiraten werdet – was bedeutet, dass ich keine Enkelkinder bekomme. Doch der Name Hunt darf mit euch nicht aussterben. Ich werde die Zukunft unserer Familie nicht länger dem Zufall überlassen. Ich gebe euch ein Jahr. Am Ende dieses Jahres wird nicht nur jeder von euch verheiratet sein, sondern auch ein Kind haben oder zumindest mit seiner Frau eins erwarten.“

Verblüfftes Schweigen breitete sich aus.

„Klar“, murmelte J.T. schließlich ironisch.

Justin unterdrückte ein Lachen und tauschte einen Blick mit Gray, der ebenfalls Mühe hatte, ernst zu bleiben. Alex hob nur eine Augenbraue und nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche.

„Wenn nur einer von euch sich weigert“, fügte Harry hinzu, als hätte er ihre Reaktionen gar nicht bemerkt, „werden alle von euch ihre Positionen bei HuntCom verlieren. Und damit auch die Sonderrechte, die euch so viel bedeuten.“

Justin erstarrte. Wie bitte?

Auch Gray wirkte schlagartig ernüchtert. „Das kann nicht dein Ernst sein.“

„Das ist mein voller Ernst.“

„Bei allem Respekt, Harry“, bemerkte J.T., „wie willst du denn die Firma ohne uns führen? Ich bin gerade mit dem Ausbau von drei Niederlassungen gleichzeitig beschäftigt: hier in Seattle, in Jansen und in Neu-Delhi. Wenn ein anderer Architekt die Bauleitung übernimmt, wird es Monate dauern, bis er auf dem Laufenden ist. Die Verzögerung würde HuntCom ein Vermögen kosten.“

„Das spielt dann keine Rolle mehr: Wenn ihr vier euch weigert, werde ich HuntCom nämlich verkaufen. In Stücken, wenn es sein muss. Dann gibt es keinen Neubau in Delhi. Und Hurricane Island ist auch Geschichte.“

Harry ließ den Blick von J.T. zu Justin wandern. „Natürlich würde ich auch die HuntCom-Anteile an der Ranch in Idaho verkaufen.“ Er sah Alex an. „Außerdem würde ich die Stiftung schließen.“ Zuletzt betrachtete er Gray. „Und wenn es keine Firma mehr gibt, braucht sie auch keinen Vorsitzenden mehr.“

„Das ist doch verrückt“, sagte Alex. „Was willst du damit denn erreichen?“

„Dass ihr alle eine Familie gegründet habt, bevor ich sterbe“, erwiderte Harry prompt. „Und zwar mit einer Frau, die eine gute Ehefrau und Mutter ist. Cornelia wird sich eure Auserwählten vorher ansehen.“

„Tante Cornelia weiß Bescheid?“ Justin konnte kaum glauben, dass seine „Tante“, die Witwe von Harrys bestem Freund, in diesen irrwitzigen Plan eingeweiht war.

„Noch nicht.“

Erleichtert atmete er auf. Cornelia würde Harry diese Schnapsidee sicher ausreden. Sie war die Einzige, auf die er überhaupt hörte. Zumindest manchmal.

„Also noch mal zum Mitschreiben“, sagte Justin langsam. „Nur um sicher zu sein, dass ich das richtig verstanden habe. Jeder von uns muss sich bereit erklären, innerhalb eines Jahres zu heiraten und ein Kind zu bekommen …“

„Ihr müsst euch alle dazu bereit erklären“, unterbrach ihn Harry. „Alle vier. Wenn einer sich weigert, verlieren alle. In dem Fall könnt ihr euch von eurem bisherigen Leben mit den Jobs bei HuntCom verabschieden.“

Justin ignorierte Harrys Einwurf und die entrüsteten Kommentare seiner Brüder und fuhr fort: „… und die Frauen müssen alle Tante Cornelias Zustimmung finden.“

Harry nickte. „Sie ist eine kluge Frau. Sie wird erkennen, ob eure Kandidatinnen sich für die Ehe eignen. Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen: Ihr dürft ihnen nicht verraten, dass ihr reich seid. Oder dass ihr meine Söhne seid. Ich will keine Schwiegertochter, die nur aufs Geld aus sind. Auf solche Frauen bin ich schließlich selbst immer reingefallen. Meine Fehler braucht ihr nun wirklich nicht nachzumachen.“ Er atmete tief durch und setzte etwas ruhiger hinzu: „Ihr habt jetzt Zeit, darüber nachzudenken, und zwar genau bis in drei Tagen um Punkt acht Uhr abends – keine Minute später. Wenn ich bis dahin nichts von euch gehört habe, werde ich meine Anwälte anweisen, nach Käufern für die HuntCom-Unternehmen zu suchen.“

Er stand auf, trat hinter dem Schreibtisch hervor und ging hinaus, ohne sich noch einmal umzuschauen.

Sprachlos starrten die vier Brüder zur Tür, die sich leise hinter ihrem Vater schloss. In ihren Gesichtern spiegelten sich ihr Ärger und ihre Ungläubigkeit.

„So ein Mistkerl“, sagte Justin nach einer Weile leise. „Ich glaube, er meint es wirklich ernst.“

1. KAPITEL

Lily Spencer stand in der Küche ihres Stadthauses und las bei einer Tasse grünen Tees die Zeitung, die sie auf der weißen Marmorarbeitsplatte ausgebreitet hatte. Die frühe Morgensonne fiel durchs Fenster hinter ihr, und sie genoss die friedlichen, ruhigen Momente, bevor ihre Tochter aufwachte. Den Wirtschaftsteil überflog sie und blätterte weiter zur Lokalseite der Seattle Times, auf der ihr das Bild eines Joggers am Lake Green auffiel.

Lily hielt den Atem an und ließ die Tasse sinken. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie, die Gesichtszüge des Mannes zu erkennen, der den Kopf halb abgewandt hatte. Trotzdem wusste sie instinktiv, dass es sich um Justin Hunt handelte. Auf dem Foto trug er ein graues Achselshirt mit dem Logo der Universität von Washington und schwarze Shorts, sodass seine kräftigen Arm- und Beinmuskeln zu sehen waren. Seine gebräunte Haut glänzte vor Schweiß.

Stirnrunzelnd las Lily die Bildunterschrift, die ihren ersten Eindruck bestätigte. Der Jogger war tatsächlich Justin Hunt, der sich wegen eines Termins in Seattle aufhielt. Der Reporter spekulierte, dass es sich um eine wichtige Familienangelegenheit handeln müsse, da alle vier Brüder in den letzten vierundzwanzig Stunden in der Stadt gesehen worden waren.

Lily beugte sich über die Zeitung und strich mit den Fingerspitzen über das Foto. Als sie bemerkte, was sie da tat, presste sie die Lippen aufeinander und richtete sich hastig auf.

Er ist also wieder in der Stadt. Na und?

Nach der Trennung von Justin hatte sie den Lake Green zum Joggen gemieden. Der breite Sandweg, der um den ganzen See herumführte, war zwar ihre Lieblingsstrecke gewesen, aber sie wollte nicht das Risiko eingehen, Justin dort wiederzusehen – weder allein noch mit einer anderen Frau.

Und mittlerweile kam sie sowieso nur noch selten zum Joggen.

Aus dem Babyfon neben dem Toaster ertönte eine verschlafene Stimme. Lily schaute auf die Armbanduhr und lächelte. Pünktlich wie immer, dachte sie.

„Mama. Mama“, hörte sie Ava rufen.

Sie faltete die Zeitung zusammen und ging nach oben. Glücklich strahlte Ava sie an und streckte die Ärmchen nach ihr aus.

„Guten Morgen, meine Süße. Hast du gut geschlafen?“ Sie hob ihre Tochter aus dem Bettchen und drückte sie an sich.

Ava antwortete mit einer Lautfolge, aus der immer wieder „Mama“ herauszuhören war. Selig lachte die Kleine, als Lily ihre Nase an ihrer Wange rieb.

Lily trug Ava in die Küche, setzte sie in den Hochstuhl und schüttete eine Handvoll Kindercornflakes auf das Tablett. Ava pickte sie sorgfältig nacheinander auf und steckte sie in den Mund, während Lily das Wasser für den Brei aufsetzte.

Justin braucht dich nicht zu kümmern, dachte sie dabei. Wahrscheinlich war er nur wegen eines geschäftlichen Treffens in der Stadt – und genauso schnell wäre er wieder verschwunden.

Trotzdem nahm sie die Zeitung und warf sie entschlossen ins Altpapier. So würde sie das Foto am schnellsten vergessen. Und Justin Hunt gleich dazu.

Vierundzwanzig Stunden nach dem Treffen mit Harry verließ Justin Cornelias Haus in Queen Anne, einem Vorort von Seattle. Auf dem Rückweg ließ er per Handy eine Konferenzschaltung zu seinen Brüdern aufbauen. Seine Unterhaltung mit Cornelia hatte ihn davon überzeugt, dass Harry seine Drohung, die Firma zu verkaufen, womöglich wahr machen würde.

Auch Cornelia war Harrys seltsames Verhalten seit dem Herzinfarkt aufgefallen, und sie machte sich Sorgen. Sie hatte erzählt, dass er ungewöhnlich nachdenklich sei und ihr gegenüber mehrmals bemerkt habe, dass er sich Enkel wünsche. Es kam ihr so vor, als wolle er all seine Fehler wiedergutmachen – als wolle er seine finanziellen und familiären Angelegenheiten ordnen, um in Frieden aus dem Leben treten zu können.

Justin hielt es für eher unwahrscheinlich, dass Harry sterben würde – dafür war der alte Herr viel zu stur. Cornelia gegenüber äußerte er diesen Gedanken natürlich nicht. Sie war eine der wenigen Frauen, die er aus tiefstem Herzen respektierte, und außerdem stand sie Harry wirklich nahe. Aber schließlich waren die beiden bereits miteinander aufgewachsen und kannten sich seit einer Ewigkeit.

„Justin? Was ist los?“, ertönte Grays Stimme aus dem Lautsprecher. Im Hintergrund waren Gelächter und Musik zu hören.

„Ich war gerade bei Cornelia. Und ich glaube, wir sollten uns auf Harrys Forderung einlassen“, antwortete Justin geradeheraus. „Es gibt triftige Gründe.“ Er schilderte kurz, was Cornelia ihm erzählt hatte, und fuhr dann fort: „Ich besitze vierzig Prozent der Anteile an der Ranch. Den Rest will ich schon seit Jahren kaufen, doch Harry lässt mich nicht. Das Risiko, dass er die übrigen sechzig Prozent jetzt an jemand anderen verkauft, ist mir zu hoch.“

„Und dafür bist du bereit, dich von ihm zu einer Ehe zwingen zu lassen?“, warf Alex ungläubig ein.

„Nein. Nach dem Gespräch mit Cornelia bin ich mir sicher, dass der Herzinfarkt ihm Angst eingejagt hat. Er glaubt, dass er uns zu unserem Glück zwingen muss. Also bin ich bereit, so zu tun, als ob ich darauf eingehe – bis wir einen Weg gefunden haben, diese Sache zu umgehen, oder bis er selbst eingesehen hat, wie verrückt die Idee ist. Und bis dahin werde ich tun, was nötig ist, um ihn daran zu hindern, die Ranch zu verkaufen. Wenn ich dafür auf Brautschau gehen muss, dann mach ich das eben.“

„Aber er blufft nur. Er würde die Firma nie verkaufen“, widersprach Gray.

„Tja, leider können wir uns da nicht vollkommen sicher sein. Und selbst im Aufsichtsrat haben wir keine Möglichkeit, ihn zu stoppen.“

Zum Aufsichtsrat gehörten die vier Brüder, Cornelia und ihre vier Töchter – doch selbst zusammen konnten sie Harry nicht überstimmen, weil er die Mehrheit der Anteile hielt.

„Ich glaube auch nicht, dass er das tatsächlich vorhat“, warf J.T. ein. „HuntCom ist sein Lebenswerk. Wir wissen schließlich alle, wie viel ihm die Firma bedeutet – sogar mehr als seine Söhne. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er das aufgeben würde, nur, damit wir heiraten und Kinder kriegen.“ Hohn schwang in seiner Stimme mit.

„Außerdem sind wir gerade dabei, eine andere Firma aufzukaufen. Er würde HuntCom nicht verkaufen, bevor das über die Bühne gegangen ist, und das kann sich noch über Monate hinziehen. Er blufft.“

„Und was, wenn nicht?“, fragte Alex zweifelnd. „Wenn ihr euch irrt? Wollt ihr wirklich das Risiko eingehen, alles zu verlieren, wofür ihr die letzten achtzehn Jahre gearbeitet habt? Also ich will nicht zusehen, wie die Stiftung geschlossen wird. Oder wie jemand anders sie übernimmt.“

„Das einzige Baby, für das sich Harry je interessiert hat, ist HuntCom. Er hat bei all seinen Entscheidungen immer nur das Wohl der Firma im Auge gehabt“, sagte Gray.

„Das dachte ich bisher auch. Wie ist er bloß so plötzlich auf die blöde Idee gekommen, uns unter die Haube bringen zu müssen?“

Bringt die Hunts unter die Haube“, entgegnete J.T. lachend. „Klingt wie der Titel einer Realityshow.“

„O ja“, bemerkte Alex trocken. „Einer ziemlich geschmacklosen Show.“

„Jedenfalls müssen wir uns einig sein, wie wir vorgehen“, betonte Gray.

„Ich schlage vor, dass wir uns zum Schein drauf einlassen“, meinte Justin. „Gleichzeitig legen wir alles in einem Vertrag fest, der Harry in Zukunft die Hände bindet. Wir müssen sicherstellen, dass er uns nie wieder so erpressen kann.“

„Unbedingt“, stimmte J.T. zu. „Wenn er glaubt, dass er uns mit Drohungen manipulieren kann, wird er sich sofort die nächste List ausdenken.“

„Also brauchen wir einen hieb- und stichfesten Vertragstext, der seine Forderung so gut wie möglich eindämmt. Wenn er uns nur mit finanziellen Einbußen gedroht hätte, wäre mir das herzlich egal. Aber ich will die Ranch nicht verlieren. Und ich will auch nicht schuld sein, wenn er einen weiteren Herzinfarkt bekommt. Was meint ihr?“

Alex sprach zuerst. „Wenn es nur ums Geld ginge, könnte er mich auch gernhaben“, sagte er. „Er weiß ganz genau, wie er uns kriegen kann, was?“

„Ja. Er will uns das wegnehmen, was uns am meisten bedeutet“, stellte J.T. grimmig fest.

„Dabei ist sein Plan von vornherein schon zum Scheitern verurteilt“, gab Gray zu bedenken. „Harry will, dass die Frau nichts von unserer Herkunft erfährt. Wie sollen wir in Seattle eine Frau finden, die uns nicht kennt?“

„Na ja, ich bin in den letzten zwei Jahren die meiste Zeit in Idaho gewesen …“, begann Justin.

„Schön für dich“, unterbrach ihn J.T. „Von uns dreien gab es allerdings schon Fotos in der Presse, nicht nur hier in Seattle, sondern auch in überregionalen Magazinen.“

„Aber nicht so oft wie von Harry“, sagte Gray nachdenklich. „Er ist das offizielle Aushängeschild von HuntCom. Das muss man dem alten Herrn lassen: Er hat uns so weit wie möglich von der Presse abgeschirmt.“

„Stimmt. Also, wie sieht’s aus, Gray? Bist du dabei?“, fragte Justin.

„Du musst zugeben, dass Harry alle Trümpfe in der Hand hält“, bemerkte Alex.

„Wie immer“, seufzte J.T.

„Na schön“, gab Gray schließlich nach. „Der Aufsichtsrat scheint mir der einzige Weg zu sein, den alten Herrn in Zukunft zu stoppen. Ich stimme deshalb der Sache nur unter der Bedingung zu, dass wir einen wasserdichten schriftlichen Vertrag bekommen. Und darin muss festgelegt sein, dass er uns genügend Stimmanteile überschreibt, um uns im Aufsichtsrat die Mehrheit zu geben. Dann kann er uns nie wieder mit so verrückten Ideen erpressen. Außerdem muss festgelegt sein, dass er keine weiteren Bedingungen erfindet, wie es ihm gerade gefällt. Wenn ihm die Sache so wichtig ist, wird er sicherlich gern seine Anteilsmehrheit dafür aufgeben, nicht wahr? Und dann glaube ich ihm vielleicht sogar, dass es ihm wirklich um die Zukunft der Familie geht. Aber erst dann.“

Justin beendete die Telefonkonferenz und schaltete das Handy aus. Er hatte nie heiraten wollen, und er verspürte ganz sicher keinen Kinderwunsch. Seinen Brüdern ging es genauso. Sie würden auf Harrys eigenartige Forderung nur eingehen, um die Firma zu retten. Wenn Harry also romantische Beziehungen und wahre Liebe erwartete, würde er schwer enttäuscht werden.

Am Morgen nach der Telefonkonferenz mit seinen Brüdern wachte Justin in seiner Wohnung in Seattle auf. Er machte sich einen Kaffee, nahm die Tasse, einen Schreibblock und einen Stift und setzte sich auf die Terrasse. Lange war er nicht mehr hier gewesen, und er musste zugeben, dass die Aussicht ihren Reiz hatte. Zwischen seinem Penthouse und der Bucht, dem Puget Sound, lagen nur ein paar Straßen. Vor ihm breitete sich eine endlose Wasserfläche aus, auf der das Sonnenlicht glitzerte. Er schob seinen Hut in den Nacken, setzte sich auf einen Teakholzstuhl und legte die nackten Füße auf einen der benachbarten Stühle. Schließlich begann er damit, eine Liste von Heiratskandidatinnen zusammenzustellen.

Den ersten Namen schrieb er in Großbuchstaben.

Lily Spencer.

Wahrscheinlich will sie mich nie wiedersehen, dachte er. Am Morgen, nachdem er mit ihr Schluss gemacht hatte, hatte sie ihm das Tiffanyarmband zurückgeschickt. Sie hatte die Schachtel nicht mal geöffnet, und auch der Umschlag mit seiner Karte war noch verschlossen gewesen. Der Bote hatte erzählt, dass der Vermerk „Zurück an den Absender“ in großen schwarzen Buchstaben von Lily selbst stammte. Sie hatte nicht einen Moment gezögert und den Boten postwendend weggeschickt. Mit seinem Abschiedsgeschenk.

Am nächsten Tag hatte er Seattle verlassen und war in den folgenden zwei Jahren nur selten zurückgekehrt. Auf der Ranch hatte er versucht, sich mit Arbeit abzulenken. Selbst Sechzehnstundentage hatten ihn jedoch nicht daran hindern können, ständig an Lily zu denken. Nach endlosen, quälenden Monaten war der Schmerz schließlich zu einem tauben Gefühl in seiner Brust geworden. Er hatte das als ein Anzeichen verstanden, dass er über sie hinweg war.

Aber vergessen hast du sie nicht.

Er ignorierte die lästige innere Stimme und wandte sich wieder seiner Liste zu. Auch wenn diese Aufgabe ihm unsinnig und unehrlich vorkam: Es musste sein, wenn er die Ranch nicht verlieren wollte.

Nachdem er die Namen von drei weiteren unverheirateten Frauen notiert hatte, hielt er inne und runzelte die Stirn. Alle drei waren Geschäftsfrauen, die er über HuntCom kennengelernt hatte. Sie wussten also, dass er der Sohn des Milliardärs Harry Hunt war.

Wo sollte er eine Frau finden, die ihn nicht kannte? Vielleicht konnte er unter einem Pseudonym sein Glück beim Onlinedating versuchen? Dafür müsste er allerdings einige Zeit investieren, und die war ihm für dieses unmögliche Theater zu kostbar. Nein, er wollte eine Geschäftspartnerin, die sich auf einen Ehevertrag einlassen würde. Sie würde ihn heiraten, er würde sie großzügig dafür bezahlen. Gefühle wurden dabei weder erwartet, noch waren sie erwünscht. Sie müsste nur Cornelias Test bestehen und bereit sein, Kinder zu bekommen. Notfalls durch künstliche Befruchtung.

Während er den Schiffen auf dem Wasser zusah und dabei seinen Kaffee trank, musste er erneut an Lily Spencer denken. Er hatte die Beziehung zu ihr beendet, als ihm klar geworden war, dass sie heiraten und Kinder haben wollte. Das waren beides Dinge, die für ihn einfach nicht infrage kamen. Also hatte er sie verlassen, damit sie einen Mann finden würde, der ihr geben könnte, was sie brauchte. Einen Mann, der ihre Träume erfüllen könnte.

Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer ihres Ladens. Dass er sie nach zwei Jahren immer noch auswendig kannte, versetzte ihm einen Stich.

„Prinzessin Lily Boutique, guten Morgen. Was kann ich für Sie tun?“

„Ist Lily da?“

„Darf ich fragen, wer dran ist?“

„Justin Hunt.“

„Einen Moment bitte.“

Er stand auf und ging ungeduldig auf und ab.

„Tut mir leid, Mr. Hunt“, meldete sich die Stimme schließlich wieder. Sie klang merklich kühler als vorher. „Ms. Spencer ist im Moment nicht hier.“

„Und wann wird sie zurück sein?“

„Das weiß ich leider nicht. Soll ich ihr etwas ausrichten?“

„Nein, danke.“ Ärgerlich unterbrach er die Verbindung. Die Frau hatte gelogen, da war er sich sicher.

Bestimmt hielt Lily sich um diese Zeit im Laden oder in ihrer Werkstatt im ersten Stock auf – sie war immer sehr gewissenhaft gewesen. Das bedeutete also, dass sie nicht mit ihm reden wollte.

Als er ihre dreimonatige Beziehung ohne Vorwarnung beendet hatte, war Lily unglaublich ruhig geblieben. Sie war weder in Tränen ausgebrochen, noch hatte sie ihn angeschrien oder eine Szene gemacht – ganz im Gegensatz zu anderen Frauen, mit denen er zu tun gehabt hatte. Stattdessen hatte sie sorgfältig ihre Serviette zusammengefaltet, war aufgestanden und ohne ein Wort gegangen.

Vielleicht wollte er sie deshalb auf einmal so dringend sehen: damit sie ihn endlich anschrie, ihm Schimpfworte an den Kopf warf und ihm ins Gesicht sagte, was für ein Schuft er war. Dann könnte er sich wenigstens entschuldigen. Wenn er Glück hatte, würde sie ihm vielleicht sogar vergeben. Zumindest würde sie ihn danach nicht für den Rest ihres Leben hassen.

Je länger er darüber nachdachte, desto wichtiger erschien es ihm, Lily noch einmal zu sehen, bevor er sich ernsthaft um diese lächerliche Brautsuche kümmerte. Er warf Block und Stift auf den Tisch, stürzte den Kaffee hinunter und sprang auf. Eine Viertelstunde später parkte er seinen Wagen an der Ballard Avenue vor Lilys Laden und überquerte mit schnellen Schritten die Straße.

Im Schaufenster der Prinzessin Lily Boutique standen vor einem Hintergrund aus schwarzem Satin Schaufensterpuppen, die Spitzenkorsagen und Strapsgürtel trugen. Ohne sie weiter zu beachten, trat Justin ein. Der Laden verfügte über ein verführerisches Angebot von sexy Seiden- und Spitzenunterwäsche. Ein Hauch von Parfum lag in der Luft, und alle Designs und Materialien der Wäsche wirkten edel und extravagant.

Mehrere Kundinnen hielten sich gerade im Geschäft auf und warfen ihm neugierige Blicke zu. Er ignorierte sie und hielt nach Lily Ausschau, die jedoch nirgends zu sehen war.

„Kann ich Ihnen helfen, Sir?“

Eine schlanke Rothaarige kam hinter dem Tresen hervor und ging auf ihn zu.

Justin erkannte die Stimme wieder. Mit ihr hatte er vorher telefoniert.

„Ich suche Lily.“

Die Rothaarige riss die Augen auf, und das Lächeln verschwand von ihren Lippen. „Tut mir leid, Sir. Sie ist nicht hier.“

„Wann kommt sie zurück?“

„Das weiß ich leider nicht. Möchten Sie ihr eine Nachricht hinterlassen?“

„Ja, warum eigentlich nicht.“ Er zog eine Visitenkarte aus seiner Tasche. Auf die Rückseite schrieb er seine Handynummer, gefolgt von den Worten Ruf mich an.

Die Verkäuferin nahm die Karte und betrachtete sie zweifelnd. „Sonst nichts?“, fragte sie neugierig.

„Nein.“

„Ich werde sie ihr geben.“

„Danke“, erwiderte er mit ironischem Unterton. Er war sich ziemlich sicher, dass die Karte im Müll landen würde, sobald er den Laden verlassen hatte. Ob Lily in der Werkstatt war und sich vor ihm versteckte?

Der einzige Weg, um das herauszufinden, führte durch die Tür mit der Aufschrift Nur für Angestellte hinter dem Verkaufstresen. An der Rothaarigen würde er schon irgendwie vorbeikommen, aber solche Maßnahmen wollte er vorerst lieber nicht ergreifen. Es gab schließlich andere Möglichkeiten, mit Lily Kontakt aufzunehmen.

Am Abend würde er einfach bei ihrer Wohnung vorbeifahren. Dort erwartete sie ihn bestimmt nicht und würde öffnen, wenn es klingelte. Dann könnte er sich dafür entschuldigen, wie er ihre Beziehung beendet hatte, und sich davon überzeugen, dass sie glücklich war. Erst nachdem er sie um Verzeihung gebeten hätte, könnte er dieses Kapitel seines Lebens endlich abschließen.

Grußlos verließ er den Laden und ging zu seinem Wagen zurück. Um nicht tatenlos in der Wohnung zu sitzen und auf den Abend zu warten, fuhr er in der Firma vorbei. Von seiner Sekretärin ließ er sich auf den neuesten Stand der wenigen Projekte bringen, die er außerhalb der Ranch betreute. Anschließend arbeitete er ein paar Unterlagen durch. Die Öffnungszeiten der Boutique kannte er noch ganz genau. So ließ er Lily genügend Zeit, um zu Hause anzukommen, bevor er sich auf den Weg zu ihr machte.

Doch als er zu dem gepflegten Apartmenthaus kam, in dem sich ihre Wohnung befand, stand ein fremder Name auf dem Klingelschild. Stirnrunzelnd überlegte er, ob er trotzdem klingeln sollte. Hatte sie in der Zwischenzeit geheiratet? Sicherlich hätte sie ihm so etwas mitgeteilt oder es ihm wenigstens ausrichten lassen, oder? Er zog sein Handy aus der Tasche und rief die Telefonauskunft an.

„Für Lily Spencer habe ich zwei Einträge“, meldete die freundliche Stimme. „Die Prinzessin Lily Boutique direkt in Seattle und eine Adresse im Vorort Ballard.“

„Die Nummer und Adresse in Ballard, bitte“, verlangte er. Es überraschte ihn, wie erleichtert er war, dass sie offenbar nicht geheiratet hatte. Allerdings hatte sie ihren Nachnamen vielleicht nur wegen des Geschäfts behalten, denn schließlich war der Name eine Art Markenzeichen für ihre Kollektion. Möglicherweise war sie also doch verheiratet. Warum sonst hätte sie umziehen sollen? Sie hatte ihre Wohnung immer gemocht.

Das ist es doch, was du wolltest, sagte er sich, während er durch die Straßen kurvte. Deshalb hast du mit ihr Schluss gemacht: Damit sie einen Mann findet, der sie heiratet und eine Familie mit ihr gründet. All das, was du ihr nicht geben kannst. Also freu dich für sie.

Irgendwie wollte ihm das jedoch nicht so recht gelingen.

Ballard lag am Puget Sound. Das Viertel mit seinen altehrwürdigen Häusern war mittlerweile von Künstlern und jungen Familien entdeckt worden. Vorher hatte Lily am Rand des Viertels gelebt. Ihre neue Wohnung war zentraler gelegen. Er suchte die Hausnummer und hielt vor einem hübschen Reihenhaus. Vor allen sechs Türen befand sich jeweils ein kleiner Vorgarten, durch den sich ein gepflasterter Weg zur Haustür schlängelte.

In Lilys Vorgarten blühten rote Geranien, die von grünen Farnbüscheln umringt waren. Unter dem Vordach über der Haustür stand eine Bank aus Korbgeflecht, und darüber hing ein Kranz aus Kräutern.

Also ist sie doch verheiratet, dachte er bei sich. Wieder versetzte ihm der Gedanke einen schmerzhaften Stich. Dennoch würde er zu Ende bringen, weshalb er gekommen war.

Entschlossen stieg er aus, ging zur Haustür und klingelte. Nichts tat sich. Er wartete eine Weile, bevor er es ein weiteres Mal versuchte, diesmal ungeduldiger. War Lily etwa noch nicht zu Hause? Justin wandte sich um und schaute auf die Straße. Außer einem Pärchen mit Kinderwagen und einem Jogger mit Hund war jedoch niemand zu sehen.

Als er zum dritten Mal auf die Klingel drückte, wurde die Tür unvermittelt aufgerissen.

„Was ist denn?“ Die Stimme klang ungehalten.

Er blickte auf und sah Lily vor sich stehen.

Erschrocken riss sie die Augen auf, als sie ihn erkannte.

Justin dagegen hatte das Gefühl, dass sich etwas in ihm löste und er nach zwei Jahren endlich wieder frei atmen konnte.

Ja, sie sah genauso aus, wie er sie in unzähligen schlaflosen Nächten immer vor sich gesehen hatte: grüne Augen, hohe Wangenknochen, volle rote Lippen – seine wunderbare Lily. Ihr schulterlanges Haar wirkte zerzaust, und die Abendsonne brachte einzelne hellere Strähnen in der dunkelbraunen Mähne zum Glänzen. Endlich schaffte er es, den Blick von ihrem Gesicht zu lösen. Erst jetzt merkte er, dass sie nicht allein war.

Lily trug ein kleines Mädchen auf dem Arm, das in ein blaues Handtuch gewickelt war. Die Füße der Kleinen hinterließen auf Lilys Shorts nasse Abdrücke, und ihr nachtschwarzes Haar ringelte sich in feuchten Locken um das runde Gesichtchen. Das Kind hatte grüne Augen. Und als es ihn anlächelte, zeigten sich in den Wangen Grübchen. Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, in einen Spiegel zu schauen: Die Ähnlichkeit war erstaunlich – so als hätte er sich selbst plötzlich in ein Kind verwandelt. Ein Kind mit Lilys Augen. Und seinem Haar und seinen Grübchen.

Völlig verblüfft schaute er von dem Kind wieder zu Lily. Für wenige Sekunden wirkte ihre Miene beinahe schuldbewusst. Dann hob sie trotzig das Kinn – und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.

2. KAPITEL

Justin stand einen Moment lang wie erstarrt da. Schließlich begann er, mit den Fäusten gegen die Tür zu hämmern. „Lily!“

„Geh weg!“

„Mach die Tür auf. Oder willst du, dass die Nachbarn die Polizei rufen? Ich rühre mich hier nicht eher weg, bis du aufmachst.“

Die Tür wurde aufgerissen. „Was willst du?“, fauchte sie.

„Lass mich rein.“

„Nein.“

„Willst du dieses Gespräch wirklich an der Haustür führen?“, fragte er.

Unvermittelt blickte sie über seine Schulter zur Straße. Dann setzte sie ein gezwungenes Lächeln auf und winkte jemandem zu. „Hallo Mrs. Baker. Ein schöner Abend, nicht wahr?“

Widerwillig trat sie einen Schritt zurück und hielt die Tür auf. „Komm rein“, stieß sie hervor.

Kaum war er über die Schwelle getreten, schloss sie die Tür hinter ihm und ging weiter ins Haus. Es kam ihm vor, als wolle sie so schnell wie möglich wieder Abstand zu ihm gewinnen.

„Was willst du hier?“, fragte sie.

„Ich bin gerade in der Stadt und wollte Hallo sagen“, erwiderte er zerstreut. Noch immer stand er unter Schock und konnte die Augen nicht von dem kleinen Mädchen abwenden. „Wie heißt sie?“

„Ava.“ Lily drückte die Kleine noch enger an sich, als wolle sie sie beschützen. „Nun hast du ja Hallo gesagt und kannst wieder gehen.“

„O nein.“ Heftig schüttelte er den Kopf. Im Moment konnte er zwar keinen klaren Gedanken fassen. Dass er nicht so einfach verschwinden würde, stand für ihn jedoch fest. „Zuerst sagst du mir die Wahrheit über Ava. Sie ist meine Tochter, richtig?“

Es war eigentlich eine unnötige Frage. Trotzdem wollte er es von Lily selbst hören. Er wollte, dass sie die Worte aussprach.

„Nein, das ist sie nicht. Sie ist meine Tochter.“

„Mama.“ Ava legte ihre Hand auf Lilys Wange, um auf sich aufmerksam zu machen. „Meine Mama.“

„Ja, Süße, ich bin deine Mama. Und du bist mein allerliebstes kleines Mädchen.“

Ava schlang die Arme um Lilys Nacken und umarmte sie stürmisch. Schließlich lehnte sie den Kopf an die Schulter ihrer Mutter und lächelte Justin strahlend an.

Sein Herz setzte einen Schlag lang aus, und er lächelte hilflos zurück.

„Sie ist meine Tochter“, wiederholte er leise.

„Du hast deine DNA dazugegeben, aber das heißt nicht, dass du irgendein Recht auf sie hättest.“

Trotz Lilys abweisendem Tonfall spürte Justin, wie sein Puls auf einmal schneller ging. Zwei Jahre lang war ihm alles außer der Ranch so ziemlich gleichgültig gewesen, und nun bekam er plötzlich Herzklopfen.

„Ich möchte, dass du jetzt gehst“, sagte Lily leise.

„Wir müssen reden.“

„Müssen wir nicht. Es gibt nichts zu besprechen. Ava und ich haben unser eigenes Leben, und du gehörst nicht dazu. Geh weg.“

Bei den letzten Worten zitterte ihre Stimme leicht.

Avas Lächeln erlosch. Besorgt schaute sie von Justin zu ihrer Mutter. „Mama?“

„Bitte geh. Du regst Ava auf.“

„Also schön, dann gehe ich eben“, gab Justin betont beiläufig zurück. „Aber wir müssen reden. Ich rufe dich morgen im Laden an.“

Wortlos nickte sie nur und trat an die Haustür. Weiterhin schweigend öffnete sie sie und wartete, bis er hinausgegangen war. Kaum war er draußen, fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Er hörte noch, wie der Schlüssel umgedreht wurde.

Zitternd vor Schreck und Ärger starrte Lily auf die geschlossene Haustür. Niemals hätte sie damit gerechnet, dass Justin einfach bei ihr zu Hause auftauchen würde – zumal sich ja ihre Adresse inzwischen geändert hatte. Aber er hatte wohl durchschaut, dass ihre Kollegin Meggie ihn angelogen hatte, als er zum Laden gekommen war.

In seinem Adressbuch musste es Dutzende von Frauen in Seattle geben, die sich über einen Überraschungsbesuch von ihm freuen würden. Warum kam er ausgerechnet zu ihr? Wenn sie geahnt hätte, dass er so beharrlich war, wäre sie vorsichtiger gewesen.

Zum Beispiel hätte sie nicht mit Ava auf dem Arm die Tür aufgemacht.

Sie kniff die Augen zusammen. Angestrengt versuchte sie, sein Bild zu verdrängen und nicht mehr daran zu denken, wie er vor ihr gestanden hatte in seinen glänzenden schwarzen Cowboystiefeln, den verwaschenen Jeans und dem hellblauen Designerhemd. Die goldene Uhr an seinem Handgelenk war bestimmt eine Rolex. Justin liebte seine Ranch in Idaho, aber er wusste auch, wie man sich unaufdringlich elegant kleidete. Mit seinen nachtschwarzen Haaren, den durchdringend blauen Augen und seinem gut gebauten Körper war Justin Hunt der Traummann vieler Frauen.

Aber meiner nicht, dachte sie trotzig. Justin Hunt ist mein ganz persönlicher Albtraum.

Und zu allem Überfluss schien er sich für Ava zu interessieren. Das hätte sie von ihm gar nicht erwartet. Am Ende machte er ihr noch Vorwürfe, weil sie ihm nichts von der Schwangerschaft gesagt hatte! Undenkbar. Und vor allem sehr beängstigend. Hatte sie Justin falsch eingeschätzt? Der Gedanke ließ sie erschauern.

Ava wand sich in ihren Armen und protestierte mit einer Reihe von unverständlichen Lauten. Zerknirscht stellte Lily fest, dass sie die Kleine viel zu fest an sich drückte.

„Tut mir leid, Süße“, murmelte sie und hauchte einen Kuss auf die dunklen Locken. „Ich wollte dich nicht zerquetschen. Wollen wir dir einen Schlafanzug anziehen und uns ein Buch anschauen, bevor du schlafen gehst?“

Vergnügt brabbelte Ava drauflos und streute immer wieder das Wort „Mama“ ein.

Während sie Ava fürs Bett fertigmachte und ihr vorlas, war Lily genügend abgelenkt. Auch als sie das Licht dimmte und mit der Kleinen eine Viertelstunde im Schaukelstuhl kuschelte, bevor sie sie in ihr Bettchen legte, konnte sie ihre Gedanken noch kontrollieren.

Doch als sie dann hinunter ins stille Wohnzimmer ging, überfluteten sie die Erinnerungen, die Justins Besuch wachgerufen hatte.

An einem regnerischen Abend vor zwei Jahren waren sie sich zum ersten Mal begegnet. In einem Blumenladen hatte sie gerade einen Strauß für eine kranke Freundin binden lassen, als Justin eingetreten war. Während er auf die Bedienung gewartet hatte, waren sie ins Gespräch gekommen. Dann hatten sie angefangen zu flirten. Es war wunderbar gewesen, beinahe wie eine Naturgewalt. Obwohl sie eine halbe Stunde zuvor hoch und heilig geschworen hätte, dass sie niemals mit einem wildfremden Mann spontan zum Essen gehen würde, hatte sie genau das getan. Justin hatte sie in das Restaurant nebenan eingeladen – und sie hatte Ja gesagt.

Danach hatte er sie nach Hause bringen wollen, doch das hatte sie abgelehnt. Und erst am nächsten Tag war ihr klar geworden, dass er einer der vier Hunt-Brüder war und dass er zu der weit über Seattle hinaus bekannten, milliardenschweren HuntCom-Gesellschaft gehörte: Als sie das Altpapier rausgebracht hatte, war ihr Blick auf ein Bild von ihm in einer älteren Tageszeitung gefallen.

Als er sie angerufen und um ein weiteres Treffen gebeten hatte, hatte sie gezögert. Wollte sie wirklich mit einem der Hunt-Brüder ausgehen, die allesamt als Playboys galten? Sie hatte ihm geradeheraus gesagt, dass sie nicht der Typ für eine Affäre war. Er hatte nur gelacht und seinen Charme spielen lassen, sodass sie schließlich nachgegeben hatte.

Wenn sie es im Nachhinein bedachte, hatte sie bei ihm wirklich jede Vorsichtsregel gebrochen, die sie sonst in Beziehungen beachtete. Und das lag nicht nur daran, dass er attraktiv, sexy, charmant und sehr, sehr reich war. Im Gegenteil: Der Reichtum hätte sie eher abgeschreckt, wenn er ihn in irgendeiner Weise zur Schau gestellt oder ausgenutzt hätte. Doch er schien gespürt zu haben, dass man sie mit Geld nicht beeindrucken konnte. Sie hatte selbst ein gutes Auskommen und konnte sich leisten, was sie sich wünschte.

Nein, Justin Hunt hatte etwas an sich gehabt, das sie tief im Innern berührt hatte. Zwischen ihnen hatte eine Verbindung bestanden, die sie beide vom ersten Augenblick an gespürt hatten. Also hatte sie nur auf ihr Herz gehört und sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Vorher hätte sie zum Beispiel nicht im Traum daran gedacht, nach nur wenigen Verabredungen mit einem Mann zu schlafen – doch bei Justin hatte sie schon nach einer Woche alle Bedenken aufgegeben und sich nur zu gern von ihm verführen lassen. Danach war sie davon ausgegangen, dass sie eine feste monogame Beziehung mit ihm hatte – und er hatte nie etwas anderes behauptet. Als er dann nach drei Monaten ohne jegliche Vorwarnung mit ihr Schluss gemacht hatte, war sie am Boden zerstört gewesen.

Sie waren zum Essen verabredet gewesen. Wie so oft würde dem netten Abend in einem ihrer Lieblingslokale eine wunderbare Nacht folgen – das hatte sie gedacht. Stattdessen hatte er ihr eröffnet, dass er es besser fände, wenn sie getrennte Wege gingen. Sie war so entsetzt gewesen, dass sie überhaupt keine Worte gefunden hatte. Nur mit viel Selbstbeherrschung war es ihr gelungen, aufzustehen und das Lokal zu verlassen. Draußen hatte sie ein Taxi angehalten und war nach Hause gefahren, um den Rest der Nacht zu weinen, bis sie keine Tränen mehr gehabt hatte.

Danach hatte sie eine Woche das Haus nicht verlassen können. Sie war verletzt, enttäuscht gewesen, hatte sich betrogen und ausgenutzt gefühlt – doch vor allem hatte sie um das getrauert, was hätte sein können. Allerdings war sie nie der Typ gewesen, der in Depressionen verfiel – dafür war sie zu pragmatisch veranlagt. Sie hatte immer noch den Laden gehabt, um den sie sich kümmern musste, und Kunden, die ihre Aufmerksamkeit verlangten. Also hatte sie sich zusammengenommen, war wieder zur Arbeit gegangen und hatte ihr Leben ohne Justin gelebt.

Lily schüttelte den Kopf, um die leise Traurigkeit loszuwerden, die sich noch immer in ihr Herz schlich, wenn sie sich an jene dunklen Tage erinnerte. Er hat mir einmal das Herz gebrochen, das reicht, sagte sie sich streng. Ich will ihn nicht in meinem Leben haben. Justin Hunt kann mir gestohlen bleiben.

Sie ging durchs Wohnzimmer, sammelte Avas auf dem Boden verstreutes Spielzeug auf und legte es in den Weidenkorb neben der Couch.

Ihr neues Leben war bestens organisiert. Sie konnte Ava mit in den Laden nehmen, denn dort hatte sie einen leeren Büroraum neben der Werkstatt zu einem Spielzimmer umgebaut. Die meiste Zeit verbrachte sie sowieso im ersten Stock, arbeitete an Designs und bereitete die Produktion vor, während ihre Angestellten unten die Kunden bedienten. Das Geschäft lief ausgezeichnet. Vor einem Monat war ein Artikel über sie in der Seattle Times erschienen, in dem man sie als aufgehenden Star am Modehimmel bezeichnet hatte.

Es hat lange genug gedauert, bis ich mein Leben wieder im Griff hatte. Ich werde nicht zulassen, dass Justin noch einmal alles durcheinanderbringt.

Nur … Er ist nun mal Avas Vater.

Mitten in der Bewegung hielt sie inne. Starr vor Schreck stand sie im Wohnzimmer, in der einen Hand einen Plüschbären, in der anderen eine Wackelente.

Was, wenn er mir Ava wegnehmen will? Sie war vorher nie auf die Idee gekommen, dass Justin Interesse am Sorgerecht haben könnte. Aber sein Blick heute hatte Bände gesprochen. Er war hingerissen. Auf den ersten Blick verliebt.

Natürlich ging das vielen so, die Ava und ihr strahlendes Lächeln kennenlernten. Von Justin hatte sie das jedoch nicht erwartet. Und es störte sie gewaltig.

Wollte er jetzt möglicherweise Rechte auf ihre Tochter anmelden? Damit hätte sie ein echtes Problem. Denn Justin war nicht nur reich, sondern verfügte außerdem über Beziehungen. Zum Beispiel zu erstklassigen Anwälten.

Stirnrunzelnd ließ sich Lily auf die Couch sinken. Es erschien ihr am besten, sich auf den schlimmsten Fall gefasst zu machen. Morgen würde sie gleich ihren Anwalt anrufen.

Gern hätte sie ein paar Koffer gepackt, um mit Ava aus Seattle zu fliehen. Diese Reaktion kam ihr aber doch etwas übertrieben vor. Also stand sie auf, räumte die restlichen Spielzeuge weg und betrat ihr Arbeitszimmer neben der Küche. Zunächst lenkte sie sich damit ab, ein exklusives Design für eine Kundin aus Hollywood zu entwerfen.

Beinahe gelang es ihr, sich einzureden, dass sie den ersten Schock überwunden hatte und mit Justins unerwartetem Auftauchen fertig werden würde. Doch als sie um halb elf ins Bett ging, konnte sie nicht einschlafen. Die nächsten acht Stunden wälzte sie sich unruhig hin und her. Wieder einmal bescherte er ihr eine schlaflose Nacht.

Justin fühlte sich wie benommen. Es kostete ihn Überwindung, zu seinem Wagen zurückzugehen und einzusteigen. Alles in ihm drängte danach, zu Lily und dem kleinen Mädchen zurückzukehren.

Er hatte eine Tochter. Der Gedanke überwältigte ihn.

Niemals hätte er damit gerechnet, dass allein der Anblick eines Kindes ihn so aus dem Gleichgewicht bringen könnte. Ein Kind mit den Augen seiner Mutter und seinem Haar.

„Ich bin Vater.“ Er sprach die Worte laut vor sich hin, um die Vorstellung greifbarer zu machen. Doch stattdessen wurde ihm etwas anderes klar: Er hatte die Beziehung mit Lily beendet, um ihr nicht wehzutun – und hatte sie schwanger sitzen lassen.

Ich hätte mich drum kümmern müssen, ob es ihr gut geht. Ich hätte sie beschützen müssen.

Die Frage war natürlich, ob sie überhaupt Hilfe von ihm angenommen hätte. Und was hätte er ihr eigentlich bieten können? Er hatte keine Ahnung von Kindern, hatte noch nie ein Baby auf dem Arm gehalten. Von klein auf hatte er gelernt, aus allen möglichen Situationen das Beste zu machen und auf sich selbst aufzupassen. Was einen guten Vater ausmachte, wusste er allerdings nicht: Es hatte nie jemanden in seiner Kindheit gegeben, der diesen Namen verdient hätte.

Sicher, seit er mit zwölf zu seinem leiblichen Vater Harry gezogen war, hatte sich alles verbessert. Der alte Herr lebte zwar für seine Firma, und manchmal hatte Justin das Gefühl gehabt, dass er seine Söhne darüber völlig vergaß. Trotzdem hatte er sie nie ganz vernachlässigt. Das Personal hatte sich darum gekümmert, dass sie regelmäßig aßen, saubere Kleidung trugen und sich ordentlich benahmen.

Alles in allem war Harry kein schlechter Vater gewesen. Nur eben kein besonders engagierter. Er hatte nie mit seinen Söhnen Football oder Basketball gespielt, und er hatte selten Zeit für Elternabende oder Schulturniere gefunden.

Harry! Ach du liebe Güte! Was mache ich denn mit ihm und seinen Regeln für dieses verrückte Heiratsabkommen?

Der Gedanke brachte ihn endlich in die Wirklichkeit zurück. Erst jetzt stellte er fest, dass er den Wagen in die Tiefgarage seines Wohnkomplexes gelenkt hatte. An die Fahrt von Ballard zu seinem Apartment konnte er sich nicht einmal erinnern. Lily und Ava zu sehen hatte seine ganze Welt in einem einzigen Moment verändert.

Am nächsten Morgen würde er mit Lily reden. Noch hatte er keine Ahnung, wie es danach weitergehen sollte. Auf jeden Fall müsste er Harry und seinen Brüdern beibringen, dass er die Bedingungen nicht mehr erfüllen konnte: Lily wusste, wer er war. Sein Geld hatte sie zwar nie interessiert, doch rein technisch gesehen fiel sie damit als Kandidatin für Harrys Plan aus.

Trotzdem kam es überhaupt nicht infrage, dass er jemals eine andere Frau heiratete. Diese Erkenntnis überfiel ihn so plötzlich wie ein Blitzschlag. Er wollte Lily. Nie hatte er aufgehört, sie zu lieben, und er war nie über sie hinweggekommen. Er hatte sich getäuscht und die grenzenlose Leere in seinem Herzen mit Normalität verwechselt. Erst in dem Moment, als er Lily wiedergesehen hatte, war ihm klar geworden, wie dumm er gewesen war. Und wie sehr er sie brauchte.

Er wusste nicht genau, wie lange er in der dunklen Tiefgarage vor sich hingestarrt hatte. Als er schließlich ausstieg und den Fahrstuhl nahm, der sich direkt in sein Wohnzimmer öffnete, war es auch draußen bereits dunkel. Er schaltete den Fernseher ein, zog die Stiefel aus und ließ sich aufs Sofa fallen. Die Füße legte er auf den Couchtisch, während er durch die Kanäle zappte, ohne wirklich hinzuschauen.

Er konnte sich einfach nicht konzentrieren. Immer wieder musste er daran denken: Lily und er hatten eine Tochter. Schließlich schaltete er den Fernseher aus und lief ruhelos in dem großen Wohnraum auf und ab.

Es gab gute Gründe, warum er nie heiraten oder Kinder haben wollte. Ein Mann, der wie er aufgewachsen war, würde keinen guten Ehemann oder Vater abgeben. Er wusste gar nicht, wie eine normale Familie funktionierte, also konnte er auch keine gründen.

Nur deshalb hatte er die Beziehung mit Lily beendet. Justin schob die große Glastür auf und trat auf die Terrasse hinaus. Dort ließ er sich auf der breiten Ziegelmauer nieder und blickte nachdenklich auf den Puget Sound hinaus.

Ein Mann mit seiner Vergangenheit war nicht die richtige Wahl für eine Frau wie Lily und ihr kleines Mädchen. Würde er sie beide unglücklich machen, wenn er versuchte, Lily zurückzugewinnen?

Dass Harry sich in den Kopf gesetzt hatte, seine vier Söhne unter die Haube zu bringen, ergab überhaupt keinen Sinn. Er selbst war mit seinen Frauen schließlich nie glücklich geworden.

Aus dem Jazzklub an der nächsten Straßenecke tönte das wehmütige Klagen eines Saxofons herüber. Es war Lilys Lieblingslied. Unten im Klub hatten sie viele Male dazu getanzt, langsam und eng.

Die verführerischen Klänge erinnerten ihn an die unvergleichlichen Nächte mit ihr. Während er dem Saxofon lauschte, glaubte er fast, ihre zärtlichen Hände auf seiner Haut zu spüren.

Ziemlich hastig verließ er die Terrasse und schloss die Glastür hinter sich.

Am nächsten Morgen zog Lily sich mehrmals um, bevor sie sich für ein cremeweißes Kostüm und ein flaschengrünes Top aus Seide entschied. Dazu trug sie hochhackige Pumps, eine auffällige goldene Uhr und Ohrringe.

Sie hatte ihren Anwalt schon um halb neun erreicht, und das Gespräch hatte ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Wenn Justin Anteil am Leben seiner Tochter nehmen wollte, dann war er gesetzlich dazu berechtigt. Ihr blieb nur die Wahl, entweder vor Gericht zu ziehen oder sich friedlich mit ihm zu einigen. Der Anwalt hatte ihr dringend geraten, eine einvernehmliche Lösung zu finden. Auch er wusste, über welch weitreichende Beziehungen die Hunt-Familie verfügte.

Offenbar blieb ihr kein anderer Ausweg, als sich wieder mit Justin Hunt zu befassen. Was immer auch geschah: Sie musste ihr kleines Mädchen beschützen.

Um kurz vor zehn ließ sie Ava mit einer der Schneiderinnen im Spielzimmer neben der Werkstatt zurück. Die paar Schritte zu dem Bistro, in dem sie sich mit Justin auf eine Tasse Kaffee verabredet hatte, lief sie zu Fuß. Sie war fest entschlossen, ruhig, kühl und sachlich zu bleiben. Vor allem musste sie dran denken, dass es hier nur um Ava ging.

Das Treffen hatte sie absichtlich auf zehn Uhr angesetzt, weil es um diese Zeit in dem Bistro ziemlich leer war. Sie traf sich hier oft mit Kundinnen zum Mittagessen, weil man relativ ungestört war: Die Tische standen in einzelnen Nischen, die durch Grünpflanzen voneinander abgeteilt waren. Auch bei ihrem Gespräch mit Justin legte sie natürlich Wert auf Privatsphäre. Gleichzeitig wollte sie auf keinen Fall mit ihm völlig allein sein. Das Bistro stellte darum einen guten Kompromiss dar.

Justin stand auf, als sie sich dem Tisch näherte.

„Hallo Lily.“

„Guten Morgen.“

Leider verließ sie die Entschlossenheit, kühl und geschäftsmäßig zu bleiben, sobald sie ihn sah. Er trug ein langärmliges, maßgeschneidertes, weißes Hemd, das seine attraktive Sonnenbräune betonte, dazu wie immer Jeans und Stiefel.

Als er ihr den Stuhl zurechtrückte, stieg ihr die dezente Note seines Aftershaves in die Nase. Der vertraute Geruch weckte sofort unzählige, unwillkommene Erinnerungen in ihr. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, und sie atmete so unauffällig wie möglich tief durch.

„Ich habe heute Morgen mit meinem Anwalt gesprochen“, eröffnete sie ihm, kaum, dass er sich ihr gegenüber hingesetzt hatte.

„Ach ja?“ Sein Gesichtsausdruck war undurchdringlich.

„Ja.“ Sie wartete, bis der Kellner den Kaffee serviert hatte, und fuhr fort: „Anscheinend ist unsere Situation nicht gerade ungewöhnlich.“

„Für mich schon“, erwiderte er. „Ich hatte vor Ava noch nie ein Kind.“

„Ich meinte die Tatsache, dass wir ein Kind haben, obwohl wir nicht verheiratet sind. Er hat schon eine Menge Fälle wie diesen betreut.“

„Verstehe.“ Justin lehnte sich lässig zurück und ließ sich nicht anmerken, was er dachte. „Und wozu hat dein Anwalt dir geraten?“

„Er hat vorgeschlagen, dass wir uns auf Ava konzentrieren und das tun, was das Beste für sie ist.“

„Und dem stimmst du zu?“

„Natürlich.“ Wie gern hätte sie gewusst, was in ihm vorging! Sie hob die Tasse zum Mund und schaute ihn über den Rand hinweg an. „Du nicht?“

„Doch, unbedingt“, antwortete er sofort ohne Zögern.

„Gut. Freut mich, das zu hören.“ Sie lächelte erleichtert und ließ einen Augenblick verstreichen, bevor sie zum Kern der Sache kam. „Du weißt jetzt also, dass du eine Tochter hast. Wie willst du damit umgehen?“

„Ehrlich gesagt weiß ich das auch noch nicht so genau. Ich denke, wir sollten vielleicht damit anfangen, dass ich sie erst mal kennenlerne.“

„Das heißt, du willst sie besuchen?“

„Wenn man es so nennen will …“ Er beugte sich vor. „Ich möchte Zeit mit ihr verbringen. Immerhin habe ich ihr erstes Lebensjahr verpasst. Meinst du nicht, dass sie mich allmählich kennenlernen sollte?“ Er klang leicht verärgert.

„Als du mit mir Schluss gemacht hast, warst du sehr eindeutig. Heirat und Kinder kamen für dich gar nicht infrage, und deshalb wolltest du nicht mehr mit mir zusammen sein“, schoss sie zurück. Wenn er so anfing … Sie hatte ebenso eine Menge gute Gründe, verärgert zu sein. „Versuch bloß nicht, mir Vorwürfe zu machen. Ich bin überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass du dich für meine Schwangerschaft oder das Kind interessieren könntest. Eher im Gegenteil. Du hast mich an dem Abend völlig überzeugt. Ich habe dir jedes Wort geglaubt. Wenn du es nicht so gemeint hast, hättest du es nicht sagen sollen.“

Schweigend starrte er sie an und zuckte schließlich die Achseln. „Du hast recht. Wann hast du gemerkt, dass du schwanger warst?“

„Ein paar Wochen, nachdem wir uns getrennt hatten. Zuerst wollte ich dich tatsächlich anrufen. Aber dann ist mir eingefallen, wie vehement du dich gegen Kinder ausgesprochen hattest. Es erschien mir also logisch, dass du keinerlei Bindungen oder Verpflichtungen wünschst.“

„Das wollte ich damals auch nicht.“

Fragend schaute sie ihn an. „Und jetzt?“

„Ich habe nie vorgehabt, Kinder in die Welt zu setzen. Doch als ich dich gestern mit Ava gesehen habe …“ Er suchte nach Worten. „Sagen wir einfach: Sie zu sehen hat alles auf den Kopf gestellt, was ich über mich zu wissen glaubte. Ich bin ihr Vater. Das bedeutet mir etwas. Es ist mir wichtig. Ich möchte an ihrem Leben teilhaben.“

„Und wie genau soll das aussehen?“

„Können wir nicht langsam anfangen? Ich habe keine genauen Pläne. Ich möchte einfach ein bisschen Zeit mit ihr verbringen. Oder spricht etwas dagegen?“

Alles spricht dagegen, dachte Lily unglücklich. In dem Moment kamen ihr jedoch die Worte des Anwalts in den Sinn: Wenn sie ihm den Kontakt verwehrte, konnte Justin nicht nur das Besuchsrecht einklagen, sondern sogar das Sorgerecht für sich beanspruchen.

„Ich kann natürlich damit leben, dass ihr euch kennenlernt“, sagte sie vorsichtig.

„Gut“, erwiderte Justin, offensichtlich erleichtert. „Wann kann es losgehen?“

Am liebsten hätte Lily ihm ein Datum in ein paar Wochen genannt, aber sie wusste, dass das nichts bringen würde. Je eher, desto schneller haben wir es möglicherweise hinter uns, dachte sie. Wenn er erst mal den Alltag mit einem Kleinkind erlebt hat, wird es ihm wahrscheinlich bald langweilig, und er macht sich wieder aus dem Staub.

„Wie wär’s morgen?“, schlug sie deshalb vor. „Wir sind normalerweise um vier zu Hause, und Ava geht zwischen sieben und halb acht ins Bett. Wenn du so gegen halb fünf kommst, kannst du ihr vorlesen, während ich das Abendessen mache.“

„Ich werde pünktlich sein. Soll ich was mitbringen?“

„Nur eine ganze Menge Geduld“, erwiderte sie trocken.

3. KAPITEL

„Du solltest doch nur Geduld mitbringen“, bemerkte Lily, als Justin am nächsten Nachmittag pünktlich um halb fünf vor der Tür stand.

„Ich war heute in der Stadt und bin an einem Spielwarenladen vorbeigekommen. Da konnte ich nicht widerstehen“, erklärte er wahrheitsgemäß.

Unter dem Arm trug er einen riesigen Plüschbären. Als er an ihr vorbei in den Flur trat, streifte er mit dem weichen Fell ihren Arm und wünschte sich, es wäre seine Hand gewesen. Aber darin hielt er einen Sommerblumenstrauß, den er ihr überreichte.

„Und die gab’s auch im Spielzeugladen?“, fragte sie.

„Nein, die habe ich von Gazebo. Deshalb war ich ja in der Stadt.“

Der Strauß bestand aus Lilien, zartrosafarbenen Rosen und Lavendel. Schleierkraut und Farn umrahmten die Blütenpracht. Er hatte ihre Lieblingsblumen ausgesucht – in dem Blumenladen, in dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren.

„Oh, das ist … ähm …“ Sie suchte nach Worten und rang sichtlich um Fassung. „Sie sind sehr hübsch, danke“, murmelte sie.

„Gern geschehen“, erwiderte er abwesend. Der Anblick ihrer weichen Lippen und ihrer samtigen Haut lenkte ihn ab.

Als sich ihre Blicke trafen, trat ein seltsamer Ausdruck in ihre Augen, und sie senkte hastig den Kopf.

„Mama!“, unterbrach Avas fordernde Stimme den kurzen Moment der Nähe.

„Komm rein“, sagte Lily über die Schulter und eilte ins Wohnzimmer. „Ich kann Ava nicht mehr als ein paar Sekunden allein lassen“, erklärte sie auf dem Weg.

Ans Wohnzimmer schloss sich ein heller, gemütlicher Raum an, an dessen Ende sich die offene Küche befand. Um eine inselartige Arbeitsfläche in der Mitte waren in U-Form die Spüle und Elektrogeräte angeordnet. Der Platz davor war mit einem Sofa, Sesseln und einer Schrankwand mit Fernseher eingerichtet.

Den größten Teil des Holzbodens verdeckte ein weicher, bunter Perserteppich, auf dem Ava saß. Sie hielt eine Rassel in der Hand und schlug damit eifrig auf einen Plastiktopf ein.

„Mama, Mama!“, rief sie fröhlich, als sie Lily erblickte.

„Hallo meine Süße.“ Lily legte die Blumen auf der Arbeitsfläche ab, ging zu Ava und hob sie hoch. Fasziniert schaute Justin zu, während Lily die Kleine küsste, sie an sich drückte, sie auf ihre Hüfte setzte und auf ihn zukam.

„Schau mal, Ava“, sagte sie und zeigte auf ihn. „Mamas Freund Justin ist hergekommen, um mit dir zu spielen. Ist das nicht schön?“

Plötzlich zeigte Ava sich schüchtern, duckte sich und klammerte sich an ihre Mutter. Dabei hielt sie sich an Lilys weißem Trägertop fest und schloss die Faust, sodass der Ausschnitt etwas nach unten rutschte.

Justin erhaschte einen Blick auf Lilys Brustansatz, der mit verführerischer Spitze bedeckt war. Es fiel ihm schwer, sich von diesem Anblick zu lösen und sich auf Ava zu konzentrieren.

„Hallo Ava“, sagte er in ernstem Ton. Er war unsicher, was von ihm erwartet wurde. Es kam ihm seltsam vor, mit einem Kleinkind zu sprechen – schließlich wusste er nicht mal, ob Ava ihn überhaupt verstand.

„Schau mal: Justin hat dir einen Teddy mitgebracht.“ Lily strich dem Bären, den er immer noch unter dem Arm trug, übers Fell. „Oh, der ist ganz weich. Möchtest du ihn auch mal anfassen?“

Als Ava nickte, trat Lily einen Schritt näher, sodass die Kleine den Teddy berühren konnte. Dabei stieg Justin Lilys Parfum in die Nase. Der zarte Hauch weckte sofort Erinnerungen in ihm. Erinnerungen daran, wie er Lilys nackte Haut geküsst hatte, als sie sich geliebt hatten. Wie ihr unglaublich weiblicher Duft ihm die Sinne geraubt hatte … Seine plötzliche Erregung überraschte ihn, und er verdrängte die Bilder hastig. Zum Glück war Lily ganz auf Ava konzentriert und schien nichts gemerkt zu haben.

„Das fühlt sich schön an, nicht?“, fragte sie Ava.

Ava nickte wieder und streichelte den Teddy ein weiteres Mal. Ein kleines zufriedenes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

„Möchtest du mit ihm spielen?“, fragte Lily.

Noch ein Nicken.

„Na gut, dann können sich Justin und der Bär jetzt mit uns hinsetzen.“ Lily ließ sich mit Ava auf dem Arm elegant auf dem Boden nieder und nahm die Kleine auf den Schoß. „Justin, setz dich doch zu uns.“

„Klar. Gern.“ Viel weniger elegant als Lily ging Justin in den Schneidersitz, sodass er Ava anschauen konnte. Erwartungsvoll streckte die Kleine die Hände aus. Er reichte ihr den Teddy und musste lächeln, als sie danach griff. Der Bär war größer als sie und so dick, dass sie ihn mit den Ärmchen nicht umfassen konnte. Trotzdem hielt sie ihn fest und drückte ihn an sich, wobei sie zufrieden vor sich hin brabbelte.

„Ich glaube, sie mag ihn“, bemerkte er.

Lily lächelte. „Man kann wohl sagen, sie liebt ihn. Ups.“ Sie drehte den Kopf, als Ava sie mit einem Arm des Bären am Kinn kitzelte. „Möchtest du mit dem Bären hier neben mir sitzen?“, fragte sie Ava.

Als sie die Kleine neben sich auf den Teppich setzte, verlor Ava sofort das Gleichgewicht, rollte mit dem Teddy zur Seite und gluckste dabei vergnügt.

„Ist sie immer so fröhlich?“, fragte Justin und warf Lily einen Seitenblick zu. Sie beobachtete ihre Tochter zärtlich lächelnd.

„Nein, sie hat heute Nachmittag geschlafen, deshalb ist sie jetzt ausgeruht. Wenn sie müde ist oder Hunger hat oder die Windel voll ist oder … was auch immer, dann kann sie jedenfalls sehr schnell sehr schlechte Laune bekommen. Normalerweise ist sie allerdings eher ein kleiner Sonnenschein, das stimmt.“

„Das muss sie von dir haben“, bemerkte er trocken.

„Wieso, warst du ein schwieriges Kind?“

„Keine Ahnung.“ Justin zuckte die Achseln. Seine Mutter hatte nie darüber gesprochen, wie er als Baby gewesen war. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er von ihr stets nur gehört, was für eine Belastung er für sie darstellte.

Ava ließ den Bären los und begann über den Teppich zu krabbeln. Offenbar war die Fernbedienung auf dem Couchtisch ihr Ziel.

„Nein, Ava.“ Lily stand auf und hob sie hoch. „Hättest du Lust, ihr etwas vorzulesen, während ich das Abendessen mache? Die Bücher liegen da drüben.“ Sie deutete auf einen Korb neben dem Sofa.

„Klar.“ Er erhob sich und suchte mehrere Bilderbücher aus.

„Setz dich doch.“ Lily deutete auf einen der Sessel. „Ich weiß nicht, ob sie sich von dir auf den Schoß nehmen lässt. Bei Fremden ist sie manchmal etwas schüchtern. Versuchen wir es einfach.“

Justin legte die Bücher auf einen Beistelltisch und streckte die Arme aus, um Ava in Empfang zu nehmen. Wachsam betrachtete sie ihn einen Moment und streckte dann ihrerseits die Arme nach ihm aus. Offenbar war Lily davon ebenso überrascht wie Justin.

„Na prima, sie hat gute Laune“, bemerkte Lily.

Vorsichtig setzte Justin Ava auf seinen Schoß und schlug das erste Buch auf. In der Geschichte ging es um ein Geburtstagsmonster, und sie war erstaunlich witzig erzählt. Jedes Mal, wenn er umblätterte, patschte Ava mit ihren Fingern auf die bunten Bilder und quiekte aufgeregt.

Ihr kleiner Körper war warm und schwer. Sie roch nach Seife, Babypuder und etwas, das er nicht so recht erkennen konnte. Unwillkürlich fragte er sich, ob alle Babys so gut dufteten wie seine Tochter.

Bislang hatte er nie ein Baby aus der Nähe gesehen, geschweige denn eines im Arm gehalten. Auf einmal kam er sich schrecklich unwissend und unerfahren vor.

Ava drehte den Kopf, brabbelte etwas und schaute ihn aufmerksam an.

„Oh, ja, klar.“ Er hatte keine Ahnung, was sie gerade gemeint hatte. Seine Antwort schien sie jedoch zufriedenzustellen, denn sie wandte sich wieder dem Buch zu. Mit dem Finger deutete sie auf das Bild eines lilafarbenen Monsters, das einem Nilpferd ähnelte und eine grüne Federboa trug.

„Das Monster magst du?“, riet er.

Sie nickte begeistert und lächelte ihn glücklich an.

Es freute ihn unglaublich, dass er offenbar etwas richtig gemacht hatte, und er erwiderte ihr Lächeln. In diesem Moment lehnte sie sich zurück und schmiegte sich vertrauensvoll an ihn. Eine Welle von Gefühlen überrollte ihn, und er bekam einen Augenblick lang keine Luft mehr.

Beinahe kam es ihm so vor, als hätte ein Erdbeben seine ganze Welt erschüttert. Er war sich sicher, dass Lily etwas davon mitbekommen haben musste, was hier gerade vor sich ging. Doch als er aufblickte, stand sie mit dem Rücken zu ihnen vor dem Herd und rührte in einem Topf.

Das war nur ich, dachte er. Vielleicht erlebte Lily so etwas jeden Tag, und sie hatte sich bereits daran gewöhnt.

So ist es also, ein Vater zu sein. Es macht dir Angst, wie klein und verletzlich deine Tochter ist, du willst sie vor der Welt beschützen und hältst sie für ein absolutes Wunder.

Ava bewegte sich, setzte sich auf und patschte mit der Hand auf das Buch.

„Oh, tut mir leid, Ava.“ Er las weiter, und die Kleine lehnte sich wieder zufrieden an ihn. Sie schafften vier Bücher und fingen gerade mit dem Fünften an, als Lily sie unterbrach.

„Avas Essen ist fertig.“

Zwei Stunden später machte Justin sich auf den Heimweg. Etwas widerstrebend hatte Lily eingewilligt, als er angekündigt hatte, dass er am nächsten Tag wiederkommen würde. Inzwischen hatte er sich ein Bild von Avas Energie machen können.

Ich frage mich, wie Lily das alles jeden Abend alleine schafft, dachte er. Kein Wunder, dass sie so gut in Form war.

Ava wollte ständig beschäftigt werden. Immer wieder hatte Lily sie hochgehoben und eine Weile herumgetragen. Da er nun selbst wusste, dass die Kleine gar nicht so leicht war, bewunderte er ihre Ausdauer.

Als er zu Hause war, trat Justin auf die Terrasse und schaute aufs Wasser hinaus. Seit der Trennung von Lily hatte er mit keiner Frau geschlafen, obwohl es an Gelegenheiten nicht gemangelt hatte. Wenn er samstagabends mit den Rancharbeitern auf einen Drink in die örtliche Bar gegangen war, hatte er sich auf die Flirtversuche der Frauen dort nie eingelassen.

Er hatte Lily verlassen, doch er hatte nie aufgehört, an sie zu denken. Seit ihrer ersten Begegnung war sie die einzige Frau, die er jemals gewollt hatte. Und nun würde er sie heiraten. Er war sich ziemlich sicher, dass Harry ihm keine Steine in den Weg legen würde: Wenn es ihm wirklich um Enkelkinder ging, war er bestimmt begeistert, dass er auf das erste nicht einmal warten musste.

Blieb allerdings noch ein kleines, nicht unerhebliches Problem: Lily wollte ihn nicht in ihrem Leben haben. Wenn es nach ihr ginge, würden sie sich nie wiedersehen. Nur um Avas willen machte sie gute Miene zum bösen Spiel. Irgendwie musste er sie davon überzeugen, dass er damals eine schreckliche Dummheit begangen hatte.

Justin schaute auf seine Armbanduhr. Am besten sprach er so schnell wie möglich mit Harry, damit er sich danach ganz auf Lily und Ava konzentrieren konnte. Er griff nach seinem Handy und drückte die Kurzwahlnummer seiner Sekretärin.

„Bitte rufen Sie meinen Vater und meine Brüder an und sagen Sie ihnen, dass ich sie heute Abend noch sprechen muss. Um zehn Uhr in Harrys Haus.“

„In Ordnung, Sir. Worum geht es bei dem Treffen?“

„Um die Enkelkinder.“

„Die Enkelkinder?“ Seine Sekretärin klang überrascht.

„Mein Vater und meine Brüder wissen schon, was ich meine. Und rufen Sie mich bitte zurück, um den Termin zu bestätigen.“

Auch er selbst verbrachte die nächsten anderthalb Stunden am Telefon. Als Nächstes kontaktierte er seinen Anwalt und besprach mit ihm die Änderung seines Testaments. Für den Fall, dass ihm etwas zustieß, sollten Ava und Lily abgesichert sein.

Danach verständigte er den Vorarbeiter auf der Ranch und übertrug ihm die Vertretung für die nächsten Wochen.

„Ich kann noch nicht sagen, wann ich zurückkomme“, erklärte er. „Ruf mich jederzeit an, wenn es irgendwelche Probleme gibt. Ich werde mich zwischendurch mal sehen lassen, aber im Moment muss ich hier vor Ort sein.“

Wenn er überhaupt eine Chance hatte, Lily zurückzuerobern, dann nur mit viel Zeit und Geduld – und ständiger Anwesenheit.

Um halb zehn fuhr er zu Harrys Haus und betrat um kurz vor zehn die Bibliothek, in der seine Brüder schon warteten.

„Was soll das?“, fragte Gray. „Hätten wir uns nicht im Büro treffen können? Wir sind alle schließlich den ganzen Tag dort gewesen.“

„Nein.“

„Und willst du uns vielleicht verraten, worum es geht?“, warf J.T. ein.

„Das sage ich euch, sobald Harry hier ist.“

„Warum …“, begann Alex, doch in dem Moment erschien Harry.

„Guten Abend, Jungs. Schön, dass wir uns alle so bald wiedersehen. Ich habe extra eine Veranstaltung an der Uni abgesagt, weil du meintest, es sei sehr wichtig, Justin.“ Er setzte sich in einen der Ledersessel und schaute seinen jüngsten Sohn erwartungsvoll an.

„Ich kann deine Bedingungen für die Verheiratungsaktion nicht erfüllen“, sagte Justin ohne Umschweife.

Überrascht hob Harry die Augenbrauen. „Und warum nicht?“, fragte er streng.

„Weil ich gestern Abend erfahren habe, dass ich bereits eine Tochter habe.“

Zuerst schwieg Harry verblüfft, dann strahlte er. „Wie alt ist sie? Wo ist sie? Wer ist die Mutter?“

„Sie ist etwa ein Jahr alt, ihr genaues Geburtstagsdatum weiß ich noch gar nicht.“ Bewusst ging er über Harrys andere Fragen hinweg, um zu dem Punkt zu kommen, den er für den wichtigsten hielt: „Sie ist meine Tochter, und ich werde sie als mein Kind anerkennen.“

„Natürlich“, erwiderte Harry wie selbstverständlich. „Gleich nachdem du das Ergebnis vom DNA-Test hast.“

Das brachte Justin etwas aus dem Konzept. Er hatte überhaupt nicht daran gedacht, Lily um ihre Zustimmung zu einem Vaterschaftstest zu bitten. Es war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, dass sie während ihrer Beziehung eventuell noch mit anderen Männern geschlafen haben könnte.

So sehr vertraue ich ihr? dachte er und war darüber selbst verwundert. Erstaunlich.

„Und?“, fragte Harry, als er schwieg. „Du hast deinen Anwalt schon angerufen, um den Test in die Wege zu leiten, oder? Je eher du ihn machen lässt, desto besser.“

„Nein.“ Justin schüttelte den Kopf. „Ich will keinen Test.“

Verblüfft schaute Harry ihn an. „Wieso nicht? Du brauchst einen Beweis dafür, dass du der Vater bist. Oder glaubst du der Mutter etwa einfach so?“

„Ja. Außerdem sieht die Kleine mir sehr ähnlich. Sie hat mein dunkles Haar und meine Grübchen. Ich bin absolut sicher, dass sie eine Hunt ist.“

„Das ist ja gut und schön. Aber meinst du nicht auch, dass jeden Tag eine Menge Babys geboren werden, die schwarze Haare und Grübchen haben? Und deren Vater bist du auch nicht.“

„Kann schon sein.“ Justin zuckte die Achseln. „Von diesem hier ist allerdings nun mal Lily die Mutter.“

„Soll das heißen, dass du überzeugt davon bist, dass sie die Wahrheit sagt?“

„Voll und ganz. Sie würde mich niemals anlügen. Und bevor du mich für verrückt erklärst“, fuhr Justin fort, als er den Gesichtsausdruck seines Vaters sah, „frag dich, ob du Cornelia glauben würdest, wenn es um sie ginge.“

„Natürlich würde ich das“, erwiderte Harry ohne Zögern. „Aber sie ist auch eine außergewöhnliche Frau.“

„Genau wie Lily. Und deshalb brauche ich keinen Vaterschaftstest.“

Harry öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, überlegte es sich jedoch anders. Nach kurzem Schweigen fragte er: „Und was ist mit der Mutter?“

„Was soll mit ihr sein?“

„Werdet ihr heiraten?“

„Weiß ich noch nicht.“

Die Antwort missfiel Harry offensichtlich. „Warum nicht?“

„Weil sie mich vielleicht nicht will.“

„Natürlich will sie dich. Du bist ein Hunt.“

„Na ja, das ist nicht unbedingt eine Garantie dafür, dass sie meinen Antrag annimmt“, erwiderte Justin trocken.

„Und wieso nicht, zum Teufel?“, fragte Harry überrascht.

„Die ganze Sache ist nicht so einfach“, wich Justin aus. Er hatte keine Lust, seinem Vater zu beichten, dass Lily und er kein Paar mehr waren. Noch weniger wollte er erklären, wie er die Beziehung beendet hatte und dass Lily ihn nicht einmal grüßen würde, wenn es Ava nicht gäbe.

„Dann mach sie einfach“, forderte Harry. „Du hast ein Kind. Du solltest mit der Mutter verheiratet sein.“

„Ja, klar. Das hat bei dir ja auch wunderbar geklappt“, erwiderte Justin ärgerlich.

„Nein, es hat nicht geklappt“, gab Harry zu. „Ganz im Gegenteil. Deshalb soll auch zuerst Cornelia die Frauen kennenlernen, die ihr euch aussucht. Sie bemerkt sofort, ob eine Frau es ernst meint oder ob sie nur hinter dem Geld her ist. Schließlich hat sie mich vor jeder eurer Mütter gewarnt.“

„Na fantastisch“, murmelte J.T.

„Wenn ich auf Cornelia gehört hätte“, fügte Harry unbeeindruckt hinzu, „wären mir vier Enttäuschungen erspart geblieben.“

„Und keiner von uns säße jetzt hier“, bemerkte Gray trocken.

„Darum geht es doch gar nicht.“ Harry warf seinem ältesten Sohn einen finsteren Blick zu. „Natürlich ist es gut, Kinder zu haben. Aber es ist noch besser, wenn man sie zusammen mit der Mutter großzieht.“ Er wandte sich Justin zu. „Wann können Cornelia und ich die junge Dame sehen?“

„Könnt ihr nicht.“

„Warum nicht?“

„Weil sie im Moment nichts mit mir zu tun haben will. Ich möchte sie nicht unter Druck setzen.“

„Ich würde sie sicher nicht bedrängen.“ Harry schaute etwas beleidigt.

„Harry, du weiß doch gar nicht, wie man jemanden nicht bedrängt. Du bist wie ein Bulldozer. Ich will nicht, dass du sie kontaktierst. Wenn ich mir mit ihr einig bin und wenn sie dich dann kennenlernen möchte, gebe ich dir rechtzeitig Bescheid.“

Diese Worte stellten Harry ganz offensichtlich nicht zufrieden. Trotzdem widersprach er nicht.

„Und wo sind die Zigarren?“, fragte Gray.

„Was für Zigarren?“

„Ich dachte, frischgebackene Väter verteilen welche. Ist das nicht Brauch?“

„Ach so. Ja.“ Justin lachte seine Brüder an. „Das müssen wir dann wohl nachholen, ich habe nämlich keine dabei.“

„Wir können wenigstens anstoßen“, schlug Harry vor. Damit nahm er eine Karaffe von einem Beistelltisch, goss fünf Whiskeygläser voll und reichte sie seinen Söhnen.

„Auf unser jüngstes Familienmitglied“, sagte er feierlich und hob sein Glas. „Wie heißt sie eigentlich?“

„Ava.“

„Auf Ava – das erste kleine Mädchen in unserem Männerhaushalt.“

Alle prosteten Justin zu, und ihm fiel auf, dass sein Vater höchst zufrieden aussah.

Später im Bett dachte er darüber nach, wie leicht es gewesen war, den alten Mann von den ursprünglichen Regeln abzubringen. Aber das lag sicher daran, dass er auf die Erfüllung seines größten Wunsches nicht länger warten musste: ein Enkelkind.

Wenn doch nur Lily auch so einfach zu gewinnen wäre!

4. KAPITEL

Am nächsten Tag verließ Justin frühzeitig das Büro, um pünktlich um halb fünf vor Lilys Tür zu stehen. Wie am Vorabend las er Ava vor, während Lily das Essen zubereitete. Diesmal zeigte sich die Kleine jedoch nicht so gut gelaunt. Sie brach mehrmals unvermittelt in Tränen aus, war bockig und widerspenstig. Energisch verweigerte sie sogar den Möhrenbrei, den sie normalerweise am liebsten aß, wie Lily versicherte.

„Sie hat heute Nachmittag nicht lang genug geschlafen“, erklärte sie, als Ava sich lautstark dagegen wehrte, ins Bett gebracht zu werden.

„Bist du sicher, dass es nur das ist?“ Zweifelnd betrachtete er seine weinende Tochter, die sich an Lily klammerte, als ginge die Welt unter. „Sie ist nicht krank oder so?“

„Nein, da bin ich ganz sicher“, erwiderte Lily gelassen und streichelte Avas Rücken. „Wir werden uns ein paar Minuten in den Schaukelstuhl setzen, und wahrscheinlich schläft sie dabei schon ein.“

„Dann warte ich so lange unten“, erklärte er und ging hinaus, bevor Lily ihm widersprechen oder ihn nach Hause schicken konnte. Draußen blieb er einen Moment stehen und hörte, wie Lily ein Schlaflied anstimmte, dann ging er leise die Treppe hinunter. Als Lily eine Viertelstunde später nachkam, hatte er bereits aufgeräumt und das herumliegende Spielzeug im Weidenkorb verstaut. Außerdem hatte er Avas Schüsselchen und Löffel abgewaschen und die Breiflecken von ihrem Kinderstuhl abgeputzt.

„Danke. Du hättest aber wirklich nicht abwaschen müssen“, meinte Lily.

„Kein Problem, ich bin ja schon fertig.“

„Nochmals danke. Ehrlich gesagt hätte ich keine Energie mehr dazu gehabt. Ava ist heute den ganzen Tag ziemlich schwierig gewesen, und ich will mich nur noch ausruhen. Das war wirklich nett von dir – vor allem, weil du so was zu Hause ja wohl nicht machen musst.“

Sie nahm ihm das feuchte Geschirrtuch ab und hängte es über eine Stange.

„Natürlich muss ich das“, widersprach er. „Na ja, keine Hochstühle oder Kindergeschirr. Aber ich wasche ab und hebe meine Klamotten vom Fußboden auf.“

„Klar“, erwiderte sie trocken. „Dabei kann ich mich genau erinnern, dass du mir von einer Haushälterin auf der Ranch erzählt hast. Und ich weiß, dass eine Reinigungsfirma sich um deine Wohnung hier in Seattle kümmert.“

„Stimmt beides“, gab er zu. „Letztes Jahr habe ich allerdings die meiste Zeit damit verbracht, eine Farm zu renovieren, die ich zu der Ranch dazugekauft habe. Das Wohnhaus ist uralt und kaum mehr als eine Blockhütte. Meine Haushälterin hätte sofort gekündigt, wenn ich sie gebeten hätte, dort sauber zu machen.“

„Also hast du ein ganzes Jahr lang dein Geschirr selbst gespült? Und selbst geputzt?“, erkundigte sie sich argwöhnisch. „Und wer hat gekocht?“

„Meine Leute und ich haben uns abgewechselt.“ Er musste lachen, als er ihren ungläubigen Gesichtsausdruck sah. „Ich bin nicht immer reich und verwöhnt gewesen, weißt du. Bis ich acht war, musste ich mich meistens um mich selbst kümmern. Wenn ich nicht irgendwann gelernt hätte, mir was zu kochen, wäre ich vermutlich verhungert.“

Erstaunt schaute Lily ihn an, schwieg jedoch.

„Was? Glaubst du etwa nicht, dass ich kochen kann?“

„Nein, das glaube ich dir.“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber wieso musstest du dich in dem Alter um dich selbst kümmern? Ich dachte, dein Vater hätte ein Kindermädchen und eine Haushälterin und eine Menge anderer Leute eingestellt, die für dich und deine Brüder gesorgt haben.“

„Ich bin erst mit zwölf bei Harry eingezogen.“

„Tatsächlich? Ich dachte, du hast immer bei ihm gewohnt.“

„Nein. Er wusste vorher gar nichts von mir.“

Es war Justin immer schon unangenehm gewesen, über seine Kindheit zu sprechen. Es kam ihm stets so vor, als wäre es irgendwie seine Schuld gewesen, dass seine Mutter ihn nur als lästiges Anhängsel betrachtet hatte. Doch Lily sah ganz so aus, als wollte sie weitere Fragen stellen.

„Das spielt alles keine Rolle mehr“, sagte er schnell. „Und es ist ewig lange her. Viel wichtiger ist jetzt Ava. Da ich nun weiß, dass ich eine Tochter habe, kann ich nicht einfach so weitermachen wie bisher. Das ist dir doch klar, oder?“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ihn für einen Moment schweigend an. Schließlich fragte sie: „Eigentlich habe ich damit gerechnet, dass du erst mal einen Vaterschaftstest verlangen würdest.“

„Warum sollte ich?“

„Willst du keinen Beweis, dass du ihr Vater bist?“

Überrascht, dass Lily auch davon anfing, schüttelte er den Kopf. „Sie sieht ganz genau aus wie ein Kind von dir und mir. Wenn du zu der Zeit nicht gerade mit zwei schwarzhaarigen Männern mit Grübchen ausgegangen bist, ist sie eindeutig meine Tochter.“

In Lilys Augen trat ein verdächtiges Glänzen, und sie wischte hastig mit der Hand darüber. „Es hat mir sehr viel besser gefallen, als ich dich für einen Idioten halten konnte. Wieso musst du plötzlich so nett sein?“, fragte sie mit zitternder Stimme. „Kannst du dich nicht einfach wie ein blöder Kerl aufführen, der die Vaterschaft anzweifelt, weil er keinen Unterhalt zahlen will?“

„Selbstverständlich will ich Unterhalt zahlen“, erwiderte er sofort und war froh, dass sie das Thema selbst anschnitt. „Außerdem werde ich mit meinem Anwalt sprechen, um einen Collegefonds für Ava anzulegen. Wir sollten darüber reden, wie viel du jeden Monat brauchst, und dann werde ich ein Konto eröffnen, das …“

„Nein“, unterbrach Lily ihn und hob die Hand. „Ich will kein Geld von dir. Hierbei geht’s überhaupt nicht um Geld. Ich will nicht, dass ausgerechnet wird, wie viel Ava kostet oder was sie wert ist.“ Ihre grünen Augen blitzten.

„Das will ich genauso wenig“, erwiderte er ruhig. Offenbar hatte er mit seinen Plänen bei ihr einen Nerv getroffen: Sie schien fest entschlossen zu sein, von ihm keinen Cent anzunehmen.

Ach, meine Süße! Harry und Cornelia werden dich lieben.

„Und deshalb werden wir unbedingt einen DNA-Test machen“, erklärte sie entschieden.

Er hob eine Augenbraue. „Aber warum?“

„Weil sie sich sonst immer fragen wird, ob sie deine Tochter ist oder nicht. Oder andere Leute werden es infrage stellen. Das lasse ich nicht zu.“

„Na schön. Soll ich mich um die Vorbereitungen kümmern?“

„Ja, das wäre nett. Es sei denn …“ Sie runzelte die Stirn. „Kannst du dafür sorgen, dass die Presse nichts davon erfährt?“

„Auf jeden Fall. Ein Freund von mir arbeitet im Krankenhaus. Er wird das für mich erledigen.“

„Gut.“ Ihre Anspannung schien nachzulassen. Dann schüttelte sie wieder den Kopf. „Ich kann nicht fassen, dass ich selbst diesen Vaterschaftstest angesprochen habe. Ich war mir ganz sicher, dass du einen verlangen würdest.“

„Wozu? Ich weiß, dass sie meine Tochter ist.“ Er lächelte leicht. „Und ich möchte gern an ihrem Leben teilhaben. Auch wenn du das so nicht geplant hast.“

„Ich habe nichts hiervon geplant“, erwiderte sie ärgerlich. „Du hast mich verlassen. Du hast mich davon überzeugt, dass du an einer Ehe oder Kindern nicht interessiert bist. Was hat sich also plötzlich geändert?“

„Ich habe Ava gesehen.“ Und außerdem konnte ich dich nie vergessen.

„Das ist alles? Du hast sie gesehen und auf einmal Lust bekommen, den Vater zu spielen?“ Misstrauisch sah sie ihn an. „Das kommt mir zu einfach vor. Es muss mehr dahinterstecken, wenn du dich von jetzt auf gleich vom überzeugten Junggesellen zum hingebungsvollen Vater wandelst.“

Justin unterdrückte ein Seufzen. Es war tatsächlich so einfach. Der Anblick seines Kindes hatte alles auf den Kopf gestellt. Wenn Lily allerdings je von Harrys Verheiratungsaktion erfuhr, würde sie ihm das nie und nimmer glauben.

„Ava ist meine Tochter“, wiederholte er. „Das ändert für mich alles.“

„Hm. Das kann ich nur zu gut verstehen. Aber du scheinst ja ganz aus dem Häuschen vor Freude zu sein.“

„Na ja, ich bin immer noch mehr als überrascht. Und etwas durcheinander auch. Vorher hätte ich mir niemals vorstellen können, Kinder zu haben. Aber jetzt, da es eben so ist … Der Gedanke macht mich … froh. Und deshalb sollten wir darüber reden, wie wir damit umgehen.“

„Was soll das heißen?“

„Ich möchte ein aktiver Teil in ihrem Leben sein. Ich möchte dir helfen, sie großzuziehen.“

„Und wie stellst du dir das vor, wenn du in Idaho lebst und Ava hier in Seattle?“, fragte Lily vorsichtig.

„Wie ich das hinbekomme, wenn ich auf der Ranch bin, weiß ich noch nicht. Im Augenblick mache ich mir darüber allerdings keine Gedanken, denn ich bin ja hier.“

„Und für wie lange?“

„Keine Ahnung.“ Vermutlich war es zu früh, um ihr zu sagen, dass er sie heiraten und sich mit ihr gemeinsam um Ava kümmern wollte. Ihr Misstrauen und ihre abwehrende Körperhaltung zeigten ihm, dass er sehr behutsam vorgehen musste. „Auch sonst hat es seine Vorteile, dass ich mal für eine längere Zeit in der Stadt bin. Harry freut sich, dass ich persönlich an Meetings teilnehmen kann, statt mich per Videokonferenz einzuschalten.“

„Und wer kümmert sich solange um die Ranch?“

„Ich kann mich auf meine Leute verlassen. Mein Vorarbeiter vertritt mich, und ich vertraue ihm vollkommen.“

„Aha.“ Sie ging zur Spüle und schaute aus dem Fenster in den Garten hinter dem Haus.

Justin kam es vor, als suche sie fieberhaft nach einer Möglichkeit, um ihn zur Rückkehr nach Idaho zu bewegen. Das würde ihr natürlich nicht gelingen. Inzwischen war er allerdings schon froh, dass sie ihn nicht einfach rauswarf und ihm verbot, Ava zu sehen.

„Morgen zwischen zehn und zwei habe ich keine Termine“, sagte er. „Darf ich Ava und dich zum Mittagessen einladen?“

Sie wandte sich zu ihm um. „Tut mir leid, das geht nicht. Ava hat eine Verabredung, und ich nehme uns was zum Essen mit.“

„Ava hat eine Verabredung?“, wiederholte er verblüfft.

Lily lächelte und entspannte sich etwas. „Wir treffen uns mit einer anderen Mutter und ihrer kleinen Tochter im Park, damit die beiden miteinander spielen können. Es ist eine gute Gelegenheit für Ava, sich an andere Kinder zu gewöhnen.“

„Ah. Verstehe.“ So ganz klar war ihm zwar nicht, wozu das nötig war, doch er wollte sich nicht durch weitere Fragen blamieren.

„Ava verbringt die meiste Zeit mit Erwachsenen“, erklärte Lily, als hätte sie seine Gedanken gelesen. „Und es ist wichtig, dass sie lernt, sich mit anderen Kindern auseinanderzusetzen. Deshalb verabreden wir uns eben zum Spielen.“

„Spielt sie tatsächlich mit denen? Ist sie nicht noch viel zu klein dafür? Was tun die Kinder dabei?“

Er selbst erinnerte sich daran, dass er in frühester Kindheit mit anderen Kindern Baseball gespielt hatte. Allerdings konnte er sich nicht so recht vorstellen, dass Ava einen Schläger schwang.

„Nein, Einjährige spielen noch nicht wirklich miteinander. Sie beschäftigen sich die meiste Zeit mit sich selbst. Gleichzeitig beobachten sie aber auch ihr Gegenüber und lernen dadurch viel über den Umgang mit anderen.“

„Du weiß ja eine Menge über Erziehung. Wo hast du das bloß alles gelernt?“, fragte er.

„Hab ich dir nicht von meiner Tante Shirley erzählt?“

Justin nickte. „Die Tante, bei der du aufgewachsen bist, nachdem deine Eltern gestorben waren. Du warst da noch ganz klein, richtig?“

„Ja. Ich war mir nicht sicher, ob du’s noch weißt.“ Lily lächelte ihn an. „Tante Shirley war eine wunderbare Mutter, obwohl sie nie verheiratet war und keine eigenen Kinder hatte. Als ich sie in San Francisco anrief, um ihr von meiner Schwangerschaft zu erzählen, war sie sofort für mich da. Ich habe mit ihr über meine Ängste gesprochen, keine gute Mutter zu sein, aber sie hat mich davon überzeugt, dass ich es irgendwie schaffen würde. Und sie hatte recht: Immerhin bin ich schon ein ganzes Jahr dabei“, sagte sie lachend. „Das meiste lernt man, indem man es einfach versucht. Außerdem gibt es jede Menge Bücher für junge Mütter, und die moderneren stecken tatsächlich voller guter Ratschläge.“

„Dann sollte ich wohl bald mit dem Lesen anfangen“, gab er zurück. „Ich muss ziemlich viel nachholen. Es gibt doch auch Bücher für Väter, oder?“

„Ja.“ Diesmal sah sie ihn voller Vertrauen und Wärme im Blick an. Im nächsten Moment wurde ihr jedoch anscheinend bewusst, dass sie dabei war, ihre Abwehrhaltung aufzugeben. Hastig schaute sie auf die Uhr. „Oh, es ist schon ziemlich spät. Und ich bin hundemüde.“

„Dann gehe ich besser.“ Langsam lief er in den Flur und blieb dort stehen. „Wäre es dir recht, wenn ich euch morgen im Park treffe?“

Als sie die Lippen zusammenpresste, war er sich sicher, dass sie ablehnen würde. Schließlich lenkte sie ein, wenn auch mit deutlichem Widerwillen. „Ava würde sich bestimmt freuen, dich zu sehen.“

„Also komme ich morgen.“ Er öffnete die Tür und drehte sich ein weiteres Mal zu Lily um. Eine Locke war ihr ins Gesicht gefallen. Langsam streckte er die Hand aus, um sie ihr hinters Ohr zu streichen. Diese Geste kam ihm ganz natürlich vor.

Lily duckte sich unter seiner Hand. „Nicht.“

„Nicht?“, wiederholte er und schob die Hand in die Tasche seiner Jeans, um nicht wieder in Versuchung zu geraten. Sein Instinkt sagte ihm, dass sie sich wehren würde, wenn er seinem Verlangen nachgab und sie in seine Arme zog.

Die kurzen vertrauensvollen Momente in ihrem Gespräch waren vergessen. Erneut hatte sie die Mauer zwischen ihnen errichtet, und er konnte es ihr nicht verdenken. Obwohl sie natürlich gute Gründe hatte, ihm nicht zu vertrauen, tat ihre Zurückweisung weh.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und musterte ihn kühl. „Ich möchte, dass eins klar ist, Justin: Hier geht es nicht um uns. Es gibt kein ‚uns‘. Du darfst nur herkommen und in meiner Nähe sein, weil du Avas Vater bist. Ansonsten besteht zwischen uns keinerlei Verbindung.“

„Bist du dir da ganz sicher?“, fragte er leise.

„Absolut.“ Trotzig hob sie das Kinn.

„Wenn du es sagst“, erwiderte er sachlich. Wenn sie sich das einreden wollte, konnte er nicht viel dagegen tun. Dennoch spürte er deutlich, dass zwischen ihnen noch immer etwas war: Sie musste dieses Kribbeln, diese Anziehungskraft doch genauso bemerken! Im Moment erschien es ihm am besten, nicht mit ihr darüber zu streiten. Er konnte froh sein, dass sie sich um Avas willen überhaupt auf Kompromisse einließ – das wollte er auf keinen Fall gefährden. Abgesehen davon wirkte sie angespannt und abwehrend. Wenn er auch nur einen Schritt auf sie zumachte, würde sie mit Sicherheit wegrennen.

„Tja …“ Seine Stimme klang heiser, und er räusperte sich. „Also sehen wir uns morgen.“

Nach einem kurzen Nicken schloss sie die Tür, kaum, dass er draußen war.

Es gibt noch eine Menge wiedergutzumachen, dachte er. Leider hatte er nicht die leiseste Ahnung, wie er das anfangen sollte.

5. KAPITEL

Um die Mittagszeit war der Park in Ballard hauptsächlich von jungen Müttern bevölkert, die ihre Kinder in dem flachen Brunnen in der Mitte der Grünfläche spielen ließen. In eine mit Sandsteinplatten gepflasterten Fläche waren mehrere Düsen eingelassen, aus denen das Wasser in kniehohen Fontänen spritzte. Drum herum standen Bänke, die fast alle besetzt waren.

„Wow, ist das da hinten dein Typ?“

Lily war gerade dabei, Ava den feuchten Badeanzug zurechtzuzupfen. Als ihre Freundin Chris sie mit dem Ellbogen anstieß, blickte sie auf.

O ja, das war er. Unwillkürlich bekam sie Herzklopfen, als sie Justin über den Rasen auf sie zukommen sah. Er hatte wie gewöhnlich Cowboystiefel und verwaschene Jeans an und trug dazu heute ein weißes T-Shirt mit dem kleinen Logo seiner Ranch auf der rechten Brust. Der weiße Baumwollstoff, der sich über seinem Bizeps spannte, betonte seine gebräunten Arme.

Eine Ray-Ban-Sonnenbrille verdeckte seine Augen. Trotzdem spürte sie, wie eindringlich er sie ansah, während er sich näherte.

„Ähm, ja, das ist er“, brachte sie heraus, als ihr klar wurde, dass Chris sie erwartungsvoll anschaute.

„Aha“, entgegnete ihre Freundin neugierig und amüsiert zugleich, während sie ihrer zweijährigen Tochter Amanda einen Keks reichte. „Du hast mir gar nicht erzählt, dass ihr beide zusammen seid.“

„Sind wir ja auch nicht“, gab Lily hastig zu verstehen. Allerdings wollte sie Chris nicht unbedingt auf die Nase binden, dass sie sich nur mit Justin traf, weil er Avas Vater war. „Also nicht direkt“, fügte sie etwas lahm hinzu.

„Nein, natürlich nicht“, erwiderte Chris verschmitzt. Amanda zog sie am Ärmel, und sie reichte ihr ein Stückchen Apfel. Beide lachten, als der Kleinen der Saft übers Kinn rann.

Lily verpasste die Möglichkeit, darauf zu antworten, als Justin die Bank erreichte.

„Guten Morgen.“ Justin lächelte sie, Chris und Amanda an und tippte Ava auf die Nasenspitze. „Hallo, Knöpfchen. Wie geht’s meinem Mädchen heute?“

Kichernd rutschte Ava auf Lilys Schoß herum und plapperte aufgeregt, bevor sie beide Ärmchen nach Justin ausstreckte. Freude breitete sich auf seinem Gesicht aus, dann warf er Lily einen fragenden Blick zu. Als sie nickte, hob er Ava hoch und drückte sie etwas ungeübt an die Brust.

Sie lachte, patschte mit beiden Händchen in seinem Gesicht herum und griff nach seiner Sonnenbrille.

„Hey, nicht so schnell“, protestierte Justin lachend, verlagerte ihr Gewicht auf einen Arm und hielt sie mit der freien Hand fest.

„Gib ihr bloß nicht die Brille“, warnte Lily. „Sie steckt sie nur in den Mund und kaut darauf herum. Und sie ist ziemlich gut darin, Sachen kaputtzumachen.“

„Oho.“ Geschickt schob Justin die Sonnenbrille ins Haar und strich Ava übers Köpfchen. „Hey, du bist ja ganz nass.“ Er schaute Lily an. „War sie schon im Wasser?“

„O ja, das findet sie ganz toll.“

„Soll ich noch mal mit ihr zum Brunnen gehen?“

„Aber sicher, nur zu.“

„Hältst du sie mal kurz? Ich will mir nur schnell die Stiefel ausziehen.“ Er reichte ihr die Kleine und setzte sich aufs Ende der Bank.

Wieder bekam Lily von ihrer Freundin einen Rippenstoß. Chris sah sie eindringlich an, deutete mit dem Kopf auf Justin und wackelte mit den Augenbrauen.

„Justin, darf ich dir meine Freundin Chris und ihre Tochter Amanda vorstellen?“, nahm Lily den Hinweis auf. „Chris, das ist Justin. Er lebt in Idaho“, fügte sie mit besonderer Betonung hinzu.

„Ach, daher die Cowboystiefel“, meinte Chris grinsend. „Hallo Justin.“

„Hi Chris. Nett, Sie kennenzulernen.“ Justin lächelte Chris an, warf Lily einen fragenden Blick zu und beugte sich wieder vor, um die Stiefel auszuziehen.

„Wie lange bleiben Sie hier in Seattle?“, fragte Chris.

„Unbegrenzt.“ Justin steckte die Socken in die Stiefel, die er unter die Bank stellte, und stand auf, um Lily Ava abzunehmen. „Für ein paar Wochen auf jeden Fall, eventuell ein paar Monate. Vielleicht auch länger.“

Entsetzt starrte sie ihn an. Das ist ein Scherz, oder?

Lächelnd zwinkerte er ihr zu, wobei seine Grübchen sichtbar wurden, und marschierte schließlich mit Ava in Richtung Brunnen.

„Ich glaube, ich werde ohnmächtig“, flüsterte Chris und presste in einer übertriebenen Geste die Hände auf die Brust. „Er hat sogar Grübchen. Ein Traummann. Warum hast du mir nicht schon längst von ihm erzählt?“

Neugier stand deutlich in ihren Augen, während sie nachdenklich zwischen Lily und Justin hin- und herblickte.

Lily seufzte. „Weil es nichts zu erzählen gibt. Er ist ein Bekannter, der gerade in der Stadt ist. Ich habe ihn diese Woche ein paarmal getroffen. Das ist schon alles.“

„Sieht aber nicht so aus, als ob ihr beide nur Freunde wärt. Ich vermute, da steckt viel mehr dahinter, oder? Zumal er Ava verblüffend ähnlich sieht. Na ja, wenn du mit mir nicht darüber reden willst …“ Trotz dieser Worte klang ihre Stimme hoffnungsvoll.

Doch Lily ging über die unausgesprochene Einladung geflissentlich hinweg. Sie war einfach noch nicht bereit dazu, irgendjemanden anzuvertrauen, dass Justin Avas Vater war. Ohnehin würde Chris sicherlich recht schnell drauf kommen, dass er zum Hunt-Clan gehörte.

„Mami, spiel mit mir.“ Amanda zog Chris am Ärmel. „Ich will auch zum Brunnen.“

„Sicher, Schatz.“ Chris erhob sich und wandte sich Lily zu. „Na, kommst du mit?“

„Danke, ich setze eine Runde aus.“

Nachdem Chris und Amanda gegangen waren, streckte Lily die nackten Beine in die Sonne. Zum Glück war ihr knielanger Rock beim Planschen mit Ava nicht nass geworden.

Justin und Ava spielten innig miteinander am Brunnen, und seine Jeans war mittlerweile dunkel vor Feuchtigkeit. Umsichtig hielt er Ava an der Hand, während sie zwischen den Sprinklern umhertappte. Manchmal stolperte sie noch, aber sie war fest entschlossen, auf eigenen Füßen zu stehen.

Ava kicherte, als sie die Hand in eine der Fontänen hielt und das Wasser hochspritzte. Begeistert schaute sie zu Justin auf, der sie anlächelte. Auf beiden Gesichtern zeigten sich die Grübchen.

Bei dem Anblick tat Lily das Herz weh. Sie sehen sich so ähnlich, dachte sie. Vater und Tochter beim Spielen. Wenn Chris es bislang nicht erraten hatte, würde es ihr bald klar werden.

Still beobachtete sie, wie Justin Ava auf den Arm nahm und ihr die Wassertropfen aus dem Gesicht wischte. Dabei spürte sie, wie ihr Entschluss, ihn auf Abstand zu halten, ins Wanken geriet. Avas Lachen schallte durch den ganzen Park, als er die Kleine hochhob und im Kreis herumwirbelte. Die ganze Situation vermittelte ihr, dass sein Auftauchen vielleicht doch etwas Gutes hatte.

Eine Stunde später winkten Lily und Ava Chris und Amanda nach. Noch hatte Chris Justin nicht erkannt, doch das würde nicht mehr lange dauern. Außerdem war es nur eine Frage der Zeit, bis ein Zeitungsreporter Justin mit Ava sah und eins und eins zusammenzählte.

Inständig hoffte sie, dass es nicht allzu bald geschah. Bislang hatte sie keine Antwort auf die Frage gefunden, wie Justin in ihr Leben passte und welche Rolle er darin übernahm.

„So, fertig.“ Justin schloss den Gurt an Avas Kindersitz, küsste sie auf die Wange und schloss die Autotür. „Ich muss nachher geschäftlich nach Portland fliegen und über Nacht bleiben. Morgen Nachmittag bin ich wieder zurück“, erklärte er Lily. „Kann ich dann bei dir vorbeikommen, um dir mit Ava zu helfen?“

„Tut mir leid“, erwiderte sie. „Morgen Abend habe ich eine Verabredung.“

Eigentlich hatte sie ihm das nicht so direkt und unverblümt sagen wollen. Andererseits war sie fest entschlossen, deswegen keine Schuldgefühle aufkommen zu lassen. Außerdem handelte es sich lediglich um eine Wohltätigkeitsveranstaltung, zu der ein Geschäftspartner sie begleiten würde – ein Dessouseinkäufer, der für eine Handelskette an der Ostküste arbeitete.

„Eine Verabredung“, wiederholte Justin tonlos und starrte sie missmutig an. Die verschmitzte Fröhlichkeit war aus seinem Gesicht verschwunden. Auf einmal verfinsterte sich seine Miene. „Wer passt dann inzwischen auf Ava auf?“

„Meine Nachbarin Mrs. Blake.“

„Sag ihr ab. Ich werde bei Ava bleiben.“

Überrascht riss sie die Augen auf. „Ich habe sie schon vor Wochen darum gebeten. Auf keinen Fall kann ich ihr in letzter Minute absagen. Sie ist Rentnerin und verdient sich mit dem Babysitten etwas dazu.“

„Ich bezahle ihr den vollen Lohn und einen Bonus wegen der späten Absage.“ An seinem Kiefer zuckte ein Muskel. „Es sei denn, du möchtest mir Ava nicht anvertrauen.“

„Nein, darum geht es gar nicht“, antwortete sie hastig. „Ich weiß, dass du gut auf sie aufpassen würdest, aber …“

„Gut“, unterbrach er sie. „Das wäre also geregelt. Wann soll ich da sein?“

„Gegen acht.“

„Bis dann.“

Mit großen Schritten ging er zu seinem Wagen. Auch Lily stieg ein, noch immer völlig überrascht von der neuen Entwicklung. Dass Justin sich von ihrer Verabredung nicht begeistert zeigen würde, hatte sie erwartet. Obwohl sie sich einredete, dass sie außer der Liebe zu Ava nichts verband, musste sie sich eines eingestehen: Zwischen ihnen bestand eine unterschwellige erotische Spannung, sosehr sie auch dagegen ankämpfte. Und sie war sich ziemlich sicher, dass Justin das Knistern ebenso spürte.

Dass er sich als Babysitter anbot, war ihr jedoch gar nicht recht. Dabei traute sie ihm die Aufgabe durchaus zu: Er war zwar unerfahren im Umgang mit Kleinkindern, aber er hatte einen guten Draht zu seiner Tochter. Außerdem konnte er sie ja jederzeit auf dem Handy erreichen, wenn er eine Frage hatte.

Nein, was sie daran störte, waren ihre eigenen Gefühle. Es kam ihr sowieso schon vor, als würde sie Justin betrügen, wenn sie mit einem anderen Mann ausging. Wenn er währenddessen bei ihr zu Hause saß, würde sich dieser Eindruck sicher noch verstärken. Und das ging ihr gewaltig gegen den Strich.

Ich muss mich nun wirklich nicht schuldig fühlen, sagte sie sich.

Aber genau das tat sie.

Äußerst ärgerlich. Und verwirrend – schließlich gab es überhaupt keinen Grund dafür.

Am nächsten Abend stand Justin um Viertel vor acht vor Lilys Tür. Er hatte gehofft, seine Gefühle inzwischen unter Kontrolle zu haben. Als er sie jedoch sah, stieg erneut Ärger in ihm auf.

Dazu habe ich kein Recht, ermahnte er sich im Stillen. Jedenfalls noch nicht. Noch gehört sie nicht mir.

„Hallo“, begrüßte sie ihn. Lily trug ein kleines Schwarzes mit Wasserfallausschnitt und nur angedeuteten Ärmeln. Es reichte ihr gerade bis zum Knie. Zusätzlich war der schmale Rock hoch geschlitzt und ließ ein gutes Stück ihres Oberschenkels sehen.

„Hi“, gab er zurück. Als ihm der verführerische Duft ihres Parfums in die Nase stieg, musste er ein Stöhnen unterdrücken. Stattdessen fragte er: „Schläft Ava schon?“

Sie schaute sich über die Schulter um. „Ja. Ich fürchte, dass sie sich eine Sommergrippe eingefangen hat. Sie hat den ganzen Tag geniest und war extrem schlecht gelaunt. Essen wollte sie auch nichts. Ich habe ihr Kinderaspirin gegeben und sie ins Bett gesteckt.“

Lily ging in die Küche und schrieb etwas auf einen Block. „Das hier sind die Notfallnummer vom Kinderarzt und meine Handynummer. Das Wohltätigkeitsdinner findet im Blauen Saal des Sheraton Hotels in der Innenstadt statt. Die Nummer vom Hotel habe ich auch aufgeschrieben – für den Fall, dass ich drinnen keinen Empfang habe. Wenn du Fragen hast oder Ava aufwacht und nicht wieder einschlafen will, ruf mich auf jeden Fall an. Ich komme dann sofort nach Hause.“

„Hat sie Fieber?“ Justin nahm den Zettel.

„Als ich sie ins Bett gebracht habe, hatte sie noch keine erhöhte Temperatur.“ Lily biss sich auf die Unterlippe. „Vielleicht sollte ich einfach absagen. Ich habe Ava noch nie allein gelassen, wenn sie sich nicht wohlgefühlt hat.“

Zwar war er wirklich nicht begeistert davon, dass Lily mit einem anderen ausging. Gleichzeitig wollte er aber auch nicht, dass sie zu Hause blieb: Schließlich hatte sie sich so auf ihren freien Abend gefreut und sich dafür besonders schick zurechtgemacht. Außerdem handelte es sich um eine Wohltätigkeitsveranstaltung für das örtliche Krankenhaus – das wusste er, weil er selbst eine Einladung erhalten, aber abgesagt hatte. Stattdessen unterstützte er den guten Zweck mit einer Spende.

Vielleicht war dieser Abend für Lily ja geschäftlich wichtig, und es war keine ernsthafte Verabredung. Fragen würde er sie danach natürlich nicht. Doch dieser Gedanke bewog ihn, Lily zu beruhigen und ihr den Rücken zu stärken.

„Wenn sie aufwacht und ich irgendwelche Probleme habe, rufe ich dich an“, versprach er. „Du brauchst deine Pläne nicht zu ändern, nur weil unsere Kleine ein bisschen niest.“

„Wenn sie sich nicht wohlfühlt, kann sie ein ziemlicher Teufel sein“, warnte Lily ihn besorgt.

„Genau wie du.“ Justin lächelte. „Erinnerst du dich an das Wochenende, das wir in deiner Wohnung verbracht haben, als du die Erkältung hattest? Ich habe dir Hühnersuppe gekocht, und wir haben uns alte Schwarz-Weiß-Filme angeschaut.“

Eine leichte Röte färbte ihre Wangen. „Ja, daran erinnere ich mich“, erwiderte sie gedehnt.

In diesem Moment klingelte es an der Haustür, und der kurze Moment der Vertrautheit verflog.

„Liebe Güte“, sagte sie ärgerlich. „Ich habe Doug extra gesagt, dass er nicht klingeln soll, damit Ava nicht aufwacht.“ Sie griff nach ihrer Handtasche und eilte zur Tür.

Justin folgte ihr und stand direkt hinter ihr, als sie öffnete.

„Doug …“

„Hallo Lily.“ Der hochgewachsene Mann auf der Schwelle betrachtete Lily von Kopf bis Fuß und lächelte anerkennend. „Sie sehen fantastisch aus.“

„Danke. Ich würde Sie reinbitten, aber wir sind schon spät dran. Wir machen uns besser gleich auf den Weg. Justin …“

Als sie sich nach ihm umdrehte, streifte sie ihn mit der Schulter, weil er so dicht hinter ihr stand. Sie zuckte leicht zusammen. „Bitte ruf mich an, wenn Ava aufwacht oder wenn du das Gefühl hast, dass sie Fieber bekommt.“

„Mache ich.“ Justin streckte die Hand aus und strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. Als er mit den Fingerspitzen ihre Wange berührte, riss sie verwundert die Augen auf.

„Amüsiert euch gut, Kinder“, sagte Justin locker und musterte Doug dabei eisig. „Und fahrt vorsichtig.“

Bei Justins Liebkosung hatte Doug überrascht gewirkt, doch jetzt sah er geradezu nachdenklich aus. Er legte die Hand unter Lilys Ellbogen und führte sie über die Schwelle nach draußen. „Warten Sie nicht auf uns“, verabschiedete Doug sich und klang beinahe feindselig.

Justin lächelte kühl. „Keine Sorge, ich werde hier sein, wenn ihr zurückkommt“, erwiderte er gefährlich leise.

„Ruf mich an, wenn Ava Fieber bekommt“, wiederholte Lily und bedachte ihn mit einem intensiven Blick, der nichts Gutes verhieß.

Er nickte nur und lehnte sich an den Türrahmen. Scheinbar gelassen schaute er zu, wie Doug Lily zu seinem schnittigen BMW führte. Erst als sie losgefahren waren, ging er wieder hinein. Es kostete ihn große Beherrschung, die Tür nicht hinter sich zuzuknallen, aber er wollte Ava nicht wecken.

Als sie im Wagen saß, atmete Lily tief durch.

„Was war das denn?“, fragte Doug an der nächsten Ampel. „Wer ist der Kerl?“

„Justin? Er ist der Babysitter, der heute auf Ava aufpasst.“

„Nicht nur auf Ava“, bemerkte Doug und warf ihr einen Seitenblick zu. „Sie sind doch nicht verheiratet, oder?“

Entsetzt betrachtete sie ihn. „Nein, bin ich nicht. Sonst würde ich ja wohl kaum mit Ihnen ausgehen.“

„Das sollten Sie Ihrem Babysitter vielleicht mal sagen. Er benimmt sich nämlich ganz wie ein eifersüchtiger Ehemann.“

„Das kommt Ihnen nur so vor.“ Lily bemühte sich, ruhig zu klingen. Mit den Fingern bearbeitete sie ihre Handtasche so heftig, dass der schwarze Satin Dellen bekam. „Er hat angeboten, heute Nacht bei ihr zu bleiben. Ava himmelt ihn an, und er kann sehr gut mit ihr umgehen – aber das ist auch schon alles.“

Insgeheim musste sie Doug allerdings zustimmen. Justin hatte sich benommen, als hätte er die älteren Rechte. Dieses Verhalten sollte sie ihm besser gleich austreiben, denn sie kannte ihn schließlich: Wenn man ihm den kleinen Finger reichte, nahm er die ganze Hand. Und auf keinen Fall würde sie sich wieder mit ihm einlassen.

Das Einzige, was sie verband, war Ava. Und damit basta.

Vom geschäftlichen Standpunkt aus gesehen wurde der Abend ein voller Erfolg. Lily knüpfte neue Kontakte, brachte sich bei ihren anderen Kunden in Erinnerung und tauschte mit ein paar Bekannten aus der Branche Neuigkeiten aus.

Was die Verabredung anging, lief es nicht so gut. Auch Doug nutzte den Abend für Geschäftliches, sodass er mehr Zeit ohne sie verbrachte als mit ihr. Doch das machte ihr überhaupt nichts aus – im Gegenteil. Schon seit Monaten hatte Doug sie um eine Verabredung gebeten. Für den heutigen Abend hatte sie zugesagt, weil sie die Wohltätigkeitsveranstaltung für einen guten und unverfänglichen Test gehalten hatte: Danach könnte sie entscheiden, ob sie Doug zu einem privateren Date mit Abendessen und Kino treffen wollte.

Und noch vor Ende der Veranstaltung wusste sie, dass daraus nichts werden würde. Es hatte einfach nicht gefunkt. Kein Kribbeln, keine Spannung – nichts, das sich mit dem vergleichen ließ, was sie in Justins Nähe empfand. Verdammt.

Als Doug sie nach Hause brachte und vor ihrem Haus parkte, hatte sie den Verdacht, dass er so was bereits ahnte.

„Vielen Dank.“ Sie löste den Sicherheitsgurt und wandte sich ihm zu. „Es war ein schöner Abend.“

„Es war die Verlängerung eines Arbeitstages, nur in eleganterer Kleidung“, erwiderte er trocken. „Und mit besserem Essen, fand ich zumindest. Es freut mich, dass es Ihnen gefallen hat – aber ich habe das Gefühl, dass dies unsere einzige Verabredung bleibt.“

„Tut mir leid, Doug. Mein Leben ist zurzeit etwas kompliziert.“

„Ja, das ist mir aufgefallen. Ein eins neunzig großer Cowboy ist auch schwer zu übersehen.“ Er lächelte leicht.

„Sie nehmen das wirklich mit Humor“, sagte sie leise und war dankbar, dass er ihr keine Szene machte.

„Ich würde mich mehr ins Zeug legen, wenn ich nur den Hauch einer Chance für mich sähe. Allerdings sagt mir irgendwas, dass ich mich damit abfinden sollte, nur Ihr Kollege zu sein.“

„Bei meiner Arbeit läuft es im Moment viel besser als in meinem Privatleben. Sie bekommen den besseren Teil, glauben Sie mir.“

Er lachte und stieg aus. Als er um den Wagen herumging, flammte die Außenleuchte neben der Haustür auf.

Doug half ihr aus dem Wagen, hielt ihre Hand und beugte sich vor. „Möchten Sie, dass ich mit reinkomme? Ich erkläre Ihrem Babysitter gern, dass wir nur Freunde sind“, flüsterte er ihr ins Ohr.

„Danke für das Angebot, aber ich komme schon zurecht.“

Doug küsste sie leicht auf die Wange. Dann ließ er sie los und trat einen Schritt zurück. „Ich warte hier, bis Sie drinnen sind.“

„Sie sind ein echter Gentleman.“

Sein Lächeln wirkte etwas traurig. „Sie haben ja meine Telefonnummer. Rufen Sie mich an, wenn Sie Ihre Meinung doch noch ändern. Was die Erweiterung der Geschäftsbeziehung angeht, meine ich.“

Lachend ging sie durch den kleinen Vorgarten zur Haustür. Auf der Treppe drehte sie sich um und winkte. Doug erwiderte die Geste, stieg in den Wagen und ließ den Motor an.

Als Lily die oberste Stufe erreichte, öffnete Justin die Tür.

„Wie geht es Ava?“, flüsterte sie beim Hineingehen.

Er schloss hinter ihnen ab. „Sie ist vorhin mal kurz aufgewacht. Jetzt schläft sie wieder.“

Erleichterung breitete sich in ihr aus. „Also hat sie kein Fieber bekommen?“

„Nein. Aber ihr Schlafanzug war durchgeschwitzt, und deshalb habe ich sie umgezogen. Außerdem habe ich ihr Wasser zu trinken gegeben, ihr was vorgesungen und bin mit ihr auf dem Arm rumgelaufen. Dabei ist sie dann eingeschlafen.“ Er schaute auf die Uhr. „Das war vor etwa einer Stunde. Seitdem schläft sie ruhig und friedlich.“

„Gott sei Dank.“ Nachdem die Sorgen ausgeräumt waren, konnte sie sich endlich mit dem Ärger befassen. Sie musterte Justin kühl. „Wir müssen reden. Komm mit ins Fernsehzimmer, damit wir Ava nicht wecken.“

In der Küche brannte kein Licht. Nur die Stehlampe auf dem Tischchen neben dem Sofa war eingeschaltet.

Lily überlegte, was sie Justin eigentlich sagen wollte. Damit war sie so beschäftigt, dass ihr die schummrige Beleuchtung gar nicht auffiel. Sie warf die Handtasche auf die Couch und drehte sich abrupt zu ihm um.

„Was sollte das vorhin?“, fragte sie scharf.

„Was?“

„Wie du dich benommen hast, als Doug hier war. Oder sollte ich lieber sagen ‚danebenbenommen‘?“

„Oh. Das.“

„Ja. Das.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn wütend an. „Er hat mich sogar gefragt, ob wir verheiratet sind, weil du dich wie ein eifersüchtiger Ehemann aufgeführt hast.“

„Ehrlich?“ Justin stieß sich vom Türrahmen ab und ging langsam auf sie zu.

„Ja. Und damit hatte er auch noch recht. Du hast dich benommen, als ob ich dir gehöre.“

Obwohl er immer näher kam, weigerte sie sich, zurückzuweichen. Schließlich stand er so dicht vor ihr, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um ihn anzusehen. „Du hast kein Recht, so zu tun, als ob zwischen uns was wäre. Außer Ava verbindet uns gar nichts. Wir gehen nicht miteinander aus, wir sehen uns überhaupt nur, wenn es mit Ava zu tun hat. Zwischen uns läuft nichts.“

„Wir gehen nicht miteinander aus“, stimmte er zu, und seine Stimme klang tief und rau. „Aber zwischen uns läuft eine ganze Menge.“

Bevor sie widersprechen konnte, schlang er die Arme um sie und zog sie fest an sich. Dann küsste er sie auf den Mund.

Instinktiv wehrte Lily sich gegen seinen leidenschaftlichen Überfall, legte die Hände auf seine Oberarme und wollte ihn wegschieben. Einen Moment lang schien er die Kontrolle verloren zu haben, sodass er ihren Widerstand zunächst nicht bemerkte. Schließlich erstarrte er. Deutlich spürte sie seine Anspannung, als er versuchte, sich zu beherrschen. Er gab sie frei und hob den Kopf.

„Lily … Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken.“

Nachdem er sie losgelassen hatte, setzte bei ihr eine verspätete Reaktion auf die körperliche Nähe ein. Das Gefühl seiner starken Arme, die sie sicher gehalten hatten, seine weichen, fordernden Lippen … Sie atmete tief durch und rief sich ins Gedächtnis, dass sie guten Grund hatte, Justin auf Abstand zu halten. Dabei stieg ihr sein vertrauter männlicher Duft in die Nase, den sie so geliebt hatte – eine Mischung aus einem unaufdringlichen Aftershave und purer Männlichkeit.

„Justin“, hauchte sie. Ich habe dich vermisst. Ich habe das hier vermisst.

Das plötzliche Verlangen ließ sie alle Vorsicht vergessen. Sie schlang die Arme um seinen Nacken, stellte sich auf die Zehenspitzen – und küsste ihn. Er stöhnte auf und zog sie wieder an sich. Diesmal war der Kuss zärtlich und verführerisch und erweckte eine Lust in ihr, die ihr Herz schneller schlagen ließ.

Als eine innere Stimme sie jedoch leise mahnte, vernünftig zu sein, gelang es ihr tatsächlich, sich von ihm zu lösen.

„Das lassen wir lieber“, sagte sie mühsam beherrscht. „Ich will das mit dir nicht noch einmal erleben.“

„Zu spät. Wir sind schon mittendrin“, entgegnete er, heiser vor Verlangen.

„Es ist überhaupt nicht zu spät“, widersprach sie heftig und wich hastig einen Schritt zurück. „Ich möchte, dass du jetzt gehst.“

Schweigend starrte er sie an, und ihm war klar anzusehen, wie unzufrieden er war. „Schon gut, ich gehe“, murmelte er. „Aber lass uns eins klarstellen: Ob du es nun zugibst oder nicht – zwischen uns passiert etwas. Und ich werde nicht einfach die Augen davor verschließen.“

Er lief zur Tür, hielt inne und drehte sich zu ihr um. „Ich komme morgen wieder, um dich – und Ava – zu sehen.“

Damit ging er. Reglos wartete sie ab, bis die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel. Erst dann ließ sie sich überwältigt aufs Sofa sinken. Ich werde nicht noch einmal auf ihn reinfallen. Auf keinen Fall.

Es war okay, einen Fehler zu begehen. Man konnte sich in Menschen täuschen. Aber denselben Fehler zweimal zu machen war nicht nur unverzeihlich, sondern schlichtweg dumm. Wollte sie sich wirklich ein weiteres Mal das Herz brechen lassen? Immerhin war sie sich sicher, dass er sie auch diesmal wieder sitzen lassen würde. Im Moment schien es ihm Spaß zu machen, sich mit Ava zu beschäftigen, doch das würde vergehen. Wenn er erst merkte, wie anstrengend der Alltag mit einem Kleinkind war, würde er sich schnellstens wieder aus dem Staub machen.

Vielleicht würde er Ava zum Geburtstag regelmäßig Karten schicken, und vielleicht würde er ihr sogar die Collegeausbildung bezahlen. Aber sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Justin bereit war, für seine Tochter eine verlässliche Bezugsperson darzustellen.

Das war allein deshalb schon unmöglich, weil er in Idaho lebte. Und selbst wenn er ab und zu nach Seattle kommen würde – lange könnte er die Führung der Ranch bestimmt nicht seinen Mitarbeitern überlassen.

Nein, das würde alles niemals funktionieren. Und mit diesem Wissen wäre es doppelt naiv von ihr, wenn sie sich um der alten Zeiten willen von ihm verführen ließ. Denn sie könnte es nicht ertragen, wenn er sie ein zweites Mal verlassen würde.

Seufzend schlang sie die Arme um den Oberkörper, weil sie plötzlich fror. Ich muss einfach durchhalten, bis seine Begeisterung für Ava nachgelassen hat. Danach wird unser Leben wieder ganz normal verlaufen.

Sie stand auf und ging nach oben, um nach Ava zu sehen. Die Kleine schlief tief und fest mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Außerdem schien sie nicht mehr zu schwitzen.

Erleichtert trat Lily ins Schlafzimmer. Als sie das dünne Kleid abstreifte, kämpfte sie die Erinnerung daran nieder, wie sich Justins warme raue Hände auf ihrer nackten Haut angefühlt hatten. Und vor allem verdrängte sie angestrengt die zaghafte innere Stimme, die sie davon zu überzeugen versuchte, dass Justin es diesmal ernst meinen und bei ihr bleiben könnte.

6. KAPITEL

Auf der Rückfahrt von Lilys Haus machte Justin sich Vorwürfe. Wie hatte er nur so über sie herfallen können? Wieso hatte er sich wie ein eifersüchtiger Idiot aufgeführt, statt sich zurückzuhalten? Wie hatte er glauben können, er brauche nur wieder aufzutauchen und sie würde alles vergessen, was er ihr angetan hatte?

Seine Vernunft und seine Selbstbeherrschung hatten ihn einfach komplett im Stich gelassen, als er sie mit diesem Fremden gesehen hatte. Den ganzen Abend – wenn er sich nicht gerade um Ava gekümmert hatte – war er ruhelos im Haus herumgelaufen und hatte sich vorgestellt, wie dieser Vertreter Lily gerade berührte oder gar küsste. Und als sie nach Hause gekommen war, hatte er sich nicht mehr zurückhalten können: Er hatte sie im Arm halten und den anderen Kerl aus ihren Gedanken verdrängen müssen.

Vernünftig oder anständig war das natürlich nicht gewesen – aber was hätte er machen sollen? Allein die Vorstellung, dass ein anderer Mann Lily so nahekam, machte ihn wahnsinnig.

Erschöpft fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht. Was zum Teufel war bloß los mit ihm?

Immerhin hatte er es zwei Jahre lang geschafft, Lily fernzubleiben – weil er alle Gefühle verdrängt hatte. In der Zwischenzeit schienen sie nur stärker geworden zu sein. Als er Lily zum ersten Mal mit Ava gesehen hatte, waren die Empfindungen wie eine Sintflut über ihn hereingebrochen. Nun musste er damit fertig werden.

Trotzdem fühlte er sich lebendiger und besser als je zuvor. Allerdings musste er dringend daran arbeiten, seine Gefühlsstürme besser unter Kontrolle zu bekommen. Ansonsten bestand kaum eine Chance für ihn, Lily zurückzugewinnen und sie davon zu überzeugen, ihn zu heiraten.

Konzentriert beugte Lily sich über ihren Arbeitstisch und verglich die Skizzenblätter, die sie darauf ausgebreitet hatte. Durch die große Fensterfront ihrer Werkstatt fiel die Morgensonne herein.

Im Moment war sie allein. Ihre Schneiderin hatte Ava ins Spielzimmer gebracht, in dem die Kleine ihr zweites Frühstück bekam. Ihr zufriedenes Lachen war über den kurzen Flur und durch die offene Tür zu hören.

„Ich kann mich einfach nicht entscheiden“, stöhnte sie und ordnete die Entwürfe neu. Als ihr immer noch kein Favorit darunter ins Auge stach, griff sie zu ihrem Handy.

„Meggie, könntest du mal raufkommen? Ich brauche eine zweite Meinung.“

Kurz darauf ertönten bereits Schritte im Flur.

„Meggie“, begann sie, ohne von den Blättern aufzublicken. „Könntest du mir sagen, welche du hiervon am besten findest? Das sind die ersten Muster für die Korsagen – du weißt schon, die Designs für die Standish-Boutique in Portland. Welche davon gefallen dir am besten?“

„Meggie wollte noch Ava Guten Morgen sagen.“

Überrascht zuckte Lily zusammen, als sie die tiefe Stimme erkannte. Sie hob den Kopf und sah Justin mit großen Schritten auf sich zukommen.

„Ich bin hier, um mich zu entschuldigen“, sagte er ohne Begrüßung. „Und ich habe dir was mitgebracht.“ Er reichte ihr einen großen Kaffeebecher aus dem Coffeeshop gegenüber. „Ich glaube zwar nicht, dass ich mit einem Kaffee wiedergutmachen kann, wie ich mich gestern Abend benommen habe … Aber ich brauchte dringend Koffein und dachte mir, dass es dir vielleicht genauso geht.“

„Danke“, entgegnete Lily und nahm ihm den Becher ab.

„Ich habe mich unmöglich aufgeführt, und es tut mir leid“, erklärte er. „Dafür, dass ich dich geküsst habe, entschuldige ich mich allerdings nicht – selbst wenn du deshalb wütend auf mich bist.“ Nach einer kurzen Pause räumte er widerwillig ein: „Aber als du zu deiner Verabredung gegangen bist, hätte ich vielleicht etwas höflicher sein können.“

Über den Rand des Bechers beobachtete Lily ihn. „Nicht gerade die aufrichtigste Entschuldigung, die ich je gehört habe.“

Stirnrunzelnd fuhr er sich durchs Haar. „Ich weiß. Ich versuche, das Richtige zu tun. Trotzdem würde ich mich ehrlich gesagt wahrscheinlich genauso verhalten, wenn sich der gestrige Abend noch mal wiederholen sollte.“

„Willst du damit sagen, dass ich nicht mit anderen Männern ausgehen kann?“, fragte Lily aufgebracht. Das hatte sie zwar überhaupt nicht vor, doch das wusste Justin ja nicht. Und allein der Gedanke, dass er über sie bestimmen wollte, machte sie ärgerlich.

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Das will ich nicht sagen. Natürlich nicht. Ich habe kein Recht …“

„Ganz meine Meinung.“

„Vielleicht könntest du mit neuen Verabredungen etwas warten, bis wir rausgefunden haben, wie es mit uns dreien weitergeht. Dafür wäre ich dir sehr dankbar.“

Lilys Ärger wich ihrer Neugier. Worauf wollte er hinaus? „Ich dachte eigentlich, es läuft ziemlich gut“, erwiderte sie vorsichtig. „Du beschäftigst dich mit Ava, und sie lernt dich kennen. Was soll denn da noch weiter passieren?“

„Für ein anderes Paar in dieser Situation wäre damit vermutlich alles geklärt. Aber uns beide verbindet mehr als Ava. Ich … empfinde immer noch etwas für dich.“ Seine Stimme klang rau, und er schaute sie eindringlich an.

Sie schwieg.

„Und ich bin dir auch nicht gleichgültig“, fuhr er fort. „Vielleicht bist du nur wütend auf mich, weil ich nicht da war, als du schwanger warst. Oder vielleicht hasst du mich, weil ich unsere Beziehung damals beendet habe. Ich weiß nicht genau, was mit uns los ist. Trotzdem bin ich absolut sicher, dass es hier nicht nur um Ava geht. Und wenn du ganz ehrlich bist, musst du das auch zugeben.“

Am liebsten hätte Lily das rundweg abgestritten. Wie gern hätte sie einfach behauptet, dass sie nicht mehr für ihn empfand als für die anderen Männer, mit denen sie gelegentlich ausgegangen war. Aber sie war keine gute Lügnerin. Er würde sie sofort durchschauen.

„Möglicherweise ist da tatsächlich etwas“, antwortete sie deshalb zögernd. „Allerdings könnte es sein, wie du gesagt hast: Die Schwingungen, die du von mir empfängst, könnten ebenso gut unterdrückte Wut sein. Ich gestehe, dass ich manchmal gedacht habe, dass ich dich hasse – vor allem kurz nachdem ich gemerkt habe, dass ich schwanger bin. Ob da noch mehr ist als Ärger, weiß ich nicht.“

Er atmete tief durch. „Na gut, das ist ehrlich“, sagte er. „Damit kann ich arbeiten. Würdest du mir einen Gefallen tun?“

„Was denn?“, fragte sie und hoffte im Stillen, dass er sie nicht bitten würde, ihre Gefühle näher zu beschreiben. Denn dann müsste sie doch noch lügen.

„Ich weiß, dass ich große Fehler gemacht habe. Deswegen will ich dir zeigen, dass du mir wieder vertrauen kannst. Ich bitte dich nur, mir die Gelegenheit dazu zu geben.“

Während sie über eine Antwort nachdachte, schaute er sich in der Werkstatt um. „Das sieht toll aus hier – und viel größer als das letzte Mal, als ich hier war.“

Lily war erleichtert, dass sie den gefährlichen Teil des Gesprächs offenbar hinter sich hatten. „Ja, ich habe eine Wand rausnehmen lassen“, erklärte sie.

„Wie viele Angestellte hast du jetzt?“, erkundigte er sich interessiert.

Bereitwillig zeigte Lily ihm die verschiedenen Arbeitsplätze in der Werkstatt, bevor sie ins Spielzimmer zu Ava gingen.

„Ich muss heute Nachmittag nach Idaho fliegen und mich ein wenig ums Geschäft kümmern“, meinte Justin eine Stunde später, als er Ava auf die Wange küsste und sie Lily reichte. „Aber spätestens Samstagnachmittag bin ich zurück.“

„Na dann bis dann“, sagte Lily bewusst locker, um die Enttäuschung, die plötzlich in ihr aufstieg, zu überspielen.

Er beugte sich zu ihr vor und küsste sie leicht auf die Wange, dann auf den Mund. „Vermiss mich ruhig ein bisschen“, forderte er flüsternd.

Bevor sie etwas erwidern konnte, drehte er sich um und ging die Treppe hinunter. Sie hörte, wie er sich mit seiner tiefen Stimme von Meggie verabschiedete. Anschließend erklangen die Glöckchen an der Eingangstür.

Gedankenverloren setzte Lily Ava wieder auf ihre Spieldecke. Das warme Gefühl seiner Lippen auf den ihren begleitete sie noch lange, nachdem er gegangen war.

Der kleine Park gleich um die Ecke von ihrem Haus war samstags bei gutem Wetter Lilys und Avas Lieblingsziel. Auf dem Spielplatz konnten sie schaukeln oder mit dem kleinen Holzkarussell fahren, was Ava immer Jubelschreie entlockte. Danach spazierten sie wie gewöhnlich über den Rasen, und dabei übte Ava eifrig das Laufen. Auf dem weichen Gras machte es der Kleinen nichts aus, wenn sie hin und wieder auf den durch die Windel gepolsterten Po fiel.

Als sie müde wurde, breitete Lily die Picknickdecke aus. Nachdem sie die mitgebrachten Snacks aufgegessen hatten, schlief Ava mit ihrer Schmusedecke im Arm ein. Lily setzte sich neben sie und holte ihr Buch heraus. Doch statt zu lesen, starrte sie nachdenklich ins Grüne.

Was mache ich nur mit Justin?

Er war aufmerksam, charmant und eindeutig ganz vernarrt in Ava. Weshalb brachte sein Auftauchen sie also derartig durcheinander?

Die Antwort war natürlich klar – und sie gefiel ihr ganz und gar nicht.

Ich reagiere immer noch viel zu stark auf ihn, dachte sie. Er brauchte ja nur den Raum zu betreten, und sofort bekam sie Herzklopfen. Ihre lästigen Hormone meldeten sich jedes Mal, wenn er ihr nahekam und sie seinen unvergleichlichen Duft nach Leder und purer Männlichkeit einatmete.

Während sie ihn wegen Ava in ihrer Nähe dulden musste, wollte sie ihn gleichzeitig auf Abstand halten – es machte sie noch völlig verrückt. Am liebsten hätte sie ihn einfach weggeschickt, doch ihr Anwalt hatte ihr erklärt, dass sie sich damit nur endlose Schwierigkeiten einhandeln würde. Und außerdem himmelte Ava ihn an.

Verdammt.

Lily legte den Kopf in die Hände und stöhnte leise. Damals nach der ersten Begegnung im Blumenladen hätte ich nicht mit ihm essen gehen dürfen, überlegte sie.

Aber dann hättest du jetzt Ava nicht.

Energisch schob sie die trüben Gedanken beiseite und hob den Kopf. Ava schlief tief und fest, und ihre dunklen dichten Wimpern wirkten wie zauberhafte Fächer auf ihrer zarten Haut. Mit der Schmusedecke fest im Arm lag sie da und lächelte im Schlaf. Mit einem Mal war Lily so erfüllt von der Liebe zu ihrer Tochter, dass sie ihre Sorgen wegen Justin einfach vergaß.

Du bist es wert, Ava, dachte sie zärtlich. Du bist das Beste, das mir je im Leben passiert ist.

Ruhiger und viel entspannter als vorher wandte sie sich ihrem Buch zu und begann zu lesen.

„Hallo.“

Überrascht blickte Lily auf. Ein älterer Mann in einem weißen Polohemd, Kakihosen und braunen Mokassins hatte sich auf die benachbarte Parkbank gesetzt. Unter seiner blauen Baseballmütze schaute kurzes schwarzes Haar hervor, und eine dunkle Sonnenbrille verbarg seine Augen.

Mit einem freundlichen Lächeln nickte er ihr zu. Sie erwiderte die Geste, und schließlich schlug er seine Zeitung auf und widmete sich den Schlagzeilen.

Der Mann kam ihr seltsam bekannt vor. Statt weiter darüber nachzudenken, vertiefte sie sich wieder in ihr Buch.

„Herrje, was für ein Unsinn“, murmelte der Mann eine Weile später.

„Wie bitte?“ Lily sah auf, obwohl sie sich unsicher war, ob er mit ihr sprach oder mit sich selbst.

„Entschuldigung.“ Der Mann ließ die Zeitung sinken, verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. „Ich lese gerade den Lokalteil. Unser Stadtrat bringt mich zur Weißglut.“

Lily lächelte. „Mich manchmal auch. Was gibt’s denn heute Neues?“

„Die Schlaglöcher“, erwiderte der Mann. „Sie sehen offenbar keine Veranlassung dazu, die Straßen im Industriegebiet ausbessern zu lassen.“

„Nur dort? In Fremont sind die Straßen auch nicht besonders gut.“

„Hier geht’s nur ums Industriegebiet.“ Er hielt die Seite hoch, damit sie das Foto sehen konnte, das ein Schlagloch von der Größe eines Eimers zeigte. Im Hintergrund war ein lang gestrecktes Lagerhaus zu erkennen. „Ich bin mehrmals in der Woche dort, und die Straßen sind wirklich in einem schrecklichen Zustand.“

„Bei den hohen Steuern, die wir zahlen, sollte es sich die Stadt eigentlich leisten können, ein paar Schlaglöcher aufzufüllen“, bemerkte Lily. „Bevor sie so groß werden, dass man mit dem ganzen Auto reinfällt.“

Der Mann hob die Augenbrauen und lachte laut. Ava regte sich, murmelte im Schlaf etwas und rollte sich auf die Seite.

„Tut mir leid“, sagte der Mann leiser. „Ich wollte sie nicht wecken.“

Lily strich Ava leicht über den Rücken und spürte, dass ihre Atemzüge tief und gleichmäßig waren. „Ist schon gut, sie schläft noch.“

„Wie alt ist sie?“

„Ein Jahr.“ Als Lily wieder zur Bank hinüberschaute, fiel ihr auf, wie sehnsüchtig der Mann Ava anstarrte. „Haben Sie auch Enkel?“, fragte sie.

„Ja.“

„Jungs oder Mädchen?“

„Ein kleines Mädchen.“ Er löste den Blick von Ava und betrachtete Lily. „Eine brandneue kleine Enkeltochter. Ich hatte schon nicht mehr damit gerechnet, Großvater zu werden“, erzählte er mit einem leichten Zittern in der Stimme. „Ich war nicht gerade ein Mustervater und auch kein besonders guter Ehemann. Deshalb war ich mir nicht sicher, ob meine Kinder jemals heiraten würden – und ob sie je selbst Kinder in die Welt setzen würden.“

„Dann sind Sie sicher froh, dass Sie jetzt endlich ein Enkelkind bekommen haben“, sagte Lily bewegt über seine ehrlichen Worte.

„Und wie. Ich bin überglücklich“, bestätigte er. „Und Sie? Wollen Ihr Mann und Sie noch mehr Kinder?“

„Ich denke nicht“, erwiderte Lily vorsichtig. Der Mann wirkte nett und harmlos. Trotzdem musste sie ja nicht gleich ihr ganzes Privatleben vor ihm ausbreiten.

„Na ja, falls Sie es sich doch noch anders überlegen“, meinte der Mann lächelnd, „hoffe ich jedenfalls, dass sie alle so zauberhaft werden wie Ihr kleines Mädchen.“

Unvermittelt schaute er auf die Armbanduhr, faltete hastig die Zeitung zusammen und stand auf. „Herrje, wo ist nur die Zeit geblieben? Ich komme ja zu spät. War nett, mit Ihnen zu plaudern.“

Er winkte leicht und lief schnell davon.

Lily sah ihm nach. Unglaublich, wie groß er war, bestimmt über eins neunzig. Wieder hatte sie das Gefühl, ihn von irgendwoher zu kennen. War er ein Kunde aus der Boutique? Nein, wohl kaum – obwohl sie männliche Stammkunden hatte, die bei ihr Dessous für ihre Frauen kauften.

Als der Mann am Parkeingang ankam, hielt ein schwarzer Geländewagen am Bürgersteig. Nachdem die Beifahrertür von innen geöffnet worden war, stieg der Mann ein, und der Wagen brauste davon. Seltsam.

In diesem Moment wachte Ava auf und lenkte Lily von ihren Gedanken ab. Ava jauchzte und kicherte, als sie ein letztes Mal schaukelten, bevor sie den Heimweg antraten.

Zu Hause setzte Lily Ava auf die Spieldecke im Arbeitszimmer und schaltete den Computer ein, um ihre E-Mails zu checken und einen Blick in die Onlinezeitung zu werfen. Darin stieß sie auf ein Foto, das ihr endlich erklärte, warum ihr der Mann im Park so bekannt vorgekommen war: Es war Harrison Hunt gewesen.

Justins Vater.

Ungläubig starrte sie das Bild an. Darauf trug Harrison einen Anzug, eine Designerbrille und natürlich keine Baseballkappe. Dennoch war Lily sich sicher, dass es sich bei dem Mann im Park um ihn gehandelt hatte.

Die lässige Freizeitkleidung, die Sonnenbrille und die Tatsache, dass ein Milliardär normalerweise bestimmt nicht in den kleinen Stadtpark ging, um Zeitung zu lesen – die Tarnung war geradezu perfekt gewesen.

Als sie an ihr Gespräch dachte, erkannte sie, dass er nur ihretwegen gekommen war. Und das konnte nur einen Grund haben: Justin musste ihm von Ava erzählt haben. Offenbar hatte sich Harrison seine Enkeltochter aus der Nähe ansehen wollen.

Aber warum hatte er sich nicht vorgestellt? Immerhin schien ihn Avas Anblick ja sehr bewegt zu haben.

Bisher hatte sie die Begegnung im Park für ganz harmlos gehalten. Doch nachdem sie jetzt wusste, wer der Mann war, schrillten gleich sämtliche Alarmglocken. Sie hatte Harrison nie persönlich kennengelernt, weil Justin ihr während ihrer kurzen Beziehung niemandem aus seiner Familie vorgestellt hatte. Allerdings hatte sie genug über ihn in der Zeitung gelesen: Harrison Hunt war ein brillanter und rücksichtsloser Geschäftsmann, der seine Ziele mit aller Macht verfolgte.

Wie standen da die Chancen, dass er im Privatleben nachgiebig, sanft und rücksichtsvoll war? Nicht besonders gut.

Was hatte er also bezwecken wollen? Wollte er Ansprüche auf Ava anmelden?

Nervös schaute sie auf die Uhr. In ein paar Stunden würde Justin kommen. Sie hoffte, dass er eine gute Erklärung dafür hatte, warum sein Vater sich heute inkognito seinem Enkelkind genähert hatte.

Justin war überrascht, wie viel es ihm bedeutete, dass er seine Tochter an diesem Abend wieder ins Bett bringen konnte. Er hatte sie vermisst. Es hatte ihm gefehlt, wie sie die Ärmchen nach ihm ausstreckte, ihn anstrahlte oder laut lachte, wenn er sie kitzelte. Und auch Lily hatte er vermisst. Wie hatte er es die letzten zwei Jahre nur ohne sie ausgehalten? Es kam ihm vor, als wäre der Mann, der in Idaho auf der Ranch gelebt hatte, gar nicht er selbst gewesen.

Doch wenn er Lilys Vertrauen zurückgewinnen wollte, musste er Geduld haben. Nachdem Ava eingeschlafen war, folgte er Lily ins Fernsehzimmer – bereit, sofort zu gehen, wenn sie das wollte.

Stattdessen schaltete sie überall die Lampen an und drehte sich zu ihm um.

„Ich habe heute mit deinem Vater gesprochen“, sagte sie beiläufig.

Damit hatte er nun gar nicht gerechnet. „Was?“, fragte er überrascht.

„Ich habe heute Harry gesehen“, wiederholte sie.

„Wo?“

„Im Park. Ava und ich gehen samstags vormittags bei gutem Wetter immer dorthin, und nach unserem Picknick tauchte plötzlich dein Vater auf.“

Unruhig runzelte Justin die Stirn. Hatte er Harry nicht ausdrücklich gesagt, er solle sich zurückhalten? „Und was wollte er?“, erkundigte er sich und bemühte sich, gelassen zu klingen.

„Er hat sich in unserer Nähe auf eine Bank gesetzt und Zeitung gelesen. Dann kamen wir ins Gespräch darüber, dass wir beide die Stadtverwaltung nicht besonders mögen. Und dass es eine Schande ist, dass sie es nicht mal hinkriegen, die Schlaglöcher in den Straßen zu reparieren. Danach wollte er wissen, wie alt Ava ist – und das war auch schon alles.“

„Das war alles? Und was hast du gesagt, als er sich dir vorgestellt hat?“

„Er hat sich mir nicht vorgestellt.“

Justin versuchte, ihren Gesichtsausdruck zu deuten. War sie ärgerlich oder nur verwundert über dieses seltsame Verhalten? „Er hat seinen Namen nicht erwähnt?“, fragte er ungläubig.

„Nein. Er kam mir zwar vage bekannt vor, aber der Groschen fiel bei mir erst, als ich wieder zu Hause war und ein Bild von ihm im Internet gesehen habe.“

„Also weißt du gar nicht, was er wollte?“

„Ich dachte mir, dass du mir das vielleicht erklären kannst.“

„Schön wär’s. Ich habe ihm ausdrücklich gesagt, dass er dich in Ruhe lassen soll, bis du dazu bereit bist, ihn kennenzulernen – egal, wie lange es dauert. Und er hat dir keinen Hinweis darauf gegeben, was er wollte?“

„Na ja, im Nachhinein wahrscheinlich schon. Als wir uns unterhalten haben, hatte ich natürlich keine Ahnung. Er hat erzählt, dass er sich Enkelkinder wünscht und dass er gerade Großvater geworden wäre.“

Justin unterdrückte einen Fluch.

„Damit meinte er Ava, oder?“, fragte Lily. Als er keine Antwort gab, fuhr sie fort: „Hast du ihm von ihr erzählt?“

„Ja. Ich habe ihm gesagt, dass ich … wir eine Tochter haben“, gab Justin zu. Wie viel konnte er ihr verraten, ohne sie völlig zu verschrecken? „Harry hat vor Kurzem einen Herzinfarkt gehabt. Seitdem hat er die fixe Idee, dass unsere Familie aussterben könnte, weil keiner seiner Söhne bisher verheiratet ist oder Kinder hat.“

„Ach ja, das hat er erwähnt. Er meinte, dass er kein guter Vater oder Ehemann gewesen sei und seine Söhne deshalb vielleicht keine Lust hätten, zu heiraten. Da habe ich natürlich nicht geahnt, dass du einer von diesen Söhnen bist. Schließlich habe ich nicht gewusst, dass der Mann Harry war.“

„Harrys Foto ist doch ständig in der Zeitung. Wieso hast du ihn nicht gleich erkannt?“

Lily zuckte die Achseln. „Er sah aus wie jeder andere ältere Mann. Er trug Freizeitkleidung, Kakihosen und ein Poloshirt, eine dunkle Sonnenbrille und eine Baseballkappe.“

„Eine Baseballkappe?“ Justin konnte es nicht fassen.

„Ja. Mit dem Logo von den Seattle Mariners.“ Sie sah ihn mit hochgezogenen Brauen an. „Du siehst geschockt aus.“

„Bin ich auch.“ Das war noch untertrieben. Der alte Fuchs fand doch immer einen Weg, um seinen Willen durchzusetzen. „Harry hat mal drüber nachgedacht, die Baseballmannschaft zu kaufen. Deshalb würde er allerdings noch lange nicht eine Kappe mit ihrem Logo aufsetzen. Er trägt nie legere Kleidung, das ist einfach nicht sein Stil.“

„Tja, heute anscheinend schon“, bemerkte Lily trocken. „Und selbst wenn er nicht so verkleidet gewesen wäre: Wer rechnet schon damit, dass Harrison Hunt zum Zeitunglesen in unseren kleinen Park kommt?“

„Du hast recht“, stimmte er ihr zu. Zum Glück schien Lily sich über Harrys seltsames Verhalten nicht zu ärgern. Offenbar hatte er nichts Falsches gesagt oder getan. Dennoch wollte Justin ganz sicher sein. „Du bist nicht böse, dass er einfach so vorbeigekommen ist?“

Sie biss sich auf die Unterlippe. „Nein. Allerdings mache ich mir Sorgen darüber, warum er es getan haben könnte. Wenn er Ava einfach kennenlernen wollte, hätte er mich ja anrufen und um ein Treffen bitten können. Warum diese Geheimnistuerei?“

„Wegen mir. Ich hatte ihm ausdrücklich verboten, dir auf die Nerven zu gehen“, erwiderte er. „Wenn Harry sich etwas in den Kopf gesetzt hat, kann er ziemlich lästig werden. Und ich wollte nicht, dass er dich in irgendeiner Weise unter Druck setzt.“

„Unter Druck? Weswegen sollte er das tun?“, fragte sie misstrauisch.

Verflixt, die Antwort hatte sie offensichtlich alles andere als beruhigt. Sie wirkte ehrlich erschrocken.

„Ohne bestimmten Grund“, sagte er schnell. „Er ist einfach ein Typ, der die Dinge gern an sich reißt. Ich wollte nicht, dass du dich von ihm überfahren fühlst. Oder vom Rest meiner Familie“, fügte er hinzu. „Meine Brüder sehen das ganz locker, aber die Frauen in meiner Familie sind schon ganz aufgeregt und können es kaum abwarten, Ava und dich zu treffen. Meine Tante Cornelia hat mir eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen und meine Cousine Frankie auch.“

„Was hast du ihnen denn erzählt?“

„Nichts, und ich habe sie bisher nicht zurückgerufen. Harry muss sie informiert haben. Wenn ich sie anrufe, werde ich ihnen sagen, dass sie sich gedulden müssen, bis es für dich okay ist. Einverstanden?“

„Einverstanden.“ Endlich lächelte sie wieder. „Danke. Es ist ja nicht so, dass ich sie nicht kennenlernen möchte. Meine Tante Shirley will dich sicher auch treffen. Aber ich weiß eben, dass die Presse ständig alles kommentiert, was Harry macht. Wenn er Ava besucht, stehen bald die Reporter vor der Tür, und es ist vorbei mit unserer Privatsphäre. Das würde ich gerne so lange wie möglich hinauszögern.“

„Das verstehe ich gut. Ich habe schließlich lange genug bei Harry gelebt, um zu wissen, wie sehr die Presse nerven kann.“

„Danke.“

Als sie ihre Hand auf seine legte und sie kurz drückte, wollte sie ihm damit vermutlich nur ihre Dankbarkeit zeigen. Doch dieser Gelegenheit konnte er nicht widerstehen: Er drehte seine Hand herum und verschränkte seine Finger mit den ihren. „Gern geschehen.“

„Du bist sehr verständnisvoll“, sagte sie und klang verwundert.

Ihr leises Erstaunen bewies ihm, wie sehr er sie damals verletzt haben musste. Wenn er ihr nur irgendwie begreiflich machen könnte, dass sich alles geändert hatte!

„Dir geht es darum, Ava zu schützen – und das will ich schließlich auch“, sagte er.

„Das hoffe ich.“ Ihr Blick war eindringlich.

„Glaubst du mir nicht?“

„Ich möchte es wirklich gern“, erwiderte sie langsam. „Aber es fällt mir schwer, dir zu vertrauen. Ich habe dich … wirklich sehr gern gehabt. Es ging mir ziemlich schlecht, als du mich verlassen hast.“

Unwillkürlich drückte er ihre Hand fester. Verdammt.

Bevor er etwas sagen konnte, fuhr sie fort: „Aber ich bin schließlich erwachsen und weiß, dass solche Sachen passieren. Jetzt allerdings geht es um Ava. Wenn du diesmal wieder beschließen solltest, dich aus dem Staub zu machen, ist sie die Leidtragende. Sie ist zwar noch sehr klein, doch sie hat sich schon an dich gewöhnt. Wenn du einfach aus ihrem Leben verschwindest, wird sie dich vermissen.“

„Das würde ich ihr niemals antun“, sagte er leise. Allein bei dem Gedanke daran, sein kleines Mädchen zu enttäuschen, zog sich ihm das Herz zusammen. „Ich weiß, dir fällt es schwer, mir zu glauben, und du hast allen Grund dazu. Aber ich schwöre dir, dass ich Ava niemals wehtun werde.“

Behutsam legte er die freie Hand auf ihre Wange. „Und ich werde auch dir niemals wieder wehtun, Lily. Nie wieder, das verspreche ich dir.“

Zärtlich streichelte mit dem Daumen ihren Wangenknochen. Er wollte so sehr, dass sie ihm glaubte, und wollte ihr so gern durch die Berührung zeigen, wie ernst es ihm war. Wenn sie doch nur sehen könnte, wie es in seinem Innern aussah!

Als sie nicht zurückzuckte oder protestierte, neigte er den Kopf und strich mit den Lippen sanft über ihren Mund. Einmal. Zweimal. Sie wich nicht zurück. Also küsste er sie richtig – so zärtlich und innig, dass dieser Kuss sein Versprechen zu besiegeln schien. Auch sie musste spüren, dass hinter der gefühlvollen Liebkosung nicht kopfloses Verlangen steckte.

Ausgerechnet in diesem Moment klingelte das Handy in seiner Brusttasche. Erschrocken fuhr Lily zusammen und strich sich nervös übers Haar.

„Lily …“, sagte er rau.

„Du solltest besser rangehen“, erwiderte sie.

Also nahm er das Handy aus der Tasche und las stirnrunzelnd die Nummer auf dem Display.

„Es ist nur mein Vormann von der Ranch.“ Der Mann war sein bester Mitarbeiter, doch sein Timing war verdammt schlecht. Ungeduldig drückte Justin den Anruf weg und steckte das Mobiltelefon ein.

„Musst du nicht mit ihm reden?“

„Ich ruf ihn später zurück.“ Ernst sah er Lily an. Würde sich der vertraute Moment wiederherstellen lassen? „Ich möchte ganz sicher sein, dass du mir wirklich glaubst. Dass ich dich und Ava nicht verlasse, meine ich.“

Sie wirkte nicht überzeugt. Die Stimmung von vorher war verflogen. „Ich will dir ja glauben, aber es ist noch zu früh. Wenn du in einem Monat immer noch regelmäßig herkommst und Zeit mit Ava verbringst, dann wird’s mir vielleicht leichter fallen.“

Autsch. Er verzog das Gesicht. „Das habe ich wahrscheinlich verdient. Aber das ist ein faires Angebot. Bringst du mich zur Tür?“ Er streckte ihr die Hand hin.

Zuerst zögerte Lily, doch dann nahm sie sie. Er war sich nicht ganz sicher, meinte sie jedoch leise seufzen zu hören, als sich seine Finger um die ihren schlossen.

Obwohl es ihm größte Mühe bereitete, gelang es ihm, die Nähe zu ihr nicht auszunutzen. Draußen drehte er sich zu ihr um. „Bis morgen Abend, okay? Das Abendessen bringe ich mit. Wie wär’s mit Pizza von Torredo?“

„O ja, ich habe seit einer Ewigkeit nicht mehr dort gegessen, dabei machen sie die allerbeste Pizza.“

„Wunderbar. Also sehen wir uns morgen.“

Und schließlich zog er sie doch noch an sich und gab ihr einen Kuss. Sanft und zärtlich küsste er sie und musste sich beherrschen, um sich nicht von seiner Leidenschaft mitreißen zu lassen.

Als er sich von ihr löste, starrte sie ihn sprachlos an. Mit einem leichten Lächeln schob er sie an den Schultern ins Haus zurück und zog die Tür zu.

Erst als er im Wagen saß, atmete er ein paarmal tief durch, um sein Verlangen unter Kontrolle zu bringen. Er wollte Lily, wollte sie so sehr, dass es wehtat. Trotzdem würde er sich an ihre Regeln halten. Zunächst musste er ihr Vertrauen zurückgewinnen, bevor er den nächsten Schritt wagte.

6. KAPITEL

Am nächsten Tag um kurz vor fünf stand Justin mit der Pizza vor der Tür.

Lily schnupperte genüsslich, schloss die Augen und seufzte. „Ich hatte ganz vergessen, wie herrlich die Pizza von Torredo duftet.“

Justin lachte breit. „Also, ich hab Hunger. Du auch?“

„Und wie.“ Sie versuchte ihr Herzklopfen zu ignorieren, als er sie aus seinen blauen Augen anstrahlte. „Lass uns draußen essen. Ava und ich haben den Tisch auf der Terrasse gedeckt.“

Lilys Stadthaus verfügte über einen kleinen, aber gut geschnittenen Garten. Ein hoher Holzzaun sorgte für Privatsphäre, und sie hatte für die Terrasse einen runden Korbtisch mit integriertem Sonnenschirm und dazu passende Korbstühle ausgesucht. Die Kletterrose, die sich am Gartentor hochrankte, stand in voller Blüte. Eine Ecke des Gartens gehörte Ava: Hier konnte sie in einem kleinen Sandkasten spielen oder die Babyschaukel benutzen.

„Hübsch habt ihr’s hier“, bemerkte Justin und stellte den Pizzakarton auf den Korbtisch. „Hast du einen Gärtner?“

„Nein, um den Garten kümmere ich mich selbst. Die Arbeit macht mir Spaß. Außerdem ist sie sehr beruhigend und entspannend nach einem stressigen Tag.“

Lily setzte Ava in ihren Hochstuhl und gab ihr ein Stück Brezel.

„Bekommt Ava auch Pizza?“, fragte Justin, als er die Schachtel öffnete.

„Nein, dafür ist sie noch zu klein.“

Wie aufs Stichwort trommelte Ava mit ihrem Saftbecher auf dem Tablett des Hochstuhls herum. Unter lautem Geschrei zeigte die Kleine auf das Pizzastück in Justins Hand.

„Bist du sicher?“, fragte er zweifelnd, als Ava weiterhin aufgeregt auf die Pizza deutete.

„Ganz sicher.“ Laut lachend setzte Lily sich neben Ava. Sie streifte ihre rosafarbenen Flipflops ab und genoss das Gefühl der warmen Sandsteine unter den nackten Zehen.

Plötzlich fiel ihr auf, dass ihr Baumwollkleid beim Sitzen bis über die Knie hochrutschte, und sie breitete hastig ihre Stoffserviette auf dem Schoß aus. Sie wollte die Atmosphäre nicht absichtlich noch weiter aufheizen. Auch so war es bereits schwierig genug.

„Du solltest dein Gesicht sehen“, sagte sie lächelnd. „Sie will vielleicht Pizza“, fügte sie hinzu, als Ava ihre Anstrengungen verdoppelte, „aber sie bekommt keine.“

„Wenn du es sagst …“ Justin legte ein Stück auf Lilys Teller. Bevor er sich hinsetzte, nutzte er die Gelegenheit, um seinen Blick von ihrem Gesicht bis zu den nackten Zehen wandern zu lassen. „Glücklich ist sie darüber nicht.“

Lily musste schlucken, als sie bemerkte, dass er sie musterte. Sie versuchte, das Kribbeln zu ignorieren, das seine Aufmerksamkeit in ihr auslöste. „Ich weiß“, gab sie zurück und spürte, wie sie rot wurde. „Sie wird’s überleben. Möchtest du Limonade?“

Als er nickte, füllte sie aus dem Glaskrug zwei Gläser mit der selbst gemachten Zitronenlimonade und reichte ihm eins.

Der große Stoffschirm über ihnen schützte sie vor der noch immer warmen Nachmittagssonne. In den Hortensien am Zaun summten die Bienen, und mit jeder Brise wehte der Duft von Lavendel und Rosen zu ihnen herüber.

Als Justin zu Ende gegessen hatte, streckte er die langen Beine aus und lehnte sich im Stuhl zurück. „Es ist wirklich schön hier“, meinte er bewundernd. „Wie lange wohnst du schon hier?“

„Etwas über ein Jahr. Ich bin zwei Monate vor Avas Geburt eingezogen.“

„Wie es ist dir dabei ergangen?“

„Was, beim Umzug?“

„Nein … bei Avas Geburt.“ Er schaute zu Ava hinüber, die nun wieder zufrieden an ihrer Brezel lutschte. „Du warst hoffentlich nicht allein, oder?“

„Nein. Meine Freundin und Kollegin Meggie hat die Geburtsvorbereitungskurse mitgemacht und war die ganze Zeit bei mir. Und als wir aus dem Krankenhaus kamen, hat Tante Shirley sich zwei Wochen um uns gekümmert.“ Bei der Erinnerung daran, wie ihre kleine „Familie“ ihr zur Seite gestanden hatte, musste sie lächeln. „Ich glaube, die Erfahrung hat Meggie davon überzeugt, dass sie ihre Kinder lieber adoptieren will. Sie ist ganz vernarrt in Ava und mag Kinder, aber Schwangerschaft und Geburt sind nicht so ihr Ding.“

„War es so schlimm? Was ist passiert?“, fragte Justin besorgt.

„Nur das Übliche. Während der ersten drei Monate war mir jeden Morgen schlecht, und ich habe Gewicht verloren. Nachdem ich dann mein Frühstück wieder bei mir behalten konnte, hatte ich Appetit auf die seltsamsten Sachen. Bei mir waren es saure Gurken mit Erdnussbutter. Und in den letzten zwei Monaten ist mein Bauch so riesig geworden, dass ich mir nicht einmal die Schuhe zubinden konnte. Ich konnte nicht bequem sitzen, stehen oder liegen …“

Als sie den Kopf hob, merkte sie, dass Justin blass geworden war und geradezu entsetzt aussah. Leise lachend fügte sie hinzu: „Hey, es war eine ganz normale Schwangerschaft.“

„Klingt aber nicht so“, murmelte er. „Und wenn doch, dann wundert es mich, dass Frauen überhaupt mehr als ein Kind haben.“

„Na ja, die unangenehmen Dinge vergisst man recht schnell wieder.“ Diese Tatsache hatte sie selbst erstaunt. „An Einzelheiten kann ich mich schon fast nicht mehr erinnern, und dabei ist Ava erst ein Jahr alt. Wenn sie zwei ist, hab ich wahrscheinlich alles vergessen.“

„Also könntest du dir vorstellen, noch mehr Kinder zu haben?“

Stirnrunzelnd sah sie ihn an. Was sollte das denn heißen? Bei jeder anderen Person hätte diese Frage unverfänglich gewirkt. Doch wenn Justin sie stellte …

„Das weiß ich noch nicht“, erwiderte sie vorsichtig. „Vielleicht. Im Moment habe ich allerdings mit Ava allein alle Hände voll zu tun.“

„Ja, ich kann mir vorstellen, dass sie dich auf Trab hält.“ Justin schaute zu Ava hinüber.

Als die Kleine das bemerkte, fing sie sofort an, aufgeregt zu plappern, und streckte die Arme nach ihm aus.

„Ich glaube, sie möchte runter“, vermutete Lily.

Justin hob sie aus dem Hochstuhl und drückte Ava kurz an sich, bevor er sie neben Lilys Stuhl auf den Boden stellte.

„Hallo Süße“, sagte Lily, als Ava sich an ihrem Sommerkleid festhielt. Ava antwortete mit einigen Lauten und ließ sich dann auf den Po fallen.

„Sie hatte schwarze Locken, als sie geboren wurde“, erzählte Lily und beobachtete belustigt, wie Ava in Hochgeschwindigkeit zu Justins Stuhl krabbelte. Als sie dort ankam, zog sie sich an seiner Jeans hoch. Lächelnd beugte er sich zu ihr hinunter, nahm sie hoch und setzte sie auf seinen Schoß.

„Und sie hat die Lockenpracht auch nicht verloren wie andere Babys“, fuhr Lily fort. „Ihre Haare sind einfach dicker und länger geworden.“

„Hast du Bilder von ihr aus der Zeit?“, fragte er und drückte Ava einen Kuss auf den Scheitel.

„Aber sicher, jede Menge.“ Es versetzte Lily einen Stich, als sie seinen wehmütigen Gesichtsausdruck sah. „Ich habe ganze Fotoalben von Ava. Hättest du Lust, sie dir anzusehen, wenn wir Ava ins Bett gebracht haben?“, fragte sie schnell.

„Ja, sehr gern“, erwiderte er mit glänzenden Augen.

Nachdem Ava später eingeschlafen war, holte Lily die zwei dicken Fotoalben aus dem Schlafzimmerschrank und trug sie nach unten. Sie setzte sich damit aufs Sofa, und Justin nahm in einigem Abstand neben ihr Platz. Allerdings gaben die weichen Polster unter seinem Gewicht so sehr nach, dass ihre Körper sich schließlich doch berührten.

Sofort begann ihr ganzer Körper wieder zu kribbeln. Hitzewellen breiteten sich in ihr aus und schienen sich in ihrer Mitte zu sammeln.

Um sich davon abzulenken, schlug sie das obere Album auf und überblätterte die ersten paar Seiten mit Schnappschüssen. „Hier geht’s los“, erklärte sie. „Das hier wurde direkt nach der Geburt aufgenommen.“

Justin nahm ihr das Album ab und legte es auf den Schoß. Vorsichtig fuhr er mit den Fingerspitzen über das Bild.

„Sie sieht ja ganz rot und zerknautscht aus. Schau dir nur die ganzen schwarzen Haare an! Aber sie hat den Mund offen. Schreit sie da gerade?“

„O ja, und wie. Schon bei ihrer Geburt hat sie ganz schön kräftige Lungen gehabt.“

„Das ist doch gut, oder?“

„Absolut.“

Er blätterte um und betrachtete die nächsten Fotos, auf denen Ava in eine Decke gewickelt in Lilys Armen zu sehen war.

„Die brauchst du nicht anzuschauen“, sagte sie schnell und versuchte umzublättern. „Da sehe ich aus wie ein Zombie.“

„Du siehst wunderschön aus.“ Als er sie anschaute, nahmen ihr die tiefen Gefühle, die in seinem Blick standen, den Atem.

„Wie lange hat es gedauert? Die Geburt, meine ich?“, fragte er mit belegter Stimme.

„Ich war etwa acht Stunden im Krankenhaus, bevor sie kam.“

Besorgt runzelte er die Stirn. „Ist das normal?“

„Völlig“, beruhigt sie ihn. „Ich habe Freundinnen, bei denen die Entbindung über vierundzwanzig Stunden gedauert hat.“

„Ich habe Kälbern, Fohlen und Welpen auf die Welt geholfen“, sagte er und zitterte leicht. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie man acht Stunden lang Wehen aushalten kann.“

„Na ja, besonders spaßig war es nicht“, gab sie zu. Seine Sorge rührte sie. „Aber dafür bin ich ja reich belohnt worden.“ Sie deutete auf das nächste Foto, das Ava in einem Strampelanzug zeigte.

„Stimmt.“ Lächelnd betrachtete er es. „Sie war so winzig. Wie viel hat sie gewogen?“

„Dreitausendfünfhundert Gramm.“

Mit jedem Bild, das er anschaute und kommentierte, mit jeder besorgten oder einsichtsvollen Frage spürte sie, wie zwischen ihnen eine neue, tiefere Verbindung entstand.

Als er schließlich zur letzten Seite kam, klappte er das Album zu und wandte sich ihr zu. „Ich danke dir.“

„Gern geschehen. Wenn du Abzüge haben möchtest …“

„Ja, gern. Aber das meinte ich nicht.“ Er streckte die Hand aus und legte sie sanft auf ihren Bauch. „Danke, dass du unser Kind bekommen hast. Du hättest auch abtreiben oder sie zur Adoption freigeben können. Ich bin so verdammt dankbar, dass du dich für sie entschieden hast.“

Seine Worte und seine bewegte Stimme ließen Lily Tränen in die Augen steigen. Sie nahm seine Hand und lächelte ihn zittrig an.

„Ich bin auch froh“, erwiderte sie leise. „Als ich merkte, dass ich schwanger war, habe ich zuerst Angst gehabt – aber schon, während der Arzt mir meine Möglichkeiten aufzählte, war ich ganz sicher, dass ich sie haben wollte.“

„Sie ist wirklich ein Glückspilz“, flüsterte er. „Du bist eine wunderbare Frau, Lily.“

Er kam ihr noch näher und küsste sie zärtlich.

Lily wehrte sich nicht und ließ sich von ihren Gefühlen davontragen. Angesteckt von seinem Verlangen schlang sie die Arme um seinen Nacken und vergrub die Hände in seinem Haar.

Zärtlich streichelte er ihre Wange und strich mit den Lippen über ihr Kinn, dann ihren Hals hinunter. Als er die schmalen Träger des Sommerkleids von ihren Schultern streifte, ihr Schlüsselbein und ihren Brustansatz mit Küssen bedeckte, stöhnte sie leise auf und schmiegte sich an ihn.

Ihr Brüste schienen überempfindlich zu sein. Als er eine Hand knapp unter dem Saum auf ihren Schenkel legte, richteten sich ihre Knospen erwartungsvoll auf.

Mit dem Daumen reizte er ihre Kniekehle und schob schließlich die Hand unter den Stoff ihres Kleides. Ein lustvoller Schauer überlief sie, und Hitze durchströmte jede Faser ihres Körpers.

„Justin“, murmelte sie. Sie war hin- und hergerissen: Ihre Vernunft sagte ihr, dass sie ihn stoppen müsse, bevor es zu spät war. Gleichzeitig sehnte sie sich nach den unvergleichlichen Gefühlen, die seine Liebkosungen in ihr hervorriefen. Dennoch wusste sie genau, dass sie es bereuen würde, wenn sie ihm jetzt nachgab.

„Ja, Liebes?“, flüsterte er und ließ seine Fingerspitzen über die empfindliche Haut ihres Oberschenkels wandern. „Was ist denn?“

„Ich bin noch nicht so weit“, brachte sie hervor. Es klang nicht so überzeugend, wie sie es beabsichtigt hatte: Er hörte nicht auf, sie zu liebkosen, und kam dabei dem Zentrum ihres Verlangens immer näher.

„Ich brauche mehr Zeit“, fügte sie entschlossener hinzu und atmete tief durch.

Als er tatsächlich seine Hand wegzog, hätte sie ihre Meinung am liebsten wieder geändert. Enttäuscht nahm sie dort Kühle wahr, wo sie zuvor seine verlockende Wärme gespürt hatte.

Umsichtig zupfte er ihr Kleid zurecht, glättete es sorgfältig und ließ die Hand auf ihrem Knie ruhen. „In Ordnung.“

Trotz seiner Anspannung, die sie unter ihren Händen fühlte, versuchte er nicht, sie zu überreden oder zu bedrängen. Stattdessen küsste er sie ein weiteres Mal auf den Mund, verharrte dort ein paar Sekunden, bis sie beinahe aufgestöhnt hätte – und stand dann auf.

„Allerdings ist es um meine Selbstbeherrschung heute Nacht nicht so gut bestellt: Ich sollte besser gehen. Bringst du mich noch zur Tür?“, sagte er beiläufig.

Einen Moment lang war sie versucht, ihn zu bitten, zu bleiben. Sie beherrschte sich jedoch.

Als er gefahren war, schaute Lily nach Ava, die selig schlummerte. Anschließend ging sie selbst ins Bett. Stundenlang lag sie noch wach und starrte den Mond an, der durchs Schlafzimmerfenster hereinschien.

Akzeptier es endlich, sagte sie sich resigniert. Du bist dabei, dich noch einmal in ihn zu verlieben.

Sie befürchtete, dass es beim zweiten Versuch miteinander nicht besser laufen würde als davor. Justin zu lieben war kompliziert. Sie zweifelte nicht daran, dass er seine Tochter vergötterte, und auch für Lily selbst schien er etwas zu empfinden. Aber wie konnte sie sicher sein, dass das nicht nur daran lag, dass sie Avas Mutter war? Wäre er ebenso fest entschlossen, bei ihr zu bleiben, wenn sie keine gemeinsame Tochter hätten? Und wieso hatte er es nicht gleich beim ersten Mal getan? Stattdessen hatte er ihre Beziehung damals beendet, als lege er einen alten Mantel ab …

Als sie weit nach Mitternacht endlich einschlief, hatte sie auf diese Fragen immer noch keine Antwort gefunden. Justin war ihr ein Rätsel, und sie wusste nicht, ob sie es lösen konnte. Zu dumm, dass ihre Gefühle sich darum einfach nicht scherten.

Als in der Boutique die Glöckchen über der Eingangstür leise klingelten, war Lily gerade auf dem Weg in die Werkstatt. Sie blieb stehen und schaute zur Tür. Statt einer weiteren Kundin betrat Justin den Laden.

Wie immer schlug ihr Herz bei seinem Anblick schneller, und wie immer war ihr das gar nicht recht. Andererseits hätte er in seinen eng sitzenden Jeans und dem schwarzen T-Shirt, unter dem sich seine Muskeln abzeichneten, vermutlich auch jeder anderen Frau Herzklopfen beschert.

„Guten Morgen.“ Sie versuchte nicht, das strahlende Lächeln auf ihrem Gesicht zu unterdrücken – es wäre auch zu schwierig gewesen.

„Hi.“ Ohne die drei Kundinnen und Meggie weiter zu beachten, trat Justin auf Lily zu, legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie an sich. Dann küsste er sie blitzschnell und beinahe besitzergreifend.

Wow. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie geschmeichelt oder empört sein sollte. Schließlich entschied sie sich für eine dritte Variante und gab sich Mühe, möglichst gelassen auszusehen – dabei kribbelte es in ihren Lippen vor Verlangen nach mehr.

„Du bist ja heute früh dran“, sagte sie, als sie es endlich schaffte, den Blick von seinem verführerischen Mund zu lösen.

„Ich muss nach Idaho fliegen“, erklärte er. „Seit einem Jahr will ich die Nachbarranch kaufen, und jetzt ist der Besitzer endlich bereit, mit mir zu verhandeln. Aber er besteht darauf, dass ich persönlich mit ihm rede.“

Ihr Hochgefühl verebbte so plötzlich, wie es gekommen war. Die Ranch ruft – da haben wir es ja schon, dachte sie enttäuscht. Dennoch gelang es ihr, sich nichts anmerken zu lassen.

„Also bist du hier, um dich von Ava zu verabschieden?“, fragte sie. „Ich hole sie schnell, sie ist oben.“

„Nein“, entgegnete er und hielt sie am Arm fest, als sie sich abwandte. „Ich möchte, dass ihr beide mitkommt.“

„Nach Idaho?“ Sie war völlig perplex.

„Ja. Es kann nämlich sein, dass sich das ein paar Tage hinzieht. Bei der Gelegenheit könntet ihr euch die Ranch anschauen. Die Pferde werden Ava bestimmt gefallen. Wir sollten ihr vielleicht ein Pony anschaffen, wenn sie etwas älter ist.“

„Ich denke nicht, dass ich einfach so hier wegkann …“

Er legte einen Finger auf ihre Lippen, und die Berührung ließ ihr einen kleinen Schauer über den Rücken rieseln. „Du denkst zu viel, Lily. Sag, dass ihr mitkommt.“

„Genau“, murmelte Meggie hinter dem Tresen. „Ab mit dir.“ Ihre Freundin grinste breit und wedelte mit den Händen, als wollte sie sie verscheuchen.

„Und was ist mit dem Laden? Ich kann doch nicht einfach alles stehen und liegen lassen.“

„Natürlich kannst du das“, erwiderte Meggie streng. „Keine Sorge, ich passe auf den Laden auf. Sheila und Kate werden sich oben um die Aufträge kümmern. Wenn du unbedingt willst, kannst du ja deinen Skizzenblock und ein paar Stifte mitnehmen und unterwegs was entwerfen. Also fahr los.“

„Aber …“ Der Gedanke daran, mehrere Tage mit Justin zu verbringen, war verlockend. Vielleicht konnte sie endlich herausfinden, was wirklich in ihm vorging, und dadurch diesen anstrengenden Schwebezustand beenden.

„Was hat man denn davon, die Chefin zu sein, wenn man nicht ab und zu mal spontan freinehmen kann?“, warf Justin ein.

„Na ja … Ich denke, wir könnten tatsächlich für ein paar Tage wegfahren. Am Freitag muss ich allerdings wieder hier sein: Da habe ich einen wichtigen Kundentermin“, warnte sie, als er zufrieden lächelte. „Versprichst du mir, dass wir bis dahin zurück sind?“

„Kein Problem.“ Feierlich hob er die Hand wie zu einem Eid. „Ich schwöre hiermit, dass ich dich rechtzeitig zurückbringe. Wir nehmen einen der Firmenjets. Selbst wenn ich aufgehalten werde – womit ich nicht rechne –, kannst du mit Ava jederzeit zurückfliegen.“ Er schaute auf seine Uhr. „Wie schnell kannst du fertig sein?“

Zwei Stunden später stieg Lily aus der Firmenlimousine und stand direkt auf dem Rollfeld, auf dem der Jet bereits wartete.

„Ich trage Ava“, bot Justin an und nahm ihr die Kleine ab. „Hector, wir brauchen den Kindersitz im Flugzeug“, wies er den Chauffeur an.

Der Fahrer nickte und begann, das Gepäck aus dem Auto zu laden. Sie hatte in aller Eile gepackt und darauf vertraut, dass sie auf der Ranch in Idaho keine allzu vielfältige Garderobe brauchen würde.

„Wir können es uns drinnen schon gemütlich machen“, sagte Justin, nahm ihren Ellbogen und führte sie zur Gangway. „Bist du jemals in einem Privatjet geflogen?“

„Nein, nur in Linienmaschinen“, erwiderte sie.

Der Innenraum des Jets sah aus wie ein vornehmer Salon. Alles war in Blau und Grau mit altgoldenen Akzenten gehalten. Die Einrichtung war geschmackvoll und unaufdringlich luxuriös, und Lily entspannte sich gleich.

Als sie ein paar Stunden später auf der privaten Landebahn bei Justins Ranch landeten, war sie erholt und ausgeruht, nicht erschöpft und müde wie sonst nach Flügen.

„Jetzt hast du mich völlig verwöhnt“, klagte sie gespielt verzweifelt. „Ich werde mich nie wieder in einem Linienflieger wohlfühlen.“

„Ja, es ist ganz nett, nicht wahr? Und vor allem bequem.“ Justin deutete aus dem Fenster. Das Flugzeug wurde langsamer und fuhr eine Kurve. Ein Schuppen rückte ins Blickfeld. Daneben parkten zwei Fahrzeuge, ein Geländewagen und ein Pick-up. „Wir landen praktisch genau vor meiner Haustür.“

„Nimmst du jedes Mal den Firmenjet, wenn du irgendwo hinfliegst?“

„Wenn ich von Seattle aus zur Ranch will, ja“, antwortete er und löste seinen Sicherheitsgurt. „Wenn ich weiter wegwill, nehme ich manchmal eine Linienmaschine, aber das vermeide ich, wenn es geht.“

Als er sie breit anlachte, zeigten sich die Grübchen in seinen Wangen, die seine Tochter von ihm geerbt hatte.

„Kann ich verstehen“, gab sie lachend zurück. Es kostete sie einfach zu viel Kraft und Nerven, seinem Charme zu widerstehen. Es erschien ihr am besten, nicht weiter darüber nachzudenken und stattdessen den Moment zu genießen.

„Es muss ja auch Vorteile haben, Harrison Hunts Sohn zu sein“, bemerkte er trocken. „Warte, ich nehme Ava.“

Kurz darauf standen sie auf dem Rollfeld.

„Hey Boss“, begrüßten sie zwei Cowboys, die sie offenbar erwartet hatten.

Der Ältere von ihnen trat vor. „Schön, dich zu sehen. Wie war der Flug?“

„Prima. Schön, wieder hier zu sein.“ Justin legte eine Hand auf ihre Taille und schob sie sanft nach vorn. „Lily, darf ich dir Bob Draper vorstellen? Er ist mein Vormann und leitet die Ranch, wenn ich nicht da bin.“

„Freut mich sehr, Ma’am.“ Bob tippte an seinen Hut und nickte respektvoll.

„Mich auch.“ Ihr gefiel die altmodische Höflichkeit des Mannes. Unter dem Cowboyhut schaute schlohweißes Haar hervor, und seine Finger wirkten knorrig und steif. Doch seine blauen Augen strahlten Intelligenz und unbändige Lebensfreude aus.

„Und dies ist unsere Tochter Ava“, erklärte Justin stolz.

„Na so was …“ Ein Lächeln breitete sich auf Bobs Gesicht aus. „Freut mich sehr, dich kennenzulernen, kleine Lady. Du bist genauso hübsch wie deine Mutter.“

„Danke.“ Lily lächelte den sympathischen Mann an und fragte sich, welche Verbindung wohl zwischen ihm und Justin bestand. Ihr vertrauter Tonfall schien auf weit mehr als eine Arbeitsbeziehung hinzudeuten.

Der zweite Cowboy trat näher, nickte ihr zu und lächelte Ava an. „Ich habe das Gepäck im Pick-up verstaut und den Kindersitz auf die Rückbank vom Geländewagen gelegt“, meldete er.

„Soll ich euch fahren, oder steigt ihr zu Cory in den Pick-up?“, fragte Bob.

„Ich fahre selbst, danke“, antwortete Justin. „Ich wollte mit Lily eine kurze Rundfahrt machen.“

„Klar.“ Bob reichte ihm den Schlüsselbund. „Dann fahre ich mit Cory voraus und sage Agnes Bescheid, dass du angekommen und auf dem Weg bist.“

„Verrat ihr nicht, dass ich nicht allein komme“, bat Justin ihn und zwinkerte Lily zu. „Ich will sie überraschen.“

Bob lachte laut. „Oh, das sollte kein Problem sein.“

Als die beiden Cowboys eingestiegen waren, ging Lily mit Justin zum Geländewagen und fragte: „Wer ist Agnes?“

„Meine Haushälterin. Ich hab dir doch von ihr erzählt, weißt du noch? Sie arbeitet schon seit Jahren für mich, und ich würde sie nur ungern hergeben“, erklärte er.

Als sie den Wagen erreichten, öffnete er ihr die Beifahrertür und ließ sie einsteigen. Dann setzte er Ava in den Kindersitz und schnallte sie an.

„Ich wüsste gar nicht, was ich ohne sie anfangen sollte“, fuhr er fort, stieg ein und ließ den Motor an. „Das verrate ich ihr natürlich nicht. Sie führt sich sowieso schon auf, als wäre sie der Boss“, fügte er mit einem kleinen Lächeln hinzu, das sie noch nicht an ihm gesehen hatte.

Hier auf der Ranch schien Justin ein ganz anderer Mensch zu sein. Zu seinen Angestellten hatte er offenbar ein vertrautes und herzliches Verhältnis, und er bewegte sich sogar ungezwungener. Wie erstaunlich.

Auf einer schmalen Schotterstraße fuhren sie auf eine Reihe von Scheunen und Ställen zu. Dahinter erhaschte sie einen Blick auf das Dach eines Wohnhauses, doch erst als sie ein kleines Wäldchen passiert hatten, konnte sie das ganze Gebäude sehen.

Unwillkürlich hielt sie den Atem an. „Das ist ja ein wunderschönes Haus.“

„Freut mich, dass es dir gefällt. Ich mag es auch sehr“, antwortete er bescheiden, doch es war deutlich zu hören, wie stolz er war.

Das Blockhaus besaß im mittleren Teil zwei Stockwerke, und zu beiden Seiten schlossen sich einstöckige Flügel an. Um die gesamte Vorderfront zog sich eine geräumige Veranda, auf der Schaukelstühle standen. An jedem Ende gab es eine Sitzgruppe mit einem runden Tisch und Stühlen.

Hinter dem Haus erhob sich ein Hügel, der der Ranch und den dazugehörigen Gebäuden sowie den Bewohnern Schutz zu bieten schien.

„Der mittlere Teil ist alt“, erklärte Justin, als er den Wagen vor dem Haus parkte und sie ausstiegen. „Die beiden Flügel habe ich selbst angebaut, seit ich vor etwa zehn Jahren hier eingezogen bin.“

„Es ist unglaublich schön.“

Die Fliegengittertür flog auf, und wild bellend stürzten ihnen auf der Treppe zwei Hunde entgegen.

„Aus, Boo! Aus, Rusty!“, befahl Justin streng. Die Hunde setzten sich sofort brav hin, wedelten aber so aufgeregt mit den Schwänzen, dass ihre Hinterteile sich mitbewegten. Hechelnd blickten sie zu Justin und schienen beinahe zu grinsen.

„Tut mir leid, Justin. Ich wusste nicht, dass du jemanden mitgebracht hast, sonst hätte ich sie nicht rausgelassen“, sagte eine weibliche Stimme aus dem Innern des Hauses.

Lily schaute von den Hunden zur Veranda. Das ist Agnes? dachte sie überrascht.

Die Frau war unglaublich groß, mindestens eins achtzig, schätzte sie. Sie trug eine schlichte weiße Bluse und hellblaue Hosen. Ihre großen Füße steckten in Birkenstocksandalen, und das Haar trug sie in einem welligen Bob. Ihr Gesicht war kantig, und sie war wohl nie eine Schönheit gewesen, aber ihre blauen Augen strahlten.

Die Frau musterte sie mindestens ebenso neugierig wie Lily sie. Gleichzeitig schlugen beide die Augen nieder, als sie es bemerkten.

„Ist schon gut, Agnes“, sagte Justin und beugte sich zu den Hunden hinunter, um sie mit der freien Hand zu streicheln. Dann ging er in die Knie, damit Ava ihr weiches Fell anfassen konnte. Der größere der beiden, ein schwarz-weißer Border Collie, leckte Avas Hand. Begeistert kicherte sie und plapperte an Justin gewandt munter drauflos.

Justin lachte und erhob sich wieder. „Bleibt sitzen, ihr beiden“, befahl er den Hunden. Sie gehorchten, obwohl sie Ava ganz offensichtlich gerne weiter beschnüffelt hätten und sich mehr Streicheleinheiten erhofften.

„Eigentlich sind sie Hütehunde, aber sie dürfen ins Haus“, erklärte er. „Manchmal glaube ich fast, dass sie ihren Job aufgeben und Haustiere in Vollzeit werden wollen.“

Er legte die Hand um ihre Taille und schob sie sanft in Richtung Veranda.

„Ava ist mindestens so hingerissen von ihnen wie sie von ihr“, sagte sie.

„Kluge Kerlchen“, erwiderte Justin lächelnd.

Agnes erwartete sie auf der Veranda. Die Neugier stand ihr ins Gesicht geschrieben, und sie hielt die Hände vor der Brust gefaltet.

Justin strahlte sie an. „Agnes, ich möchte dir Lily Spencer und unsere Tochter Ava vorstellen.“

Überrascht riss Agnes die Augen auf und schlug die Hand vor den Mund. „Deine Tochter?“ Auf einmal schimmerten ihre Augen feucht. „Ach du liebe Güte. Es freut mich so, Sie kennenzulernen, Lily.“

„Mich auch. Justin hat mir schon erzählt, dass Sie hier unentbehrlich sind.“

Es kam ihr so vor, als wolle die ältere Frau sie spontan umarmen. Agnes hielt sich jedoch zurück und schaute nur voller Entzücken von Lily zu Ava.

„Sie sieht genau aus wie du, Justin“, stellte sie mit zitternder Stimme fest.

„Warte, bis du ihre Grübchen siehst“, meinte er stolz. Allerdings zeigte Ava sich auf einmal schüchtern und verbarg das Gesicht an seiner Schulter. „Na ja, sobald ich es schaffe, sie zum Lachen zu bringen, kannst du sie sehen.“ Er holte tief Luft und fuhr fort: „Was gibt’s zum Abendessen? Ich bin am Verhungern.“

„Ach herrje.“ Agnes warf die Hände in die Luft und öffnete die Fliegengittertür. „Und ich lasse euch hier draußen rumstehen. Kommt rein, kommt rein. Ich hab den Jungs gesagt, dass sie das Gepäck nach oben bringen sollen.“ Kopfschüttelnd sah sie Justin an. „Ich hatte mich schon gewundert, warum du auf einmal so viele Koffer brauchst.“

„Ich wollte dich überraschen und habe Bob gebeten, dir nichts zu sagen.“

„Na, das ist dir ja auch gelungen“, murmelte Agnes und schaute wieder zu Ava. „Und es ist eine wunderbare Überraschung, ganz wunderbar.“ Hastig zog sie ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und wischte sich über die Augen. „Zeig doch den beiden Ladys, wo sie sich frisch machen können. Wir essen, sobald ihr wieder runterkommt.“

„Dauert nicht lange“, versprach Justin.

Sie nickte und eilte davon.

Lily war überwältigt von den vielen neuen Eindrücken, die auf sie einstürmten. „Sie ist ganz anders, als ich erwartet habe“, bemerkte sie, als sie die geschwungene Treppe in den ersten Stock hinaufstiegen. Justin hatte noch immer Ava auf dem Arm. Die Kleine schien dort sehr zufrieden zu sein, denn sie betrachtete alles um sich herum wortlos und mit großen Augen.

„Ja? Was hast du denn erwartet?“

„Ich dachte, sie wäre nur eine Haushälterin. Aber sie ist beinahe ein Familienmitglied, oder?“

Justin zuckte die Achseln und wirkte plötzlich verlegen. „Sie kommandiert alle herum, hat zu allem eine eigene Meinung, hält sich für den Boss und macht, was sie will. Ja, so gesehen ist sie wahrscheinlich mehr als eine Angestellte.“

Sie musste lächeln. Vielleicht wollte Justin nicht zugeben, wie gern er die ältere Frau hatte, doch es war offensichtlich. Und auch Agnes schien eher einen Sohn in ihm zu sehen.

An die Treppe schloss sich eine offene Galerie an. Justin führte sie rechts zu einer Tür, zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete.

„Das ist Avas Zimmer“, erklärte er.

Sie trat ein und blickte sich überrascht um. „Aber … das ist wunderschön.“

Die in einem hübschen altrosa gestrichenen Wände rochen noch ein wenig nach frischer Farbe. Alle Möbel waren weiß: Der Raum war eingerichtet mit einem Wickeltisch, einer Kommode und einem wunderschönen Kinderbettchen mitsamt Spitzenhimmel. Ein flauschiger Teppich bedeckte den Boden. In einer Ecke stand eine Holzkiste mit Spielzeug und Büchern, am Fenster ein Schaukelstuhl, auf dem ein weiches Schaffell ausgebreitet war.

Ein perfekt ausgestattetes Kinderzimmer. Unglaublich. „Wann hast du das gemacht?“, fragte sie bewegt.

„Ein paar Tage, nachdem ich von Ava erfahren habe.“

Es musste das Wochenende gewesen sein, an dem er angeblich geschäftlich nach Idaho geflogen war. Doch was hatte das zu bedeuten?

„Warst du dir so sicher, dass wir mit dir hierherkommen würden?“, fragte sie vorsichtig. Konnte dieses wunderschöne Kinderzimmer ein Anzeichen dafür sein, dass er Ava einen dauerhaften Platz in seinem Leben einräumen wollte? Und damit auch ihr?

„Ich war mir gar nicht sicher“, antwortete er leise. „Aber ich habe es gehofft.“

Seine Ernsthaftigkeit überzeugte sie.

„Verstehe“, sagte sie leise. „Na ja, sieht ganz so aus, als hätten sich deine Hoffnungen erfüllt.“

„Nein, alle noch nicht“, erwiderte er ebenso leise. „Bisher jedoch immerhin zwei davon: Ava ist hier – und du auch.“

„Wir sind nur zu Besuch“, erinnerte sie ihn.

„Ich weiß.“ Er lächelte verwegen, was seine Grübchen zum Vorschein brachte.

„Hör auf, so charmant zu sein“, schalt sie ihn lächelnd.

„Bringt es denn was?“

„Sag ich nicht.“ Sie schaute sich im Zimmer um. „Wie hast du es geschafft, dass Agnes nichts davon mitbekommen hat?“, fragte sie. Die Überraschung der Haushälterin war echt gewesen: Anscheinend wusste sie nichts von dem neuen Kinderzimmer im Haus.

Justins Lachen wurde breiter. „Ich habe ihr Karten für ein Céline-Dion-Konzert in Las Vegas geschenkt. Mit Flug und Übernachtung. Während sie weg war, habe ich mich hier an die Arbeit gemacht. Als sie zurückkam, hat sie natürlich die frische Farbe gerochen. Agnes entgeht schließlich so leicht nichts.“ Wieder zeigte er dieses stille, vertraute Lächeln, das für die ältere Frau reserviert zu sein schien. „Also habe ich das Zimmer abgeschlossen und ihr gesagt, dass ich eine Überraschung für sie vorbereiten würde. Und die ist mir ja auch gelungen.“

Kopfschüttelnd sah sie ihm in die Augen und bemerkte das Glänzen darin. Er freut sich wie ein Schuljunge, dass er Agnes eine Freude bereitet hat, dachte sie. Es gab ihr ein warmes Gefühl, ihn so gelöst zu sehen.

Vorsicht! Zieh keine voreiligen Schlüsse.

„Ava braucht eine neue Windel. Wo ist denn ihre Tasche?“, fragte sie sachlich.

„Die Jungs haben wahrscheinlich das ganze Gepäck in meinem Zimmer abgeladen. Hier entlang.“ Er ging den Flur hinunter und öffnete eine weitere Tür. „Ja, hier steht alles. Welches ist Avas Tasche?“

Lily war ihm gefolgt und blieb auf der Schwelle stehen. Der weiß gestrichene Raum war noch größer als Avas. Eine Wand bestand ausschließlich aus Fenstern, die zum Hügel hinausgingen, eine andere war aus Feldstein gemauert und hatte einen riesigen Kamin.

An der Wand gegenüber stand ein riesiges Doppelbett aus Eichenholz. Trotzdem war immer noch genügend Platz vorhanden, sodass der gemütliche Sessel und das Sofa neben dem Kamin den Raum nicht überfüllt wirken ließen.

Als sie die Eindrücke in sich aufnahm, spielte die Fantasie ihr einen Streich: Auf einmal sah sie Justin und sich selbst beim Liebesspiel auf dem Bett, während im Kamin ein gemütliches Feuer prasselte. Das Bild traf sie unerwartet, und sie starrte ein paar Sekunden lang wie gebannt auf den herrlichen Quilt, der das Bett bedeckte. Hitze stieg in ihr auf. Als sie sich endlich vom Bett losreißen konnte, entdeckte sie im angrenzenden geräumigen Bad die riesige Eckbadewanne.

Beinahe hätte sie laut aufgestöhnt. Stattdessen atmete sie einfach tief durch und heftete die Augen entschlossen auf eine der weißen Wände, an der gerahmte Fotos in unterschiedlichen Größen hingen.

Als sie einen Schritt näher herantrat, bemerkte sie, dass alle Bilder einen älteren, weißhaarigen Mann in Jeans, Stiefeln und einem Cowboyhut und einen Jungen von vielleicht acht oder zehn Jahren zeigten. An dem schwarzen Haar und den Grübchen erkannte sie sofort Justin.

„Lily?“, fragte Justin über die Schulter. „Was ist denn?“

„Dieses Zimmer ist …“ Sie fand keine Worte, um ihre Gefühle auszudrücken. In diesem Raum glaubte sie zum ersten Mal in sein Innerstes zu blicken: die Kombination von Luxus und Natürlichkeit, die rustikalen Möbel, die Fotos …

„… wunderschön“, schloss sie, weil ihr nichts Besseres einfiel.

„Danke. Die Möbel gehörten meinem Großvater. Für den Rest des Hauses habe ich einen Innenarchitekten kommen lassen, nur dieses Zimmer habe ich selbst eingerichtet.“ Er zuckte die Achseln. „Es schien mir richtiger so.“

„Ja, es strahlt Ruhe und Harmonie aus“, sagte sie. „Und Persönlichkeit.“

„Mama“, meldete sich Ava und streckte die Arme nach ihr aus.

„Oh, ich glaube, da hat jemand Hunger. Ihre Sachen sind in der roten Tasche. Bringst du sie in ihr Zimmer? Ich wickele sie schnell, und danach gehen wir runter und füttern sie.“

„Ich freue mich auch schon aufs Abendessen“, meinte Justin und folgte ihnen mit der Tasche ins Kinderzimmer.

Es war halb neun, als sie nach einem leckeren Abendessen Ava schließlich ins Bett brachte. Die Kleine war so müde, dass sie fast auf Lilys Arm einschlief. Lily legte sie behutsam in das Bettchen. Ein paar Minuten blieb sie noch und stellte sicher, dass die ungewohnte Umgebung die Kleine nicht doch noch beunruhigte. Auf Zehenspitzen schlich sie hinaus.

Justin wartete am Fuß der Treppe auf sie.

„Ich dachte, sie würde vielleicht nicht gleich einschlafen“, sagte er. „Aber sie hat ja keinen Mucks von sich gegeben.“

„Sie hat einen aufregenden Tag gehabt. Jetzt schläft sie wie ein Stein.“ Sie zupfte am Ärmel seiner Windjacke. „Gehst du noch weg?“

„Ja, mit dir, wenn du möchtest.“

„Ich kann Ava nicht einfach allein lassen.“

„Agnes wird auf sie achtgeben. Die Lautsprecher vom Babyfon sind in der Küche, der Waschküche, dem Wohnzimmer, Agnes’ Zimmer und der hinteren Veranda verteilt. Wenn Ava sich meldet, wird Agnes es auf jeden Fall mitbekommen.“ Er klopfte auf das Handy in seiner Brusttasche. „Und wenn sie nicht weiterweiß, kann sie uns erreichen.“

„Du hast ja wirklich an alles gedacht.“ Sie war beeindruckt und gerührt. „Und, wohin gehen wir?“

„Nicht weit. Hier, zieh das über. Die Nächte sind kühl, wenn die Sonne erst mal untergegangen ist.“

Er legte ihr eine Jeansjacke über die Schultern und nahm ihre Hand. Obwohl er ihr das genaue Ziel nicht verraten wollte, folgte sie ihm vertrauensvoll. Draußen war ein Pick-up vor dem Tor geparkt. Tief über dem Horizont warf die Sonne lange Schatten, als sie die Ranchgebäude hinter sich ließen. Sie fuhren eine Schotterstraße entlang, die nach einer Weile bergauf führte.

„Wohin fahren wir?“, fragte sie neugierig.

„Wart’s ab“, erwiderte er lächelnd.

Tatsächlich wurde der Weg immer steiler und schmaler, und schließlich erreichten sie einen Platz auf der flachen Kuppe des hohen Hügels.

Die Sonne stand als roter Ball am Horizont, und weit unter ihnen konnte sie die Ranchhäuser sehen. Aus den Fenstern fiel Licht, und auch die Veranda des Haupthauses war hell erleuchtet.

„Das ist ja eine herrliche Aussicht. Was ist in dem langen Gebäude hinter der Scheune?“

„Das ist das Arbeiterhaus. Bis auf meinen Vormann und die verheirateten Paare wohnen dort alle Cowboys, die auf der Ranch arbeiten.“

Justin hatte beim Losfahren die Scheiben heruntergelassen, und von der Ranch drangen nun die Klänge von leiser Gitarrenmusik zu ihnen herauf.

„Das ist wahrscheinlich Cory“, vermutete er lächelnd. „Er ist unser Musiker.“

„War er auch dabei, als ihr letztes Jahr das Farmhaus renoviert habt?“, fragte sie. Der Einblick in Justins Leben auf der Ranch faszinierte sie. Hier war alles ganz anders als in Seattle.

„Ja, war er. Wir beide haben uns mit dem Kochen abgewechselt.“

Er nahm ihre Hand und zog sie an sich. Der Truck hatte eine durchgehende Sitzbank, und Justin lehnte sich an die Tür, sodass sie sich an seine Schulter kuscheln konnte. Und genau das tat sie – es war einfach zu verlockend.

„Wie gefällt dir meine Ranch bisher?“, erkundigte er sich.

„Sehr gut.“ Unter ihrer Hand spürte sie seinen gleichmäßigen Herzschlag. Von draußen wehte ein Hauch von wildem Salbei und Nadelbäumen herein und mischte sich mit dem würzigen Duft seines Aftershaves.

Als er ihr das Haar hinters Ohr strich und mit den Fingerspitzen ihre Wange streichelte, musste sie lächeln. „Als ich zum letzten Mal mit einem Jungen in einem Auto geschmust habe, war ich noch ein Teenager.“

„Als ich zuletzt ein Mädchen in meinem Truck geküsst habe, war ich auch noch einer“, entgegnete er. „Ich glaube, es wird höchste Zeit, das mal wieder auszuprobieren.“

Dann küsste er sie so sanft und verführerisch. Sie konnte gar nicht anders, als die Arme um seinen Nacken zu schlingen und den Kuss mit aller Leidenschaft zu erwidern.

Als sie sich voneinander lösten, war sie außer Atem und mehr als erregt. Seine Hand ruhte auf ihrer nackten Haut – ihr T-Shirt war nach oben gerutscht.

„Jetzt erinnere ich mich wieder, warum Trucks mit durchgehenden Sitzen so praktisch sind“, murmelte Justin.

„Ich weiß gar nicht, warum man überhaupt andere Autos baut.“ Ihre Stimme klang genauso atemlos, wie sie sich fühlte.

„Wenn wir nach Seattle zurückkommen, verkaufe ich meinen Wagen und schaffe mir auch für die Stadt einen Pick-up an“, versprach er.

Schließlich beugte er sich wieder vor und bedeckte ihre Lippen, ihr Kinn und ihren Hals mit kleinen Küssen. Sie legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen, um die wunderbaren Empfindungen einfach nur zu genießen. Als er die Finger unter ihr T-Shirt schob und zärtlich ihre Brust umfasste, hielt sie ihn jedoch fest.

„Wir sollten besser aufhören“, brachte sie heiser hervor.

„Warum?“ Mit der freien Hand zog er den Rand ihres Ausschnitts beiseite und küsste ihre Schulter.

„Weil ich noch nicht bereit dazu bin.“ Es stimmte. Alles in ihr sehnte sich danach, ihrem Verlangen nachzugeben. Doch so gern sie glauben wollte, dass sich wirklich etwas verändert hatte: Ihre Vorsicht war stärker.

Zweifelnd betrachtete er sie. „Bist du dir ganz sicher? Ich habe eher den Eindruck, dass du mehr als bereit bist.“

Wie zum Beweis strich er sanft über eine ihrer aufgerichteten Brustspitzen.

„Bin ich nicht“, beharrte sie.

Er hob eine Augenbraue und wiederholte die Liebkosung. Ein wohliger Schauer überlief sie.

„Na ja, einige Teile von mir sind vielleicht tatsächlich bereit. Doch der Teil, auf den es ankommt, ist es nicht.“

Sein Seufzen kam von Herzen. Er zog die Hand unter ihrem T-Shirt hervor und schob ihren Ausschnitt wieder zurecht. „Wenn du es sagst.“

Schweigend setzte sie sich auf.

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Du sagst es mir aber, oder? Sobald alle Teile von dir bereit sind, sagst du mir sofort Bescheid, ja?“

„Mache ich“, versprach sie.

„Gut.“ Er küsste sie leidenschaftlich und löste sich von ihr. Als sie auf die Beifahrerseite zurückrutschen wollte, hielt er sie allerdings fest.

„Das ist viel zu weit weg, bleib hier.“ Er legte den Arm um ihre Schulter, und sie gab nach und lehnte sich an ihn. „Viel besser“, murmelte er zufrieden.

Ohne sie loszulassen, startete er den Motor und wendete den Wagen. In der Dämmerung fuhren sie langsam zurück zur Ranch. Auf dem Weg hielt er ab und zu an und deutete abseits der Straße auf Rehe, Damhirsche und einmal auf einen Kojoten. Die Tiere schienen nicht besonders scheu zu sein und hoben nur kurz die Köpfe, wenn sie den Wagen wahrnahmen.

Als sie ins Haus zurückkamen, überlegte Lily einen Moment, ob Justin wohl damit gerechnet hatte, dass sie in seinem Zimmer übernachtete. Ihr Gepäck stand dort, und vielleicht hatte er gedacht, sie würde sich leichter verführen lassen … Aber eine Nacht mit ihm in demselben Zimmer wäre eine zu große Herausforderung für ihre Selbstbeherrschung. Und sie fühlte sich wirklich noch nicht bereit.

Ihre Sorge stellte sich jedoch als ganz unbegründet heraus. Am Fuß der Treppe nahm er ihre Hand, zog sie mit sich und meinte lächelnd: „Komm, ich zeig dir dein Zimmer.“

Es lag gegenüber von Avas Zimmer und war in Fliedertönen und Weiß gehalten. Das Bett hatte ein wunderschön verschnörkeltes schmiedeeisernes Gestell und war etwas schmaler als Justins. Es gab eine große Kommode, einen bequemen Sessel, einen Schreibtisch mit Telefon und den herrlich flauschigen Teppichboden, den sie bereits in Avas Zimmer bewundert hatte. Eine Tür führte zu einem eigenen Bad mit Dusche.

Sie war sich nicht sicher, ob dies das offizielle Gästezimmer der Ranch war oder ob Justin es extra für sie eingerichtet hatte. Sie wollte lieber nicht fragen.

Im Moment hatte sie genug Stoff zum Nachdenken. Der Justin, den sie heute auf der Ranch erlebt hatte, erinnerte sie so sehr an den Mann, in den sie sich damals in Seattle verliebt hatte. Bedeutete das, dass sie ihm wieder vertrauen konnte? War es tatsächlich nur ein schrecklicher Irrtum von ihm gewesen, sich plötzlich von ihr zu trennen? Aber wie konnte man sich in so etwas irren?

Als sie ins Bett ging und sich in die weichen Kissen kuschelte, war sie überzeugt davon, dass ihr diese Fragen die ganze Nacht durch den Kopf gehen würden. Doch vielleicht war die würzige Landluft schuld daran: Es dauerte jedenfalls nicht lange, und sie war tief und traumlos eingeschlafen.

8. KAPITEL

Der nächste Tag verlief ruhig und angenehm. Justin kümmerte sich um seine Verkaufsverhandlungen, während Lily an neuen Designs arbeitete. Danach spielten sie gemeinsam mit Ava und zeigten ihr die Pferde, von denen sie sich gar nicht genug bekommen konnte. Es gefiel Lily, wie entspannt Justin auf der Ranch wirkte. Als ob das hier sein wahres Zuhause ist, dachte sie.

Am nächsten Morgen setzte Justin nach dem Frühstück Ava auf seine Schultern und lud Lily zu einem Spaziergang über die Ranch ein. Zunächst gingen sie in den Pferdestall, weil Ava wild gestikulierend nach ihren neuen Freunden verlangte. Justin ließ sie ihre weichen Nüstern streicheln, und die Kleine kicherte vor Freude, als die Pferde dabei leise schnaubten.

Als sie wieder draußen in der Sonne standen, fragte Lily: „Was ist dort hinten?“ Hinter dem Arbeiterhaus führte ein schmaler Feldweg zu einem kleinen Wäldchen.

„Das ist die Unterkunft des Vorarbeiters. Und im Wäldchen gibt es eine Quelle und einen kleinen Bach.“

„Oh, das würde Ava Spaß machen! Kann sie im Wasser planschen oder ist es zu tief?“

„Zu tief nicht, allerdings ist es vielleicht zu kalt. Probieren wir es einfach aus.“

Obwohl sie beide Strohhüte gegen die Sonne trugen, waren Lily und Ava erhitzt, als sie das Wäldchen erreichten.

„Wow.“ Lily fächelte sich Luft zu. „Ganz schön heiß hier.“

„Ja, im August wird’s in Idaho richtig warm. Unter den Bäumen ist es kühler.“

In der Mitte des Wäldchens sprudelte die Quelle, und von dort aus schlängelte sich ein Bach durch den Wald. Justin hielt Ava über das Wasser, und sie reckte eifrig die Zehen danach. Als sie endlich heranreichte, quiekte sie begeistert und begann herumzuplanschen, sodass das Wasser nur so spritzte. Erst als sie genug davon hatte, hob Justin sie auf die Schultern, und sie hielt sich an seinem dichten Haar fest.

Sie folgten dem Bach bis zum Rand des Wäldchens, von wo aus man ein kleines zweistöckiges Blockhaus mit einem hübschen Garten sehen konnte.

„Hier wohnt Bob Draper?“, fragte sie.

„Ja, mit seiner Frau. Als ich acht Jahre alt war, habe ich dort gewohnt“, fügte er unvermittelt hinzu.

Überrascht blickte sie ihn an. Normalerweise sprach er nicht freiwillig über sich, schon gar nicht über seine Kindheit.

„Das muss toll gewesen sein“, sagte sie vorsichtig. „Ich wette, dir hat es am besten gefallen, draußen zu spielen.“

Lächelnd nickte er. „Im Winter ist der Bach zugefroren gewesen, und man konnte die Spuren der Tiere im Schnee verfolgen.“ Er deutete auf den zweiten Stock. „Mein Zimmer war da oben unterm Dach. Von meinem Fenster aus konnte ich die Rehe auf dem Hügel hinter dem Haupthaus beobachten, wenn sie abends aus dem Wald kamen.“

„Du bist gern hier gewesen“, stellte sie bei seinem veränderten Tonfall fest.

„Ja, sehr gern.“ Auf einmal wirkte er ernst. „Meine Mutter hat mich hier abgeladen, als ich acht war. Damals war ihr Vater der Vormann hier. Ich hatte meinen Großvater vorher nie kennengelernt, und nach dem Leben mit meiner Mutter hatte ich keine großen Erwartungen. Aber mein Großvater war ein lieber Mensch, und es war eine tolle Zeit.“

„Wie lange hast du bei ihm gelebt?“

„Vier Jahre. Er bekam eine Lungenentzündung und starb, als ich zwölf war. Seine Frau war nicht meine leibliche Großmutter, und es ging ihr gesundheitlich selbst nicht so gut. Da meine Mutter inzwischen auch gestorben war, rief sie Harry an.“

Erschrocken sah sie ihn an. „Deine Mutter war gestorben?“

„Ja, an einer Überdosis. Zwei Jahre, nachdem sie mich hier abgegeben hatte. Man hat nie herausgefunden, ob es Absicht war oder ein Unfall“, erklärte er emotionslos.

„O Justin.“ Sie hatte keine Ahnung gehabt, was er als Kind alles durchgemacht hatte.

„Tja, und Harry flog sofort her, um mich abzuholen“, erzählte er weiter. „Aber ich wollte natürlich nicht mit.“ Er lächelte versonnen. „Also habe ich heimlich meine Sachen gepackt und bin abgehauen. Ich wollte in den Hügeln abwarten, bis er die Geduld verlieren und wieder verschwinden würde. Doch Harry schickte mir einen der Rancharbeiter hinterher, und der brachte meinen Halbbruder Gray mit. Gray richtete mir Harrys Angebot aus, die Ranch zu kaufen und sie an mich zurückzuverkaufen, sobald ich volljährig wäre. Dafür müsste ich so lange bei ihm leben und zur Schule gehen. Und das habe ich dann gemacht. Ich bin mit ihnen zurück nach Seattle geflogen, habe dort meine anderen Halbbrüder kennengelernt und bin zur Schule gegangen. Aber die Sommer habe ich immer hier verbracht. Und kaum hatte ich das College abgeschlossen, bin ich wieder hergezogen.“ Er zuckte die Achseln. „Das ist so in etwa meine Lebensgeschichte.“

„Und was für eine Geschichte“, sagte sie leise. Das ist aber noch nicht alles, fügte sie im Stillen hinzu. Über die ersten acht Jahre mit seiner Mutter hatte er nicht geredet. Wahrscheinlich war diese Zeit noch schlimmer gewesen als der Rest. Sie überlegte, ob sie ihn danach fragen sollte. Es schien ihm jedoch leichter zu fallen, über diese Dinge zu sprechen, wenn er von sich aus darauf kam.

Also griff sie schweigend nach seiner Hand und drückte sie. Langsam spazierten sie zurück zum Ranchhaus.

Am Nachmittag setzte sie sich mit Ava zu Agnes in die Küche, um ihr bei der Zubereitung des Abendessens zu helfen. Ava spielte in einer Ecke zufrieden mit ihren neuen Spielsachen, und Lily schnitt das Gemüse für den Salat.

„Heute Morgen waren wir bei der Quelle im Wäldchen“, bemerkte sie beiläufig. Vielleicht wusste Agnes ja mehr über die damaligen Verhältnisse hier. „Justin hat erzählt, dass er früher mit seinem Großvater in dem Haus dort gewohnt hat.“

„Ja. Damals gehörte die Ranch den Millers, und sein Großvater war der Vormann.“

„Haben Sie damals auch schon hier gearbeitet?“

„Allerdings. Ich bin seit über dreißig Jahren als Haushälterin auf der Ranch.“ Agnes lachte. „Sie brauchen gar nicht so überrascht zu gucken. Ich bin vor ein paar Monaten zweiundsiebzig geworden.“

„Na so was. Sie sehen viel jünger aus“, staunte Lily ehrlich.

„Das macht vermutlich die gute Landluft und das schöne Leben hier.“ Agnes zwinkerte ihr zu. „Und natürlich mindestens ein Stück Schokolade am Tag.“

„Klar, die Schokolade.“ Lily nickte lachend.

„Hat Justin Ihnen mehr von seinem Leben erzählt?“, fragte Agnes.

„Ja, dass es ihm auf der Ranch sehr gefallen hat. Dass er am liebsten die Tiere beobachtet und im Winter ihre Spuren gelesen hat. Er ist wirklich gern hier, nicht wahr?“

„O ja.“ Nach kurzem Zögern drehte Agnes sich zu Lily um und sah sie direkt an. „Es geht mich natürlich nichts an. Aber Justin ist wie ein Sohn für mich, und ich habe keine eigenen Kinder, also frage ich trotzdem: Werden Sie ihn diesmal heiraten?“

„Diesmal?“, fragte sie verwundert.

„Na ja, ich frage nur, weil ich nicht will, dass er noch einmal so leidet. In den letzten zwei Jahren hat er sich fast zu Tode gearbeitet und so gut wie nie gelächelt. Als er dann mit Ihnen und Ava hier angekommen ist … Na ja, es war nicht schwer auszurechnen: Sie müssen sich von ihm getrennt haben, kurz bevor es ihm so schlecht ging.“ Agnes schüttelte den Kopf. „Ich kenne den Jungen, seit er acht ist, und ich habe ihn noch nie so glücklich gesehen wie mit Ihnen und Ava.“

Justin war es schlecht gegangen, nachdem er sie in Seattle verlassen hatte? Was hatte das zu bedeuten?

„Ich habe nicht mit ihm Schluss gemacht, sondern er mit mir“, stellte Lily klar. „Ich habe ihn ehrlich geliebt.“

„Was ist denn passiert? Wenn ich das fragen darf“, fügte Agnes hastig hinzu.

„Ehrlich gesagt wüsste ich das selbst gern. Ich zerbreche mir schon die ganze Zeit den Kopf darüber. Damals dachte ich, dass er mich einfach nicht lieben würde. Er redete davon, dass wir mit anderen ausgehen sollten, dass wir aber Freunde bleiben könnten, dass es nicht an mir läge, sondern an ihm – also die üblichen Lügen, die ein Mann einer Frau erzählt, wenn er sie loswerden will. Und ich muss zugeben, dass ich davon so geschockt war, dass ich mich an den Rest nicht mehr recht erinnern kann.“

„Ach herrje.“ Agnes runzelte die Stirn. „Und ich habe immer geglaubt, Sie hätten ihn verlassen. Es ist mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass es umgekehrt gewesen sein könnte – so traurig, wie er hier herumgeschlichen ist. Der Junge war am Boden zerstört.“

„Warum hat er dann Schluss gemacht? Es war doch alles wunderbar zwischen uns.“

„Das weiß ich leider auch nicht. Jedenfalls hoffe ich sehr, dass es dieses Mal funktioniert. Ich habe Justin noch nie so glücklich gesehen, und …“ Agnes warf ihr einen verschwörerischen Blick zu. „Und wenn ich mich nicht vollkommen täusche, dann lieben Sie ihn immer noch, oder?“

In diesem Moment kreischte Ava los, weil ihr Haar sich in ihrer Plastikrassel verfangen hatte. Rasch wischte Lily sich die Hände ab und eilte zu ihr. Sie nahm sie auf den Arm, befreite vorsichtig ihr Haar und tröstete sie. Als sie Ava schließlich wieder auf ihre Spieldecke setzte, war sie ganz froh, dass sie Agnes’ Frage nicht mehr beantworten musste.

Allerdings stand sie vor einem neuen Rätsel, über das sie nachdenken musste. Justin war über ihre Trennung unglücklich gewesen. Gab es vielleicht schwerwiegende Gründe, warum er sich von ihr hatte trennen müssen? Aber warum um alles in der Welt hatte er dann nicht mit ihr darüber gesprochen? Ihr wurde bewusst, dass sie die Antwort darauf ganz leicht herausfinden könnte: Sie würde Justin einfach direkt danach fragen.

9. KAPITEL

Obwohl es ihr sehr schwerfiel, brachte Lily das Abendessen mit unverfänglichen Gesprächsthemen hinter sich. Nachdem Agnes sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, hielt Justin seine abendliche Besprechung mit dem Vormann ab, während Lily mit Ava spielte.

Gemeinsam brachten sie Ava ins Bett, und danach war Lilys täglicher Anruf bei Meggie in Seattle fällig. Justin sagte ihr, er würde unten auf sie warten, und sie wählte die Nummer ihrer Assistentin in ihrem Zimmer.

„Hi Lily“, begrüßte Meggie sie fröhlich. „Na, gefällt euch beiden Stadtkindern das Landleben?“

Lily lachte. „Und wie. Ava ist völlig vernarrt in die Pferde. Wenn wir nicht aufpassen, lernt sie reiten, bevor sie richtig laufen kann. Und die Landschaft ist traumhaft. Heute haben wir einen Spaziergang zu einer kleinen Quelle im Wald gemacht, wo Ava planschen konnte … Dir würde es hier auch gefallen, ganz bestimmt.“

„Ich freue mich schon drauf, es selbst mal zu sehen. Du lädst mich sicher ein, wenn du erst dort hingezogen bist, oder?“, fragte Meggie halb im Scherz.

„Wie kommst du denn darauf?“

„Na komm, ich habe doch gemerkt, wie dein Traumcowboy dich ansieht. Glaub mir, du wirst bald dort einziehen. Bei dem Mann solltest du wirklich nicht Nein sagen, und außerdem ist er hin und weg von dir.“

Hoffentlich hast du recht, dachte Lily zweifelnd. Nach ihrem Gespräch heute würde sie vielleicht endlich verstehen, was in Justin vorging.

„Und wie läuft’s bei dir?“, erkundigte sie sich, um das Thema zu wechseln. „Gab’s irgendwelche Probleme?“

Die nächste Viertelstunde besprachen sie die wichtigsten Belange der Boutique. Ein weiteres Mal war Lily sehr froh, dass sie in Meggie eine so verlässliche und umsichtige Mitarbeiterin hatte.

Als sie ihr Zimmer verließ, war im Haus alles still. Leise schaute sie noch einmal bei Ava herein. Die Kleine schlief tief und fest. Kein Wunder: Seit sie sich auf der Ranch aufhielten, bekam sie so viel frische Luft und Bewegung wie nie zuvor.

Lily zog ihr die Bettdecke zurecht und ging auf Zehenspitzen hinaus. Als sie sich zur Treppe wandte, bemerkte sie Licht unter der Tür zu Justins Zimmer. Lautlos schlich sie hinüber und flüsterte: „Justin?“

„Komm rein.“

Justin stand vor dem offenen Kleiderschrank. Er trug Jeans, aber kein Hemd. Sein muskulöser Oberkörper glänzte im Lampenschein goldbraun.

Lächelnd blickte er sich über die Schulter um. „Na, hast du Meggie erreicht?“

„Ja, im Laden läuft alles bestens“, erwiderte sie heiser. Sein Anblick bescherte ihr weiche Knie, und es gelang ihr nicht, die Augen von ihm abzuwenden. Zu faszinierend und erregend war das Spiel seiner kräftigen Muskeln. Schließlich entschied er sich für ein Baumwollhemd, streifte es über und drehte sich zu ihr um. Dadurch bekam sie die Gelegenheit, seinen Waschbrettbauch zu bewundern. Es fiel ihr schwer, sich daran zu erinnern, was sie als Nächstes hatte sagen wollen.

„Und ich habe nach Ava geschaut. Sie schläft“, brachte sie hervor.

„Gut.“ Er kam auf sie zu und schenkte ihr ein Lächeln, dem allein schon schwer zu widerstehen war. „Das heißt also, wir sind allein. Wir haben den ganzen Abend für uns und keine Verpflichtungen.“

Er ging an ihr vorbei, um die Tür zu schließen. Von hinten legte er die Arme um sie und zog sie an sich. Es gab ihr ein wunderbares Gefühl von Geborgenheit, seinen starken Körper in ihrem Rücken zu spüren. Genüsslich lehnte sie sich an ihn, und er streifte mit den Lippen die empfindliche Stelle unter ihrem Ohr.

Die Versuchung, sich umzudrehen und ihn zu küssen, war stark. Immer weiter steigerte sich ihr Verlangen, ihm wieder so nah zu sein wie damals. Zuerst brauchte sie jedoch eine Antwort auf ihre Fragen. Zu viel stand auf dem Spiel – sie durfte sich nicht einfach von den Bedürfnissen ihres Körpers ablenken lassen.

„Ich habe mich heute Nachmittag mit Agnes unterhalten“, begann sie leise. „Ich muss dich etwas fragen und hätte gern eine ehrliche Antwort.“

„Sicher.“ Er hauchte eine Spur von kleinen Küssen von ihrem Ohr zu ihrem Schlüsselbein und schob dabei den Träger ihres Tops beiseite.

Wohlige Schauer ergriffen Lily. Sie befeuchtete ihre Lippen und musste schlucken. „Ich dachte, du hättest in Seattle mit mir Schluss gemacht, weil du mit einer anderen ausgehen wolltest“, sagte sie.

Ihre Körper waren sich so nah, dass sie spürte, wie er erstarrte.

„Aber Agnes hat mir erzählt, dass du sehr unglücklich gewirkt hast, als du hierher zurückgekommen bist. Und es sieht so aus, als hättest du unsere Beziehung beendet und wärst direkt danach zur Ranch gefahren.“

„Das stimmt“, gab er zu. „Ich habe Seattle zwei Tage später verlassen.“

Lily drehte sich in seinen Armen um, damit sie ihn anschauen konnte. „Also hast du dich nicht von mir getrennt, weil du genug von mir hattest?“

„Nein.“

„Warum dann?“

„Ist das wirklich so wichtig?“, fragte er angespannt.

„Ja.“ Mit beiden Händen umfasste sie sein Gesicht. „Ich muss wissen, was damals mit uns passiert ist. Solange ich nicht weiß, warum du damals gegangen bist, werde ich mir nie sicher sein können, dass es sich nicht wiederholt.“

Als er schwieg, riet sie drauflos: „War es wegen einer anderen Frau? Hattest du …“

„Lieber Himmel, nein.“ Er klang so entsetzt, dass sie ihm sofort glaubte.

„Sag mir doch bitte den Grund.“

Plötzlich wirkten seinen blauen Augen glanzlos und düster. Sie konnte sich nicht vorstellen, was ihn so sehr bewegte.

„Ich habe es einfach für fair gehalten, dich freizugeben. Du bist eine Frau, die man heiratet, und du verdienst jemanden, der ein guter Ehemann und Vater sein kann. Weißt du noch, wie wir uns am Tag vor der Trennung zum Kaffee im Universitätsviertel getroffen haben? Vor uns in der Schlange stand eine Frau mit einem Kleinkind, und du hast gemeint, dass du mindestens zwei Kinder wolltest. Da ist mir mit einem Schlag klar geworden, was ich angerichtet habe. Ich wollte nicht, dass du mit mir deine Zeit verschwendest, um auf etwas zu warten, das nicht eintreffen würde. Du solltest frei sein, um einen netten Mann kennenzulernen. Du solltest jemanden finden, der dir geben könnte, was du brauchst und verdienst – eine Familie.

Aber ich wusste, dass ich nicht dieser Mann sein konnte. Ich muss zugeben, dass ich das von Anfang an gewusst habe. Ich bin so selbstsüchtig gewesen, dass ich es einfach verdrängt habe, weil ich dich nicht hergeben wollte.“

„Du hast Schluss gemacht, weil du dachtest, du könntest kein guter Ehemann sein?“, fragte sie ungläubig.

„Ja, so kann man es wohl ausdrücken.“ Er fuhr sich durchs Haar und ließ die Hand sinken. Sichtlich nervös wartete er auf ihre Reaktion.

Schweigend schaute sie ihn an. Sie hatte ihn um eine ehrliche Antwort gebeten, und er war ehrlich gewesen. Dennoch verstand sie ihn noch weniger als vorher.

„Das ist das Verrückteste, was ich je gehört habe“, sagte sie schließlich. „Und du glaubst das wirklich, oder?“

„Ich glaube es, weil es wahr ist. Du hast ja keine Ahnung, was für ein Leben ich geführt habe.“

„Mir ist das völlig egal, selbst wenn du als Obdachloser unter der Brücke geschlafen oder im Jugendknast gesessen hast. Für mich zählt nur, wer du jetzt bist, und ich halte dich für einen guten Menschen, Justin.“

„Und das glaubst du wirklich, oder?“, fragte er leise.

„Ja.“

Seine Anspannung wich, und er schien erleichtert. „Ich habe dich echt nicht verdient, weißt du das? Aber ich will dich, und ich schwöre dir, dass es dir nie leidtun wird, dass du mir noch eine Chance gegeben hast.“

Er neigte den Kopf und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. Lily schlang die Arme um seinen Nacken und vergrub die Hände in seinem dichten Haar. Als er sie endlich auf den Mund küsste, stöhnte sie lustvoll auf. Sie wehrte sich nicht, als er ihr das Top auszog und mit der Zunge über ihre Brustspitzen strich.

Und als er sie kurz darauf auf die Arme hob und zum Bett trug, überließ sie sich ganz dem Verlangen, das sie heiß und heftig durchströmte.

Als Justin sich auf sie legte, spürte sie seine nackte, warme Haut auf ihrer. Das sehnsüchtige Kribbeln in ihrer Mitte erinnerte sie daran, wie sehr sie das – ihn – vermisst hatte.

Sosehr sie seine Küsse genoss – sie musste ihn endlich in sich spüren. Es kam ihr vor, als könne sie es keinen Moment länger mehr aushalten. Deshalb streckte sie sich ihm entgegen, als er die Hand an ihrem Schenkel hinaufwandern ließ und dabei ihren kurzen Baumwollrock nach oben schob.

„Du hast zu viel an“, murmelte er. Mit dem Handrücken streifte er ihren empfindlichsten Punkt.

Statt ihm zu antworten, streifte sie ihm das Hemd von den Schultern. Sie öffnete seine Jeans, während er ihr den Rock hinunterzog.

Als sie sich am Bund seiner Hose zu schaffen machte, sog er scharf den Atem ein. Schließlich sprang er auf, zog ein silbernes Päckchen aus der Jeanstasche und befreite sich im Stehen von der Hose.

Während er sich vorbereitete, ließ er seinen Blick über ihren Körper schweifen. Ihr wurde plötzlich bewusst, dass sie nicht mehr so aussah wie beim letzten Mal, als er sie so betrachtet hatte. Immerhin hatte sie in der Zwischenzeit ein Kind geboren …

Verlegen versuchte sie, mit den Händen ihre Blöße zu bedecken, doch er beugte sich vor und hielt ihre Handgelenke fest. „Nicht“, murmelte er. „Du bist so wunderschön. Versteck dich nicht vor mir.“

Damit schob er ihre Hände zur Seite und küsste ihre Brüste. Dann umschloss er mit dem Mund ihre Brustspitze und ließ seine Zunge spielen. Sie hielt den Atem an, als ihr Verlangen sich noch steigerte, und wand sich vor Lust unter seinen Liebkosungen. Länger konnte sie auf keinen Fall warten. Sie wollte ihn, wollte ihn so sehr … Als sie glaubte, vor Leidenschaft vergehen zu müssen, zog er ihr den Tanga aus und legte sich auf sie.

„Beeil dich“, drängte sie. „Ich will dich in mir spüren.“

Er gab einen gedämpften Laut von sich und erfüllte ihren Wunsch. Seine Liebkosungen lösten ein Inferno in ihr aus, und sie drängte sich ihm stöhnend entgegen. Mühelos fanden sie den vertrauten Rhythmus. Nachdem sie gemeinsam den höchsten Gipfel erklommen hatten, hielten sie sich umschlungen, als würden sie sich nie mehr loslassen wollen.

Lily erwachte in Justins Bett. Noch immer hatte er den Arm um sie gelegt und hielt sie fest an sich gedrückt.

„Guten Morgen“, sagte er. Seine raue Stimme, in der erneutes Verlangen mitschwang, erinnerte sie an die wunderbaren Gefühle der letzten Nacht.

„Du bist ja früh wach“, murmelte sie verschlafen und lächelte, als er an ihrem Ohrläppchen knabberte. „Das kitzelt.“

Lachend wand sie sich in seinem Arm. In einer geschmeidigen Bewegung drehte er sie auf den Rücken, legte sich auf sie und stützte die Arme neben ihrem Kopfkissen auf.

„Ich habe gar nicht geschlafen“, erklärte er zwischen zwei Küssen.

„Überhaupt nicht?“

„Nein. Ich wollte keine Minute verpassen, die ich dich im Arm halten kann.“

„Mhhhm, das ist ja süß von dir.“

Er seufzte. „Nicht nur süß, sondern auch selbstsüchtig“, gab er zu. „Wir müssen heute nach Seattle zurückfliegen, schon vergessen? Du hast darauf bestanden, am Freitag zurück zu sein – und heute ist schon Donnerstag. Außerdem hat Harry mich zurückbeordert, weil er will, dass ich mich um irgendwas kümmere.“

„Vielleicht sollten wir in dem Fall die letzten paar Minuten besonders auskosten?“, schlug sie kokett vor und strich mit den Fingern über seinen Rücken. Sie spürte das Spiel seiner Muskeln unter ihrer Hand.

„Gute Idee“, murmelte er, küsste sie leidenschaftlich und bedeckte ihren Körper mit dem seinen.

10. KAPITEL

Zum ersten Mal machte es Justin nichts aus, die Ranch zu verlassen, um nach Seattle zu fliegen: Diesmal waren Lily und Ava bei ihm. Er setzte sie bei Lilys Haus ab und fuhr anschließend zu seinem Apartment.

Zufrieden hatte er sich in seinem bisherigen Leben nur selten gefühlt. Doch das war jetzt anders: Er empfand die tiefe, ruhige Gewissheit, dass alles gut und richtig war.

Lily so nah zu sein wie in der letzten Nacht war noch umwerfender gewesen, als er es in Erinnerung hatte. Das war allerdings nicht alles: Er wollte sein Leben mit ihr teilen, wollte jeden Morgen mit ihr aufwachen und jeden Abend mit ihr einschlafen.

Aber hatte er sich wirklich so verändert, dass er ihr geben konnte, was sie brauchte? Konnte er die schlechten Angewohnheiten, die Harry ihm vorgelebt hatte – zum Beispiel, dass Firma und Arbeit an erster Stelle standen – einfach so ablegen?

Natürlich nahm er sich vor, dass Lily und Ava immer das Wichtigste für ihn sein würden. Würde er daran aber auch denken, wenn es hart auf hart kam?

Sein Handy klingelte, und Harrys Nummer erschien im Display. „Bist du wieder in der Stadt?“

„Ja, bin gerade angekommen. Wo brennt’s denn?“ Es war schon früher Abend, und er hatte keine große Lust, heute noch in die Firma zu fahren.

„Alec Paxon will morgen Abend mit uns die letzten Details besprechen, bevor er unterschreibt“, erklärte Harry. „Und da es ja dein Baby ist, solltest du dabei sein.“

Mein Baby heißt jetzt Ava, dachte Justin belustigt. Dennoch hatte Harry recht: Er kannte Paxon gut und hatte die Verhandlungen für einen wichtigen Immobiliendeal geleitet. Natürlich musste er beim letzten Gespräch vor der Unterzeichnung dabei sein.

„Wann?“, fragte er.

„Um acht im Collins Hotel. Ich habe Plätze bei der ‚Rettet-die-Wale‘-Spendengala reserviert. Warum bringst du nicht Lily mit? Wir haben den ganzen Tisch, Paxon bringt seine Frau mit, und Cornelia und Frankie kommen auch. Sie würden Lily sicher gern kennenlernen.“

„Daher weht also der Wind.“ Justin schüttelte den Kopf. „Guter Versuch. Trotzdem werde ich Lily nicht dem Hunt-Clan ausliefern, bevor sie so weit ist. Und was Paxon angeht: Er scheint eher ein gemütliches Dinner mit seiner Frau im Sinn zu haben. Es klingt zumindest nicht gerade so, als wäre er kurz davor, den Vertrag zu unterzeichnen. Nein, feiert ruhig ohne mich. Ich verbringe den Abend lieber mit Ava und Lily.“

„Was?“ Harry klang völlig überrascht. „Nein, du musst kommen. Paxon hat ausdrücklich darum gebeten.“

„Tut mir leid. Da brauchst du ein paar bessere Argumente: Wenn es Paxon statt um den Vertrag nur um einen netten Abend geht, dann muss er sich ohne mich amüsieren.“

„Also schön“, meinte Harry missmutig. „Paxon wollte das Treffen eigentlich bei sich im Büro abhalten. Ich habe ihm dann vorgeschlagen, uns mit unseren Frauen einen schönen Abend bei der Gala zu machen. Ich dachte, es wäre gut, wenn wir uns auch mal außerhalb der Firma sehen.“

„Du meinst, du wolltest mich eigentlich dazu bringen, Lily mit hinzuschleppen, damit du sie ausquetschen kannst.“

„Na ja, das vielleicht auch“, gab Harry widerwillig zu.

„Wahrscheinlich eher hauptsächlich“, bemerkte Justin trocken.

„Ist ja auch egal. Jedenfalls will Paxon, dass du beim letzten Treffen vor der Vertragsunterzeichnung dabei bist. Sei also gefälligst da – es geht schließlich um HuntCom.“

„Meinetwegen“, seufzte Justin. „Ich komme. Allein.“

Er unterbrach die Verbindung und dachte darüber nach, ob er Lily nicht doch fragen sollte. Aber hatte er ihr nicht versprochen, geduldig zu warten, bis sie bereit war, ihre Beziehung offiziell zu machen?

Sie hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihre und Avas Privatsphäre schützen wollte. Da er nicht oft in Seattle war, hefteten sich die Reporter normalerweise nicht gleich an seine Fersen, wenn er irgendwo auftauchte. Sicher könnten sie also noch eine Weile wie eine normale Familie leben. Bei der Gala wimmelte es jedoch von Fotografen und Journalisten. Wenn Lily ihn begleitete, würden am nächsten Morgen Fotos von ihnen als Paar in allen Zeitungen der nördlichen Ostküste erscheinen. Und damit wäre es mit ihrem Privatleben vorbei.

Am liebsten hätte er sie einfach so schnell wie möglich geheiratet, um dadurch dem Tratsch ein Ende zu setzen. Dennoch verstand er auch, dass sie Zeit brauchte, um ihm wieder vertrauen zu können.

Womit seine Gedanken zur Gala am nächsten Abend zurückkehrten. Wenn er den Termin wahrnahm, würde Lily dann glauben, dass sein Interesse an seiner neuen Familie schon wieder nachließ?

Nein, dachte er. Immerhin war sie selbst eine Geschäftsfrau. Sie würde es verstehen.

Er beschloss, ihr gar nicht erst von der Gala zu erzählen, damit sie sich nicht von Harry und dem Rest der Familie unter Druck gesetzt fühlte. Stattdessen würde er ihr einfach sagen, dass es um einen wichtigen Geschäftstermin für einen Vertragsabschluss ging.

Früh am nächsten Morgen fuhr er zu Lilys Haus. Auf dem Weg hielt er, um Kaffee und frische Muffins zu holen, und hoffte, er würde sie nicht aus dem Bett klingeln.

Doch sie erschien fertig angezogen an der Tür. Nur ihr Haar wirkte noch etwas zerzaust.

„Guten Morgen, was machst du denn hier?“, begrüßte sie ihn. „Sind wir verabredet?“

In ihrer Verwirrung war sie umwerfend süß. Er lächelte und drückte ihr einen Kuss auf die Nasenspitze. Nachdem er sie ins Haus geschoben und die Tür hinter ihnen zugezogen hatte, küsste er sie dann voller Leidenschaft, bis sie beide keine Luft mehr bekamen.

„Wow“, sagte er anerkennend, als er sie schließlich freigab. „So könnte ich jeden Tag beginnen.“

„O ja.“ Lächelnd blickte sie ihn an. „Bist du deshalb so früh vorbeigekommen?“

„Auch. Und ich habe Kaffee mitgebracht.“

Aus der Tüte, die er auf dem Boden abgestellt hatte, holte er einen verschlossenen Kaffeebecher hervor. Er öffnete den Deckel und hielt ihr den Becher unter die Nase.

Genüsslich atmete sie den Duft ein. „Mmmh, herrlich. Dafür schulde ich dir was.“

„Ich werde dran denken“, warnte er sie. Ob Ava schon wach war? Oder blieb ihnen noch eine Viertelstunde, um …

Sie schien seine Gedanken zu lesen. „Du wirst dich bis heute Abend gedulden müssen.“

„Heute Abend kann ich leider nicht.“ Er folgte ihr in die Küche. Ava saß bereits im Hochstuhl und brabbelte fröhlich drauflos, als sie ihn sah. Er fuhr fort: „Das ist einer der Gründe, warum ich so früh bei dir auftauche. Ich soll Harry heute bei einem Geschäftstermin begleiten – deshalb hat er mich zurückbeordert. Es geht um einen Immobiliendeal, den ich verhandelt habe und der kurz vor dem Abschluss steht.“

Justin hob Ava aus dem Hochstuhl. Als er sie küsste, quiekte sie vor Entzücken.

„Wir werden dich vermissen“, sagte Lily lachend, als Ava in sein Haar griff und kräftig daran zog.

„Autsch, du kleine Hexe.“ Vorsichtig löste er ihre Finger aus seinem Haar. Kaum war es ihm gelungen, da patschte sie mit beiden Händchen in seinem Gesicht herum. Erst als er sie kitzelte, hörte sie auf.

„Ich habe Muffins mitgebracht“, meinte er, als die Kleine sich etwas beruhigt hatte.

„Die muss ich mir dann einpacken.“ Auf einmal schien Lily in Eile. „Ich bin schon viel zu spät dran.“

„Kannst du nicht mal zu spät kommen? Du bist schließlich die Chefin.“

„Normalerweise schon. Heute ist allerdings mein wichtiger Kundentermin – und zwar leider gleich um halb neun.“

Sie lief in den Flur und verschwand im Bad. Kurz darauf kam sie mit ordentlich frisierten Haaren wieder heraus. „Jetzt muss ich los, sonst komme ich wirklich zu spät.“

Auf der Straße winkte er den beiden nach, als sie davonbrausten. Dann fuhr er zu seiner Wohnung zurück. Noch nie hatte er so wenig Lust auf einen Geschäftstermin gehabt. Viel lieber hätte er den Abend mit seinen beiden Frauen verbracht.

Lily hatte eigentlich vorgehabt, sich mit Ava einen ruhigen Freitagabend zu machen. Doch nach dem Mittagessen erhielt sie einen Anruf.

„Du hast es vergessen?“, hörte sie die entsetzte Stimme ihrer Freundin Sylvie Cross. „Die ‚Rettet-die-Wale‘-Gala ist das Ereignis der Saison! Du musst hingehen – du hast versprochen, dass du das grüne Kleid trägst, oder hast du das auch vergessen? Komm schon, bitte“, drängte sie. „Du darfst mich nicht im Stich lassen. Ich kann die Werbung gut gebrauchen. Immer, wenn du dich in einem meiner Kleider irgendwo sehen lässt, hagelt es hinterher Aufträge. Bitte, Lily. Ich revanchiere mich auch.“

„Indem du dich bei der nächsten Gala in meiner Unterwäsche fotografieren lässt?“, fragte sie schmunzelnd.

„Oha, das kann ich nicht versprechen. Aber ich denke drüber nach.“

Das Bild war zu komisch, und Lily lachte laut. Sie plauderten noch ein paar Minuten über den neuesten Society-Klatsch, bevor Lily sich verabschiedete. „Tut mir leid. Wenn ich heute Abend da wirklich hingehen soll, muss ich mich schnellstens um einen Babysitter kümmern. Wir reden später weiter, ja?“

Sofort danach rief sie ihre Nachbarin an, die zum Glück an diesem Abend Zeit hatte, um auf Ava aufzupassen.

Die abendliche Gala sollte mit einem festlichen Dinner beginnen. Lily ließ es ausfallen, damit sie Ava noch selbst ins Bett bringen konnte. Es war nach zehn, als sie im Collins Hotel ankam. Als Erstes suchte sie die Damentoilette auf. Ihr gefiel das smaragdgrüne Kleid, das Sylvie ihr geschenkt hatte. Man musste es jedoch zu tragen wissen: Das Oberteil war hinten fast bis zum Rockansatz ausgeschnitten und wurde nur von einem schmalen Strassband gehalten. Vorne schmiegte sich die Korsage wie eine zweite Haut um ihre Kurven. Beim langen, weit schwingenden Rock hatte Sylvie dann Seide und Satin in verschiedenen dunklen Grüntönen miteinander kombiniert. Bevor Lily sich in dieser gewagten Robe in die Öffentlichkeit wagte, wollte sie noch einmal in Ruhe überprüfen, ob alles richtig saß.

Vor dem bodenlangen Spiegel drehte sie sich hin und her und steckte dann eine widerspenstige Locke zurück in die Hochsteckfrisur, die von grün schimmernden Spangen gehalten wurde.

„Entschuldigen Sie, sind Sie nicht Lily Spencer?“

Erst jetzt bemerkte sie die hochgewachsene Blondine, die nach ihr hereingekommen war. Sie trug ein raffiniertes schwarzes Spitzenkleid, und ihre braunen Augen funkelten neugierig. Allerdings hatte Lily keine Ahnung, wo sie die junge Frau einordnen sollte: Soweit sie sich erinnern konnte, waren sie sich nie zuvor begegnet.

„Ja, bin ich“, erwiderte sie und streckte der Blondine lächelnd die Hand hin. „Und Sie sind …?“

„Frankie Fairchild. Ich bin Cornelia Fairchilds Tochter, Justins Cousine. Na ja, wir sind eigentlich nicht wirklich miteinander verwandt. Trotzdem betrachten wir uns als Cousin und Cousine.“

„Wie schön, Sie hier zu treffen.“ Es war keine Lüge, obwohl es ihren Abend nicht gerade vereinfachte. Ihr war ja durchaus klar, dass sie früher oder später Justins Familienmitgliedern oder Freunden begegnen würde. Fragte sich nur, wie viel Justin ihnen verraten hatte.

„Wir können es alle kaum abwarten, Sie und Ava endlich kennenzulernen“, plauderte Frankie unbekümmert drauflos. „Meine Mutter wird ganz aus dem Häuschen sein, wenn sie erfährt, dass Sie heute hier sind.“

Tja, damit war diese Frage wohl beantwortet.

„Justin hat mir von Ihnen und Ihrer Mutter erzählt“, entgegnete sie und setzte sich auf einen der samtgepolsterten Hocker vor dem Schminkspiegel. „Ich freue mich schon darauf, Sie alle kennenzulernen. Ihre Familie steht den Hunts sehr nahe, nicht wahr?“

„Justin und ich sind gute Freunde.“ Frankie setzte sich auf den Hocker neben Lily, wandte sich aber ihr zu und nicht dem Spiegel. „Seine Brüder kenne ich nicht so gut. Ich habe vermutet, dass sich Justin eine Frau wie Sie aussuchen würde. Sie sind genau sein Typ“, erklärte sie ungeniert.

„Und welcher Typ ist das?“, fragte Lily, während sie ihren Lippenstift hervorzog.

„Einfach umwerfend“, erklärte Frankie und lachte, als Lily eine Augenbraue hob. „Na, Sie wissen, was ich meine. Justin geht nur mit schönen Frauen aus. Ich wette, Ava ist das hübscheste Baby auf der ganzen Welt – kein Wunder, bei solchen Eltern. Sieht sie eher Ihnen ähnlich oder Justin?“

„Sie hat Justins Grübchen“, sagte Lily lächelnd. „Und seine schwarzen Haare.“

„Ich verstehe gar nicht, weshalb Justin nicht erwähnt hat, dass Sie heute auch kommen. Wahrscheinlich sollte es eine Überraschung sein. Vorhin hat er jedenfalls keinen Ton davon gesagt.“

„Vorhin?“, fragte Lily überrascht.

„Beim Essen. Wir sitzen alle an einem Tisch: Harry, Justin, Mutter, ich und die Paxons.“ Frankie rollte mit den Augen. „Onkel Harry kann einfach keine Gelegenheit auslassen, um ein Geschäft abzuschließen. Er hat sich erst entspannt, als Mr. Paxon Justin versprochen hat, gleich morgen früh im Büro vorbeizukommen, um den Vertrag zu unterzeichnen.“

„Ach ja, worum ging’s dabei noch mal?“, fragte Lily. Den Termin hatte Justin ihr gegenüber erwähnt, aber nicht, dass er den Geschäftspartner bei der Gala treffen würde. Wieso hatte er sie nicht gefragt, ob sie mitkommen wolle? Schließlich waren offenbar alle anderen Frauen auch eingeladen.

„Die Paxons besitzen ein paar Grundstücke im Norden der Stadt, die Harry unbedingt kaufen will. Justin hat die Verhandlungen geführt, also musste er heute natürlich dabei sein. Mr. Paxon und seine Frau sind sehr nett. Sie wollen sich, glaube ich, mit dem Geld zur Ruhe setzen und viel reisen. Ach, was rede ich von den Paxons …“ Frankie wedelte mit der Hand. „Sie und Justin sind doch viel interessanter.“

Lily lächelte und steckte den Lippenstift wieder ein. „Bloß wegen Ava“, wiegelte sie ab.

„Aber nein, wir sind auch alle ganz gespannt auf Sie“, versicherte Frankie. „Als meine Mutter mir erzählt hat, dass Harry die Jungs enterben will, falls sie nicht innerhalb eines Jahres heiraten, dachte ich, er wäre verrückt geworden.“ Sie schüttelte den Kopf. „Hätte ja sein können, dass bei seinem Herzinfarkt die Sauerstoffversorgung des Gehirns unterbrochen war oder so was. Aber Justin und seine Brüder sind darauf eingegangen – und jetzt kann man ja sehen, wie gut es bisher läuft.“

Sie strahlte Lily an. „Er hat sich mit Ihnen versöhnt und seine kleine Tochter kennengelernt. Und er ist so glücklich und ganz offensichtlich verliebt – wer hätte gedacht, dass das alles so romantisch wird?“

„Tja, wer hätte das gedacht“, murmelte Lily. Sie konnte nicht glauben, was sie gerade gehört hatte – doch der erste Schock wich sehr schnell einem maßlosen Ärger. Auf einmal war sie so wütend, dass sie am liebsten laut geschrien oder mit einem der samtbezogenen Hocker den Spiegel zertrümmert hätte. Er hat mich angelogen, dachte sie immer wieder. Er hat mich die ganze Zeit angelogen.

Trotzdem zwang sie sich zu einem Lächeln, denn sie brauchte mehr Informationen. Im Plauderton gab sie zurück: „Ich habe mich ja auch gefragt, warum Justin auf so was eingeht. Schließlich lässt er sich sonst nie was sagen und macht, was er will.“

Frankie nickte. „Ich weiß. Die anderen drei sind genauso. Als meine Mutter meinte, dass sie Harrys Bedingungen tatsächlich akzeptieren, konnte ich es kaum fassen. Bei Justin bin ich mir jedoch ziemlich sicher, dass er Sie schon vorher geliebt hat. Allerdings … Wahrscheinlich hätte er dem verrückten Plan sowieso notgedrungen zugestimmt: Offenbar hat Harry damit gedroht, die Ranch zu verkaufen, und Sie wissen ja, wie Justin daran hängt.“

Die Ranch. Natürlich.

„Ja, ich weiß“, sagte sie gedehnt. „Er würde alles dafür tun.“ Sie stand auf und lächelte Frankie an. „Wollen wir zu ihm gehen?“

„O ja, er wartet sicher schon auf Sie.“ Anscheinend hatte Frankie keine Ahnung, dass sie soeben ein Geheimnis ausgeplaudert hatte: Zufrieden strahlend lief sie voraus.

Der Festsaal war unglaublich voll, und ohne Frankies Führung wäre Lily Justin möglicherweise den ganzen Abend nicht über den Weg gelaufen.

„Ach, da sind sie ja“, rief Frankie und steuerte auf eine Gruppe zu, die an den Terrassentüren stand.

Justin trug seinen klassischen schwarz-weißen Smoking mit derselben Lässigkeit wie sonst Jeans und T-Shirt. Selbst unter Menschen, die allesamt gut gekleidet und zweifellos wohlhabend und einflussreich waren, stach er heraus.

Ihr Herz begann schneller zu schlagen und verdrängte beinahe ihren Ärger. Das konnte sie unmöglich zulassen: Im Moment überdeckte ihre Wut alle anderen Gefühle – auch den Schmerz, der dicht darunter lauerte. Und sie wusste, dass sie davon später noch mehr als genug zu spüren bekommen würde …

Sie beobachtete ihn genau, als er sie entdeckte. Zuerst wirkte er überrascht und erfreut. Als er ihren Gesichtsausdruck sah, schien er jedoch plötzlich besorgt. Bevor er sich aus der Gruppe lösen und auf sie zukommen konnte, hatten sie und Frankie sie allerdings schon erreicht.

„Hallo Justin. Wie schön, dich hier zu sehen“, begrüßte sie ihn eisig und wandte sich an Harry, bevor Justin antworten konnte. „Und wie nett, Sie wiederzusehen, Mr. Hunt. Die Baseballkappe haben Sie heute zu Hause gelassen, wie ich sehe.“

„Lily“, warf Justin leise ein.

„Keine Sorge, ich werde keine Szene machen“, erklärte sie lässig. „Ich wollte nur ein paar Dinge mit deinem Vater klären.“

Damit knöpfte sie sich wieder Harry vor. „Stimmt es, dass Sie Ihre Söhne mit Drohungen dazu bringen wollen, zu heiraten und Kinder in die Welt zu setzen?“

Sie hörte Justin gedämpft fluchen. Sie ignorierte ihn und die anderen in der Gruppe und starrte Harry herausfordernd an.

„Das ist nicht die ganze Geschichte, aber ja, man könnte unsere Vereinbarung so zusammenfassen“, gab Harry widerwillig zu.

„Und Justin haben Sie gedroht, dass er die Ranch verliert, wenn er nicht heiratet?“

„Ja.“

Nun löste sie den Blick von Harry und sah bewusst Justin an: Ihre nächsten Worte waren für beide bestimmt. „Mr. Hunt, ich werde Ihren Sohn nicht heiraten – weder jetzt noch irgendwann. Meine Tochter und ich lassen uns nicht zu Schachfiguren in Ihrem kleinen Machtspiel machen.“ Sie straffte die Schultern.

Die Verzweiflung in Justins Gesicht versetzte ihr einen Stich. Doch schließlich hatte er sich wieder unter Kontrolle und zeigte eine ausdruckslose Miene.

Still schaute sie in die kleine Runde: Das ältere Ehepaar, vermutlich die Paxons, wirkte erstaunt, Frankie und Cornelia erschrocken. Bei Cornelia meinte Lily einen Anflug von Anerkennung zu bemerken. Harry hingegen schien trotz seiner Bräune blass geworden zu sein.

„Und Sie“, sagte sie und musterte Harry noch einmal verächtlich, „sollten sich wirklich schämen. Meine Tochter ist keine Aktie, die Sie sich einverleiben können.“

Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und ging langsam, aber entschlossen davon. Erst als sie einigen Abstand gewonnen hatte, beschleunigte sie ihre Schritte und bahnte sich energisch einen Weg durch die Menge. Im Laufen zog sie ihr Handy aus der Handtasche und wählte die Nummer eines Taxiunternehmens.

Man versicherte ihr, dass in wenigen Minuten ein Wagen vor dem Hotel bereitstehen würde. Sie unterbrach die Verbindung und steckte das Handy wieder ein.

„Entschuldigung. Verzeihung“, murmelte sie, während sie sich durch größere Menschengruppen drängte, doch sie kam trotzdem kaum voran.

Deshalb wusste sie auch, wer sie plötzlich am Arm festhielt: Es war Justin.

„Lass mich los“, forderte sie, ohne sich zu ihm umzudrehen.

„Wir müssen reden.“

„Nein“, zischte sie, blieb nun aber doch stehen. Sie sah ihn an und entzog ihm den Arm. „Müssen wir nicht.“

Daraufhin presste er die Lippen aufeinander, und an seinem Kiefer begann ein Muskel zu zucken. Er versuchte nicht mehr, sie aufzuhalten, als sie wieder dem Ausgang zustrebte.

Obwohl ihr klar war, dass er ihr folgte, tat sie so, als merke sie es nicht. Erst als sie fast die breite Treppe hinab in die Lobby erreicht hatte, vernahm sie wieder seine Stimme.

„Ich weiß, dass du wütend bist. Und du hast allen Grund dazu. Aber ich kann dir das erklären“, sagte er.

Ohne ihm zu antworten, lief sie weiter.

Auf der obersten Stufe bekam er ihren Ellbogen zu fassen. „Lily, bitte hör mir zu. Nur zwei Minuten.“

Also gut. Sie konnte es genauso gut gleich hinter sich bringen. „Du hast genau eine“, sagte sie schneidend und deutete mit dem Kopf zu der großen Uhr, die über der Rezeption in der Lobby hing.

„Es tut mir leid, dass ich dir nicht gesagt habe, dass das Treffen heute nicht im Büro stattfinden sollte. Aber ich habe dich nicht angelogen: Für mich ging es dabei wirklich nur ums Geschäft.“

Als ob sie das interessierte! „Ich mache nicht Schluss mit dir, weil du mir verschwiegen hast, dass du heute Abend hier bist“, erwiderte sie ungeduldig. „Ich bin wütend, weil du mich über die Gründe belogen hast, weshalb ich und Ava an deinem Leben teilhaben sollten.“

„Ich habe nicht gelogen. Ich will dich wirklich, Lily. Ich würde dich auch wollen, wenn wir Ava nicht hätten und wenn Harry nie auf diese verdammte Idee mit der Zwangsheirat gekommen wäre.“

„Das mag vielleicht sogar stimmen“, gab sie zu. Auf einmal fühlte sie sich erschöpft und den Tränen nahe. „Allerdings werde ich es nie ganz sicher wissen, nicht wahr?“

Schweigend starrte er sie an. Darauf hatte er wohl keine Antwort parat. Kein Wunder, dachte sie. Es gibt ja auch keine.

„Mein Taxi wartet. Ich muss gehen“, schloss sie knapp. Sie wandte sich ab und ging die restlichen Stufen hinunter. Ohne sich noch einmal umzuschauen, durchquerte sie die Lobby zum Ausgang. Erst als das Taxi losfuhr, ließ sie ihren Tränen freien Lauf.

Starr vor Enttäuschung und Schmerz schaute Justin Lily nach, bis sie das Hotel verlassen hatte. Zum zweiten Mal war sie aus seinem Leben verschwunden. Und wieder war es seine Schuld.

Als er nach oben ging, traf er in dem fast leeren Flur vor dem großen Ballsaal auf Harry.

„Cornelia und Frankie verabschieden sich drinnen noch von den Paxons“, sagte Harry. „Unsere Wagen warten vor dem Hotel.“ Er schaute Justin ernst und reuevoll an. „Es tut mir leid, mein Sohn.“ Seine Stimme klang ungewohnt weich und zögernd. „Es war nie meine Absicht, einen Keil zwischen dich und Lily zu treiben.“

Justins Ärger verrauchte mit einem Mal. Harrys Idee mit der Zwangsheirat war verrückt gewesen. Allerdings hätte er ohne sie vielleicht nie mit Lily Kontakt aufgenommen. Nichtsdestotrotz hatte er sie jetzt womöglich für immer verloren.

„Ich weiß, dass du es nicht böse gemeint hast“, meinte er. „Das Ergebnis ist nur leider dasselbe. Ich werde alles tun, um Lily zu überzeugen, mich doch noch zu heiraten – aber nicht, weil du es so willst. Du kannst mich aus deinem Plan streichen. Mach mit der Ranch, was du willst. Ich kann nur hoffen, dass du meine Brüder nicht für meine Entscheidung bestrafst. Das wäre einfach nicht gerecht, und ich habe dich immer als hart, aber fair erlebt.“

„Du gibst die Ranch für sie auf?“ Harry schien fassungslos.

„Es ist nicht die einzige Ranch auf der Welt. Und Geld habe ich genug. Ich kann mir selbst eine kaufen. Lily gibt’s dagegen nur einmal.“

Auf Harrys Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. „Herzlichen Glückwunsch, mein Sohn“, erklärte er bewegt. „Du liebst sie wirklich, was?“

Obwohl Harry darauf keine Antwort zu erwarten schien, war Justin dieser Punkt wichtig. Deshalb erwiderte er: „Ja. Ich liebe sie.“

„Das ist alles, was ich mir je für meine Söhne gewünscht habe. Ich habe keine Frau gefunden, mit der ich mein Leben teilen konnte, obwohl ich es viermal versucht habe. Ich bin mir allerdings sicher, dass du deiner Lily vertrauen kannst.“

„Ja, aber kann sie auch mir vertrauen?“, murmelte er.

„Was soll das heißen?“

„Die Männer in unserer Familie sind alle emotional unerfahrene Workaholics. Uns geht die Arbeit über alles. Wir haben nicht besonders viel Erfahrung damit, wie eine gute Familie funktioniert. Also ist es wohl ziemlich wahrscheinlich, dass ich Lily irgendwann schrecklich enttäusche.“

„Junge, alle Ehepartner enttäuschen einander früher oder später. Dann entschuldigt man sich und versucht, es nicht wieder zu tun. In diesen Dingen bin ich selbst nicht gerade ein Experte. Cornelia sagt immer, dass es in einer Ehe nicht darauf ankommt, dass man perfekt ist, sondern dass man immer sein Bestes gibt. Ganz gleich, unter welchen Umständen. Außerdem hast du dich ganz eindeutig für deine Familie und gegen das Geschäft entschieden: Immerhin hast du eben die Ranch für sie aufgegeben.“

„Ja, das habe ich wohl.“

„Und weil du dazu bereit gewesen bist, werde ich dich aus dem Vertrag entlassen und auch deine Brüder nicht dafür bestrafen. Sag ihnen nur nichts davon. Ich will nicht, dass sie erfahren, dass ich für dich eine Ausnahme gemacht habe. Und ich werde dir meine sechzig Prozent an der Ranch zum aktuellen Marktpreis verkaufen.“

„Nein.“ Das Angebot war verlockend. Dennoch konnte er es unmöglich annehmen. „Wenn Lily erfährt, dass ich die Ranch trotzdem bekommen habe, wird sie mir niemals glauben, dass es mir nur um sie geht.“

„In Ordnung.“ Harry nickte. „Dann schenke ich sie Ava zu ihrem nächsten Geburtstag.“

„Ach Harry. Du bist unverbesserlich. Mach mit dem Land, was du willst. Hauptsache, es ist nichts, was Lily noch wütender macht, als sie sowieso schon ist.“

„Einverstanden.“ Harry streckte ihm die Hand hin.

Justin nahm sie und drückte sie fest. „Einverstanden.“

Auf dem Heimweg stellte er im Kopf eine Liste der Dinge zusammen, die er am nächsten Tag erledigen musste. Es gab nur einen Weg, wie er Lily beweisen konnte, dass er nur sie und Ava wollte. Wenn es nicht funktionierte … Nein, er zog besser gar nicht erst in Betracht, dass dieser Plan fehlschlagen könnte. Denn ohne Lily konnte er sich sein Leben einfach nicht mehr vorstellen.

Zum Glück habe ich Ava, dachte Lily in der folgenden Woche mindestens einmal stündlich. Die Kleine lenkte sie ab, brachte sie sogar zum Lachen und sorgte dafür, dass sie nicht völlig in ihren trüben Gedanken versank. Ein größerer Auftrag in der Boutique hielt sie tagsüber beschäftigt, Ava abends. Erst nachts kam sie dazu, über alles nachzugrübeln. Und obwohl sie fast bis zur Erschöpfung arbeitete, konnte sie nicht schlafen. Stundenlang lag sie wach, und wenn sie doch irgendwann einschlief, sah sie immer nur Justin: In ihren Träumen streckte er die Hand nach ihr aus und lief davon, wenn sie ihn endlich erreichte. Morgens wachte sie auf und fühlte sich wie gerädert, so als hätte sie überhaupt nicht geschlafen.

All ihre zaghaften Wunschträume lagen in Scherben. Ihr Leben kam ihr so grau vor wie der wolkenverhangene Himmel über Seattle. Ihren Ärger und ihre Wut hatte sie längst überwunden. Zurückgeblieben waren nur Trauer und Schmerz. Zweimal hatte sie Justin ihr Herz geschenkt, und zweimal hatte er es weggeworfen, als habe es gar nichts bedeutet. Nein, schlimmer: Beim zweiten Mal hatte er es ihr gestohlen, hatte ihr etwas vorgespielt, um das zu behalten, was er mehr liebte als sie: die Ranch.

Nur ein Mittel zum Zweck gewesen zu sein tat fast noch mehr weh, als einfach verlassen zu werden.

Dennoch war Lily entschlossen, die Tage irgendwie durchzustehen und weder Ava noch ihre Freundinnen merken zu lassen, wie es wirklich in ihr aussah. Während ihr das bei Ava tatsächlich zu gelingen schien, hatte sie bei Meggie weniger Erfolg. Ihre Freundin schaute sie immer wieder mitfühlend von der Seite an, sagte jedoch nichts. Dafür war Lily ihr dankbar, denn sich bei anderen auszuweinen lag ihr nicht. Und sie war sich ziemlich sicher, dass sie sofort in Tränen ausbrechen Würde, wenn jemand nur seinen Namen laut aussprach.

Es überraschte sie ein wenig, dass er weder anrief noch im Laden vorbeikam. Wie vorher bekam sie alle paar Tage einen wunderschönen Blumenstrauß von Gazebo geliefert, doch das blieb das einzige Lebenszeichen.

Stets brachte sie die Sträuße sogleich zu ihrer Nachbarin Mrs. Baker, die sich riesig darüber freute.

Am Morgen des siebten Tages nach der schrecklichen Begegnung im Collins Hotel verließ Lily wie immer pünktlich das Haus, um in die Boutique zu fahren. Auf dem Arm trug sie Ava, in der freien Hand ihre Tasche und den Schlüsselbund. Als sie hinter sich abschloss, hörte sie, wie sich die Tür des Nachbarhauses öffnete.

„Guten Morgen!“, rief sie über die Schulter, rückte Ava auf ihrer Hüfte zurecht und drehte sich zur Seite. Statt des jungen Ehepaars, das nebenan lebte, stand dort vor dem Haus – Justin.

Der Anblick nahm ihr den Atem und versetzte ihr einen schmerzhaften Stich.

„Guten Morgen“, erwiderte er.

„Da-da! Da-da!“, plapperte Ava aufgeregt drauflos.

„Hallo meine Süße, wie geht’s dir denn?“ Ein Lächeln erhellte seine ernste Miene.

Entgeistert blickte Lily von ihm zu der offenen Haustür hinter ihm. „Was machst du hier?“

„Ich wohne hier.“

„Das Haus gehört den Hargraves.“

In der Realität sah er so viel besser aus als in ihren Träumen – dabei war er ihr jetzt viel ferner als in ihrer Fantasie.

„Gehörte. Ich habe es ihnen abgekauft. Sie sind vor zwei Tagen ausgezogen, und ich bin gestern Nacht eingezogen.“

„Ich wusste gar nicht, dass sie verkaufen wollten.“

„Wollten sie ja auch nicht. Aber ich habe ihnen ein unwiderstehliches Angebot gemacht.“

Sprachlos starrte sie ihn an. Es dauerte eine Weile, bis sie von den zahlreichen Fragen, die ihr durch den Kopf schossen, eine in Worte fassen konnte. Weil sie sich nicht sicher war, ob sie nicht nur träumte, wählte sie die Kürzeste. „Warum?“

Als ihr mit einem Mal der einzige mögliche Grund dafür einfiel, wurde ihr eiskalt. „Du willst mich beobachten lassen, damit du mir das Sorgerecht entziehen kannst, oder?“ Unwillkürlich drückte sie Ava fester an sich.

Er zeigte sich mehr als überrascht von ihren Worten. „Nein, wie kommst du denn darauf?“

Sie deutete mit dem Kopf auf das Haus. „Warum solltest du sonst das Haus neben meinem kaufen? Aber egal, wie viele Detektive du auf mich ansetzt: Du wirst mich nicht als schlechte Mutter hinstellen können.“

„Lily“, sagte er beruhigend, „so was würde ich nie machen. Abgesehen davon wäre es auch gar nicht möglich: Du bist eine wunderbare Mutter. Kein Gericht der Welt würde jemals etwas anderes behaupten.“

Ihr Puls beruhigte sich ein wenig. „Und was willst du dann mit dem Haus? Du hast doch eine Wohnung in Seattle.“

„Ich habe es gekauft, damit ich näher bei dir und Ava sein kann. Du vertraust mir nicht, und das kann ich gut verstehen. Aber ich schwöre dir, dass ich dich nicht deshalb will, weil Harry mir und meinen Brüdern ein Ultimatum gestellt hat. Ich habe ihm gesagt, dass er sich die Ranch an den Hut stecken kann und dass ich bei diesem verdammten Plan nicht mehr mitmache.“

Lilys Herz setzte einen Schlag lang aus. Hatte sie richtig gehört? Justin hatte die Ranch aufgegeben? Für sie? Wenn er das aufgab, was er am meisten liebte, konnte das nur eins bedeuten: dass er sie – und Ava – noch mehr liebte.

Fall bloß nicht wieder auf ihn rein. Wie oft muss er dir denn noch zeigen, dass du ihm nicht vertrauen kannst?

„Das glaube ich nicht“, brachte sie heiser hervor.

„Kann ich verstehen“, gab er zu. „Deshalb bin ich ja hier. Ich werde dir beweisen, dass ich es ernst meine. Ich bleibe so lange hier, bis du siehst, dass du mir glauben kannst.“

Sagte er vielleicht doch die Wahrheit? Nein. Sie weigerte sich, der Hoffnung nachzugeben, die wild in ihr aufstieg.

„Ich muss zur Arbeit“, sagte sie knapp. Erst einmal musste sie weg von hier. Weg von ihm. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken.

„Dann sehen wir uns vielleicht heute Abend“, erwiderte er.

Als sie vor ihrem Wagen stand, ging er die Stufen seines Hauses hinunter und kam mit großen Schritten auf sie zu. Er streckte die Arme nach Ava aus, die sich ihm freudig entgegenreckte. Lächelnd nahm er sie auf den Arm und küsste sie auf die Wange. Anschließend setzte er sie in den Kindersitz und legte ihr den Gurt um.

Hastig stieg Lily ein und fuhr schneller als gewöhnlich davon. Im Rückspiegel sah sie, wie Justin im Nachbarhaus verschwand.

Auf ihrem Arbeitstisch stapelten sich die Aufträge. Dennoch ertappte sie sich oft dabei, dass sie aus dem Fenster starrte und überlegte, wie sie mit dieser neuesten Entwicklung umgehen sollte. Am Nachmittag hatte sie kaum etwas geschafft und fühlte sich trotzdem müde und ausgelaugt.

Als sie am Abend nach Hause kam, hatte sie noch immer keine Antwort gefunden. Konnte sie Justin einfach ignorieren? Das wäre ihr am liebsten gewesen. Sie wollte ihn nicht sehen, nicht mit ihm reden und endlich über ihn hinwegkommen – und diesmal hoffentlich endgültig.

Doch hier ging es ja auch um Ava. Schließlich war sie ihre gemeinsame Tochter, und was das Besuchsrecht anging, waren sie wieder ganz am Anfang angekommen. Er hatte ein Recht darauf, seine Tochter zu sehen. Wenn sie ihm keine Gelegenheit dazu geben würde, könnte er sie verklagen. Also war es besser, sich friedlich mit ihm zu einigen. Verdammt.

Allerdings musste Lily auch zugeben, dass Ava am Morgen vor Freude ganz aus dem Häuschen gewesen war, als sie Justin gesehen hatte. Noch auf der Fahrt hatte sie immer wieder „da-da“ gerufen.

Gegen sechs klingelte es. Seufzend hob Lily Ava von ihrer Spieldecke hoch, setzte sie auf die Hüfte und ging zur Tür.

„Hallo“, begrüßte Justin sie. Mit seiner warmen Stimme und seinem liebevollen Lächeln wirkte dieses eine Wort geradezu wie eine Liebkosung.

Energisch wischte sie diesen Gedanken beiseite.

Kühl und ohne sein Lächeln zu erwidern, sagte sie: „Komm rein.“

„Wie war dein Tag?“, erkundigte er sich und streckte Ava die Arme entgegen. Wieder sprang Ava fast hinein.

„Gut.“ Sie machte eine Kopfbewegung Richtung Küche. „Wenn du auf Ava aufpassen könntest, kümmere ich mich um die Wäsche.“

„Klar. Wir spielen mit dem Zug.“

Lily ging durch die Küche in den Hauswirtschaftsraum, während Justin sich mit Ava auf den Boden setzte, die Spielkiste heranzog und mit ihr die Schienen für die Holzeisenbahn zusammensuchte.

Als Lily zurückkam, hatten sie bereits einen kleinen Schienenkreis aufgebaut. Konzentriert bewegten sie zu zweit die Holzlok darüber. Ava lachte fröhlich und versuchte, die Zuggeräusche nachzumachen, die Justin von sich gab.

Die Minuten bis zur Schlafenszeit kamen Lily wie eine Ewigkeit vor. Sowohl sie als auch Justin gaben sich große Mühe, sich vor Ava nichts anmerken zu lassen. Trotzdem war deutlich die Spannung in der Luft zu spüren.

Als Ava eingeschlafen war, betrat Lily die Küche und lehnte sich an die Arbeitsfläche in der Mitte.

„Wir sollten feste Besuchszeiten ausmachen“, meinte sie geradeheraus. Sie wollte verhindern, dass er als ihr neuer Nachbar ständig hereinschneite und sie ihn dauernd sehen musste.

„In Ordnung.“ Seine Augen wirkten dunkel. „Hast du dir schon einen Zeitplan überlegt, mit dem du leben kannst?“

„Ich weiß, dass wir uns irgendwie einigen müssen“, sagte sie. „Aber ich bin alles andere als begeistert davon. Daher kann ich mir kaum einen Zeitplan vorstellen, der mir zusagen würde – wenn es nicht sein müsste. Wie sieht’s bei dir aus? Hast du irgendwelche bestimmten Vorstellungen?“

„Es gibt nur eine einzige Vorstellung, die mir gefällt: Dass wir alle unter einem Dach leben und du mit mir verheiratet bist“, erwiderte er ganz selbstverständlich.

„Du weißt, dass das nicht passieren wird“, erwiderte sie entschieden.

Justin seufzte. „Lily, ich weiß, dass du an Erklärungen oder Entschuldigungen nicht interessiert bist. Würdest du mir trotzdem wenigstens zuhören? Bitte.“

Als sie ihn anblickte, war sie hin- und hergerissen. Sollte sie ihn wirklich anhören?

„Ich möchte dir erzählen, warum ich vor zwei Jahren Schluss gemacht habe. Die ganze Geschichte. Die Geschichte …“ Seine Stimme klang rau, und er räusperte sich. „Die Geschichte von der Zeit mit meiner Mutter.“

Sie hob die Augenbrauen. „Ich bin einfach zu neugierig darauf“, sagte sie. „Aber das heißt nicht, dass ich meine Meinung ändere.“

„Verstanden.“ Er näherte sich ihr und lehnte sich ihr gegenüber an die Arbeitsfläche unter den Küchenschränken. „Meine Mutter hat sich mit Harry nur eingelassen, um von ihm schwanger zu werden“, begann er. „Sie wollte ihm das Kind für ein paar Millionen Abfindung verkaufen – so ungefähr hatten seine ersten drei Frauen es ja auch gemacht. Sie fand wohl, das sei eine praktische Idee, um schnell zu Geld zu kommen. Allerdings ging ihr Plan nicht auf: Als sie ihm erzählte, dass sie schwanger war, hat er ihr nicht geglaubt. Es gab einen Riesenkrach, und er hat sie vor die Tür gesetzt.

Vier Wochen später hat sie sich einen anderen reichen Kerl geangelt und ihm weisgemacht, sie wäre von ihm schwanger. Als ich zwei wurde, hat sie sich von ihm getrennt. Ich erinnere mich überhaupt nicht an ihn. So ging das die ersten acht Jahre meines Lebens weiter. Männer kamen und gingen, und sie hat mich wie die Pest gehasst, weil ich ihr sorgloses Leben gestört habe. Aber Harry sagte sie nichts von mir, weil sie sich eingeredet hat, dass sie sich damit am besten an ihm rächen könnte. All die Jahre war sie alkohol- und drogenabhängig. Trotzdem schaffte sie es, sich einen Typen nach dem anderen zu angeln. Irgendwann waren diese Typen allerdings nicht mehr die reichen, vornehmen Männer, mit denen sie angefangen hatte. Es ging immer weiter abwärts. Einige dieser Kerle wollten an mir ihre Aggressionen rauslassen. Ich lernte, ihnen aus dem Weg zu gehen, mich ansonsten unsichtbar zu machen und mich um mich selbst zu kümmern.“

Justins Worte schienen kühl und distanziert, und auch seine Stimme verriet nichts von seinen Emotionen. Wie ein Sozialarbeiter, der einen Fall vorträgt, dachte Lily. Nicht einmal in seinen Augen erkannte sie irgendein Anzeichen dafür, welche Gefühle diese schmerzhaften Erinnerungen in ihm hervorriefen.

„Ich habe dir ja schon erzählt, dass meine Mutter mich dann bei meinem Großvater abgeliefert hat, als ich acht war. Sie ist nie zurückgekommen. Als ich zehn war, haben sie mir erzählt, dass sie an einer Überdosis gestorben war. Na ja, den Rest kennst du. Als mein Großvater gestorben ist, lockte Harry mich mit dem Versprechen nach Seattle, dass die Ranch eines Tages mir gehören würde. Meinen Teil der Abmachung habe ich gehalten. Ich bin bei Harry geblieben, bis ich mit dem College fertig war, und bin dann nach Idaho zurückgekehrt. Mittlerweile gehören mir vierzig Prozent der Ranch, Harry die restlichen sechzig. Ich hätte genug Geld, um sie ihm abzukaufen, aber bisher hat er sich gesträubt. Jetzt weiß ich auch warum: Die Ranch ist sein Druckmittel. Wenn er nämlich seine sechzig Prozent an einen Fremden verkauft, habe ich dort nichts mehr zu sagen.

Als er mit dieser idiotischen Heiratsidee ankam, habe ich zugestimmt – allerdings hauptsächlich deshalb, weil eine seiner Bedingungen lautete, dass wir alle vier bestraft werden, wenn einer nicht mitmacht. Auch bei meinen Brüdern hat er ausfindig machen können, was ihnen am meisten bedeutet. Also sind wir übereingekommen, zunächst auf seine Idee einzugehen und uns dann zu überlegen, was wir unternehmen können. Denn ums Geld geht es uns wirklich nicht“, schloss er mit Nachdruck. „Keinem von uns.“

Lily fiel es schwer, ruhig zu bleiben. Wenn sie an den kleinen Jungen dachte, der von seiner Mutter herumgeschubst worden war, fühlte sie Wut in sich aufsteigen. Wie viel hatte Justin als Kind durchmachen müssen! Darüber konnte auch seine sachliche Erzählweise nicht hinwegtäuschen.

Sie atmete tief durch. Angestrengt versuchte sie sich darauf zu konzentrieren, was er ihr eigentlich damit sagen wollte.

„Deshalb hast du also vor zwei Jahren gemeint, dass du mich nicht heiraten solltest“, sagte sie so neutral wie möglich. „Was hat sich seitdem geändert?“

„Ich liebe dich, Lily, aber die einzige Vaterfigur, die ich je hatte, ist Harry. Er ist ein brillanter Geschäftsmann, mit allen Wassern gewaschen, ein Workaholic – und er setzt sich immer und mit allen Mitteln durch. Uns hat er dazu erzogen, genauso zu werden.

Bevor wir uns getroffen haben, wäre es mir nie in den Sinn gekommen, dass es etwas Wichtigeres geben könnte als das Geschäft. Damit hätte ich dir das Leben nur schwer gemacht und dir früher oder später das Herz gebrochen. Und vermutlich hätte ich es nicht einmal bemerkt.“

„Das stimmt doch gar nicht“, brachte sie leise hervor. „Du bist ganz anders als Harry.“

„Das hoffe ich, aber ich bin mir nicht sicher. Weißt du, was meine erste Idee gewesen ist, nachdem Harry mit seinem idiotischen Plan herausgerückt war? Ich hatte vor, ihn in diesem Spiel mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Ich wollte mir eine Frau suchen und ihr ein Geschäft vorschlagen: Sie sollte mich heiraten und Harrys Enkel bekommen. Im Gegenzug würde ich dafür sorgen, dass sie bis an ihr Lebensende finanziell abgesichert wäre. Und das alles ohne Gefühle – nur, um Harry zufriedenzustellen.

Aber ich wollte nicht mit der Suche anfangen, ohne dich noch einmal gesehen zu haben.“

Er trat einen Schritt vor und stellte sich direkt vor sie. Als er ihre Hände nahm, spürte sie bei dieser kleinen Berührung, wie sich sofort Wärme in ihrem ganzen Körper ausbreitete.

„Und als ich dich wiedergesehen habe, wusste ich, dass ich keine andere Frau als dich heiraten kann“, flüsterte er.

„Ich dachte, du hättest dich in Ava verliebt“, erwiderte sie ebenso leise.

„Das habe ich“, gab er zu. „Sie war sozusagen das Sahnehäubchen. Du bist es, ohne die ich nicht leben kann.“

„Bist du dir da wirklich sicher?“ Prüfend betrachtete sie sein ernstes Gesicht.

„Vollkommen sicher.“ Sanft drückte er ihre Hände. „Ich muss dich allerdings warnen: Ich weiß nicht, ob ich dich nicht doch enttäusche. Ich weiß einfach zu wenig darüber, wie eine richtige Familie funktioniert.“

„Ich kann dir genauso wenig versprechen, dass ich keine Fehler mache“, erwiderte sie. „Das kann niemand. Wir sind Menschen, wir machen ständig was verkehrt. Ich erwarte nicht, dass du perfekt bist – wenn du mir nachsiehst, dass ich es auch nicht bin.“

„Heißt das, du verzeihst mir?“, fragte er heiser und streichelte ihre Wange.

„Ja, ich verzeihe dir.“

„Heißt das auch, dass du mit mir unter einem Dach leben und mich heiraten wirst?“

„Wenn du mir versprichst, dass wir zwischen Seattle und der Ranch pendeln, damit ich die Boutique weiterführen kann.“

„Solange ich jeden Tag mit dir verbringen kann, bin ich einverstanden.“

„Dann bin ich es auch.“

„Gott sei Dank“, murmelte er und küsste sie.

Lily stellte sich auf die Zehenspitzen und schlang die Arme um seinen Nacken. Als er sie hochhob und die Treppe hinauf ins Schlafzimmer trug, schmiegte sie sich an ihn.

Endlich, dachte sie, als er ihr das Kleid auszog und ihren Körper mit Küssen bedeckte.

„Ich liebe dich“, murmelte sie.

„Nicht so sehr, wie ich dich liebe“, gab er zurück.

Voller Leidenschaft küssten sie sich. Jetzt brauchten sie keine Worte mehr.

EPILOG

Justin und Lilys Hochzeit war das Herbstereignis in Seattle. Der Gottesdienst fand in der romantischen Saint-Anne-Kirche statt, und danach hatte Harry mehr als einhundert Gäste zum großen Empfang in seinem Haus eingeladen.

„Wo steckt denn eigentlich Ava?“, fragte Justin, nachdem Lily und er fast zwei Stunden lang Glückwunsche entgegengenommen hatten.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um zwischen den Trauben von Gästen ihre Tochter entdecken zu können.

Justin war schneller. „Dort drüben. Tante Cornelia hat sie auf dem Arm. Sie unterhalten sich gerade mit Harry und meinen Brüdern.“

Ava hatte kein Problem damit gehabt, sich an die vergrößerte Familie zu gewöhnen. Sie ließ sich ebenso gern von Harry wie von Cornelia herumtragen.

„Habe ich dir eigentlich schon gesagt, wie wunderschön dein Kleid aussieht?“, flüsterte Justin ihr ins Ohr, legte eine Hand um ihre Taille und zog sie zu sich heran. Langsam ließ er seine Finger über ihren Rücken wandern. „Ich freue mich schon darauf, nachher all diese Knöpfe aufzumachen.“

Lily spürte, wie sie rot wurde. Das Kleid hatte natürlich ihre Freundin Shirley entworfen. Cremefarbener Satin floss in raffinierten Faltenwürfen von der Taille abwärts. Die ärmellose Korsage mit dem herzförmigen Ausschnitt war ebenfalls aus Satin. Darüber trug sie einen hauchzarten Spitzenbolero, der ihre Schultern bedeckte.

„Daran habe ich schon gedacht, als ich den Entwurf gesehen habe“, sagte sie leise.

Justin warf ihr einen verführerischen Blick zu, der ihr die Knie weich werden ließ. „Wann können wir endlich ins Hotel verschwinden?“, fragte er heiser.

Lachend schüttelte sie den Kopf. „Wir haben ja nicht mal angestoßen. Außerdem müssen wir noch gemeinsam die Torte anschneiden.“

„Dann mal los. Worauf warten wir noch?“

Justin nahm ihre Hand und führte sie durch die Menge, bis er auf einen Kellner traf. Als er dem Mann etwas zuflüsterte, nickte dieser. Kurz darauf gingen die Servicekräfte mit Tabletts voller Champagnerflöten durch die Menge.

Nachdem sie Cornelia, Ava, Harry und Justins Brüder erreicht hatten, erhielten auch Justin und Lily Gläser zum Anstoßen.

J.T. zwinkerte Justin zu, stieg auf die kleine Bühne, auf der ein Streicherquartett spielte, und ergriff das Mikrofon. „Meine Damen und Herren, darf ich kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten?“

Die Gespräche wurden leiser und verstummten schließlich ganz. Alle schauten erwartungsvoll zu J.T. herüber.

„Ich möchte gerne einen Toast ausbringen“, fuhr er fort und hob sein Glas. „Auf meinen kleinen Bruder Justin, der eine wunderbare Frau gefunden hat, die tatsächlich bereit war, ihn zu heiraten.“

Als alle lachten, grinste J.T. und zwinkerte Lily zu. „Zu schade, dass sie keine drei Schwestern hat, die sich mit uns anderen drei abgeben würden.“

„Darauf trinke ich!“ Harry hob sein Glas.

„Auf Lily und Justin – möget ihr nur glückliche Tage erleben“, sagte J.T. zum Schluss.

Es dauerte eine weitere Stunde, bevor Justin und Lily Harrys Haus verlassen konnten. Gemeinsam hatten sie noch Ava ins Bett gebracht. Die Kleine schlief in dem hübsch eingerichteten Kinderzimmer im ersten Stock, und Cornelia und ein begeisterter Harry hatten sich bereit erklärt, sich um sie zu kümmern.

Auf dem Weg in die Hochzeitssuite des Alexis Hotels kuschelte sich Lily an Justin, der den Arm um sie gelegt hatte.

„Hab ich dir schon gesagt, wie schön du bist?“, murmelte Justin.

„Ja, hast du. Aber es macht gar nichts, wenn du es noch ein paarmal wiederholst.“

„Ich liebe dich so sehr.“

„Ich liebe dich auch, Justin. So sehr.“

„Und du weißt, dass ich dich nie wieder gehen lasse.“

„Das ist gut“, flüsterte sie glücklich. „Denn ich will immer bei dir sein.“

– ENDE –

IMPRESSUM

Ein Millionär entdeckt die Liebe erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
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Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2007 by Christine Flynn
Originaltitel: „The Millionaire and the Glass Slipper“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA
Band 1705 - 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Tatjana Lénárt-Seidnitzer

Umschlagsmotive: GettyImages

Veröffentlicht im ePub Format in 07/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733717803

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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PROLOG

J.T. Hunt saß in einem großen bequemen Polstersessel in der geräumigen Bibliothek seines Vaters und lehnte den Kopf an das glatte Leder. Um sich wach zu halten, balancierte er sein Whiskyglas mit einem hundert Jahre alten Bourbon auf dem Oberschenkel.

Seine Halbbrüder Justin, mit vierunddreißig um vier Jahre jünger, und Gray, vier Jahre älter als J.T., vertrieben sich die Zeit mit einer Partie Poolbillard. Alex, der sechsunddreißigjährige Vierte im Bunde, verfolgte das Spiel aus einiger Entfernung von einem Sessel aus.

Das letzte Treffen der Brüder in der „Hütte“, wie sie das Multi-Millionen-Dollar-Anwesen am Ufer des Lake Washington in Seattle nannten, lag einen Monat zurück. Damals hatte ihr Vater Harrison Hunt, der geniale Gründer des Softwarekonzerns HuntCom, einen Herzinfarkt erlitten.

J.T. konnte sich nicht erinnern, wann er ihm das letzte Mal aus persönlichen Gründen einen Besuch abgestattet hatte. Er war das sprichwörtliche schwarze Schaf der Familie. Obwohl er inzwischen nach außen hin umgänglicher wirkte als in seiner Jugend, fühlte er sich doch wie ein Außenseiter. Er kam nur in das Haus, in dem er aufgewachsen war, wenn es unbedingt sein musste.

Vermutlich lag es daran, dass er mit seinen Halbbrüdern genau wie mit seinem Vater sehr wenig gemeinsam hatte. Die einzige Verbindung war die Arbeit im Familienbetrieb. Als Leiter der Immobilienverwaltung und führender Architekt ging J.T. völlig darin auf, die Werkanlagen zu designen, in denen die HuntCom-Produkte von Tausenden von Angestellten gefertigt und weltweit versandt wurden. Ebenso wichtig wie sein Beruf war ihm nur Hurricane Island. Die abgelegene Insel, die zu den San Juan Islands nordwestlich vom Staate Washington zählte, gehörte Harry seit vielen Jahren. Sie war der einzige Ort auf dem ganzen Planeten, an dem er so etwas wie Seelenfrieden verspürte.

Justin lochte gekonnt eine Kugel ein und fragte: „Weiß eigentlich jemand, warum uns der alte Herr herbestellt hat?“

Gray zuckte die Achseln. „Er hat nichts dazu sagen wollen.“

Alex beugte sich vor. „Harry hat dich höchstpersönlich zu sich zitiert? Mich auch.“ Er deutete mit seiner Bierflasche zu J.T. „Und was ist mit dir, J.T.? Hat dich Harry auch mit einem persönlichen Anruf beehrt?“

„Allerdings.“ J.T. rieb sich die Augen mit Zeigefinger und Daumen und gähnte. Er beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel und hielt das Glas Bourbon zwischen den Knien. „Ich habe ihm erklärt, dass ich in Neu-Delhi für den Rest der Woche alle Termine absagen und für den Hin- und Rückflug jeweils einen Tag im Flugzeug verbringen muss. Aber er hat darauf bestanden, dass ich trotzdem komme. Und bei dir, Justin?“

„Dasselbe. Ich war auf der Ranch. Er wollte unbedingt, dass ich sofort komme, hat aber nicht gesagt, warum es so eilig ist.“

Er konnte sich beim besten Willen keinen Grund für diese Zusammenkunft vorstellen. Nachdem Harry sich wieder bester Gesundheit erfreute, hätte er sein mysteriöses Anliegen per Telefon, Fax oder E-Mail vorbringen können. Schließlich hatte er diese Technologien perfektioniert und sollte sie daher auch benutzen.

J.T. strich sich mit einer Hand durch das dunkle Haar und blickte auf seine Rolex. Wegen des Zeitunterschieds von dreizehn Stunden zwischen Seattle und Neu-Delhi war seine innere Uhr durcheinandergeraten, und er musste überlegen, auf welche Tageszeit sein Körper gerade eingestimmt war.

In diesem Moment flog die Tür auf. Fast zwei Meter groß, das schwarze Haar kaum ergraut, betrat Harrison Hunt den riesigen Raum mit der kostbaren Sammlung in Leder gebundener Bücher. Eine schwarze Hornbrille umrahmte seine blauen Augen. In seinem Blick lag die Intelligenz, die HuntCom durch bahnbrechende Erfindungen zu einem Alltagsbegriff gemacht hatte.

„Ah, da seid ihr ja alle. Hervorragend.“ Mit erstaunlicher Energie angesichts des kürzlich erlittenen Herzanfalls eilte er zu seinem massiven Schreibtisch aus Mahagoniholz. Vier Stühle standen davor. „Kommt her, Jungs.“

Während Harry sich in seinen Chefsessel setzte, lehnten Justin und Alex sich an die Wand. Gray trat hinter einen der Stühle und stützte sich auf die Rückenlehne. J.T. erhob sich aus dem Sessel, blieb aber an einem langen Sideboard stehen, das als Raumteiler diente.

Harry blickte mit gerunzelter Stirn zu Justin auf. „Warum setzt du dich nicht?“

„Danke, ich stehe lieber.“

Mit einem ungehaltenen Achselzucken murmelte Harry: „Wie ihr wollt. Ob ihr sitzt oder steht, macht keinen Unterschied.“ Er hielt inne und räusperte sich. „Seit meinem Zusammenbruch habe ich eine Menge über diese Familie nachgedacht. Bisher hat es mich nicht weiter gestört, dass ihr keine Anstalten macht, die Zukunft unseres Familiennamens zu sichern. Aber ich hätte an dem Herzinfarkt sterben können“, sagte er tonlos. „Ich kann jeden Augenblick sterben.“

Er stand auf, beugte sich vor und legte die Hände auf den Schreibtisch. „Und mir ist klar geworden, dass ihr vier nie freiwillig heiraten werdet – was bedeutet, dass ich keine Enkelkinder bekomme. Doch der Name Hunt darf mit euch nicht aussterben. Ich werde die Zukunft unserer Familie nicht länger dem Zufall überlassen. Ich gebe euch ein Jahr. Am Ende dieses Jahres wird nicht nur jeder von euch verheiratet sein, sondern auch ein Kind haben oder zumindest mit seiner Frau eins erwarten.“

Absolutes Schweigen breitete sich nach diesen Worten aus.

„Klar“, murmelte J.T. schließlich.

Justin unterdrückte ein Grinsen, und auch Gray wirkte belustigt. Alex hob seine Bierflasche an die Lippen.

Harry ließ sich nicht beirren und fuhr ruhig fort: „Wenn nur einer von euch sich weigert, werden alle von euch ihre Positionen bei HuntCom verlieren. Und damit auch die Sonderrechte, die euch so viel bedeuten.“

Justin erstarrte.

Alex ließ die Flasche sinken.

Gray wirkte schlagartig ernüchtert. „Das kann nicht dein Ernst sein.“

„Das ist mein voller Ernst.“

J.T. regte sich nicht auf. Er nahm die Drohung auf die leichte Schulter. „Bei allem Respekt, Harry: Wie willst du denn die Firma ohne uns führen?“ Eiswürfel klirrten, als er mit seinem Glas zu seinen Halbbrüdern deutete. „Ich bin gerade mit dem Ausbau von drei Niederlassungen gleichzeitig beschäftigt: hier in Seattle, in Jansen und in Neu-Delhi. Wenn ein anderer Architekt die Bauleitung übernimmt, wird es Monate dauern, bis er auf dem Laufenden ist. Die Verzögerung würde HuntCom ein Vermögen kosten.“

Harry zeigte sich unbeeindruckt. „Das spielt dann keine Rolle mehr: Wenn ihr vier euch weigert, werde ich HuntCom nämlich verkaufen. In Stücken, wenn es sein muss. Dann gibt es keinen Neubau in Neu-Delhi. Und Hurricane Island ist auch Geschichte.“ Er heftete den Blick auf Justin. „Natürlich würde ich auch die HuntCom-Anteile an der Ranch in Idaho verkaufen.“ Er wandte sich an Alex. „Außerdem würde ich die Stiftung schließen.“ Schließlich betrachtete er Gray. „Und wenn es keine Firma mehr gibt, braucht sie auch keinen Vorsitzenden mehr.“

Alex trat einen Schritt vor. „Das ist doch verrückt! Was willst du damit denn erreichen?“

„Dass ihr alle eine Familie gegründet habt, bevor ich sterbe. Und zwar mit einer Frau, die eine gute Ehefrau und Mutter ist. Cornelia wird sich eure Auserwählten vorher ansehen.“

„Tante Cornelia weiß Bescheid?“, fragte Justin.

Die Antwort darauf interessierte auch J.T. Als Erwachsener hatte er mit der Witwe von Harrys Geschäftspartner nicht mehr viel zu tun. Während seine Brüder eine Art Tante in ihr sahen, war sie für ihn nur die Frau, die ihn in seiner Kindheit und Jugend gebremst und ihm Grenzen aufgezeigt hatte. Sie forderte von jedem nur das beste Betragen. Laut Gray war sie außerdem die einzige Person, auf die Harry wirklich hörte.

„Noch nicht.“

Justin wirkte ein wenig erleichtert. „Also noch mal zum Mitschreiben, nur um sicher zu sein, dass ich das richtig verstanden habe. Jeder von uns muss sich bereit erklären, innerhalb eines Jahres zu heiraten und ein Kind zu bekommen …“

„Ihr müsst euch alle dazu bereit erklären“, warf Harry ein. „Alle vier. Wenn einer sich weigert, verlieren alle. In dem Fall könnt ihr euch von eurem bisherigen Leben mit den Jobs bei HuntCom verabschieden.“

„… und die Frauen müssen alle Tante Cornelias Zustimmung finden“, fügte Justin hinzu.

Harry nickte. „Sie ist eine kluge Frau. Sie wird erkennen, ob eure Kandidatinnen sich für die Ehe eignen. Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen“, fuhr er unvermittelt fort. „Ihr dürft ihnen nicht verraten, dass ihr reich seid. Oder dass ihr meine Söhne seid. Ich will keine Schwiegertochter, die nur aufs Geld aus ist. Auf solche Frauen bin ich schließlich selbst immer reingefallen. Meine Fehler braucht ihr nun wirklich nicht nachzumachen.“

Er holte tief Luft. „Ihr habt jetzt Zeit, darüber nachzudenken, und zwar genau bis in drei Tagen um Punkt acht Uhr abends – keine Minute später. Wenn ich bis dahin nichts von euch gehört habe, werde ich meine Anwälte anweisen, nach Käufern für die HuntCom-Unternehmen zu suchen.“

Und damit verließ er den Raum.

Als sich die Tür hinter ihrem Vater schloss, starrten die vier Brüder noch immer sprachlos in dieselbe Richtung.

„So ein Mistkerl“, sagte Justin nach einer Weile leise. „Ich glaube, er meint es wirklich ernst.“

Dann versicherte J.T.: „Es wird bestimmt nicht so weit kommen. Er wird HuntCom nicht verkaufen. Was den Rest angeht …“

Alex verzog das Gesicht. „Und wenn er es nun tatsächlich tut?“

J.T. hielt sich weiterhin ein wenig abseits und lauschte der Diskussion seiner Halbbrüder über das Ultimatum. Keiner von ihnen wollte verlieren, was ihm wichtig war – doch genauso wenig war auch nur einer dazu bereit, die Forderungen zu erfüllen.

Dass J.T. sich nicht die Mühe machte auszusprechen, wie beleidigend er diese Erpressung fand, bewies ihm, wie übermüdet er war. „Also sind wir uns alle einig?“, fragte er. „Keiner von uns lässt sich auf diesen verrückten Plan ein?“

Justin nickte. „Keine Frage. Selbst wenn ich heiraten wollte, was ich nicht will, würde ich es nicht tun, nur weil Harry beschlossen hat, dass wir uns jetzt niederlassen sollen.“

„Niederlassen.“ J.T. schüttelte den Kopf und strich sich mit den Fingern durch das Haar. „Das geht ja gar nicht: Ich bin nicht mal lange genug zu Hause, um mir einen Hund zu halten. Was soll ich da mit einer Ehefrau anfangen?“ Mit einem Knall stellte er sein geleertes Glas auf das Sideboard. „Seid mir nicht böse, aber ich habe seit gestern nicht geschlafen.“ Selbst während des langen Fluges hatte er kein Auge zugemacht, sondern sich mit dem Design seines derzeitigen Projekts beschäftigt. „Ich gehe nach Hause und hau mich aufs Ohr.“

„Sehen wir uns dann morgen im Büro?“, fragte Gray. „Wenn wir das Werk in Singapur tatsächlich übernehmen, sollten wir vorher die Zahlen durchgehen.“

„Mein Kopf ist noch in Indien“, murrte J.T. „Lass uns nächste Woche über Singapur reden, wenn ich wieder zurück bin.“

„Einverstanden.“

„Nimmst du mich bitte mit in die Stadt? Ich bin mit einem Taxi direkt vom Flughafen gekommen.“

„Na klar.“ Grays holte sein Handy hervor, als es klingelte. „Das ist Loretta, meine Sekretärin. Sie arbeitet gerade an den Dokumenten für die Betriebsübernahme. Wenn du nichts dagegen hast, rede ich unterwegs mit ihr.“

J.T. hatte absolut nichts einzuwenden: Auch er war rund um die Uhr für seine Mitarbeiter erreichbar. Die zwanzigminütige Fahrt in die Innenstadt nutzte er, um seine Mailbox zu checken, einige Nachrichten zu beantworten und sich zu überlegen, was er essen wollte.

Er hatte Appetit auf Pfannkuchen: Ein klares Zeichen, dass seine innere Uhr sich noch nicht angepasst hatte und sein Körper auf Frühstück eingestellt war. Da es in Seattle jedoch Abend war, beschloss er, im Rico’s zu speisen. Das italienische Restaurant befand sich im Erdgeschoss des Gebäudes, in dem ihm das Penthouse gehörte – mitsamt luxuriöser Ausstattung und unbezahlbarem Blick auf die Bucht, den Puget Sound. Dank seines Privatvermögens konnte er es sich leisten, so zu leben: Er war Millionär.

Bereits am nächsten Morgen kehrte J.T. im Privatjet von HuntCom nach Neu-Delhi zurück. Vorläufig verschwendete er keinen weiteren Gedanken an Harrys unmögliche Erpressung.

Es war tiefste Nacht in Neu-Delhi, aber Mittag in Seattle, als sein Telefon klingelte. Und dieses Konferenzgespräch mit seinen Halbbrüdern veranlasste ihn, seine Haltung zu überdenken.

Sie waren sich einig, dass sie alle die Forderungen ihres Vaters abgelehnt hätten, wäre es nur ums Geld gegangen. Aber es standen auch die Dinge und Orte auf dem Spiel, die ihnen am meisten am Herzen lagen, wie Harry sehr wohl wusste.

Deshalb wollten sie versuchen, die Bedingungen zu erfüllen. Allerdings bezweifelten sie ernsthaft, dass sich heiratsfähige Frauen finden ließen, die nichts von den Hunt-Brüdern wussten.

Wieso Harry glaubte, dass seine Söhne zustande bringen konnten, was ihm selbst nie gelungen war, erschien J.T. unbegreiflich. Dennoch wollte er sich bemühen: Schließlich wollte er weder die Insel aufgeben noch dafür verantwortlich sein, dass seine Brüder verloren, was ihnen wichtig war. Er hatte eingewilligt. Was auch immer geschehen mochte: Damit hatte J.T. sich endgültig von dem Leben, das er bisher kannte, verabschiedet.

Autor

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