Traummänner & Traumziele: Wüste

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DAS FEUER EINER WÜSTENNACHT von JACKIE ASHENDEN
Niemand betritt sein Reich! Nur so glaubt Scheich Tariq, sein Land beschützen zu können. Doch die junge Archäologin Charlotte, die er in letzter Sekunde aus der Wüste rettet, bringt seine Vorsätze ins Wanken. Die betörende Schöne übt eine ungeahnte Anziehung auf ihn aus. Er kann sie nicht gehen lassen – und dabei denkt er nicht nur an die Sicherheit seines Landes! Eine Ehe scheint die einzige Lösung zu sein, um die temperamentvolle Engländerin im Auge zu behalten. Doch nicht das Wüstenreich Ashkaraz ist in Gefahr – sondern Tariqs Herz!

DAS SINNLICHE SPIEL DES SCHEICHS von TRISH MOREY
Ausgerechnet seine Exgeliebte! Scheich Bahir muss Prinzessin Marina in seinem Privatjet in Sicherheit bringen, dabei wollte er sie nie wiedersehen. Diese sündhaft sinnliche Frau, die gefährlicher ist als jedes Glücksspiel – und die er trotzdem bis heute nicht aus seinen Gedanken bannen konnte. Bahir begehrt Marina mehr denn je, auch wenn er jetzt entdeckt, dass seine leidenschaftliche Affäre mit ihr nicht ohne Folgen blieb. Doch nicht umsonst ist er ein wagemutiger Spieler. Obwohl Marina den Trumpf in der Hand hält, riskiert Bahir alles, um diese Herzenspartie zu gewinnen …

DER KUSS DES WÜSTENPRINZEN von SHARON KENDRICK
Catrin jobbt in einem kleinen Strandhotel, als Sultan Murat Al-Maisan in ihr Leben tritt. Er zeigt ihr nicht nur die Welt, sondern auch, wie schön die Liebe sein kann. Doch dann erfährt Catrin, dass er eine Wüstenprinzessin heiraten soll …

CINDERELLA UND DER WÜSTENPRINZ von SHARON KENDRICK
"Mein Name ist … Cinderella." Ella erkennt sich selbst nicht wieder, so frech flirtet sie auf einem Ball in Santina mit Scheich Hassan. Doch der hungrige Blick des stolzen Wüstenprinzen berührt etwas tief in ihrem Innern, das sie alle Vorsicht vergessen lässt. Und als er sie mit einem spontanen, sinnlichen Kuss in seine Luxussuite einlädt – und zur leidenschaftlichsten Nacht ihres Lebens verführt, fühlt sie sich wie im Märchen. Aber statt eines Happy Ends folgt nüchternes Erwachen: Denn am nächsten Morgen verlässt der glutäugige Scheich sie ohne ein Wort des Abschieds.

DER FEURIGE KUSS DES SCHEICHS von ANNIE WEST
Prinzessin Ghizlan sollte Scheich Huseyn von ganzem Herzen hassen! Schließlich zwingt er sie, ihn zu heiraten! Doch als er sie spontan in seine Arme zieht und mit einem feurigen Kuss überrascht, wird sie gegen ihren Willen von nie gekannter Leidenschaft überwältigt …


  • Erscheinungstag 08.09.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751520096
  • Seitenanzahl 800
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

IMPRESSUM

JULIA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
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Fax: +49(0) 711/72 52-399
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Geschäftsführung: Katja Berger, Jürgen Welte
Leitung: Miran Bilic (v. i. S. d. P.)
Produktion: Jennifer Galka
Grafik: Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,
Marina Grothues (Foto)

© 2020 by Jackie Ashenden
Originaltitel: „Crowned at the Desert King’s Command“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: MODERN ROMANCE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA
Band 2449 - 2020 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Julia Lambrecht

Abbildungen: Harlequin Books S.A., alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 07/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH , Pößneck

ISBN 9783733714260

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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1. KAPITEL

Charlotte Devereaux dachte nicht oft über ihren Tod nach. Wenn sie es tat, hoffte sie, im hohen Alter eines Morgens einfach nicht mehr aufzuwachen. Oder vielleicht in einem bequemen Sessel den letzten Atemzug zu nehmen, ein Buch auf dem Schoß.

Dass sie durch Hitzschlag und Austrocknung sterben könnte, nachdem sie sich auf der Suche nach ihrem Vater in der Wüste verirrt hatte, war ihr nie in den Sinn gekommen.

Ihr Vater hatte ihr gesagt, er wolle auf die Düne steigen, um sich einen besseren Überblick über die Ausgrabungsstätte zu verschaffen – keine große Sache. Aber dann hatte jemand gefragt, wo Professor Devereaux eigentlich steckte, und Charlotte war ihn suchen gegangen.

Auf dem Gipfel der Düne, auf der er anfänglich gestanden hatte, war er nicht. Das bereitete Charlotte noch keine Sorgen. Ihr Vater zog häufiger allein los, um in Ruhe nachzudenken, und er war ein sehr erfahrener Archäologe, der schon an vielen Ausgrabungen teilgenommen hatte. Der Gedanke, er könnte sich verlaufen haben, war eher abwegig.

Als Assistentin ihres Vaters war auch Charlotte nicht ganz unerfahren, wenn es um Ausgrabungen in der Wildnis ging. Aber als sie umgedreht war, um zur Ausgrabungsstelle zurückzukehren, war diese auf einmal verschwunden. Zusammen mit Charlottes Orientierungssinn.

Zunächst war sie nicht weiter beunruhigt. Ihr Vater hatte ihr gesagt, dass die Wüste einem manchmal Streiche spielte. Sie war ihrer eigenen Fußspur gefolgt und hatte erwartet, die Ausgrabungsstätte rasch wiederzufinden.

Nur war das nicht geschehen. Und nach etwa zehn Minuten war ihr klar geworden, dass sie einem Irrtum erlegen war. Einem sehr folgenschweren Irrtum.

Charlotte verfiel nicht in Panik. Panik half nicht, das tat sie nie. Wenn man sich verirrt hatte, war es das Beste, ruhig Blut zu bewahren und zu bleiben, wo man war.

Und das tat sie. Allerdings drosch die Sonne auf sie ein wie ein Hammer auf den Amboss. Charlotte musste etwas tun, nicht nur herumstehen, sonst würde sie sterben. Also ging sie los, in die Richtung, in der sie die Ausgrabungsstätte vermutete, aber sie musste sich schließlich der Erkenntnis stellen, dass sie sich tatsächlich verirrt hatte.

In der Wüste war das fatal.

Charlotte hielt inne und rückte das schwarz-weiße Tuch zurecht, das sie sich um den Kopf gewickelt hatte. Es war zu schwer und zu heiß, und wegen des vielen Sands schabte es auf ihrer Haut. Normalerweise war es feucht, weil sie ständig schwitzte, aber nun tat sie das nicht mehr, und auch das war fatal. Wenn man nicht mehr schwitzte, war das ein Anzeichen für einen Hitzschlag, oder?

Sie blinzelte und versuchte zu erkennen, wohin sie ging. Die Sonne drang mit aller Härte auf sie ein. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen. Wahrscheinlich ein weiteres Anzeichen für einen Hitzschlag, zusammen mit dem Schwindelgefühl.

Die goldenen Sandhügel nahmen kein Ende. Vor dem gnadenlosen Blau des Himmels gab es kein Entkommen. Der Boden unter ihren Füßen begann zu schwanken wie das Deck eines Schiffs, und in ihren Ohren rauschte es.

Die schwarzen Punkte wurden immer größer. Aber erst allmählich begriff Charlotte, dass es kein Sehfehler war. Vor ihr bewegten sich Menschen, eine ganze Gruppe, in Schwarz gekleidet und … zu Pferd ?

Charlotte machte hoffnungsvoll einen Schritt auf sie zu. Waren es Helfer von der Ausgrabungsstätte, auf der Suche nach ihr? Nahte Rettung?

„Hallo!“, rief sie. Oder versuchte es zumindest. Es war kaum mehr als ein Flüstern.

Aber die Reiter schienen sie zu hören. Es ging ihr wohl wirklich nicht gut, denn erst in diesem Moment fiel ihr ein, dass die einheimischen Helfer keine Pferde dabei hatten und keine schwarzen Umhänge trugen. Und sie hatten auch keine … waren das Schwerter ?

Trotz der Hitze durchlief Charlotte ein Frösteln.

Ihr Vater hatte alle mehrfach darauf hingewiesen, dass die Ausgrabungsstelle ganz in der Nähe von Ashkaraz lag und sie vorsichtig sein mussten, sich nicht zu weit vom Lager zu entfernen. Ashkaraz hielt seit beinahe zwei Jahrzehnten seine Grenzen geschlossen, und das aktuelle Regime mochte keine Eindringlinge. Man hörte Geschichten von schwarz gekleideten, mit Schwertern bewaffneten Militäreinheiten und von Leuten, die versehentlich die Grenze überquert hatten und nie mehr gesehen wurden.

Gerüchte über Ashkaraz gab es reichlich. Es wurde von einem Tyrannen regiert, der mit harter Hand herrschte und keine Fremden ins Land ließ. Selbst Hilfsorganisationen blieb der Zugang verwehrt, genau wie Diplomaten und Journalisten. Einen einzigen Reporter hatte es gegeben, der vor ein paar Jahren dort gewesen sein wollte und einen Artikel veröffentlicht hatte, voller schrecklicher Behauptungen über ein geknechtetes Volk und dessen Diktator. Aber das war auch schon alles.

Letztlich wusste niemand, was in Ashkaraz vor sich ging, weil niemand – außer diesem Reporter – je dort gewesen und zurückgekommen war.

Charlotte hatte sich nie besonders für die Geschichten interessiert. Nun wünschte sie sich allerdings, sie hätte es getan.

Sie blinzelte wieder. Lieber Gott, war das … war das ein Mensch , der da wie ein Sack auf einem der Pferde hing? Ja. Eine Person mit auffällig hellem Haar …

Ihr Herz wollte einen Moment aufhören zu schlagen. Sie erkannte dieses Haar, weil ihr eigenes dieselbe Farbe hatte. Die Person, die dort auf dem Pferderücken hing, war ihr Vater.

Angst ergriff sie, so kalt, wie die Sonne heiß war.

Nun schwang sich eine große Gestalt in der Mitte der Gruppe vom Pferd. Ein Mann vermutlich, denn Frauen waren selten so kräftig gebaut. Die Sonne ließ die nackte Schwertklinge grell aufblitzen, die er durch den Gürtel um seine Hüften gesteckt hatte.

Er kam mit den fließenden, anmutigen Bewegungen eines Jägers auf sie zu. Sein Gesicht konnte Charlotte nicht erkennen, da er von Kopf bis Fuß verhüllt war, aber als er näherkam, sah sie seine Augen.

Braun. Ein goldenes, glitzerndes Braun wie die Augen eines Tigers.

In diesem Moment wusste sie, dass ihre Befürchtungen richtig gewesen waren. Eine Gruppe Männer, in Schwarz gekleidet mit Schwertern an der Seite, konnte nur eins bedeuten: eine Grenzpatrouille aus Ashkaraz. Sie waren nicht hier, um sie zu retten, sondern um sie gefangen zu nehmen.

Der Mann kam näher. Er ragte über ihr auf und schützte sie allein durch seine beeindruckende Größe vor den brennenden Sonnenstrahlen.

Aber die Sonne, so kam es Charlotte vor, brannte weniger hell als das Feuer in seinen goldenen Augen. Dabei wirkten diese ebenso unbarmherzig und gnadenlos.

Ich bin ein Dummkopf. Warum habe ich niemandem Bescheid gesagt, dass ich Papa suchen gehe?

Aber Charlotte hatte nicht gedacht, dass es mehr als ein paar Minuten dauern würde, ihren Vater zu finden. Und sie hatte ihrer Umgebung nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt.

Was geschah mit den Leuten, die die Grenze nach Ashkaraz überquerten? Niemand wusste es. Keiner kam je von dort zurück. Ihr Vater und sie würden gefangen genommen werden und genauso spurlos verschwinden.

Eine Flucht war undenkbar. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie laufen sollte. Und sie würde ihren Vater nicht verlassen. Seit ihre Mutter vor beinahe fünfzehn Jahren in die USA ausgewandert war, hatte er niemanden außer ihr – und obwohl er niemals eine Auszeichnung als Vater des Jahres gewinnen würde, hatten sein Beruf und all die Exkursionen, auf die er sie mitgenommen hatte, eine Liebe zur Geschichte und zu alten Völkern und Zivilisationen in ihr wachgerufen, die ihren Geist beflügelte.

Charlotte verdankte ihm viel. Also würde sie bei ihm bleiben, wie sie es immer getan hatte.

Was bedeutete, dass sie sich der Gnade dieses Mannes ausliefern musste.

Sie kämpfte darum, auf den Beinen zu bleiben, kämpfte gegen ihre Angst und die Auswirkungen des Hitzschlags. Sie war wirklich ein Dummkopf, dass sie sich einfach so vom Camp entfernt hatte, aber sie würde ihren Fehler nicht noch schlimmer machen, indem sie vor den Füßen dieses Mannes zusammenbrach.

Die beste Strategie war es, höflich und vernünftig zu sein, sich zu entschuldigen und dem Mann vor ihr zu versichern, dass sie nur durch ein Versehen sein Land betreten hatte. Ihn zu bitten, davon abzusehen, sie zu töten oder ins Gefängnis zu werfen – und ihr all die anderen Dinge anzutun, mit denen Charlottes Vorstellungskraft gerade aufwartete.

Ein heißer Wind ließ den Saum seines schwarzen Gewands flattern, sodass man seine muskulösen Beine sah. Er blieb vor ihr stehen, so still, als sei er ein Berg, der dort schon Tausende von Jahren stand, unverrückbar und unveränderlich wie die Wüste selbst.

Etwas an seinem gnadenlosen goldenen Blick brachte sie dazu, sich gerade aufzurichten und den Kopf zu heben.

Ihr Mund war staubtrocken. Es fiel ihr schwer, die Worte deutlich zu formulieren. „Entschuldigung, sprechen Sie Englisch? Können Sie mir helfen?“

Einen Moment lang war der Mann still, dann sagte er etwas, die Stimme so tief, dass Charlotte die Vibration in ihrer Brust spürte. Aber sie sprach kaum Arabisch, und die flüssigen Laute, die er von sich gab, klangen anders als die wenigen Brocken, die sie kannte.

Seine goldenen Augen erfüllten ihr ganzes Sichtfeld. Das unbarmherzige Glitzern ließ jede Hoffnung auf Rettung oder Gnade ersterben.

Sie würde hier keins von beidem finden, das war offensichtlich.

„Es tut mir schrecklich leid“, flüsterte Charlotte, als die Dunkelheit sie einhüllte. „Aber der Mann dort auf dem Pferd ist mein Vater. Wir haben uns beide verirrt. Denken Sie, Sie könnten uns vielleicht helfen?“

Und dann verlor sie das Bewusstsein.

Tariq ibn Ishak Al Naziri, Scheich von Ashkaraz, starrte ausdruckslos auf die zierliche Engländerin, die gerade vor ihm zusammengebrochen war.

Ihr Vater, hatte sie gesagt. Nun, das beantwortete die Frage, wer der Mann war, zumindest zum Teil.

Tariq und seine Patrouille hatten ihn bewusstlos auf einer Düne liegend gefunden. Dann hatten sie die Frau entdeckt und waren ihr gute zwanzig Minuten lang gefolgt. Ihr Weg verlief im Zickzack, über die Grenze und geradewegs hinein nach Ashkaraz. Offensichtlich hatte sie keine Ahnung, wohin sie ging. Aber ihre Worte deuteten darauf hin, dass sie den Mann gesucht hatte, der gerade wie ein Getreidesack auf Jaziris Pferd hing.

Tariq hatte gehofft, sie würde umdrehen, sodass das Ganze nicht länger sein Problem wäre, aber stattdessen hatte sie die Reiter entdeckt und war stehen geblieben, hatte auf sie gewartet, als seien sie ihre Retter in der Not.

Er berührte sie zunächst nicht. Man konnte Fremden gegenüber nicht vorsichtig genug sein, wie der Zwischenfall mit dem Bewaffneten letzte Woche bewiesen hatte, der etwas davon gemurmelt hatte, die Menschen in Ashkaraz zum Widerstand gegen die Tyrannei aufrufen zu wollen. Einer seiner Männer war dabei schwer verletzt worden, und Tariq wollte nicht, dass sich ein solcher Zwischenfall wiederholte.

Deswegen gefiel es Faisal – einem der alten Ratgeber seines Vaters – auch nicht, dass Tariq sich der Frau selbst näherte, statt es einer seiner Wachen zu überlassen. Aber sein Volk zu beschützen, war seine Aufgabe, und er wollte nicht, dass es erneut zu einer Verletzung kam, weil ein Soldat im Umgang mit einem Fremden etwas zu sorglos agierte.

Tariq hatte Erfahrung im Umgang mit Fremden.

Besonders, wenn es um Frauen ging. Die waren manchmal am gefährlichsten.

Gefährlich sah diese spezielle Frau allerdings nicht gerade aus. Sie trug eine schmutzige blaue Hose und ein langärmliges Hemd. Um den Kopf hatte sie sich ein schwarz-weißes Tuch gewickelt, das jedoch nur unzureichend gegen die Sonne schützte.

Sie sah aus, als wäre sie bewusstlos, aber da Tariq ein gesundes Misstrauen besaß, stieß er sie vorsichtshalber mit dem Fuß an. Ihr Kopf rollte zur Seite, das Kopftuch löste sich und enthüllte eine Haarsträhne, silberhell wie Mondlicht.

Ja, sie war definitiv bewusstlos.

Stirnrunzelnd blickte er auf sie herab. Ihre Gesichtszüge waren zart, regelmäßig und durchaus hübsch. Aber im Moment war ihre helle Haut gerötet und sonnenverbrannt.

Engländerin, kein Zweifel. Er hatte ihren Akzent erkannt. Also war der Mann – ihr Vater – vermutlich ebenfalls Engländer.

Tariq musterte sie noch einmal. Weder sie noch ihr Vater hatten Gepäck dabei, was hieß, dass ihr Camp nicht weit entfernt sein konnte. Waren sie Teil einer Reisegruppe? Allerdings verirrten sich Touristen sonst nie so weit in die Wüste.

„Zwei Fremde in so kurzem Abstand“, sagte Faisal. „Das kann kein Zufall sein.“

„Ist es auch nicht. Sie hat den Mann auf Jaziris Pferd erkannt. Angeblich ist er ihr Vater.“

„Ah, dann können wir annehmen, dass sie keine Bedrohung ist?“

„Wir können gar nichts ‚annehmen‘.“ Immerhin sah sie nicht aus, als hätte sie Waffen dabei. „ Alle Fremden sind eine Bedrohung.“

Und das stimmte. Deshalb hatte sein Vater die Grenzen geschlossen, und deshalb wich auch Tariq nicht von diesem Kurs ab. Fremde waren gierig, sie wollten, was sie nicht haben konnten, und schreckten vor nichts zurück, um es zu bekommen.

Er hatte die Auswirkungen gesehen. In seinem Land würde das nicht passieren. Nicht noch einmal.

Allerdings gab es immer einige wenige, die dachten, es wäre ein Abenteuer, Ashkaraz’ berüchtigte Grenze zu überqueren, einen Blick auf das Königreich zu erhaschen.

Unweigerlich wurden diese Leute erwischt, bevor sie Schaden anrichten konnten. Sie wurden gefangen genommen, und man lehrte sie Gottesfurcht, bevor man sie wieder hinauswarf, sodass sie wilde Geschichten über die vermeintliche Brutalität der Wachen erzählten, obwohl seine Leute in Wirklichkeit nie jemanden anrührten. Aber Angst durften und sollten sie den Fremden machen. Angst war ein wirksames Abschreckungsmittel.

„Wenn sie eine Bedrohung ist, dann keine sehr ernste“, bemerkte Faisal, während er auf die Frau herabsah. „Vielleicht sind sie und ihr Vater Touristen? Oder Reporter?“

„Es spielt keine Rolle, wer sie sind“, sagte Tariq. „Wir werden sie behandeln wie alle anderen Eindringlinge auch.“

Was einen Gefängnisaufenthalt bedeutete, Drohungen und einen Transport bei Nacht und Nebel zurück zur Grenze, von wo aus sie sich in eins der Nachbarländer flüchten konnten, verängstigt und mit der eindringlichen Warnung im Ohr, ja nie wieder zurückzukehren.

„Das könnte in diesem Fall schwierig sein.“ Faisals Tonfall war ausdruckslos, ein Anzeichen, dass er Tariqs Verhalten in irgendeiner Form missbilligte. „Sie ist nicht nur eine Ausländerin, sondern auch eine Frau. Wir können es uns nicht leisten, sie zu behandeln wie alle anderen.“

Ärger regte sich in Tariq. Aber leider hatte Faisal recht. Bisher war es ihnen gelungen, diplomatische Zwischenfälle zu vermeiden, aber es gab immer ein erstes Mal – und die Nationalität und das Geschlecht dieses speziellen Eindringlings konnten für Ashkaraz durchaus Schwierigkeiten bedeuten.

England würde nicht begeistert reagieren, wenn die Regierung von Ashkaraz einen ihrer Staatsbürger hart anfasste – besonders, wenn es sich dabei um eine junge, hilflose Frau handelte. Der Zwischenfall würde Aufmerksamkeit erregen, und das war das Letzte, was Tariq wollte.

Dann war da noch seine eigene Regierung. Bestimmte Mitglieder würden den Vorfall für ihre Argumentation gegen geschlossene Grenzen nutzen: Diese seien kein geeignetes Mittel, um auf Dauer unbehelligt zu bleiben, die Welt entwickle sich weiter, und wenn sie sich abschotteten, würden sie den Anschluss verpassen.

Tariq war der Rest der Welt egal. Ihm ging es nur um sein Land, seine Bürger. Und da es sowohl dem einen als auch den anderen gut ging, sah er keinen Anlass, seine Politik zu ändern.

Sein Schwur als Scheich lautete, sein Land und dessen Bewohner zu beschützen, und genau das würde er tun.

Ganz besonders, weil er darin schon einmal versagt hatte.

Dieser Gedanke war so tückisch wie eine Giftschlange, und er schob ihn ärgerlich beiseite. Ihm würde der gleiche Fehler nicht erneut unterlaufen.

Tariq ging neben der Fremden in die Hocke. Die losen Kleider, die sie trug, machten es schwer zu beurteilen, ob sie Waffen mit sich führte oder nicht, und da er sichergehen musste, tastete er sie kurz und schroff ab.

„Sir.“ Faisals Stimme war deutlich hörbar. „Sind Sie sicher, dass das klug ist?“

Tariq musste nicht erst fragen, was er meinte. Faisal wusste als Einziger von Catherine.

Aus seiner Irritation wurde Ärger. Er hatte Catherine schon vor langer Zeit aus seiner Seele herausgeschnitten wie ein Krebsgeschwür, und jeden Funken der Gefühle, die sie in ihm wachgerufen hatte, ebenfalls. Alles Weiche. Alles Gnädige.

Faisal musste sich keine Sorgen machen – was mit Catherine geschehen war, würde sich nicht wiederholen.

Doch vielleicht brauchte Faisal eine Bestätigung.

„Zweifeln Sie an meinem Urteil, Faisal?“, fragte Tariq täuschend mild, ohne aufzublicken.

Ein Moment des Schweigens. „Nein, Sir.“

Tariq schaute finster auf die Frau herab.

„Ich kann ein paar Reiter losschicken, um herauszufinden, wo sie und der Mann hergekommen sind“, schlug Faisal vor. „Vielleicht können wir sie zurückbringen, ohne dass jemand etwas merkt.“

Das wäre das Einfachste.

Aber Tariq konnte es sich nicht leisten, den einfachsten Weg zu wählen. Er hatte das Gesetz erlassen, die Grenzen zu schützen, und musste auch dafür einstehen, dass es eingehalten wurde.

Ein König konnte es sich nicht erlauben, schwach zu sein. Hatte er das nicht längst gelernt?

„Nein“, sagte er ausdruckslos. „Wir werden sie nicht zurückbringen.“

Er beugte sich vor, hob die Frau hoch und stand auf. Sie war so leicht, dass er das Gefühl hatte, Mondlicht im Arm zu halten. Ihr Kopf fiel gegen seine Schulter, ruhte auf der groben schwarzen Baumwolle seines Wüstengewands.

Zierlich. So wie Catherine.

Etwas, von dem er gedacht hätte, es wäre lange tot und begraben, regte sich in ihm, und er schaute unwillkürlich noch einmal auf die Frau herab. Nein, sie sah nicht so aus wie Catherine. Ohnehin, das war Jahre her.

Er fühlte nichts mehr für Catherine.

Er fühlte nichts mehr, für gar niemanden.

Nur für sein Königreich. Sein Volk.

Tariq hob den Kopf und begegnete Faisals prüfendem Blick. „Schicken Sie meinetwegen ein paar Leute los, und sehen Sie zu, was sie herausfinden können. Und kontaktieren Sie das Camp; wir brauchen einen Hubschrauber, um die beiden nach Kharan zu bringen.“

Statt auf Antwort zu warten, wandte er sich um und ging zu seinem Pferd und den Soldaten, die auf ihn warteten.

„Vielleicht kann sich einer der Männer um sie kümmern?“, schlug Faisal vor, der ihm folgte. „Ich kann …“

Ich kümmere mich um sie“, wiederholte Tariq harsch, ohne sich umzudrehen. „Sollte die britische Regierung sich einmischen, dürfen keine Zweifel an ihrer Behandlung laut werden. Das bedeutet, ich trage die Verantwortung.“

Auch andere erinnerten sich noch an die Zeiten, als es in Ashkaraz Kämpfe und Auseinandersetzungen gegeben hatte – eine Folge von Catherines Verrat. Sie würden einer Fremden gegenüber misstrauisch sein.

Nicht, dass Tariq vorhatte, sie davonkommen zu lassen. In Kharan, der Hauptstadt, würde sie eine Kostprobe von Ashkaraz’ „Gastfreundschaft“ erhalten. Dort gab es ein Gefängnis, das allein dazu diente, Eindringlinge zu beherbergen, und es würde ihr dort sicher nicht gefallen.

Immerhin war das der Zweck der Sache. Die Fremden so zu erschrecken, dass sie niemals zurückkehrten.

Seine Leute schauten still zu, als Tariq die Frau zu seinem Pferd trug und sie daraufsetzte. Sie sank in sich zusammen. Er stieg hinter ihr auf und zog sie mit einem Arm um ihre Schultern fest an sich, während er mit der freien Hand die Zügel aufnahm.

„Reiten Sie weiter Patrouille“, wies er Faisal an. „Ich möchte wissen, woher diese Frau gekommen ist – und zwar schnell.“

Faisal nickte und ließ seinen Blick skeptisch über die bewusstlose Frau wandern.

Faisals Zweifel würden bald vergessen sein. Tariq war nicht mehr der Jüngling, der er damals gewesen war. Er war härter. Kälter. Der Erbe seines Vaters, auch wenn er wusste, dass Faisal seine Einwände gehabt hatte, als Tariq den Thron bestiegen hatte. Nicht, dass es eine Alternative gab: Sein Vater hatte nur einen Sohn.

Trotzdem – Tariq hatte gedacht, Faisals Misstrauen gehörte der Vergangenheit an.

Es ist diese Frau. Sie ist das Problem.

Ja, das war sie. Aber glücklicherweise nicht mehr lange.

„Haben Sie Einwände?“ Tariq starrte den alten Mann durchdringend an.

Faisal schüttelte lediglich den Kopf. „Nein, Sir.“

Er log. Faisal hatte immer Einwände. Nur gut, dass er es besser wusste, als sie laut auszusprechen, wo ihn andere hören konnten.

„Als ältester Freund meines Vaters haben Sie einen gewissen Spielraum“, warnte ihn Tariq. Es würde Faisal guttun, sich daran zu erinnern. „Achten Sie darauf, ihn nicht überzustrapazieren.“

Faisals Gesichtsausdruck verriet ihm nichts. „Ja, Sir.“

Tariq entließ ihn mit einer Geste und nickte Jaziri und den anderen Männern zu, ein unausgesprochener Befehl. Dann wendete er sein Pferd und ritt zurück in Richtung des Camps.

2. KAPITEL

Charlotte träumte davon, in kühlem Wasser zu schwimmen. Wie Seide floss es über ihre Haut und brachte sie dazu, sich genüsslich strecken zu wollen wie eine Katze in der Sonne …

Auf einmal erklang ein lautes Geräusch. Als sie die Augen öffnete, zerstob der Traum jäh.

Sie schwamm nicht in kühlem Wasser.

Stattdessen lag sie auf einem schmalen, harten Bett in einem winzigen Raum, leer bis auf einen Eimer in der Ecke. Eine nackte Glühbirne hing von der Decke. Der Boden bestand aus Beton, die Wände waren aus Stein.

Es sah aus wie … wie eine Gefängniszelle.

Ihr Herz schlug schneller. Was war geschehen? Warum war sie hier?

Ihr Vater war verschwunden, und sie war ihn suchen gegangen, nur um sich in der Wüste zu verirren. Dann waren diese Reiter aufgetaucht. Vor allem dieser eine, der kräftige Mann mit den goldenen Augen. Groß und breitschultrig, mit einem Schwert an der Hüfte.

Ihr lief ein Schauer über den Rücken.

Er musste sie gerettet haben, nachdem sie ohnmächtig geworden war – obwohl sich das hier nicht gerade wie eine Rettung anfühlte.

Charlotte atmete tief aus, versuchte, ruhig zu bleiben, und setzte sich auf.

Dies musste eine Gefängniszelle in Ashkaraz sein. Und dieser Mann war einer der berüchtigten Grenzsoldaten. Du lieber Himmel – war ihr Vater auch hier eingesperrt? Gehörten sie beide zu den unglücklichen Menschen, die sich nach Ashkaraz verirrt hatten und die man niemals wiedersah?

Charlotte befeuchtete ihre Lippen. Sie durfte nicht in Panik verfallen. Es waren schon Leute aus Ashkaraz wieder herausgekommen, sonst wüsste niemand, dass in dem Land Tyrannei herrschte, dass die Leute in Armut und Unfreiheit lebten.

Aber wie sollte es ihr gelingen freizukommen?

Sie schwang ihre Beine aus dem Bett und stand auf. Schlagartig war ihr schwindelig und ein wenig übel, aber nach einem Moment legte sich das Gefühl wieder. Ihr Gesicht brannte, doch da es keinen Spiegel gab, konnte sie nicht sehen, woran es lag. Am Sonnenbrand wahrscheinlich.

Als Erstes ging sie hinüber zur Tür und versuchte, sie zu öffnen. Kein Erfolg. Dann schaute sie sich genauer in der Zelle um. Hoch oben, fast unter der Decke, befand sich ein kleines Fenster, durch das helles Sonnenlicht fiel.

Einen Moment stand Charlotte still da und dachte nach. Dann schob sie das Bett unter das Fenster und kletterte hinauf. Ihre Finger erreichten gerade so eben den Fenstersims, aber er bot ihr nicht genug Halt, um sich hochzuziehen. Sie schaute sich ratlos um, bis ihr Blick auf den Eimer in der Ecke fiel.

Das würde vielleicht gehen.

Charlotte sprang vom Bett und schnappte sich den Eimer. Sie drehte ihn um und stellte ihn auf die Matratze, dann stieg sie darauf. Jetzt war es ihr möglich, sich hochzuziehen und aus dem Fenster zu schauen. Das Glas war staubig und gesprungen, aber sie konnte hindurchsehen. Allerdings nur bis zur Rückwand des nächsten Gebäudes. Stirnrunzelnd versuchte sie, aus verschiedenen Winkeln irgendetwas zu erkennen – ohne Erfolg.

Vielleicht konnte sie die Scheibe zertrümmern?

Möglicherweise. Und dann, eventuell …

Sie betrachtete das Fenster genauer. Ihre geringe Körpergröße hatte sich schon oft als nützlich erwiesen, zum Beispiel, wenn sie sich damals vor ihren Eltern versteckt hatte, und vielleicht war sie nun ebenfalls von Vorteil.

Natürlich konnte sie auch hierbleiben und sehen, was passierte.

Dabei durfte sie allerdings ihren Vater nicht vergessen. Vielleicht saß er in einer anderen Gefängniszelle. Vielleicht war er tot. Wenn Charlotte blieb, würde sie es womöglich nie erfahren.

Dann wäre ich wirklich ganz allein.

Sie fröstelte.

Nein, sie konnte nicht hier herumsitzen und untätig bleiben. Sie musste etwas unternehmen.

Entschlossen zog sie ihr weißes Hemd aus – ihr Kopftuch schien irgendwo verloren gegangen zu sein – und wickelte es sich um die Hand. Dann schlug sie mit der Faust gegen das Glas. Nach ein paar Schlägen gegen den Riss, der sich bereits hindurchzog, brach die Scheibe.

Zufrieden machte Charlotte sich daran, die restlichen scharfen Splitter zu entfernen, damit sie sich nicht schnitt. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, schlängelte sie sich dann durch das Fenster.

Einem großen Mann wäre das nicht gelungen. Selbst ein durchschnittlich gebauter Mann hätte Schwierigkeiten bekommen.

Aber eine kleine, zierliche Frau? Nichts leichter als das.

Relativ unrühmlich plumpste sie auf der anderen Seite zu Boden und blieb einen Augenblick liegen, um wieder zu Atem zu kommen. Die Sonne war unglaublich heiß, die Luft wie ein Backofen. Definitiv war sie irgendwo in Ashkaraz.

Aber dann wurden ihr die Geräusche ringsum bewusst. Eine sehr vertraute Mischung: Autos, Lastwagen und Hupen. Stimmen. Der Refrain eines Popsongs, der gerade international in den Charts war.

Verwirrt rappelte Charlotte sich auf und sah sich um. Sie stand in einer schmalen Gasse zwischen zwei großen Steingebäuden. Am Ende sah sie eine Straße, und auf dem Gehweg gingen Leute vorbei.

Bei all der Angst und Unsicherheit ergriff sie eine unerwartete Aufregung.

Sie befand sich in einem abgeriegelten Land. Einem Land, das seit zwanzig Jahren niemand mehr gesehen hatte. Niemand außer ihr.

Als Assistentin ihres Vaters hatte Charlotte sich für Archäologie und Geschichte erwärmt, aber ihr eigentliches Interesse galt der Gesellschaft und den Menschen. Ashkaraz war angeblich ein Entwicklungsland, in dem die Zeit stehen geblieben war.

Jetzt war der Moment gekommen, die Wahrheit zu ergründen.

Zielbewusst ging sie auf das Ende der Gasse zu.

Und blieb dort wie angewurzelt stehen.

Nichts hätte sie auf den Anblick vorbereiten können.

Sie hatte Pferde und Wagen erwartet, eine mittelalterlich anmutende Stadt im Mittleren Osten mit Basaren und Kamelen und vielleicht noch ein paar Schlangenbeschwörern.

Stattdessen fuhren neue, saubere Autos durch die Straßen, in denen hohe, moderne Gebäude aus Glas und Stahlbeton standen. Leute gingen auf den Gehwegen, manche in traditionellen Gewändern, manche in Kleidern, wie man sie auch in London auf der Straße sah. Zwischen den neueren Häusern befanden sich auch historische Gebäude, allesamt gut erhalten. Geschäfte und Cafés säumten die Straßen, Menschen saßen an den Tischen, unterhielten sich und lachten oder schauten auf ihre Smartphones.

Die ganze Stadt – eine wohlhabende Stadt – wirkte modern und lebendig.

Und das in einem angeblich bettelarmen Land mit einer unterdrückten Bevölkerung, die in einer Art Militärdiktatur lebte?

Was ging hier nur vor sich?

Staunend trat Charlotte auf den Gehweg und tauchte in die Menge ein. Die überraschten Blicke, die man ihr zuwarf, bemerkte sie kaum.

Vor ihr lag ein wunderschöner Park, mit einem Brunnen und gepflegten Rabatten, Bänken und einem Spielplatz. Dort tollten jede Menge Kinder umher, schreiend und lachend, während die Eltern entspannt zusahen.

Das war … das war doch unglaublich. Wie war so etwas überhaupt möglich? War das die Wahrheit, die Ashkaraz so sorgfältig vor der Außenwelt verbarg?

Charlotte war so sehr damit beschäftigt, sich umzusehen, dass sie den Mann in Uniform, der ihr folgte, gar nicht bemerkte, bis sich seine Finger um ihren Arm schlossen. Und dann hielt ein schwarzes Auto am Fahrbahnrand, und Charlotte fand sich unvermittelt auf der Rücksitzbank wieder.

Sie öffnete den Mund, um zu protestieren, doch es blieb ihr keine Zeit. Jemand stülpte ihr etwas Schwarzes, Stickiges über den Kopf, und das Auto fuhr los.

Man hielt sie mit festem Griff – ohne ihr wehzutun, aber definitiv so fest, dass sie nicht entkommen konnte. Verspätet setzte die Angst wieder ein.

Hatte sie wirklich gedacht, sie könnte einfach aus der Zelle fliehen und draußen auf der Straße herumlaufen?

Charlotte ließ sich in den Sitz sinken und versuchte, nicht in Panik zu geraten. Ihre Chance zu entkommen, hatte sie verschenkt.

Es war ihre eigene Schuld. Sie hatte sich vom Anblick der Stadt ringsum ablenken lassen.

Die Fahrt dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Schließlich hielt das Auto, und man zerrte sie heraus. Einen Moment spürte sie die Hitze der Sonne auf ihrem Rücken, dann brachte man sie in das Innere eines Gebäudes, wo kühle Luft sie empfing und ihre Schritte auf einem gefliesten Boden widerhallten. Es roch nach Wasser und Blumen.

Durch den schweren schwarzen Stoff konnte sie nichts sehen. Ihr Orientierungssinn versagte, als man sie mehrere Flure entlangführte, um zahlreiche Ecken und verschiedene Treppen hinauf.

Brachte man sie wieder in die Zelle? Oder erwartete sie ein schlimmeres Schicksal?

Abrupt hielten sie an. Unsanft zog man ihr den Stoff vom Kopf.

Charlotte blinzelte in die jähe Helligkeit.

Sie stand in einem großen Raum voller Regale mit Büchern, Aktenordnern und Kästen. Der geflieste Boden war mit bunten Seidenteppichen ausgelegt. Auch die Wände waren gefliest, mit hübschen, silbrig schillernden Kacheln. Direkt vor ihr befand sich ein Fenster, das den Blick in einen wunderschön gestalteten Garten ermöglichte.

Vor dem Fenster befand sich ein großer, schwerer Schreibtisch aus nachgedunkeltem Holz. Auf der polierten Oberfläche standen Monitor, Tastatur, Maus und eine kleine Vase mit einem frischen Jasminzweig.

Das hier war jedenfalls keine Gefängniszelle.

Sie blinzelte erneut und wandte sich um. Zwei Männer hatten zu beiden Seiten der Flügeltür Aufstellung genommen. Sie trugen schwarze Gewänder und Schwerter an den Hüften. Ihre Gesichter wirkten vollkommen ausdruckslos.

In ihrem Rücken erklang auf einmal ein Geräusch.

Charlotte fuhr herum. Ein Mann betrat durch eine weitere Tür zu ihrer Linken den Raum, blieb stehen und starrte sie an.

Er war groß. Sehr groß. Und gebaut wie ein Gladiator. Unter dem weißen Baumwollhemd zeichneten sich Arm- und Brustmuskeln ab, und der dunkle Stoff seiner Anzughose spannte sich um seine kräftigen Beine. Sein Gesicht war eine Komposition aus scharfen Linien, mit hohen Wangenknochen, einer stolzen Adlernase, geraden schwarzen Augenbrauen und einem klassisch geformten Mund.

„Gut aussehend“ war eine viel zu nichtssagende Beschreibung für diesen Mann – noch dazu, weil ihn eine Aura von Charisma und Arroganz umgab, die man nur an sehr mächtigen und bedeutenden Menschen wahrnahm.

Aber das war es nicht, was Charlotte den Atem raubte.

Es waren seine Augen.

Brennendes Gold, erfüllt von der gleichen schonungslosen Hitze wie die Sonne über Ashkaraz.

Dies war der Mann, der sie draußen in der Wüste gefunden hatte. Seine Augen waren unverkennbar.

Einen langen Moment sagte er nichts. Charlotte ebenso wenig; ihr fehlten schlicht die Worte. Dann blickte er zu den Männern, die hinter ihr standen, und nickte kaum merklich. Einen Augenblick später hörte sie, wie beide Wachen das Büro verließen.

Schlagartig kam ihr der Raum zu klein vor. Oder vielleicht lag es an dem Mann, der so groß und einschüchternd wirkte.

Charlotte hob das Kinn und versuchte, seinen unnachgiebigen Blick zu erwidern. Unterdessen ging er zum Tisch herüber, blieb davor stehen und kreuzte die Arme vor seiner muskulösen Brust.

Sie musste den Drang unterdrücken, einen Schritt zurück zu machen. In seiner Gegenwart fühlte sie sich automatisch klein und unbedeutend. Das hasste sie. Genauso hatte sie sich immer gefühlt, wenn ihre Eltern sich gestritten hatten. Unwichtig. Obwohl es bei diesem Streit so oft auch um sie gegangen war.

Um ihre Hände davon abzuhalten zu zittern, ballte Charlotte sie zu Fäusten. Dann holte sie tief Atem. „Ähm … sprechen Sie Englisch?“ Ihre Stimme klang ziemlich dünn und schrill.

Der Mann sagte nichts.

Ihr Mund war trocken, und sie wünschte sich, sie spräche ein besseres Arabisch. Vielleicht verstand er kein Englisch? Sie wollte ihn nach ihrem Vater fragen. Und sich dafür bedanken, dass er sie gerettet hatte.

Nicht gerettet. In eine Zelle geworfen.

War er wirklich der gleiche Mann, mit dem sie es an der Grenze zu tun gehabt hatte? Der Anzug, den er trug, sah aus wie der eines Geschäftsmanns. War er ein Verwaltungsbeamter? Ein Gefängnisdirektor?

Aber nichts davon passte zu ihm. Er hatte die Ausstrahlung eines Menschen, der es gewohnt war, Befehle zu geben, und erwartete, dass sie befolgt wurden.

„Es … es tut mir leid“, fuhr Charlotte fort und suchte nach den richtigen Worten. „Ich hätte Ihnen danken sollen, dass Sie mir das Leben gerettet haben. Aber können Sie mir vielleicht sagen, wo mein Vater ist? Wir haben uns verirrt, müssen Sie wissen. Und ich … ich …“ Unter seinem durchdringenden Blick erstarben ihr die Worte auf den Lippen.

Das war albern. Ihr Vater war vielleicht tot oder ebenfalls eingekerkert, und sie ließ sich von diesem Mann einschüchtern.

Vielleicht stellte sie sich besser erst einmal vor. Sie hatte in der Wüste keine Papiere bei sich gehabt. „Mein Name ist …“

„Charlotte Devereaux“, unterbrach er sie mit tiefer, ein wenig rauer Stimme. „Sie sind Assistentin von Professor Martin Devereaux, ihrem Vater, der in Kooperation mit der Universität von Siddq gerade eine archäologische Ausgrabung durchführt.“

Sein Englisch war perfekt. Der Akzent kaum hörbar.

„Sie beide stammen aus Cornwall und leben gegenwärtig in London. Als Assistentin Ihres Vaters sind Sie, Miss Devereaux, ebenfalls an der Universität beschäftigt. Sie sind dreiundzwanzig Jahre alt, haben weder Ehepartner noch Kinder und leben in einer Wohngemeinschaft in Clapham.“

Charlotte sank der Unterkiefer herab. Woher wusste er das alles?

„Können Sie mir bitte sagen, was Sie dort draußen in der Wüste gemacht haben? Weder Sie noch Ihr Vater haben sich in der Nähe der Ausgrabungsstätte aufgehalten. Das ist der Grund, warum Sie hier sind – Sie haben illegal die Grenze nach Ashkaraz übertreten. Das verstehen Sie, hoffe ich?“

Bei dem Hauch von Herablassung in seiner Stimme errötete Charlotte. Aber immerhin sprach er von ihrem Vater in der Gegenwartsform.

Dennoch musste sie sichergehen. „Heißt das, mein Vater lebt?“

„Ja. Er lebt.“

Erleichtert holte sie Atem. „Ich bin so froh. Er ist allein losgezogen, wie er es manchmal tut, und ich habe versucht, ihn zu finden. Ich bin auf eine Düne gestiegen, und irgendwie …“

„Es interessiert mich nicht, wie Sie sich verirrt haben“, unterbrach sie der Mann. „Allerdings möchte ich gern wissen, wie es Ihnen gelungen ist, aus einem sicheren Gefängnis zu entkommen.“

Charlotte schluckte. „Ich … ich habe das Fenster zertrümmert und bin hinausgeklettert.“ Sie hob das Kinn. „Es war nicht so schwierig.“

„Sie sind aus dem Fenster geklettert?“, wiederholte er ungläubig. „Hielten Sie das wirklich für eine gute Idee?“

„Ich hatte Gerüchte gehört. Dass Menschen, die die Grenze überqueren, für immer verschwinden. Dass sie zusammengeschlagen und in Angst und Schrecken versetzt werden. Und ich wusste nicht, was mit meinem Vater war. Also wollte ich versuchen, ihn zu finden. Deshalb habe ich die Gelegenheit zur Flucht genutzt.“

Der Mann sagte nichts, aber sein Blick hatte Gewicht. Und dieses Gewicht lastete auf ihr.

Charlotte hob das Kinn noch ein wenig höher und erwiderte seinen Blick. „Wie Sie wissen, sind wir britische Staatsbürger. Sie können uns nicht einfach verschwinden lassen wie all die anderen. Mein Vater ist ein renommierter Wissenschaftler. Wenn erst einmal jemand bemerkt, dass wir nicht zur Ausgrabungsstätte zurückgekehrt sind, wird man eine Suchaktion starten. Also sagen Sie besser den Verantwortlichen, dass …“

„Ich bin der ‚Verantwortliche‘.“

„Ach so? Sind Sie der Polizeichef?“

„Nein.“ Das Glitzern in seinen goldenen Augen raubte ihr den Atem. „Ich bin das Staatsoberhaupt dieses Landes. Der Scheich von Ashkaraz.“

Charlotte Devereaux sah ihn mit ihren großen silberblauen Augen an und blinzelte geschockt.

Schock war das Mindeste. Eigentlich sollte sie vor Furcht zittern.

Tariq hatte gerade erst von ihrer Flucht und ihrem Spaziergang auf der Hauptstraße Kharans erfahren. Und er war wütend. Unfassbar wütend.

Die Wut kochte in ihm, siedend heiß wie Lava, und nur seine eiserne Selbstbeherrschung stand zwischen dieser Wut und ihrem gewaltsamen Ausbruch.

Dabei hatte er das alles selbst zu verantworten. Er hatte ja ihren Transfer nach Kharan veranlasst, statt Faisals Rat zu folgen und sie und ihren Vater einfach zur Ausgrabungsstätte zurückzubringen.

Nein, er hatte beschlossen, sich selbst darum zu kümmern. Hatte sie hergebracht und für ihre medizinische Behandlung gesorgt. Ihr Vater lag noch immer im Krankenhaus. Miss Devereaux’ Zustand war stabil, deshalb hatten die Wachen sie ins Gefängnis gebracht.

Normalerweise saßen dort Männer ein. Nicht schmächtige Frauen, die sich durch winzige Fenster schlängeln konnten. Tariq hatte nicht einmal gewusst, dass die Zellen Fenster hatten .

Aber das war nun auch egal. Diese Frau war entkommen. Und sie hatte die Wahrheit herausgefunden.

Ashkaraz war alles andere als ein Dritte-Welt-Land, in dem Armut und Unterdrückung herrschten. Es war ein florierender, gesunder Staat mit sorgenfreien und glücklichen Bürgern.

Und ein reicher Staat. Ein sehr reicher Staat.

Ein Staat, der seinen Reichtum vor dem Rest der Welt verstecken musste oder Gefahr lief, dass man ihm seinen Besitz wegnahm – wie es vor zwanzig Jahren beinahe passiert war.

Tariq konnte nicht zulassen, dass das wieder geschah.

Damals war Catherine der Auslöser gewesen. Nun war Charlotte Devereaux hier, eine weitere ausländische Frau, die einen diplomatischen Zwischenfall zu verursachen drohte.

Aber dieses Mal würde Tariq nicht dafür verantwortlich sein wie damals bei Catherine. Er hatte seine Lektion gründlich gelernt und würde dieser Frau nicht vertrauen.

„Oh“, sagte sie. „Oh. Ich verstehe.“

Ihre Stimme war angenehm heiser. Irgendwo war ihr Kopftuch verloren gegangen, sodass ihr das silberblonde Haar in einem losen Pferdeschwanz über den Rücken fiel. Einige Haarsträhnen klebten ihr in der Stirn. Sie hatte sich von ihrem Sonnenbrand ein wenig erholt, ihre Haut war nur noch leicht gerötet.

Noch immer trug sie die gleiche locker sitzende Hose. Das weiße Hemd hatte sie abgelegt und stand nun in einem enganliegenden weißen Top vor ihm.

Tariqs Aufmerksamkeit entging es nicht, dass sie bei aller Schlankheit überraschend verlockende Kurven besaß.

„Sie verstehen keineswegs“, sagte er. „Ihr kleiner Ausflug hat mich in eine unangenehme Lage gebracht.“

Sie warf ihm einen kühlen Blick zu. „Wirklich? Inwiefern?“

Das war nicht die Art Reaktion, auf die er gehofft hatte. Sie sollte sich fürchten. Wie es ein Mensch, der in einer Gefängniszelle erwachte, für gewöhnlich tat. Besonders, da all diese Gerüchte über Ashkaraz umgingen.

Warum flehte sie nicht um ihr Leben, sondern warf ihm kühle Blicke zu, als wäre er nur ein gelangweilter Schreibtischtäter und nicht der König dieses Landes?

„Miss Devereaux“, sagte er, „Sie zeigen keine angemessene Ehrerbietung.“

Sie blinzelte. „Tue ich das nicht? Das tut mir leid. Ich kenne Ihre Bräuche nicht, aber …“

„Vor Ihrer Königin würden Sie einen Knicks machen, nicht wahr?“, unterbrach er sie kalt. „Ich bin hier König. Mein Wort ist Gesetz.“

„Oh.“ Sie senkte den Blick. „Ich wollte keinen Fauxpas begehen.“ Dann knickste sie ein wenig unbeholfen.

Tariq kniff die Augen zusammen. Machte sie sich über ihn lustig? Das glaubte er zwar nicht, aber bei Fremden wusste man nie.

Es stimmte ihn nicht gerade versöhnlich.

Andererseits sollte er seine schlechte Laune nicht an ihr auslassen. Ein König sollte über solchen Dingen stehen, musste hart sein, kalt und distanziert.

Dennoch drohte Tariqs Zorn, die Oberhand zu gewinnen. Er wollte Charlotte Devereaux auf Knien sehen, um Vergebung bittend.

Und nicht nur das.

Sie war … hübsch. Und ja, er fand sie körperlich anziehend. Vielleicht war das der Grund, warum sie ihn so irritierte. Nicht, dass es einen Unterschied machte; wie er schon zu Faisal gesagt hatte, er würde sie genauso behandeln wie jeden anderen Eindringling.

„Dafür ist es zu spät“, sagte er. „Den schlimmsten Fauxpas haben Sie bereits begangen. Sie sind aus Ihrer Zelle entkommen und haben die Stadt gesehen.“

„Nun ja, wie ich erklären wollte, es war nicht meine Absicht. Ich wusste nur nicht, was Sie mit mir oder meinem Vater vorhatten.“

„Wir hätten dasselbe mit Ihnen getan wie mit allen illegalen Besuchern. Sie wären zurück nach Hause geschickt worden. Aber das ist jetzt nicht mehr möglich.“

Sie runzelte die Stirn. „Warum nicht?“

„Weil Sie die Hauptstraße von Kharan entlanggeschlendert sind und die Wahrheit gesehen haben.“

„All die schönen Gebäude, meinen Sie? Die Autos, die Smartphones und die Geschäfte?“ Ihr Mund, voll und pink, verzog sich zu einem Lächeln. „Es ist eine wunderschöne Stadt. Warum ist es ein Problem, dass ich sie gesehen habe?“

„Weil Sie es anderen Menschen erzählen werden, Miss Devereaux.“ Was er ihr jetzt sagen musste, würde sie nicht gern hören, aber sie musste den Ernst der Lage begreifen. „Und diese werden es wieder anderen Menschen sagen, und immer so weiter, bis die ganze Welt die Wahrheit kennt. Und das kann ich nicht zulassen.“

Sie runzelte erneut die Stirn. „Ich verstehe nicht …“

„Natürlich nicht. Aber Sie werden genug Zeit haben, es zu begreifen.“

„Das klingt unheilvoll. Was meinen Sie damit?“

„Wir können Sie nicht nach England zurückschicken. Keinen von Ihnen beiden. Sie werden in Ashkaraz bleiben müssen.“ Er machte eine kurze Pause, um seine nächsten Worte zu unterstreichen. „Für immer.“

3. KAPITEL

„W-wie bitte?“, stotterte Charlotte mit trockenem Mund. „Entschuldigung, haben Sie gesagt, ‚für immer‘?“

Der Mann – nein, der Scheich – sah sie an, als ob er schrecklich wütend war und sich nach Kräften bemühte, es zu verbergen. Charlotte spürte seinen Zorn dennoch. Ihr Vater hatte genauso ausgesehen, wenn er über ihre Mutter verärgert gewesen war.

Als die Ehe ihrer Eltern in die Brüche gegangen war, war Charlotte sehr gut darin geworden, verborgene Gefühle zu lesen. Das Schreien war schlimm, aber die stille, unterdrückte Wut war noch schlimmer. Sie erfüllte das ganze Haus, gab ihr das Gefühl, langsam zerquetscht zu werden. Sie war davongelaufen, wenn das geschehen war – allerdings konnte sie im Moment nirgendwohin.

Außerdem war sie nicht mehr das hilflose kleine Mädchen von damals. Sie hatte gelernt, sich vor den Gefühlen anderer abzuschirmen – mit kühler Höflichkeit. Allerdings nützte diese Höflichkeit hier augenscheinlich gar nichts.

Dem unbarmherzigen goldenen Blick des Scheichs konnte Charlotte nicht entkommen.

„Sie haben richtig gehört“, sagte er knapp.

„Das kann nicht Ihr Ernst sein. Sie können uns nicht einfach für immer festhalten!“

„Mein Wort ist hier in Ashkaraz Gesetz, Miss Devereaux“, sagte er. „Ich kann tun, wie mir beliebt.“

Sie lachte, obwohl sie das nicht beabsichtigt hatte, und es klang recht schrill. „Ich werde niemandem erzählen, was ich gesehen habe. Das verspreche ich. Ohnehin habe ich gar nicht viel gesehen – nur ein paar Häuser …“

„Ihr Versprechen ist nichts wert.“ In seinen Augen lag keinerlei Belustigung.

Ihr Magen verkrampfte sich. „Das ist lächerlich. Mir würde sowieso keiner glauben.“

„Einige werden es tun. Und sie werden es weitererzählen. Bald kommen noch mehr Leute wie Sie, die Ashkaraz mit eigenen Augen sehen wollen. Das Land kann diese Art von Aufmerksamkeit nicht gebrauchen.“ Abrupt drehte er sich um und ging zur anderen Seite des Schreibtischs, die Bewegung anmutig wie die eines Panthers. „Nein, Sie können nicht gehen. Sie werden hierbleiben müssen.“

„Man wird nach uns suchen und uns finden“, beharrte sie. „Das Verschwinden eines bekannten Professors und seiner Assistentin wird Fragen aufwerfen.“

„Viele Leute gehen in der Wüste verloren.“ Groß und mächtig und befehlsgewohnt stand er hinter seinem Schreibtisch. Das Sonnenlicht fiel auf sein glänzendes schwarzes Haar. Er beugte sich vor und stützte die Hände auf die Arbeitsplatte. „Alle werden glauben, Sie hätten sich verirrt und wären gestorben.“

„Aber nicht, ohne vorher nach uns zu suchen“, wandte sie ein. „Man wird Suchmannschaften losschicken. Und alle kennen die Gerüchte über Ashkaraz. Früher oder später wird der Verdacht auf Sie fallen.“

Einen Moment lang sagte er nichts. Möglicherweise hatte sie einen Treffer erzielt. Gut.

Sie holte tief Atem und starrte den Scheich an. Vielleicht war das unhöflich, aber immerhin hatte er angedroht, sie auf unbestimmte Zeit hier gefangen zu halten, und das war definitiv noch viel unhöflicher.

„Drohen Sie mir, Miss Devereaux?“, fragte er schließlich. Seine Stimme war tief und seidenweich. Gefährlich.

Charlotte wurde erneut bewusst, auf welch dünnem Eis sie sich bewegte. Sie hatte in diesem Land keine Macht. Gar keine. Und dennoch stand sie hier und diskutierte mit ihm. „Nein, ich drohe Ihnen nicht. Ich versichere Ihnen, ich würde es nicht wagen.“

Aber sie musste etwas tun. Zwar durfte sie ihn nicht verärgern – vor allem, da er jetzt schon so wütend war –, doch sie konnte auch nicht zulassen, dass er sie und ihren Vater für den Rest ihres Lebens einsperrte.

Vielleicht konnte sie an seine Menschlichkeit appellieren? Bevor sie es sich anders überlegen konnte, ging sie auf die andere Seite des Schreibtischs und legte ihm zögernd die Hand auf den Arm. „Bitte“, sagte sie, schaute ihn an und versuchte, es nicht wie ein Flehen klingen zu lassen. „Sie müssen das nicht tun. Lassen Sie uns einfach gehen. Von uns droht Ihnen keine Gefahr.“

Sie blickte auf ihre Hand herab. Auf einmal spürte sie, wie warm seine Haut war. Über einem Arm, der so angespannt war, als bestünde er aus Stahlfedern. Und seinen Geruch bemerkte sie auch – warm, würzig und männlich. Der Scheich beobachtete sie wie ein Raubtier, seine Augen golden wie die eines Tigers und ebenso hungrig.

Unvertraute Empfindungen durchfluteten sie – eine Art von Hitze und ein weiblicher Instinkt, den sie bisher nicht kannte.

Männer hatten Charlotte nie interessiert. Während ihre Freundinnen in Discos gingen und sich über Dating Apps verabredeten, blieb sie lieber mit einem Buch zu Hause. Nachdem sie aus nächster Nähe miterlebt hatte, wie schrecklich und belastend eine Beziehung sein konnte, die als „die große Liebe“ begonnen hatte, war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie so etwas auf keinen Fall wollte. Es war einfacher, sich in ein Buch zu vertiefen: kein Streit, kein Geschrei, keine belastende Stille und keine schwelende Wut. Nur in der Fantasie gab es Prinzen. Nur Fantasien endeten mit Küssen.

Charlotte hatte die Beziehung mit einem Mann auch nie vermisst. Oder gewollt. Und sie hatte noch nie einen Mann getroffen, der in ihr das Verlangen geweckt hatte, die Fantasie Wirklichkeit werden zu lassen.

Aber nun, als der Scheich ihr so nahe war – als ihre Hand auf seinem Arm ruhte und sein Geruch sie umgab –, da konnte sie kaum Atem holen.

„Sind Sie sich dessen bewusst“, murmelte er, und seine seidenweiche Stimme stand im krassen Gegensatz zu dem zornigen Funkeln seiner Augen, „dass es den Tod bedeutet, den Scheich ohne seine Erlaubnis zu berühren?“

Du lieber Himmel.

Instinktiv zuckte sie zurück, aber er war zu schnell. Er legte seine Hand auf ihre, hielt sie damit fest.

Charlottes Puls raste. Alle Gedanken zerstoben, als er sie ansah.

War das eine Ablenkung?

Versuchte er, sie dazu zu bringen zu vergessen, was sie sagen wollte?

Das war lächerlich. Er war der Scheich, er konnte tun, was er wollte, warum sollte er sie ablenken wollen?

Aber immerhin war sie eine britische Staatsbürgerin. Und sie hatte recht, dass er Schwierigkeiten bekommen konnte.

„Wir sind doch ganz unbedeutend“, sagte sie und hoffte, dass ihre Bitte irgendwie Gehör fand. „Wir sind einfache Engländer. Wenn Dad bewusstlos ist, hat er nichts gesehen, und ich habe nicht viele Freunde, denen ich etwas erzählen könnte. Ihr Geheimnis ist bei mir sicher. Und wenn ich versehentlich etwas ausplaudere, dann können Sie … dann können Sie nach England kommen und mich verhaften. Majestät“, fügte sie hinzu.

Das Schweigen war lang und erdrückend. Noch immer hielt er ihre Hand fest.

Er wird mich nicht gehen lassen.

Unerwartet erwachte Ärger in ihr. Nein, das konnte er nicht so einfach machen. Er konnte nicht verlangen, dass sie hierblieb. Das würde sie nicht erlauben.

Entschlossen begegnete Charlotte seinem Blick. „Wenn Sie uns jetzt gehen lassen, ohne eine große Sache daraus zu machen, werde ich den Medien auch nicht erzählen, dass ich hier gegen meinen Willen festgehalten worden bin.“

Das Schweigen hielt an.

„Sie sind entweder sehr tapfer oder sehr dumm“, sagte der Scheich schließlich leise. „Ich bin mir noch nicht ganz sicher.“

Charlottes Wangen brannten, aber sie schaute nicht weg. Ja, wahrscheinlich war sie dumm, weil sie ihm gegenüber solche Drohungen aussprach, aber was blieb ihr für eine Wahl?

Sie wollte nicht, dass ihr Vater die Konsequenzen ihres Verhaltens tragen musste.

So wie damals, nach der Scheidung, als man ihm das Sorgerecht zugesprochen hatte.

Wenn Charlotte damals nicht weggelaufen wäre … Ihre Eltern hatten die Polizei rufen müssen, und am nächsten Tag war ihre Mutter gegangen, und ihr Vater hatte Charlotte am Hals gehabt.

Danach hatte sie immer versucht, ein braves Mädchen zu sein. Sie war nicht mehr weggelaufen, hatte nicht rebelliert. Stattdessen hatte sie versucht, sich für die Dinge zu interessieren, die auch ihrem Vater wichtig waren, und als Erwachsene war sie seine Assistentin geworden und kümmerte sich um alles, was anlag.

Und nun hatte sie es geschafft, dass er in lebenslange Gefangenschaft geraten würde.

Der Scheich sagte nichts, sondern beobachtete sie.

Dass Charlotte ihn verärgert hatte, war klar, und das sollte ihr Angst machen. Aber das tat es nicht. Er stand ganz dicht vor ihr, viel größer und stärker als sie, doch ein unbekannter Instinkt sagte ihr, dass sie nicht vollkommen machtlos war. Dass sie seinen Gleichmut erschüttern konnte.

Das ließ sie kühn werden, weckte den Wunsch in ihr herauszufinden, wie weit sie gehen konnte.

Dabei sah ihr das gar nicht ähnlich. Normalerweise floh sie vor dem Ärger anderer Menschen, statt ihn wachzurufen.

Seine Finger schlossen sich um ihre Hand und hielten sie einen Moment fest. Dann löste er ihre Finger von seinem Arm, ließ sie los und richtete sich zu seiner vollen Größe auf.

Sie konnte seine Berührung noch immer spüren.

Seine Augen blitzten auf, als hätte er etwas bemerkt, das ihr entgangen war. „Ihre Worte, Miss Devereaux, sind eine klare Drohung.“

Charlotte wollte protestieren. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Aber er musste irgendetwas getan haben – einen Knopf gedrückt oder so etwas –, denn in diesem Moment öffnete sich die Tür, und die Wachen kamen herein.

Was er zu ihnen sagte, klang wie ein Befehl. Auf einmal standen sie neben Charlotte, jeder auf einer Seite, und hielten sie fest.

Sie schluckte. „So behandeln Sie also Gäste in Ihrem Land? Sie lassen sie von Wachen abführen und in eine Zelle werfen?“

„Wir haben keine ‚Gäste‘ in diesem Land, Miss Devereaux, und Sie kommen nicht zurück in eine Zelle.“

Er nickte einer der Wachen kurz zu.

Charlotte blieb keine Zeit mehr, etwas zu sagen. Man machte kurzen Prozess mit ihr und führte sie aus dem Raum.

Tariq ging vor dem Fenster in seinem Büro auf und ab. Es war lange her, dass er derart wütend gewesen war. Allerdings hatte ihm auch lange niemand mehr gedroht, schon gar nicht auf diese Art – kühl, höflich und direkt.

Wie kam sie auf den Gedanken, sie, ein Niemand, könnte den König eines ganzen Landes unter Druck setzen?

Und dann hatte sie aus ihren großen blauen Augen zu ihm aufgeschaut, flehentlich, als hätte er ein mitfühlendes Herz statt eins aus Stein.

Sie hatte es gewagt, ihn zu berühren. Als wäre er ein ganz gewöhnlicher Mann.

Ich bin ja auch ein ganz gewöhnlicher Mann.

Er konnte es nicht leugnen. Anfänglich hatte er Charlotte Devereaux’ Anziehungskraft ignoriert, doch sobald sie ihn berührt hatte, hatte sein Körper darauf reagiert, als hätte er einen eigenen Willen.

Als sie die Finger auf seinen Arm gelegt hatte, hatte er sie als Frau gesehen, ihre Wärme und Weiblichkeit gespürt. Sie roch süß und zart wie die Blumen draußen im Garten. Ihre Pupillen hatten sich vergrößert, ihre Wangen sich noch stärker gerötet, und Tariq hatte gewusst, sie fühlte dasselbe wie er: sexuelle Anziehungskraft.

Tariq war ein erfahrener Mann. Er war sich stets bewusst, wenn er eine Frau attraktiv fand, und in diesem Fall tat er das.

Das war kein Problem. Sein körperliches Verlangen konnte er ignorieren. Ihre Drohung und die Entschlossenheit in ihren Augen dagegen nicht. Er stand mit dem Rücken zur Wand, und das wusste sie.

Wenn er sie und ihren Vater hierbehielt, würde die britische Regierung etwas dazu zu sagen haben.

Man würde Suchtrupps ausschicken. Und allen würde bewusst werden, wie nahe an der Grenze zu Ashkaraz sich die Ausgrabungsstätte befand. Das würde Fragen aufwerfen. Ashkaraz würde zum Gegenstand medialer Aufmerksamkeit werden.

Medialer Aufmerksamkeit, die er nicht wollte.

Ashkaraz war nur deshalb autonom und frei geblieben, weil es seine Grenzen geschlossen hielt. Die Weltöffentlichkeit wusste nichts von den enormen Ölvorkommen, auf denen das Land saß. Oder von den privaten Unternehmen, die das Öl verkauften, damit niemand davon erfuhr. Oder von den Wegen, auf denen das Geld zurück ins Land floss und Krankenhäuser, Schulen und andere öffentliche Einrichtungen finanzierte.

Ashkaraz war wohlhabend, aber dieser Wohlstand hatte einen Preis – Abschottung vor einer Welt, die versuchen würde, ihm seinen Reichtum streitig zu machen. Menschen waren gierig. Wie Tariq nur zu genau wusste.

Er blieb vor seinem Schreibtisch stehen. Es kostete ihn einen Moment, sich bewusst zu entspannen, die Fäuste zu öffnen, die Schultern ein wenig sinken zu lassen, zu warten, bis die Wut verebbte, die in ihm brannte. Er brauchte dringend eine Trainingseinheit im Fitnessstudio. Oder einen Übungskampf im Boxring. Vielleicht sollte er eine der Frauen anrufen, mit denen er manchmal unverbindlich die Nacht verbrachte, und seine Frustration auf diese Weise loswerden.

Aber als Allererstes musste er entscheiden, was er mit seiner hübschen englischen Gefangenen machen sollte.

Sie gehen zu lassen, kam nicht infrage, also würde auch ihr Vater hierbleiben müssen – er konnte den Mann unmöglich laufen lassen, nur damit der hinterher lauthals die Freilassung seiner Tochter verlangte.

Dass sie versprochen hatte, niemandem etwas zu erzählen, half nichts. Es reichte ein Ausrutscher, eine versehentliche Bemerkung gegenüber der falschen Person, um eine fatale Kette von Ereignissen in Gang zu setzen. Gerüchte verbreiteten sich. Die illegalen Grenzübertritte, mit denen sie sich bereits befassen mussten, würden zunehmen.

Das konnte Tariq nicht riskieren.

Beide hierzubehalten, würde allerdings ebenso unwillkommene Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Es sei denn, sie bleibt freiwillig hier.

Das war eine Möglichkeit. Sie konnte die britischen Behörden kontaktieren, ihnen mitteilen, dass sie lebte, es ihr gut ging und sie entschieden hatte hierzubleiben.

Das wäre die perfekte Lösung seines Problems … wäre da nicht die winzige Kleinigkeit, dass sie nicht bleiben wollte .

Wie konnte er sie dazu bringen?

Die Antwort war offensichtlich: durch ihren Vater.

Er konnte Professor Devereaux gehen lassen – immerhin hatte er nichts gesehen. Und im Gegenzug würde seine Tochter der britischen Regierung mitteilen, dass sie in Ashkaraz zu bleiben gedachte.

Das war eine brillante Lösung. Tariq war sehr zufrieden mit sich.

Lange hielt die Zufriedenheit allerdings nicht an.

„Es wird Ihnen nicht gefallen, was ich zu sagen habe, Majestät, aber Almasi drängt auf eine Entscheidung, was seine Tochter angeht.“ Faisal räusperte sich.

Tariq, der während der Besprechung mit verschränkten Armen an seinem Schreibtisch lehnte, verspürte sofort neuen Ärger. Almasi war ein hochrangiges Mitglied seiner Regierung und drängte ihn schon seit Monaten, seine Tochter als künftige Ehefrau in Betracht zu ziehen. Auch der Rest seiner Regierung beharrte bereits seit Jahren darauf, Tariq solle heiraten, um die Thronfolge sicherzustellen, aber Almasi ließ einfach nicht locker. Vor allem, weil er eine Tochter im passenden Alter hatte, die er als perfekte Kandidatin erachtete.

Tariq sah das anders. Almasis Tochter war eine nette Frau, aber er wollte mit Almasi und seiner habgierigen Familie nichts zu tun haben. Das war das Problem bei den meisten ledigen Frauen in Kharan und in Ashkaraz generell. Sie hatten Familien, die Einfluss darauf nehmen wollten, wie der Wohlstand des kleinen Landes verteilt wurde. Was kein Problem wäre, wenn sie dabei an das Wohl der Allgemeinheit dächten. Aber das Gegenteil war der Fall. Diese Familien wollten sich vor allem die eigenen Taschen füllen, und das würde Tariq nicht zulassen.

Gier war keine Eigenschaft, die Fremden vorbehalten war.

„Ich werde seine Tochter nicht heiraten, ganz gleich, was er denkt“, sagte Tariq. Sein Tonfall ließ keinen Widerspruch zu.

Faisal war einen Moment lang still. „Allerdings ist auch die Erbfolge zu berücksichtigen“, sagte er schließlich. „Früher oder später muss eine Entscheidung fallen, wie Sie wissen.“

Natürlich wusste er das. Es war ein ständig wiederkehrendes Thema. „Die Thronfolge muss nicht jetzt geklärt werden.“

Faisals Gesichtsausdruck war bei Weitem zu aufmerksam. „Ich verstehe Ihr Zögern, Majestät. Aber – vergeben Sie mir – Sie werden nicht jünger. Und Ashkaraz braucht einen Erben.“

Darüber wollte Tariq jetzt nicht nachdenken. Oder besser gesagt, gar nicht. Doch leider hatte der alte Mann recht, Ashkaraz brauchte wirklich einen Erben. Tariq wollte sich nur nicht dazu gezwungen sehen, einen zu zeugen. Dass das überwiegend an seinen Erfahrungen mit Catherine lag, wusste er, aber es änderte nichts.

Ein König musste unbeteiligt bleiben, Abstand wahren, und das war das genaue Gegenteil dessen, was eine Ehe ausmachte. Andererseits stand eine königliche Ehe unter ganz anderen Vorzeichen. Sie erforderte nur so viel emotionale Beteiligung, wie nötig war, um einen Erben zu zeugen. Zumindest hatte sein Vater das stets behauptet. Und da seine Mutter gestorben war, als Tariq noch sehr klein gewesen war, wusste er nicht wirklich, wie eine Ehe aussah, und hatte keinen Grund, seinem Vater zu misstrauen.

Wenn er für die Zukunft seines Landes vorsorgen wollte, führte kein Weg an einem Erben vorbei, ob es ihm gefiel oder nicht. Und unabhängig davon, ob die Kandidatinnen, die diesen Erben für ihn bekommen würden, geeignet waren oder nicht.

Und das waren sie nicht; keine Einzige von ihnen.

„Wenn Sie einen Erben wollen, Faisal, müssen Sie mir auch besser geeignete Frauen präsentieren.“

„Es gibt keine besser geeigneten Frauen.“ Seine Ungeduld beeindruckte Faisal offenbar nicht sonderlich. „Da unsere Grenzen geschlossen sind und wir uns von der internationalen Bühne verabschiedet haben, können Sie auch anderswo keine Frau finden.“

Auch damit hatte Faisal leider recht.

Tariq bleckte die Zähne. „Was schlagen Sie vor, wo ich eine Frau finden soll? Auf dem Mond?“

Kaum waren ihm die Worte entwichen, als ihm unvermittelt etwas in den Sinn kam.

Haar in der Farbe von Mondlicht, das unter einem schwarz-weißen Kopftuch hervorschaute. Augen, blau und funkelnd wie die Sterne.

Das ist die Lösung.

Dabei war es auf den ersten Blick eine vollkommen abwegige Idee, die Engländerin zu heiraten, die er in der Wüste gefunden hatte. Eine Frau, die weder reich noch berühmt war. Einen Niemand.

Sie ist nahezu perfekt.

Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los.

Catherine war kein Niemand gewesen, sondern eine reiche Amerikanerin aus einer wohlhabenden Familie, schön und privilegiert. Als der Scheich ihr nicht gegeben hatte, was sie wollte, hatte sie versucht, es stattdessen von seinem Sohn zu bekommen. Sie war gierig gewesen. Sein Vater, der diese Gier erkannt hatte, hatte das Geheimnis seines Landes vor ihr bewahrt. Im Gegensatz zu Tariq.

Als Catherine versprochen hatte, für immer bei ihm zu bleiben, wenn er ihr sagte, wie Ashkaraz so reich geworden war, hatte Tariq es ihr erzählt.

Und noch vor Ablauf einer Woche hatte das Firmenkonsortium ihrer Familie schon begonnen, Druck auf Ashkaraz und sein Parlament auszuüben, nach Förderrechten zu fragen und Leute in den richtigen Positionen zu bestechen.

Die daraus resultierende Auseinandersetzung hatte das Land beinahe in einen Bürgerkrieg gestürzt.

Charlotte Devereaux hatte nur ihren Vater und eine Mutter, zu der kein Kontakt mehr bestand. Keine Brüder oder Schwestern, keine weiteren Verwandten. Niemand würde versuchen, über sie an den Reichtum von Ashkaraz zu gelangen. Und weil sie auch keine Verbindungen nach Ashkaraz hatte, würde keiner hier die Chance haben, sich einen Vorteil zu verschaffen.

Ja. Sie war perfekt.

Und sie gefiel ihm.

Sie in seinem Bett zu haben, wäre nicht das Schlechteste. Eine Möglichkeit, sein körperliches Verlangen zu stillen. Und weil sie eine Fremde war, würde Tariq niemals mehr wollen als das. Sie würde ihn immer an Catherine erinnern. Eine ständige Mahnung, welche Gefahr darin lag, tiefere Gefühle zu empfinden.

Tariqs Regierung würde seine Entscheidung nicht gutheißen. Und die alten Familien, die so gern ihren Einfluss geltend machen wollten, schon gar nicht. Aber es ging nicht um ihre Interessen. Ohnehin hatte er für den ständigen Konkurrenzkampf und die unentwegten Versuche, an die Macht zu gelangen, kein Verständnis.

Tariq ging es darum, sein Volk zu beschützen. Die Regierung würde seine Entscheidung respektieren müssen, ob es ihr gefiel oder nicht.

Fraglich blieb nur, wie er Charlotte Devereaux dazu bringen sollte, auf seinen Vorschlag einzugehen. Die Aussicht, für immer hierbleiben zu müssen, hatte ihr schon nicht gefallen. Da würde der Vorschlag, ihn zu heiraten, sicher nicht auf mehr Gegenliebe stoßen.

Allerdings war Tariq kein dahergelaufener Niemand.

Er war der König.

Und er hatte ihren Vater in seiner Gewalt. Wenn er die Freilassung des Archäologen von ihrer Zustimmung abhängig machte, würde sie Ja sagen müssen.

Er konnte sie in einer Suite im Palast unterbringen lassen, die ihrer künftigen Stellung entsprach, und dank seiner Macht und seines Einflusses würde sie im Luxus leben.

Das war doch sicher besser als eine Wohngemeinschaft in Clapham?

Je mehr Tariq darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm die Idee. Charlotte Devereaux zu heiraten, würde viele seiner Probleme lösen.

Er richtete sich gerade auf. „Vergessen Sie, was ich gesagt habe“, sagte er zu Faisal. „Tatsächlich gibt es doch eine geeignete Kandidatin.“

Faisal ließ sich seine Überraschung nicht oft anmerken, aber jetzt wirkte er doch sehr erstaunt. „Ich dachte, Sie hätten gesagt, es gäbe keine?“

„Eine ist mir plötzlich in den Sinn gekommen.“ Tariq begab sich auf die andere Seite seines Schreibtischs und setzte sich auf seinen Bürostuhl. „Berufen Sie eine Ratssitzung ein“, befahl er und lächelte spöttisch. „Ich habe etwas zu verkünden.“

4. KAPITEL

Sie wurde in einen Raum gebracht, der wie eine Bibliothek eingerichtet war – und da es sich dazu auch noch um eine äußerst schöne handelte, schwand Charlottes Angst zumindest zum Teil.

An den Wänden standen mit Schnitzereien verzierte hölzerne Bücherregale, dazwischen Sofas und Diwans mit bunten Seidenkissen und kleine Teetische. Und wenn einen die Bücher nicht mehr fesselten, gab es immer noch den Ausblick auf den wunderschönen, von Mauern umgebenen Garten mit seinen plätschernden Brunnen.

Selbst mit zwei bewaffneten Wachen auf jeder Seite der Tür war es ein sehr angenehmer Aufenthaltsort. Allerdings wunderte es Charlotte, dass der Scheich sich entschieden hatte, sie gerade hier gefangen zu halten. Nicht, dass sie sich beschweren würde; es war tausendmal besser als die Gefängniszelle, mit der sie gerechnet hatte.

Wie lange sie sich dort aufhielt, wusste Charlotte nicht, aber sie hatte genug Zeit, die Bücherregale durchzuschauen und Werke in englischer Sprache zu finden.

Sie hatte auch genug Zeit, sich zu fragen, was vor sich ging und was der Scheich mit ihr tun würde. Ihm zu drohen, war ein Fehler gewesen. Dabei wusste Charlotte nicht einmal, warum sie es getan hatte. Aber als ihr aufgefallen war, dass sie ihn aus irgendeinem Grund durcheinanderbrachte, war ihr das wohl zu Kopf gestiegen.

Und nun würden sie und ihr Vater dafür bezahlen.

Die Angst, die sie erfolgreich unterdrückt hatte, stieg erneut in ihr auf und hielt an, als die Wachen sie einige Zeit später aus der Bibliothek führten, weitere Gänge entlang, durch Zimmer, Hallen und schließlich durch den Garten mit seinen Säulengängen und Brunnen.

Der Palast des Scheichs – und es musste sein Palast sein – war wunderschön. Zu einer anderen Gelegenheit hätte Charlotte sich nur zu gern näher umgesehen.

Man brachte sie in eine große Suite. Eine doppelflügelige Glastür führte in einen weiteren ummauerten Garten, dieser allerdings etwas kleiner. Auch hier stand ein Brunnen, umgeben von Rosenbeeten und Obstbäumen. Die Wohnräume der Suite waren in verschiedenen Schattierungen von Cremeweiß gefliest. Auf dem Boden lagen bunte Seidenteppiche. Niedrige, mit Kissen bedeckte Sofas luden zum Sitzen ein.

Charlotte versuchte, die Wachen zu fragen, warum sie hier war statt im Gefängnis, doch entweder sprachen sie kein Englisch oder waren angewiesen worden, nicht mit ihr zu reden. Sie verließen die Suite und verschlossen die Tür.

Also war sie immer noch eine Gefangene – in einem goldenen Käfig.

Charlotte sah sich um. In einem der Räume stand ein riesiges Bett mit zahlreichen Kissen, in einem anderen fand sie eine enorme Badewanne und eine große, moderne Dusche.

Warum der Scheich sie hier in diesen Räumen gefangen hielt, die eher für Staatsgäste angemessen waren als für eine illegale Einwanderin, die er bewusstlos in der Wüste gefunden hatte, wusste sie nicht.

Das alles ergab keinen Sinn.

Da sie nichts anderes zu tun hatte, ging Charlotte im Wohnbereich der Suite auf und ab und dachte nach. Sie wusste nicht, was mit ihr oder ihrem Vater geschehen würde. Nur, dass der Scheich sie nicht gehen lassen wollte.

Der Gedanke verstörte sie, vor allem ihres Vaters wegen, auf den in England eine vielversprechende berufliche Karriere, Freunde und Bekannte warteten. Er würde die Nachricht, dass er nicht mehr dorthin zurückkehren konnte, nicht gut aufnehmen.

Besonders, wenn er herausfindet, dass ich daran schuld bin.

Charlotte hatte das Fenster zerschlagen und war geflohen. Wäre sie geblieben, wäre ihr Vater sicher. Vielleicht wären sie schon wieder auf dem Weg zur Grenze, ohne den Hauch einer Ahnung, was in Ashkaraz wirklich vor sich ging.

Ich bin schuld. Das heißt, ich muss das Ganze in Ordnung bringen. Aber wie?

Sie war diejenige, die zu viel gesehen hatte, nicht ihr Vater. Vielleicht konnte sie den Scheich davon überzeugen, ihn gehen zu lassen, wenn sie einwilligte hierzubleiben? Charlotte hatte keine erfolgreiche Karriere, keine Freunde. Niemand würde sie vermissen.

Nicht einmal ihr Vater.

Wenn sie ihm erklärte, sie wolle bleiben, würde ihr Vater sich keine Mühe geben, sie umzustimmen. Sie konnte ihm versichern, dass es ihr Wunsch war, damit er nicht glaubte, sie würde gegen ihren Willen festgehalten. Und auf diese Weise würden selbst die britischen Behörden keinen Grund haben, Ermittlungen anzustellen und den Scheich unter Druck zu setzen.

Ein Schauer überlief sie, als sie von Neuem an ihn dachte. An seine so männliche, machtvolle Präsenz. An seine großen Hände, an die Hitze, die von ihm ausging, an seine harten Muskeln und seine goldenen Augen.

Konnte sie einen Mann wie ihn umstimmen? Milde stimmen?

Wenn sie ihren Vater retten wollte, musste sie es versuchen.

Und was ist mit mir? Ich müsste den Rest meines Lebens in diesem fremden Land bleiben.

Darum würde sie sich später kümmern. Im Moment war nur wichtig, dass ihr Vater davonkam.

Die Zeit verging. Charlotte sah sich weiter in der Suite um, bewunderte die Einrichtung und fragte sich, was draußen gerade vor sich ging.

Endlich näherten sich Schritte, und zwei Frauen betraten den großen Wohnraum. Eine hielt ein Tablett mit Essen in den Händen, die andere trug ein Kleidungsstück aus silberblauem Stoff über dem Arm.

„Heute Abend werden Sie mit Seiner Majestät, Scheich Tariq ibn Ishak Al Naziri, zu Abend essen“, sagte die Frau, die das Tablett gebracht hatte, in fast akzentfreiem Englisch. Sie deutete auf das Kleid, das die andere Frau gerade auf dem Diwan ausbreitete. „Seine Majestät lässt geeignete Kleidung schicken sowie einige Erfrischungen vorweg. Ich werde Sie dann zum verabredeten Zeitpunkt abholen.“

Charlotte starrte die Frau erstaunt an. Kleidung? Erfrischungen? Ein Abendessen?

Was ging hier nur vor sich?

„Aber warum?“, fragte sie. „Und was ist mit meinem Vater? Warum werde ich jetzt hier gefangen gehalten? Was will der Scheich von mir?“

Aber die Frau lächelte nur und schüttelte den Kopf. Dann verließen sie und ihre Begleiterin die Suite.

Offenbar würde niemand Charlottes Fragen beantworten. Also musste sie warten, bis sie den Scheich vor sich hatte. Und sie würde sich nicht wieder von seiner Gegenwart und seiner Ausstrahlung durcheinanderbringen lassen. Dieses Mal würde sie auf Antworten bestehen und verlangen, dass er ihren Vater nach Hause schickte.

Der Gedanke half ihr, sich etwas besser zu fühlen. Sie bediente sich am Essen – Fladenbrot, noch ofenwarm, und würzige Dips, dazu frisches Obst. Nachdem sie gegessen hatte, ging sie ins Bad und entschied sich, von dem Luxus, der sie umgab, Gebrauch zu machen.

Nach einer langen, heißen Dusche wickelte sie sich in ein flauschiges Handtuch und ging zurück ins Wohnzimmer, wo die „geeignete Kleidung“ auf dem Diwan auf sie wartete.

Es handelte sich um ein ausgesprochen hübsches, anscheinend traditionelles Kleidungsstück aus silberblauer Seide, das am Saum mit silbernen Rosen bestickt war. Unter ihren Fingern fühlte sich der Stoff kühl und weich an. Charlotte rang mit sich. Sie wollte dieses Gewand schon allein deshalb nicht tragen, weil der Scheich es angeordnet hatte. Aber über kindlichen Trotz war sie in ihrem Leben hinaus – und sie wollte den Scheich nicht unnötig verärgern. Nicht, wenn das Schicksal ihres Vaters auf dem Spiel stand.

Es war besser, das Gewand zu tragen. Höflich zu sein und dem Scheich zu sagen, was sie wollte.

Außerdem … Sie ließ die Hände erneut über den Stoff gleiten. Es war ein wirklich wunderschönes Kleidungsstück, und sie hatte noch nie etwas Derartiges besessen. Märchenprinzessinnen trugen immer schöne Kleider, und als Kind hätte sie das auch gern einmal getan. Aber ihre Mutter hatte es nicht interessiert, was Charlotte wollte.

Ihre eigenen Kleider waren schmutzig. Und wer wusste, was hinterher mit ihr geschehen würde? Vielleicht hatte sie nie wieder die Gelegenheit, so ein schönes Kleid anzuziehen.

Charlotte ließ das Handtuch fallen und streifte das Gewand über. Es fühlte sich wunderbar glatt und fließend auf ihrer Haut an. Als sie sich im großen Spiegel im Schlafzimmer betrachtete, fand sie, dass sie recht nett aussah. Geduscht und in sauberer Kleidung fühlte sie sich auch deutlich besser.

Wenn sie vorhatte, den Scheich um einen Gefallen zu bitten, war es sicher nicht schlecht, anständig auszusehen.

Eine ganze Weile geschah nichts. Charlotte vertrieb sich die Zeit, indem sie ein wenig auf dem Sofa döste.

Als die Sonne langsam unterging, klopfte es an der Tür. Die Frau, die vorhin mit ihr gesprochen hatte, trat ein.

Charlotte setzte sich auf und hielt der Musterung stand, der sie unterzogen wurde. Das zustimmende Nicken half ihr, sich noch ein wenig besser zu fühlen.

„Seine Majestät wartet auf Sie“, sagte die Frau. „Bitte folgen Sie mir.“

Charlotte tat es. Als sie die Suite verließen, wurden sie von zwei Wachen flankiert.

Wieder ging es durch Flure, über Treppen und durch verschiedenste Türen. Schließlich erreichten sie den Garten mit den Kolonnaden, den sie schon vorhin gesehen hatte. Die Luft war so kühl und weich wie die Seide, die Charlotte auf der Haut trug, und erfüllt von zartem Blumenduft und dem Plätschern des Wassers.

Die Frau führte Charlotte zum Brunnen in der Mitte des Gartens, blieb dort stehen und deutete mit der Hand geradeaus.

Charlotte hielt den Atem an.

Vor ihr, im Zwielicht, stand ein kleiner Tisch, auf dem Teelichter in gläsernen Behältnissen brannten. Ihr Licht fiel auf die Kissen, die ringsum verteilt lagen, und das Essen, das auf dem Tisch angerichtet war – aufgeschnittenes Fleisch, Dips, Fladenbrot und verschiedene Kleinigkeiten.

Es wirkte wie eine Szene aus Tausendundeiner Nacht, und einen Moment lang konnte Charlotte sich kaum sattsehen.

Dann bemerkte sie den Mann, der in den Kissen ruhte und sie beobachtete. Als sie näherkam, erhob er sich mit einer fließenden, anmutigen Bewegung, bis er über dem Tisch und ihr aufragte. Die Kerzenflammen ließen seine goldenen Augen funkeln.

Diesmal trug der Scheich nicht Hemd und Anzug, sondern schwarze Gewänder, am Saum mit Goldfäden bestickt. Sie standen ihm ausgezeichnet.

Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, der Charlottes Herz schneller schlagen ließ. Er schien nicht länger wütend zu sein. Vielmehr wirkte er entschlossen – als hätte er eine Entscheidung getroffen. Aber welche?

„Willkommen, Miss Devereaux.“ Seine Stimme floss über sie hinweg, dunkel und weich und glatt. „Danke, dass Sie gekommen sind.“

Charlotte widerstand dem Drang, nervös ihr Gewicht zu verlagern, als er sie einer genauen Musterung unterzog. Sie hatte den Eindruck, ihm gefiel, was er sah.

„Es ist ja nicht so, als hätte ich eine Wahl gehabt.“

Einen Moment lang hoben sich seine Mundwinkel, und Charlotte konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Sein Lächeln war atemberaubend.

„Das stimmt“, sagte er. „Aber ich bin froh, dass Sie gekommen sind, ohne dass ich Sie herschleifen lassen musste.“

Was bedeutete, dass er sie tatsächlich hätte herschleifen lassen, wenn sie sich geweigert hätte.

Charlotte holte tief Luft. Am besten brachte sie es gleich hinter sich. „Majestät“, begann sie höflich, „ich habe nachgedacht, und ich möchte …“

„Bitte“, unterbrach sie der Scheich. „Setzen Sie sich.“

„Nein, danke.“ Charlottes Handflächen waren feucht. Sie musste loswerden, was sie zu sagen hatte, bevor sie ihre Meinung doch noch änderte. „Ich weiß, Sie haben sich entschieden, meinen Vater und mich nicht gehen zu lassen, aber ich möchte eine Bitte an Sie richten.“

Sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. „Ist dem so?“

„Ja, ich denke …“

„Setzen Sie sich, Miss Devereaux. Wir werden während des Essens darüber sprechen.“

„Nein. Ich muss es Ihnen jetzt sagen.“ Ein wenig zittrig holte sie Atem. „Wenn Sie meinen Vater gehen lassen, dann bleibe ich hier. Und zwar freiwillig.“

Tariq sagte nichts. Er betrachtete Charlotte Devereaux’ blasses Gesicht. Ganz offensichtlich hatte sie während der Stunden, die sie in der Suite der Königin verbracht hatte, nachgedacht. Und er musste ihren Mut bewundern. Es konnte nicht leicht sein, sich mit dem Gedanken abzufinden, den Rest ihres Lebens in einem fremden Land zu verbringen.

Sie würde diesen Mut brauchen in der Rolle, die er für sie vorgesehen hatte.

Wie sie dort in dem Gewand, das er für sie ausgesucht hatte, stand, gab sie ein sehr hübsches Bild ab. Das Silberblau der Robe passte zu ihrer blassen Haut und betonte ihre Augenfarbe. Offenbar hatte sie ihr Haar gewaschen, und es fiel ihr weich und lose in leichten Wellen über die Schultern.

Gut, dass sie sich entschieden hatte, das Kleid zu tragen.

Wie Tariq erwartet hatte, war sein Rat in heller Aufregung gewesen, als er verkündet hatte, er würde heiraten. Ganz bewusst hatte er ihr dieses Gewand schicken und sie anschließend einmal durch den gesamten Palast führen lassen, damit alle sehen konnten, wie elegant sie darin aussah.

Er hatte zwar nicht wissen können, ob sie überhaupt zum Essen erscheinen würde, aber er hatte darauf gezählt, dass die berühmte britische Höflichkeit sie davon abhalten würde, eine Szene zu machen. Er hatte recht behalten.

Und jetzt hatte sie sogar angeboten, freiwillig zu bleiben, wenn er ihren Vater gehen ließ. Das würde die Dinge sehr erleichtern.

Nicht so voreilig. Noch weiß sie nichts von der Heirat.

Tariq hatte gehofft, sich mit seinem Vorschlag Zeit lassen zu können, sie mit dem köstlichem Essen aus seiner Küche und dem Wein aus seinem Weinkeller milde zu stimmen.

Doch als er die Angst in ihren Augen sah, begriff er, dass es wohl doch keine gute Idee war zu warten. Sie stand sehr gerade da, als wollte sie sich gegen einen Schlag wappnen. Vielleicht sollte er ihn führen. Schnell und sauber.

Das Kerzenlicht ließ ihr Kleid und ihr hübsches Haar glänzen. Sie leuchtete wie ein Mondstrahl. Und irgendetwas rührte sich in ihm – etwas, das sich verdächtig wie Mitgefühl anfühlte.

Das war nicht gut. Er konnte es sich nicht erlauben, mitfühlend zu sein. Das war ihm Catherine gegenüber schon zum Verhängnis geworden. Beim Anblick ihrer Tränen war sein Herz weich geworden.

Das würde nicht noch einmal geschehen.

Er musste hart sein. Kalt. Skrupellos.

„Das ist ein mutiger Vorstoß“, sagte er. „Sie ändern Ihre Meinung vielleicht, wenn Sie meinen Gegenvorschlag hören.“

Überrascht blinzelte sie. „Ihren ‚Gegenvorschlag‘?“

Tariq deutete auf die Kissen. „Setzen Sie sich, Miss Devereaux.“

Er gab sich keine Mühe zu verschleiern, dass es ein Befehl war. Nach kurzem Zögern ließ sie sich unbeholfen auf den Kissen nieder.

Zufrieden setzte auch er sich wieder hin, schenkte ihr ein Glas Weißwein ein und füllte ihren Teller mit Delikatessen.

In Ashkaraz warb ein Mann um eine Frau, indem er Speisen für sie zubereitete. Genau das war der Grund für dieses Abendessen. Alle sollten wissen, welche Absicht er verfolgte. Aber Tariq war auch aufgefallen, wie blass sie war, und sie brauchte mehr zu essen als den kleinen Imbiss, den er ihr aufs Zimmer hatte schicken lassen. Angesichts dessen, was er ihr sagen würde, war es besser, wenn sie etwas im Magen hatte.

Er schob ihr das Weinglas hin, dann den Teller. „Sie sollten etwas essen.“

Störrisch presste sie die hübschen Lippen aufeinander. „Nein, danke. Ich habe keinen Hunger.“ Ihr Kinn blieb kühn erhoben. In ihren Augen lag eine kämpferische Entschlossenheit.

Beinahe musste Tariq lächeln. „Wenn Sie sich mir widersetzen wollen, gibt es dazu bessere Wege.“

Röte bedeckte ihre Wangen. „Ach ja? Und die wären?“

„Wenn Sie denken, ich würde Ihnen das verraten, irren Sie sich.“

Charlotte Devereaux kniff die Augen zusammen. „Verzeihung, Majestät, aber was soll das alles? Dieses Abendessen? Die Luxussuite, in der Sie mich haben einquartieren lassen? Dieses … Kleid ?“ Mit einer zarten Hand berührte sie den bestickten Saum ihres Gewandes, strich mit den Fingern darüber. Tariq konnte sehen, dass ihr die Robe gefiel, obwohl sie das bestimmt nicht zugeben würde. „Ich dachte, ich wäre Ihre Gefangene.“

„Wenn Sie wirklich eine Gefangene wären, würden Sie in einer Zelle sitzen.“

„Aber Sie haben gesagt, ich müsste für immer hier…“

„Das ist ein Teil des Vorschlags, den ich Ihnen unterbreiten werde“, unterbrach er sie. „Aber vielleicht sollten Sie einen Schluck Wein trinken und etwas essen, bevor wir darüber sprechen.“

Ihre Augen sprühten förmlich Funken. „Wie gesagt, ich habe keinen Hunger.“

Nun, wenn sie partout nicht essen wollte, würde er sie nicht dazu zwingen. Oder die Unterhaltung länger ausdehnen als nötig.

Ohnehin hatte er doch eigentlich unmittelbar zur Sache kommen wollen. Was war aus diesem Vorsatz geworden?

Es war etwas dazwischengekommen. Sie. Ihr blasses Gesicht. Das Mitgefühl, das sie in ihm weckte, ob er es wollte oder nicht.

„Dann essen Sie eben nichts.“ Erneut verdrängte Tariq diese irritierende Empfindung. „Letztlich macht es keinen Unterschied.“

Sie runzelte die Stirn, sagte aber nichts, sondern blieb sitzen, aufrecht und gefasst. Wie es die Herrscherin meines Landes sein sollte.

„Die Sicherheit meines Landes ist für mich von äußerster Wichtigkeit, Miss Devereaux“, begann Tariq und hielt den Blickkontakt aufrecht, damit sie sah, wie ernst er es meinte. „Und Ashkaraz zu beschützen, ist meine Aufgabe als König – eine Aufgabe, die ich sehr ernst nehme. Wenn die Sicherheit meines Landes gefährdet ist, muss ich gewisse Schritte unternehmen.“

„Wie mich hierzubehalten, obwohl ich keine Bedrohung für Sie bin?“

Sie war noch immer wütend. Daraus konnte er ihr keinen Vorwurf machen. Aber sie kannte die Geschichte dieses Landes nicht.

Oder die Rolle, die Tariq darin gespielt hatte.

„Nicht Sie entscheiden, was eine Bedrohung für Ashkaraz ist.“ Er gab sich keine Mühe, die Kühle in seiner Stimme zu kaschieren. „Mein Urteil ist es, das zählt.“

Wieder röteten sich ihre Wangen, aber sie wandte den Blick nicht ab. „Sie haben von bestimmten Schritten gesprochen. Welche sind das?“

„Sie hierzubehalten, ist einer davon. Aber mein Königreich sieht sich noch anderen Bedrohungen gegenüber, die mit Ihnen nichts zu tun haben.“

„Also gut. Das verstehe ich. Aber wieso die Einladung zum Abendessen?“

„Ein Königreich kann sich auch Bedrohungen von innen gegenübersehen. Es gibt bestimmte Familien, die nur ihre eigenen Interessen verfolgen statt die sämtlicher Menschen dieses Landes.“ Erneut stieg Ärger in ihm auf. Ein kalter, entsetzlicher Ärger über die Sorte von Allianzen, die allein zum persönlichen Nutzen geschlossen wurden. „Ich werde das nicht zulassen“, fuhr er fort. „Ich werde keine Spaltung meines Rats oder meiner Regierung dulden, und ich werde keiner Familie den Vorrang einräumen.“

Mittlerweile wirkte Charlotte Devereaux etwas weniger kämpferisch. Stattdessen las er eine lebhafte Neugier in ihrem Blick. „Nein, vermutlich nicht. Ich bin mir nur nicht sicher, was das mit mir zu tun hat.“

„Wenn Sie mich ausreden lassen, werde ich es Ihnen erklären.“

„Ich habe Sie nicht unterbrochen. Aber bitte, fahren Sie fort.“

Sie griff nach dem Weinglas, hob es und nahm einen vorsichtigen Schluck. Dann schaute sie auf den Teller herab, der vor ihr stand, nahm sich eine Olive und steckte sie in den Mund.

Offenbar war sie doch hungriger, als sie eingeräumt hatte. Tariq verspürte eine grimmige Befriedigung, dass sie endlich das Essen aß, das er für sie hatte bringen lassen.

„Ich brauche eine Ehefrau, Miss Devereaux“, sagte er und beobachtete sie dabei genau. „Die Erbfolge muss gesichert werden, und mein Rat wünscht, dass dies möglichst bald geschieht. Aber ich werde nicht einer einzelnen Partei den Vorzug geben – was bedeutet, dass ich keine Frau aus meinem eigenen Land heiraten kann. Es gibt jede Menge Kandidatinnen, aber nicht eine ist geeignet.“

Sie runzelte die Stirn und legte den Olivenkern auf den Teller, dann aß sie eine zweite Olive. „Das ist ungünstig. Können Sie nicht im Ausland eine Frau finden?“

„Unsere Grenzen sind geschlossen. Nein, das kann ich nicht.“

„Das ist sogar äußerst ungünstig.“ Sie war mit der Olive fertig und nahm sich ein Stück Fladenbrot, das sie in Hummus stippte. „Gibt es denn niemanden, der infrage käme?“

„Nicht unter den Kandidatinnen, die man mir nahegelegt hat. Sie alle haben Familien, die nach Macht und Einfluss gieren.“

„Können Sie nicht einfach Nein sagen?“

Ihre Miene zeigte keinen Ärger mehr. Stattdessen schien Charlotte Devereaux auf die Lösung seines Problems konzentriert zu sein. Und falls es ihr seltsam vorkam, dass Tariq dies alles mit ihr besprach, ließ sie es sich nicht anmerken.

Warum erkläre ich mich ihr? Ich bin König, mein Wort ist Gesetz. Ich sollte ihr einfach sagen, dass ich sie heiraten werde, Punktum.

Diese Gedanken machten Tariq zu schaffen. Er rechtfertigte sich vor ihr und wusste nicht einmal, warum.

Vielleicht wegen ihrer Angst. Wegen ihrer Entschlossenheit. Und wegen der Art, wie sie abwesend zu essen begann, obwohl sie ihm gesagt hatte, sie sei nicht hungrig.

An ihr war etwas Natürliches, Unschuldiges, das er anziehend fand. Es war das Gegenteil dessen, was er von den Menschen, die ihn umgaben, gewohnt war. Alle anderen wollten etwas von ihm. Sie logen und versuchten, ihn zu manipulieren, wie Catherine es getan hatte.

Kein Wunder, dass sein Vater ihn gelehrt hatte, distanziert zu bleiben. Sich nur auf sein eigenes Urteilsvermögen zu verlassen und nichts und niemandem zu gestatten, ihn von seinem Kurs abzubringen – schon gar nicht dem eigenen Herzen.

Früher hatte Tariq geglaubt, sein Vater sei im Unrecht. Bevor Catherine ihn des Gegenteils gelehrt hatte. Nun bestand sein Herz aus kaltem Marmor. Nichts drang hinein. Nichts konnte es erweichen.

Und wieso empfinde ich dann solches Mitgefühl für sie?

Das wusste er nicht. Aber es gefiel ihm nicht.

„Ich kann mich nicht einfach weigern“, sagte er. „Nicht einfach so. Das würde nur noch mehr Unstimmigkeiten verursachen, daher muss ich vorsichtig sein.“

Sie runzelte die Stirn. „Wie wollen Sie denn dann eine Frau finden?“

Hatte sie wirklich keine Ahnung, worauf er hinauswollte?

Aber in ihrem Gesicht lag nichts als aufrichtige Verwirrung. „Ich habe eine gefunden.“

Erst in diesem Moment flackerte etwas in ihren Augen – ein Hauch von Vorsicht. „Ach so?“

Er starrte sie an. „Wollen Sie mich nicht fragen, wer sie ist?“

Ihr Mund öffnete sich und schloss sich wieder. Dann senkte sie rasch den Blick und starrte auf ihren Teller. Das Kerzenlicht betonte ihre Blässe, ließ sie ätherisch und zerbrechlich erscheinen.

Erneut musste Tariq gegen diese ungewohnte Sympathie ankämpfen, die er für sie empfand. Dieses Gefühl durfte in ihm niemals wieder Wurzeln schlagen.

Das Schweigen hielt an. Er wartete.

Sie hatte es erraten, dessen war er sich sicher, aber er wollte, dass sie es laut aussprach.

„Sie können unmöglich …“ Sie sah dabei nicht auf. „Sie können unmöglich mich meinen.“

„Kann ich nicht?“

Ihre Wimpern flatterten. Einen Moment lang saß sie ganz still, und ihre Anspannung war unübersehbar.

„Ich verstehe nicht“, sagte sie schließlich.

„Was gibt es da zu verstehen? Ich brauche eine Frau, Miss Devereaux. Ich muss die Erbfolge sichern und meinen Rat zufriedenstellen. Und ich muss die einflussreichen Familien, die hoffen, ihren Gewinn aus dieser Situation zu ziehen, in ihre Schranken weisen.“ Er machte eine Pause, um sicherzugehen, dass keinerlei Gefühle seine Stimme färbten. „Nur gab es keine geeignete Kandidatin. Bis Sie aufgetaucht sind. Sie sind perfekt.“

Schweigen, schon wieder, unterbrochen nur durch das Plätschern des Brunnens. Charlotte Devereaux blieb reglos, den Blick auf den Tisch gerichtet.

„Sie haben außer Ihrem Vater keine Angehörigen“, fuhr er fort. „Und vor allem keine Familie hier . Was bedeutet, niemand wird Sie benutzen, um sich Macht und Einfluss zu verschaffen. Sie sind eine Ausländerin ohne Verbindungen, und das ist ideal.“

Sie schluckte. „Aber … aber ich bin nur eine Frau, die Sie in der Wüste gefunden haben. Ein Niemand.“

„Genau das ist der Grund, weshalb Sie perfekt sind.“

Auf einmal blickte sie auf, und er glaubte, einen Hauch von Schmerz in ihren Augen zu sehen. Aber dann trat Ärger an dessen Stelle.

„Sie können mich nicht heiraten. Es tut mir leid, aber das ist einfach nicht möglich.“

„Nennen Sie mir einen guten Grund.“

„Sie sind ein Fremder für mich!“ Ihre Wangen glühten rot. „Wir haben uns erst diesen Morgen kennengelernt.“

Ihm gefiel ihr Temperament. Er mochte starke Frauen, und Zorn war besser als Angst.

„Sich gut zu kennen, ist keine Voraussetzung für eine königliche Ehe“, sagte er ruhig. Das würde sie zweifellos ärgern, aber damit wurde er fertig. „Und wir werden genug Zeit haben, einander kennenzulernen.“

„Sie gehen einfach davon aus, ich würde zustimmen“, erwiderte sie. „Nun, nur damit Sie es wissen: Das werde ich nicht. Und Sie können mich nicht dazu zwingen.“

Er wünschte, er müsste es nicht tun. „ Au contraire , Miss Devereaux. Ich kann Sie sehr wohl dazu zwingen. Wenn Sie nicht einwilligen, wird Ihr Vater als mein Gefangener hierbleiben müssen. Genau wie Sie.“

Die Röte auf ihren Wangen vertiefte sich. „Also werden Sie meinen Vater als Druckmittel benutzen, um mich tatsächlich zu dieser Heirat zu zwingen? Wollen Sie das damit sagen?“

Einen Moment lang gestattete er sich einen Hauch von Bedauern, dass er ihr das antun musste und sie nicht einfach zurück nach England schicken konnte, zusammen mit ihrem Vater.

Aber er konnte sie nicht in ihr altes Leben zurückkehren lassen. Seinem Land gegenüber hatte er die Pflicht, den Fehler wiedergutzumachen, den er vor so vielen Jahren begangen hatte – als er seine Gefühle an erste Stelle gesetzt hatte und nicht das Wohl seines Volkes.

„Ja“, sagte er mit harter Stimme. „Genau das will ich damit sagen.“

„Was ist mit mir? Mit meinen Wünschen? Was, wenn ich Sie nicht heiraten will?“

Er begegnete ihrem wütenden Blick ungerührt. „Ich fürchte, Sie haben keine Wahl. Wenn Sie nicht zustimmen, werde ich Ihren Vater hierbehalten“, wiederholte er lakonisch.

Sie holte tief Atem. Zwischen zusammengebissenen Zähnen sagte sie: „Dann wird er eventuell hierbleiben müssen. Vielleicht gefällt es ihm sogar. Er könnte dieses Abenteuer genießen.“

Das war ein Bluff, und sie wussten es beide.

„Wollen Sie behaupten, dass es Ihrem Vater gefallen würde, vom Rest der Welt isoliert zu sein? Seine Professur zu verlieren? Er genießt in der akademischen Welt Respekt – und er ist an einen regen intellektuellen Austausch mit Gleichgesinnten gewöhnt. Wie würde er damit zurechtkommen, wenn er plötzlich davon abgeschnitten wäre? Und was würde er zu Ihrer Entscheidung sagen? Denn so, wie ich die Entscheidung für Sie treffe, treffen Sie sie für ihn.“

Sie presste ihre verlockend geschwungenen Lippen fest zusammen. Unbändiger Ärger loderte in ihren Augen, und im Moment wirkte Charlotte Devereaux nicht mehr wie ein Mondstrahl, sondern wie ein tobender Sturm, Blitz und Donner. Eine leidenschaftliche Frau.

Und Tariq würde Vergnügen daran haben herauszufinden, wie leidenschaftlich sie sein konnte.

Sie ahnte hoffentlich nichts von seinen Gedanken, als sie wütend sagte: „Sie haben auf alles eine Antwort, nicht wahr?“

„Aber ja. Ich bin der König.“ Tariq senkte seine Stimme. „Es wird nicht so schlimm werden, ya amar . Als meine Frau werden Sie Königin sein. Sie können Ihr Leben führen, wie Sie es wollen, solange sie weder dieses Land noch die Menschen darin bedrohen.“

Davon zeigte sie sich wenig beeindruckt. „Aber letztlich werde ich noch immer Ihre Gefangene sein.“

„Sie werden meine Gefangene sein, ob Sie mich nun heiraten oder nicht.“ Langsam war Tariqs Geduld am Ende. Die Menschen taten in aller Regel, was er wollte, und wenn er ihnen befahl zu springen, fragten sie, wie hoch. Sie lamentierten nicht herum und hatten ständig Widerworte. „Die einzige Frage, die Sie für sich beantworten müssen, Miss Devereaux, ist folgende: Wie soll der Käfig aussehen, der sie umgeben wird?“

5. KAPITEL

Charlotte saß dem Scheich gegenüber. Sie konnte einfach nicht glauben, was er gesagt hatte.

Ihn heiraten? Den König heiraten?

Ihr Herz flatterte wie ein zorniger Vogel in ihrer Brust, und ihr Puls ging viel zu schnell.

Er hatte erklärt, warum er sie gewählt hatte, doch es ergab noch immer keinen Sinn.

Ja, sie war ein Niemand ohne Verbindungen – eine Ausländerin. Aber musste er unbedingt betonen, wie allein und unbedeutend sie war? Oder wollte er, dass sie sich allein fühlte? Sodass ihr keine Wahl blieb, als ihn zu heiraten?

Sie fröstelte. Im Moment konnte sie an nichts anderes denken als an ihre Eltern, wie sie einander anschrien. Und wenn sie nicht gerade schrien, herrschte dieses fürchterliche Schweigen, bitter und voller Groll.

Nicht alle Ehen verliefen so, das wusste sie, aber die Ehe ihrer Eltern hatte ihr gereicht. Charlotte wollte nicht heiraten. Und nichts, was sie bisher gesehen hatte, konnte sie umstimmen. Der Antrag dieses wildfremden Mannes tat es auch nicht.

Sie wollte weder ihn heiraten noch sonst jemanden.

Aber mir bleibt vielleicht keine Wahl.

So sah es zumindest aus. Der Scheich nahm den Schutz seines Landes sehr ernst. Was er darüber gesagt hatte, konnte sie nachvollziehen, und sie fand die Überzeugung, die sie in seinen Augen gesehen hatte, faszinierend.

Aber dann hatte er all ihre potenzielle Sympathie im Keim erstickt, als er ihr gesagt hatte, er wolle sie heiraten.

Jetzt schaute er sie an, und ihr Ärger schien ihn nicht zu beeindrucken. Sein Gesichtsausdruck war unlesbar, sein goldener Blick kühl. Ein bisschen sah er aus wie ein Gott der Antike, der ihre Seele wog, um darüber zu entscheiden, ob Charlotte in den Himmel oder in die Hölle kommen würde.

Allerdings blieb die Entscheidung ihr überlassen. Oder vielmehr die Illusion einer Entscheidung. Entweder heiratete sie ihn, oder er behielt ihren Vater hier.

Das ist auch nichts anderes, als ich ihm vorhin vorgeschlagen habe: dass ich hierbleibe, wenn Dad freikommt.

Doch, es war etwas anderes. Vorher war sie davon ausgegangen, sie könnte sich hier ein eigenes Leben aufbauen. Und obwohl sie nicht wirklich detailliert darüber nachgedacht hatte, war es ihr zumindest nicht so schrecklich endgültig erschienen wie eine Ehe.

Einen Moment stellte sie sich vor, wie es wäre, etwas für sie absolut Untypisches zu tun – etwas Gewaltsames, wie ihm den Inhalt ihres Weinglases ins Gesicht zu schütten oder den Tisch umzustoßen, aber das erinnerte sie viel zu sehr an das Verhalten ihrer Eltern, also ignorierte sie den Impuls.

Stattdessen zwang sie sich, still und gerade dazusitzen. „Und wenn ich mich entscheide, lieber eine Gefangene zu bleiben als Sie zu heiraten?“

Er zog die Augenbrauen zusammen. Charlotte stockte beinahe der Atem. In seinem schwarzen Gewand wirkte er streng und unnahbar, und das leichte Stirnrunzeln verstärkte diesen Eindruck noch.

„Dann können Sie gern in die Zelle zurückkehren, aus der Sie geflohen sind.“ Seine Stimme war dunkel und unergründlich wie der Ozean. „Und Ihr Vater mit Ihnen.“

Ein Zittern durchlief sie. In diese kleine, enge, nackte Zelle zurückkehren? Mit dem Eimer in der Ecke und dem harten Bett? Und ihrem Vater würde dasselbe bevorstehen? Damit würde er nicht zurechtkommen. Der Scheich hatte recht, es wäre schrecklich für ihren Vater, sein Leben in England aufgeben zu müssen, seine Arbeit und den Austausch mit seinen Kollegen.

Noch etwas, für das er mir die Schuld geben kann.

Charlotte schluckte. Sie hatte so sehr versucht, ihm eine gute Tochter zu sein, aber manchmal fragte sie sich, ob es je reichen würde. Vielleicht würde sie, wenn sie hierblieb und den Scheich heiratete, endlich nicht länger in seiner Schuld stehen.

Oh Gott, ziehe ich ernsthaft in Erwägung, diesen Mann zu heiraten?

Vielleicht. Vielleicht würde es nicht so schlimm werden, wie sie dachte. Ihre Eltern hatten geglaubt, verliebt zu sein, und eben deshalb war alles so eskaliert – das zumindest hatte ihr Vater gesagt.

Liebe, die sich in ihr Gegenteil verkehrte, war eine Katastrophe.

Diese Ehe würde anders sein als die ihrer Eltern. Sie kannte diesen Mann kaum. Lieben tat sie ihn schon gar nicht. Damit konnte sich auch nichts in sein Gegenteil verkehren; sie fühlte nichts für ihn.

Das ist eine Lüge.

Charlotte ignorierte die innere Stimme. Ihre Hände zitterten, als sie nach ihrem Weinglas griff und einen Schluck der kühlen Flüssigkeit nahm. Der Wein war angenehm trocken, wie sie ihn am liebsten mochte.

Der Scheich schaute sie weiter aus seinen Raubtieraugen an.

„Warum das alles?“, entfuhr es ihr schließlich. „Das Abendessen? Das Kleid? Warum machen Sie sich überhaupt die Mühe, mich zu fragen? Wenn Sie mich einfach zum Altar zerren und meine Zustimmung erzwingen können?“

„Weil ich kein Monster bin – auch, wenn ich vielleicht wie eins wirke. Und ich dachte, Sie hätten gern zumindest den Anschein einer Wahl.“

Sie stellte das Glas ab. Ein wenig Wein spritzte dabei auf den Tisch. „Das ist doch Augenwischerei.“

Er neigte den Kopf und beobachtete sie dabei. „Sie sind wütend.“

„Natürlich bin ich das.“

„Wütend, nicht verängstigt. Warum?“

Darauf wollte Charlotte nicht antworten. Denn sie hegte den Verdacht, dass sie sich in Wirklichkeit doch fürchtete, und wenn sie darüber nachdachte, würde sie sich ducken und davonhuschen wie ein angstvolles Mäuschen. Und das konnte sie nicht tun. Nicht vor einem Jäger wie ihm.

Stattdessen raffte sie all ihren Mut zusammen und hob ihr Kinn. „Es hat keinen Zweck, Angst zu haben, oder? Angst bringt mich nicht weiter.“

„Ärger auch nicht“, bemerkte er. „Auch wenn Ärger die nützlichere Emotion ist.“

„Ich finde ihn zurzeit nicht besonders nützlich. Besonders, da ich annehme, dass es meinen Tod zur Folge hätte, Ihnen Wein ins Gesicht zu schütten.“

Unerwartet flackerte etwas in seinem Blick auf. Es verschwand zu schnell, um es benennen zu können, aber sie sah das Glitzern in seinen Augen, feurig heiß und ganz anders als die stählerne Entschlossenheit zuvor.

Es war beinahe, als ob er ihren Ärger mochte . Das war ein bizarrer Gedanke, aber sie konnte ihn nicht abschütteln. Und aus unerfindlichen Gründen gab ihr das neuen Mut.

„Ich würde es nicht empfehlen.“ In seiner dunklen Stimme klang etwas mit, das sie nicht so recht deuten konnte. „Dann willigen Sie also ein?“

Finster sah Charlotte ihn an. „Ist es wichtig, ob ich einwillige?“

„Nein.“ In dem Wort lagen weder Genugtuung noch Mitgefühl.

„Warum dann …“ Sie deutete auf den Tisch, auf das Gewand. „All das?“

Das Glitzern in seinen Augen war noch immer da, und die Art, wie er sich in den Kissen zurücklehnte, groß, muskulös und gefährlich, jagte ihr einen Schauer den Rücken hinunter.

Dieser Mann würde ihr Ehemann werden.

Und das heißt auch …

Es hätte ihr früher in den Sinn kommen sollen, die Erkenntnis, dass Ehe nicht nur einen leeren Schwur bedeutete. Ehe brachte noch etwas anderes mit sich. Etwas, mit dem sie keinerlei Erfahrung hatte.

Sex.

Tief in ihr regte sich etwas. Angst. Aber da war auch noch etwas anderes, etwas, das mit der Hitze seines Körpers zu tun hatte, dem Gefühl seines Arms unter ihrer Hand. Mit dem Raum, den er einnahm, seiner körperlichen Präsenz …

Charlottes Mund wurde trocken, und sie wollte den Blick abwenden. Auf einmal war sie sich sicher, dass er ihre Gedanken lesen konnte. Seine goldenen Augen sahen alles.

Sie griff wieder nach dem Weinglas und nahm einen Schluck, um ihren Mund zu befeuchten. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Sicher wollte er doch nicht mit ihr schlafen? Charlotte war nicht schön. Sie hatte keine Erfahrung. Als König konnte er wahrscheinlich zwischen den attraktivsten Frauen seine Auswahl treffen, und bestimmt würde er Charlotte nicht einmal in Betracht ziehen, wenn sie nicht plötzlich vor ihm in der Wüste erschienen wäre.

Er hatte gesagt, dass er die Erbfolge sichern wollte, aber trotzdem …

„Sie haben eine Frage?“ Seine Stimme hüllte sie ein, samtweich, als wüsste er genau, was sie dachte. „Fragen Sie.“

Aber sie konnte nicht. Weil sie nicht wusste, was sie tun würde, unabhängig davon, wie die Antwort lautete.

Wahrscheinlich vor Verlegenheit explodieren.

„N-nein“, stotterte sie. „Keine Fragen.“

Sie zwang sich, seinem Blick zu begegnen. Und verstand nicht, warum seine Augen so glitzerten. Warum er sie so eindringlich musterte.

„Öffnen Sie den Mund, ya amar “, sagte er leise.

Das war nicht das, was sie zu hören erwartet hatte, und es überraschte sie – so sehr, dass sie bereits den Mund geöffnet hatte, bevor sie begriff, was sie tat.

Sofort machte sie ihn wieder zu und sah den Scheich misstrauisch an. „Wieso?“

Er beugte sich vor und nahm eine Erdbeere aus einer silbernen Schüssel. „Es ist in Ashkaraz Sitte, dass der künftige Bräutigam seine Braut füttert. Öffnen Sie den Mund, Miss Devereaux, und erklären Sie auf diese Weise Ihr Einverständnis.“

Diesmal war ihr klar, was das Glitzern in seinen Augen bedeutete: eine Herausforderung. Und obwohl sie ihm eigentlich nicht gehorchen wollte, spürte sie den Drang, darauf zu antworten.

Es war nur eine dumme Erdbeere. Hier mochte es so Sitte sein, aber ihr bedeutete die Geste nichts.

Es bedeutet, dass ich ihn heiraten werde.

Ihr blieb keine Wahl. Und wenn sie für immer hierbleiben musste, dann lieber als Königin als in einer Zelle als Gefangene.

Und wer weiß? Als Königin konnte sie vielleicht etwas an den Umständen ändern. Den Scheich davon überzeugen, die Grenzen zu öffnen, sodass sie schließlich nach Hause zurückkehren konnte. Sie musste sich nicht für den Rest ihres Lebens seinen Wünschen beugen.

Charlotte sah ihn an. Mit ihrem Blick ließ sie ihn wissen, dass sie sich nicht einfach gehorsam ergeben würde, ganz gleich, was er dachte. Dann beugte sie sich ein wenig vor und öffnete den Mund.

In seinen Augen flammte Glut auf. Tief im Inneren wusste sie, was das bedeutete, und ihr Herz fing an, heftig zu pochen. Sie sah nichts mehr außer ihm.

Er hielt ihr die Erdbeere hin, berührte damit ihren Mund, fuhr spielerisch über ihre Unterlippe. Charlottes Lippen fühlten sich seltsam empfindlich an, und ein kleines Zittern durchlief ihren Körper.

Er tat es wieder, dann steckte er ihr die Erdbeere vorsichtig in den Mund. „Essen Sie, ya amar “, befahl er, und sie tat es und schmeckte betörende Süße. Er zog die Hand zurück. Seine Fingerspitzen berührten dabei ihre Unterlippe und hinterließen ein Prickeln.

Charlotte schluckte den Bissen hinunter. Noch immer konnte sie die Berührung fühlen.

Was auch immer der Scheich in ihrem Gesicht sah, schien ihn zufriedenzustellen. Der heiße, goldene Glanz in seinen Augen ließ nicht nach.

Sie wollte nicht darüber nachdenken, warum ihr Mund sich so empfindlich anfühlte, warum ihr Herz so schnell schlug. Warum sie im tiefsten Inneren ein Sehnen spürte.

„Nun?“, sagte sie und versuchte, so zu tun, als sei nichts. „Ist das alles, was ich machen muss?“

Er ließ die Hand sinken. „Ja, das ist alles.“

„Gut.“

Ihre Hände zitterten. Das war ihr unangenehm. Auf einmal wollte sie allein sein, irgendwo anders, nicht hier. Nicht bei ihm.

„Ich … ich bin müde, Majestät. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gern …“ Sie deutete auf die Tür, die in den Palast führte, und stand dann unbeholfen auf, ohne auf seine Zustimmung zu warten.

Er erhob sich, deutlich anmutiger als sie, und kam um den Tisch herum. „Nein, gehen Sie ruhig.“

Charlotte trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als würde es helfen, Abstand zwischen sie beide zu bringen. Als würde das den Aufruhr in ihrem Inneren mindern, diese verwirrenden Gefühle, die sie nicht wollte. „Ich finde den Weg auch allein.“

Der Scheich blieb stehen. Das Kerzenlicht ließ die Goldstickereien an seinem Gewand funkeln.

„Also gut.“ Er hob die Hand, und sofort trat die Frau aus dem Schatten, die Charlotte hergeführt hatte, als hätte sie dort die ganze Zeit gestanden. „Amirah, führe Miss Devereaux bitte wieder in ihre Suite.“ In der Dunkelheit wirkte er wie ein Tiger auf der Jagd. „Schlafen Sie gut, ya amar . Morgen werden Sie viel zu tun haben.“

Charlotte ließ sich davonführen.

„Entschuldigen Sie, Amirah“, sagte sie zögernd, als sie die hallenden, schwach beleuchteten Flure entlanggingen. „Was bedeutet ya amar ?“

„Es heißt ‚mein Mond‘“, murmelte Amirah. „Oder auch ‚meine Schönste‘. Es ist ein Kosewort.“

Charlottes Wangen wurden heiß. Seine Schönste? Das war jedenfalls eine Lüge. Sie war nicht schön. Und „sein“ war sie auch nicht.

Noch nicht. Aber bald.

Sie ignorierte das Zittern, das sie bei diesem Gedanken durchlief.

Die nächsten paar Tage sah sie den Scheich überhaupt nicht. Das war gut so. Aber sie wäre die ganze Zeit grübelnd in ihrer Suite auf und ab gegangen, wenn Amirah nicht am nächsten Morgen vor ihrer Tür gestanden und sie darüber in Kenntnis gesetzt hätte, dass sie als Charlottes persönliche Assistentin fungieren solle. Man habe sie gebeten, Charlotte bei einer Reihe von Aufgaben zu helfen. Als sie die Liste hervorzog, die der Scheich offenbar selbst aufgestellt hatte, stürzte Charlotte sich darauf, auf der verzweifelten Suche nach Ablenkung.

Der Scheich bat sie, sich mit der Geschichte, den Bräuchen, den Menschen und der Sprache von Ashkaraz vertraut zu machen. Das ergab Sinn, immerhin würde sie die Königin dieses Landes sein. Und da Charlotte das Lernen schon immer interessant gefunden hatte, machte sie sich an die Arbeit.

Sie erhielt auch Lektionen in Etikette und Protokoll, die sie ebenfalls interessant fand, und eine Reihe kosmetischer Behandlungen, von Haarkuren über Gesichtsmasken bis hin zum Augenbrauenzupfen, an denen ihr weitaus weniger gelegen war. Aber anscheinend war das bei Bräuten in Ashkaraz so üblich.

Zwischendurch schickte der Scheich ihr Berichte zum Gesundheitszustand ihres Vaters. Am dritten Tag las sie in einer Notiz, man habe den Professor an die Grenze gebracht und er würde in Kürze freigelassen werden. Sie solle ihm eine E-Mail schicken und ihm darin ihre Entscheidung mitteilen, in Ashkaraz zu bleiben, und ihre Verlobung mit seiner Majestät verkünden.

Es fühlte sich unwirklich an, die E-Mail zu schreiben. In einem Anfall von Heimweh wünschte Charlotte sich ein Telefon, damit sie ihren Vater anrufen und seine Stimme hören konnte. Aber als sie Amirah fragte, erfuhr sie, das sei nicht erlaubt.

Zuerst war sie lediglich verdrossen. Aber als der Tag verstrich und sie erneut irgendwelche kosmetischen Prozeduren über sich ergehen lassen musste – und dann eine endlose Anprobe für ein Hochzeitskleid aus weißer Seide –, wurde aus dem Verdruss ausgewachsener Ärger.

Alles war neu und seltsam. Es würde eine Weile dauern, bis sie sich an dieses Leben gewöhnt hatte. Sie wollte einfach nur den Klang einer vertrauten Stimme hören. Das war doch nicht zu viel verlangt, oder?

Sie hatte Amirah bereits aufgetragen, den Scheich in ihrem Namen zu bitten, eine Ausnahme zu machen, aber anscheinend hieß „verboten“ hier „unter allen Umständen verboten“.

Charlotte versuchte, ihren Ärger zu unterdrücken, aber das klappte nicht. Und als es auf den Nachmittag zuging, war sie kurz davor zu explodieren.

Sie hatte eigentlich die historischen und offenbar sehr sehenswerten alten Bäder des Palastes besuchen wollen, aber zuerst musste sie den Scheich finden und ihm sagen, was sie von seinem Telefonverbot hielt.

Die letzten Tage waren jede Menge Kleidungsstücke in der Suite eingetroffen – nicht nur traditionelle Gewänder aus Ashkaraz, sondern auch teure Designeroutfits, maßgeschneiderte Hosen und Hemden, Blusen, Jeans und T-Shirts. Und Unterwäsche aus Seide, mit Spitzenbesatz und in verschiedenen Farben. Alles passte perfekt.

Im Schrank hatte Charlotte auch einen hübschen Bikini gefunden, der über und über mit Edelsteinen besetzt war. Sie wusste nicht, ob die Steine echt waren – wenn, dann war der Bikini jedenfalls nicht sehr praktisch. Leider war es der Einzige, den sie hatte, und wenn sie in die Bäder gehen wollte, würde sie ihn tragen müssen.

Amirah lachte. Man bade in Ashkaraz nackt, sagte sie.

Aber Charlotte würde auf keinen Fall in der Öffentlichkeit nackt baden, also zog sie den Bikini an, darüber einen durchsichtigen, silbernen Morgenmantel, den sie in der Taille zuband, bevor sie sich auf die Suche nach dem Scheich begab.

Allerdings war dieser nirgends zu finden, und es sagte ihr auch niemand, wo er war. Nach einer halben Stunde ergebnisloser Suche war Charlotte noch wütender als zuvor. Sie entschied, schwimmen zu gehen, und hinterher weiter nach ihm suchen. So konnte sie sich ein wenig abkühlen. Das war sicher besser.

Als sie sich dem Eingang zu den Bädern näherte, sah sie zwei Wachen in den üblichen schwarzen Gewändern vor der Tür stehen. Was vermutlich bedeutete, dass der Scheich sich gerade selbst dort aufhielt.

Einen Moment erwog Charlotte umzukehren. Aber das würde ihr Problem mit dem Telefon nicht lösen, also atmete sie tief durch und straffte die Schultern. Bevor sie den Mund öffnen konnte, um zu sagen, dass sie die Bäder zu besuchen wünschte, traten die beiden Wachen auch schon wortlos beiseite.

Charlotte hob das Kinn und rauschte an ihnen vorbei. Sie betrat einen großen, feuchten Raum mit Säulen und gewölbten Decken, in dessen Mitte sich ein gefliester Pool befand. Durch versteckte Fenster in der Decke fiel ein diffuses Licht herein.

Autor

Jackie Ashenden
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