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So langsam glaubt Elaine, nur noch Pech zu haben! Denn ihr neuer Vermieter ist ausgerechnet Mitch Ryder, der Anwalt ihres Exmannes! Der eiskalte Jurist hat bei der Scheidung dafür gesorgt, dass Elaine quasi mit leeren Händen dastand. Zu ihrer grenzenlosen Überraschung entpuppt sich Mitch jedoch als äußerst charmanter Nachbar, der offensichtlich ihre Nähe sucht ...


  • Erscheinungstag 22.04.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733777272
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Radierer schmeckten wie Kaugummi vermischt mit Sand. Elaine Lowry wusste das so genau, weil sie gerade einen durchgekaut hatte, während sie auf den Terminkalender starrte, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag.

An zwei Tagen in der Woche arbeitete sie in der Praxis von Dr. Harold Gussman. Sie führte die Patientenkartei des Zahnarztes und verschickte die Erinnerungen an die Vorsorgeuntersuchungen.

Elaine schob sich den braunen Pony aus der Stirn, rieb sich die schmerzende Stelle über der rechten Augenbraue und seufzte. Sie vertrat Sue, die Sprechstundenhilfe, für ein paar Minuten, und hatte gerade gesehen, dass für Viertel nach vier Steph Lowry eingetragen war.

Steph Lowry.

Steph. Kurz für „Stephanie“.

Lowry. Kurz für „die geistlose, silikonbusige Wasserstoffblondine, die meinen Ehemann gestohlen hat“.

Nicht, dass Elaine nachtragend war. Aber das kurz bevorstehende Erscheinen der neuen – und viel jüngeren – Ehefrau ihres Exmannes erforderte irgendeine Reaktion. Jedenfalls mehr als das professionelle „Keine-Angst-es-tut-nicht-weh“-Lächeln, das sich anfühlte, als hätte man ihr die Oberlippe an den Gaumen geklebt.

Aber so bin ich eben, dachte Elaine. Nur keine Szene.

Sie war nicht dazu erzogen worden, in außergewöhnlichen Situationen die Fassung zu verlieren.

Also verzichtete sie darauf, neben Steph Lowrys Namen das Wort Wurzelbehandlung zu notieren.

„Danke, dass du die Festung gehalten hast, Süße.“ Sue Kelsey, die seit neun Jahren die Patienten empfing, strich mit einem Acrylfingernagel über die Nachmittagstermine.

„Für sechs sind gleich zwei Füllungen eingetragen“, stöhnte sie. „Mist. Vor sieben bin ich hier nicht weg.“ Betrübt schüttelte sie den Kopf. „Was nützt mir da die Zeitumstellung? Wann gehst du denn?“ Sue klopfte mit der flachen Hand auf Elaines Arm. „He.“

„Hmm?“

„Gehst du bald?“

„Gehen?“

„Ja. Nach Hause. Sayonara. Hasta la vista. Weg von hier.“ Hinter der Brille mit dem golden glitzernden Gestell kniff Sue die Augen zusammen. „Was ist los mit dir? Du siehst aus, als hättest du dir eine Ladung Novocain gespritzt.“

Elaine hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Novocain klang nicht schlecht. Mit einer leichten Betäubung wäre dieser Nachmittag vielleicht durchzustehen.

„Es geht mir gut.“ Elaine legte ein wenig Fröhlichkeit in ihre Stimme und schaute auf ihre Timex – die Kevin ihr vor drei Jahren zum zehnten Hochzeitstag geschenkt hatte. Dreizehn Minuten nach vier. Die neue Mrs. Lowry musste jeden Moment hier sein.

Wie einfühlsam von Kevin, seiner zweiten Frau ausgerechnet den Zahnarzt zu empfehlen, bei dem seine erste Frau arbeitete.

Sue musste den Termin gemacht haben. Ob ihr Stephs Nachname aufgefallen war? In der Praxis wusste niemand, dass ihr Mann sie für eine jüngere Frau verlassen hatte. Elaine hatte ihren Kolleginnen nur erzählt, dass Kevin und sie sich getrennt, einander alles Gute gewünscht und … bla, bla, bla.

Zugegeben, das konnte man für feige halten. Und nein, sie erwartete nicht, dass ihr Chef an ihrer Tür läutete und sie dafür lobte, wie tapfer sie das Ende ihrer Ehe verkraftete. Es war einfacher so. Wirklich. Außerhalb der Arbeit sah sie ihre Kolleginnen kaum. Aber egal, wie nett man war – wenn der eigene Ehemann einen für die Tae-Bo-Trainerin im gemeinsamen Fitnessstudio verließ, wurde geredet.

Elaines Magen revoltierte. Könnte sie sich doch nur verstecken, bis das hier vorbei war …

Sie schnappte sich ihre Unterlagen und zog sich zu den Aktenschränken an der anderen Wand zurück. Sie hielt den Kopf gesenkt und kehrte Sue und dem Empfang den Rücken zu, trotzdem spürte sie es sofort, als Stephanie hereinkam. Die Nackenhaare sträubten sich und ihr nackter Ringfinger zuckte.

„Hi, ich habe um Viertel nach vier einen Termin bei Dr. Gussman.“

Die helle, nasale Stimme war unverkennbar. Steph Lowry klang wie ein Kanarienvogel mit Nebenhöhlenentzündung. Das war ihr einziges unattraktives Merkmal. Nun ja, das und die Tatsache, dass sie anderen Frauen die Ehemänner stahl.

„Wo kann ich denn mal für kleine Mädchen?“ zwitscherte Steph, nachdem sie sich eingetragen hatte.

Elaine biss die Zähne fest genug zusammen, um Dr. Gussmans gute Arbeit zunichte zu machen. Kleine Mädchen. Also bitte! Als müsste irgendjemand daran erinnert werden, wie jung Stephanie war.

„Ooooh, danke“, gurrte Stephanie. Offenbar hatte Sue es ihr gezeigt. „Ich muss jetzt dauernd.“ Sie kicherte. „Ich hatte ja keine Ahnung, wie anstrengend es ist, schwanger zu sein!“

Sie murmelte etwas, aber Elaine hörte nicht mehr zu. Das Herz rutschte nach unten, und der Magen machte einen Salto. Gleich würde sie in Ohnmacht fallen …

Nein. Erst würde sie sich übergeben und dann ohnmächtig werden.

Sie legte die Finger um die kalte Metallschublade des Aktenschranks, sog hechelnd Luft in die Lunge und fragte sich, ob jemand zu ihr halten würde, wenn sie sich an einer schwangeren Frau abstützte – indem sie mit beiden Händen deren Hals umklammerte.

Elaine musste Stephanie nicht sehen, um sich ein Bild von ihr zu machen. Der Anblick der heiteren kalifornischen Blondine, die eine flüchtige Bekannte und die Geliebte ihres Ehemanns gewesen war, hatte sich ihr unauslöschlich eingeprägt.

„Danke“, trillerte Stephanie und eilte hinaus, um den Waschraum zu suchen. Sue ging zu Dr. Gussmann, um ihm zu sagen, dass die nächste Patientin da war. Elaine stand reglos da. Plötzlich begann sie zu zittern, und ihr wurde heiß und schwindlig.

„Ich muss raus hier.“

Sie schob die letzten Akten hinter die Ws, schnappte sich ihre Tasche und die blaue Strickjacke und hinterließ Sue eine kurze Nachricht. War früher fertig. Sehe Dich morgen. E. kritzelte sie auf einen Zettel und klebte ihn auf den Terminkalender, bevor sie so ruhig wie möglich die Praxis verließ.

Der Fahrstuhl in dem siebzig Jahre alten Gebäude ließ wie immer auf sich warten, also nahm Elaine die Treppe.

Schwanger. Schwanger. Schwan-ger. Bei jedem Klacken ihrer Absätze auf den Betonstufen hallte das Wort durch ihren Kopf. Kevin und Steph Lowry erwarteten ein Kind. Die Scheidung war nur das juristische Ende ihrer Ehe gewesen. Diese Neuigkeit war der Gnadenstoß.

Sie fröstelte. Hastig schlüpfte sie in die Strickjacke – zwei Mal, denn beim ersten Versuch zog sie sie verkehrt herum an – und schob die Hände in die Taschen.

Sie hatte immer nur Ehefrau und Mutter sein wollen. Sie hatte ihr Zuhause geliebt, den Garten, die Nachbarschaft, den Job bei Dr. Gussmann und die ehrenamtliche Arbeit für den Gartenklub. Kevin hatte immer mehr gewollt. Zu ihrem Glück hatte nur ein Kind gefehlt. „Lass uns noch warten“, hatte Kevin gesagt. Also hatten sie gewartet.

Und gewartet. Und gewartet.

Nie war der Zeitpunkt richtig. Immer gab es etwas, das Kevin vorher anschaffen, einen Ort, den er unbedingt besuchen, eine berufliche Chance, auf die er sich konzentrieren wollte. Sie gab nach und verließ sich darauf, dass ihr Mann ebenso sehr ein Kind wollte wie sie. Alles hatte perfekt sein sollen.

Jetzt war sie siebenunddreißig, ihre biologische Uhr gab stündlich ein lautes „Kuckuck“ von sich, und Kevin baute sich mit seiner Neuen ein Nest.

Obwohl es abwärts ging, schien sich ein Schraubstock um ihre Brust zu legen, und das Atmen fiel ihr immer schwerer. Ihre Haut glühte, und um sie herum begann sich alles zu drehen. Auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock taumelte sie und musste sich an der Wand festhalten, um nicht umzufallen. Ihre Beine waren wie aus Gummi und trugen sie keinen Schritt mehr.

Mühsam lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Wand und ließ sich langsam nach unten gleiten, bis sie auf dem Boden saß. Sie zog die Knie an, legte den Kopf darauf und schluchzte …

Und schluchzte …

Elaine ließ ihren Tränen freien Lauf – und mit ihnen dem Schmerz über ihre zerplatzten Träume.

Als sie fertig war, wischte sie sich die Augen mit dem Ärmel ab und schmierte dabei Wimperntusche in die Jacke. Mehrere Minuten lang saß sie einfach da und dachte an nichts, bis ihr langsam bewusst wurde, dass es ihr besser ging.

Vorsichtig stand sie auf und testete ihre Beine. Sie zitterten noch etwas, aber sie trugen ihr Gewicht.

Ihr war, als hätte sie in ihrem Herzen Platz gemacht, und irgendwie zweifelte sie nicht mehr daran, dass sie ihn füllen würde.

Eine Familie, das blieb ihr Traum. Sie würde nicht aufgeben. Noch saßen an ihrem Frühstückstisch weniger Menschen, als sie ursprünglich geplant hatte, aber so oder so, sie würde ihr Baby bekommen.

Die Hälfte eines umgebauten Blockhauses im südöstlichen Teil von Portland war seit neun Monaten Elaines Zuhause. Mit der überdachten Veranda und zwei Zimmern passte sie besser zu ihr als der großzügige moderne Bungalow, in dem sie mit Kevin gewohnt hatte. Und die Miete war erstaunlich niedrig.

Elaine stieg die breiten Stufen hinauf, schob den Schlüssel ins Schloss und betrat ihr kleines Reich.

Das Weinen hatte einen dumpfen Schmerz hinter den Augen und ein nervöses Hungergefühl hinterlassen, also ging sie in die Küche, um Aspirin und Kohlehydrate zu sich zu nehmen. Sie spülte zwei extra starke Tabletten hinunter, öffnete den Kühlschrank und rang sich ein Lächeln für Ben & Jerry ab – die einzigen Männer, die sie in ihrer neuen Behausung duldete. Sie nahm die Eiscreme und einen Suppenlöffel mit ins Schlafzimmer. Dort zog sie sich um, während von draußen das Rattern eines Benzinmotors hereindrang.

Zunächst kam ihr das Geräusch fremdartig vor, doch dann schaltete ihr Gehirn: Motor … Garten … Gärtner!

Seit sie hier wohnte, hatte Elaine keinen Gärtner zu Gesicht bekommen. Der Vermieter hatte ihr zwar einen günstigen Mietvertrag über ein ganzes Jahr geboten, kümmerte sich jedoch kaum um das Doppelhaus. Der Garten bestand aus nicht mehr als einer Reihe Stiefmütterchen und einem einsamen Zierkohl, den ein Nachbar mal gepflanzt hatte.

Jetzt erschien ihr die überraschende Anwesenheit eines Gärtners wie ein gutes Omen.

Hastig zog sie einen schlichten Pullover und eine Jeans an. Der Vermieter würde hoffentlich nichts dagegen haben, wenn sie sich mit dem Gärtner über die Herbstbepflanzung unterhielt. Das war Schritt eins ihres „Babyvorbereitungsplans“. Zugegeben, er war vielleicht nicht so wirkungsvoll wie eine Extraportion Folsäure oder ein Besuch in einer Samenbank, aber eine Verschönerung ihres Zuhauses war ein guter Anfang. Sehr mütterlich.

Sie nahm Ben & Jerry und eilte durch die Waschküche zur Hintertür, in deren Fenster eine altmodische Halbgardine hing.

Mit einem Löffel Eiscreme im Mund schaute sie hindurch. Im großen Garten wuchs noch genug Grün, um ihn ganz anständig aussehen zu lassen, wenn er nicht überwuchert war.

Hmm. Der Gärtner hatte gute Arbeit geleistet. Das meiste Unkraut war verschwunden, die Hälfte des Rasens war gemäht, und er …

Wow.

Elaine reckte den Hals und blinzelte überrascht.

Oh … wow.

Der Gärtner war halb nackt. Er hatte das Hemd ausgezogen und es sich um die Hüften geknotet. Da er den Rasenmäher gerade zum Zaun am anderen Ende schob, gestattete er Elaine einen ausgiebigen Blick auf seine breiten, muskulösen Schultern, die schmale Taille und das in Jeans gehüllte Hinterteil.

Oh … Mann. Elaine hatte keine große Erfahrung darin, Männer zu begutachten, also war sie keine Expertin, aber was Hinterteile betraf, so war dieses … nahezu perfekt.

Er erreichte das Ende des Gartens, wendete das Gerät und richtete es exakt an der Reihe aus, die er gerade gemäht hatte. Die Art, wie er das tat – entschlossen und zielgerichtet – hatte etwas Beruhigendes.

Elaine nahm sich noch einen Löffel voll Eis und ließ den Blick genießerisch an seinem Körper hinaufwandern, über den flachen Bauch und die athletische Brust. Sie sollte es nicht tun, es war alles andere als höflich, aber … und wenn schon! Sie hatte es sich verdient. Außerdem machte es Spaß. Wie Fernsehen für Geschiedene. Als der Mann stehen blieb und eine Hand hob, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, wurde ihr heiß. Sie starrte auf den kräftigen Hals, das markante Kinn, die charaktervolle Nase und …

Oh nein. Der Mann, der ihren Rasen mähte, entstammte keiner nachmittäglichen Fantasie, sondern war …

Mitchell Ryder. Schokoladeneis spritzte gegen die Scheibe, als sie sich verschluckte und husten musste.

Ungläubig starrte sie nach draußen. Das kann nicht sein, dachte Elaine, als er die Hand sinken ließ, den Rücken durchbog und zur Hintertür schaute.

Sie überlegte nicht lange, sondern duckte sich, drehte sich und presste den Rücken gegen die Tür und den Karton mit Ben & Jerry an die Brust.

„Ganz ruhig“, flüsterte sie. „Ganz ruhig.“ Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Kein Zweifel, es war Mitch Ryder, der Scheidungsanwalt, den seine Kollegen – und jeder, den er nicht vertrat – „den Aal“ nannten. Sein Ruf als gelassener, emotionsloser Verhandler machte ihn bei den Richtern beliebt. Als Elaine ihn zuletzt gesehen hatte, war er kurz davor gewesen, Partner in der Kanzlei ihres Exmanns zu werden.

Nein, Augenblick. Das war nicht das letzte Mal, dass sie ihn gesehen hatte.

Elaine schüttelte den Kopf. Wie dumm von ihr. Sie war Mitch Ryder vor dem Scheidungsrichter begegnet. Er hatte ihren Mann vertreten und ihren eigenen Hundertfünzig-Dollar-pro-Stunde-Anwalt wie einen teuren, aber blutigen Anfänger aussehen lassen.

Es war so erniedrigend gewesen, ihre Ehe von jemandem sezieren zu lassen, mit dem sie einst Aperitifs getrunken hatte.

Mitch war mehrmals zu Cocktailpartys oder Arbeitsessen bei ihnen zu Gast gewesen. Er war stets pünktlich gekommen, ging früh gegangen und hatte sich jedes Mal bei ihr bedankt. Bei einem Weihnachtsbrunch hatte er die Küche betreten, als Elaine gerade verschütteten Met vom Terrakottaboden wischte. Wortlos hatte er sich ein Tuch genommen und ihr geholfen. und half ihr. Dabei hatten sich ihre Knie fast berührt, und ihr war ganz heiß geworden …

„Das gefällt dir, was?“ fragte er, als der Boden wieder sauber war.

Elaine griff nach dem feuchten Tuch in seiner Hand. „Was? Verschüttete Getränke aufzuwischen?“

„Leute einzuladen.“ Er hielt das Tuch fest, bis sie ihn ansah. „Du hast die Gabe, Menschen das Gefühl zu geben, willkommen zu sein, Elaine.“

Er hatte Recht. Genau das tat sie gern. Und er hatte das Talent, einer Frau das Gefühl zu vermitteln, dass er sich wirklich für sie interessierte. Der Blick aus seinen braunen Augen wanderte nie rastlos umher, wenn er mit einem sprach.

Sie wünschte, sie könnte jene Begegnung in der Küche vergessen. Leider erinnerte sie sich immer genau dann daran, wenn sie es am wenigsten wollte. Zum Beispiel an dem Tag, an dem Ryder dem Richter erklärte hatte, dass ihr Ehemann sie schon seit Jahren nicht mehr liebte, sie jedoch nicht hatte „kränken“ wollen.

Mistkerl, dachte sie und meinte damit nicht ihren Mann. Während des langwierigen Scheidungsverfahrens hatte Ryder sie manchmal angesehen, und sie hätte schwören können, dass in seinem Blick so etwas wie Bedauern lag. Vielleicht war es auch Mitleid gewesen. Was immer es war es war nur aufgeblitzt, denn meistens zeigte er keinerlei Regung.

Elaine empfand jedes Wort, das im Gerichtssaal gesprochen wurde, als schmerzhaften Stich. Sie hasste alles an der Scheidung und fühlte sich nach jedem Tag ausgelaugt. Irgendwann empfand sie nichts als Gleichgültigkeit.

In der nächsten Mittagspause wies sie ihren Anwalt an, nur noch die Hälfte des Erlöses aus dem Verkauf des gemeinsamen Hauses zu verlangen und auf alles andere zu verzichten. Auch auf Unterhalt. Sollte Kevin die wertvollen Antiquitäten und die Ferienwohnung, die Wertpapiere und die Aktien behalten. Sie hatte zwar Anspruch auf die Hälfte davon, aber das war ihr egal. Darum zu kämpfen kostete einfach zu viel.

Ihr Anwalt war natürlich strikt dagegen, aber Elaine ließ sich nicht umstimmen. Am Tag, als es vorbei war, ging sie in einen Park in der Nähe des Gerichtsgebäudes und setzte sich auf eine Bank. In einen Wintermantel gehüllt und ohne den eisigen Wind an der Haut zu spüren, starrte sie auf einen Springbrunnen, bis ein junges Paar ihr gegenüber Platz nahm …

Die beiden waren Anfang zwanzig, schmiegten sich aneinander, küssten sich und betrachteten ihre verschränkten Hände, als hätten sie noch nie etwas so Romantisches gesehen.

Elaine fühlte, wie ihre Brust und die Kehle immer enger wurden. Es war Jahre her, dass sie nicht nur jung gewesen war, sondern sich auch so gefühlt hatte. Jung, voller Zuversicht und Lebensfreude – und verliebt.

Elaine schluckte mühsam und erhob sich schwerfällig von ihrer Bank. Als sie sich zum Gehen wandte, traf sich ihr Blick mit dem von Mitch Ryder. Mit dem ledernen Aktenkoffer in der Hand stand er keine zehn Meter von ihr entfernt. In seinem Maßanzug unter dem Kaschmirmantel gehörte er in ein Nobelrestaurant, nicht in die Schlange vor dem Stand, an dem es Zwei-Dollar-Hot-Dogs gab. Er schaute zu ihr herüber, und Elaine wusste, dass er sie die ganze Zeit beobachtet hatte. Der Ausdruck in seinen Augen war einer, den sie an ihm noch nie wahrgenommen hatte. Mitchell „der Aal“ Ryder sah sie mit etwas an, das nur Mitgefühl sein konnte.

Verlegen eilte sie davon, aber ihre Beine waren zu weich und drohten nachzugeben. Als links von ihr das Heathman Hotel auftauchte, huschte sie hinein und steuerte sofort die Bar an.

Obwohl sie sonst nicht mehr als eine Weinschorle trank, bestellte sie sich einen Brandy. Sie behielt den Mantel an, denn im Moment war ihr, als würde ihr nie wieder warm werden.

Ihr Drink war noch nicht serviert, als Mitch Ryder sich auf den Hocker neben ihr setzte. Er sagte nichts, sah sie nicht an, sondern ließ sich einen teuren Scotch geben. Erst nachdem er einen Schluck genommen hatte, drehte er sich zu ihr. „Warum hast du aufgegeben?“ fragte er leise. „Du hättest mehr bekommen können. Viel mehr. Dein Anwalt hätte nicht zulassen dürfen, dass du auf das verzichtest, was dir zusteht.“

Er klang zornig, was Elaine unter den Umständen ein wenig absurd fand.

Sie nahm den Brandyschwenker zwischen die kalten Hände und trank hastig, zu hastig, und der Alkohol brannte in der Kehle, aber wenigstens fühlte sie sich ein wenig wärmer. Sie versuchte, nicht zu husten, und konzentrierte sich auf die Wärme. Nach einem Moment machte der Drink ihr Mut. „Ich will nicht noch mehr Geld. Ich will nur, dass es vorbei ist.“

Er schwieg, und anstatt aufzustehen und zu gehen, leerte sie das Glas und bestellte sich ein zweites. Sie hatte eine Frage an Mr. Ryder. „Warum hast du Kevin vertreten?“

An seiner Wange zuckte ein Muskel. „Es war nicht persönlich. Es war geschäftlich.“

Es war keine gute Antwort, und sie sagte es ihm. Ihr Mann hatte sie betrogen. Entweder war man jemand, der das ablehnte, oder man war es nicht.

Zum ersten Mal, seit er sich gesetzt hatte, drehte Mitch sich ganz zu ihr. Er wirkte noch ernster als sonst. „Covington hat mich gebeten, den Fall zu übernehmen.“

Henry Covington war der Gründungspartner der Kanzlei, in der Mitch und Kevin arbeiteten. Elaine erinnerte sich, dass er Juraprofessor war und die jüngeren Anwälte ihn als ihr Vorbild ansahen.

„Ich habe die Entscheidung jedes Mal bereut, wenn ich den Gerichtssaal betrat.“ Sein Blick war ruhig und fest.

Elaine antwortete nicht. Sie nahm einen letzten Schluck, stellte das Glas ab und öffnete ihre Handtasche, um zu bezahlen.

Ohne Vorwarnung legte Mitch eine Hand auf ihre. „Geh nicht …“

An die Hintertür gelehnt schloss Elaine die Augen.

Sie wünschte, sie wäre gegangen, damals in der Hotelbar. Sie hätte gehen müssen.

Mitch Ryder war ihr größter, schlimmster Fehler. Seit jenem Abend hatte sie sich damit getröstet, dass sie ihn nie wiedersehen würde.

Sie zwang sich, die Augen zu öffnen, eins nach dem anderen, stand langsam auf und schaute durchs Fenster.

Er war fort. Der Rasenmäher stand verlassen mitten im Garten. Sie presste die Wange ans Glas, um nach rechts zu schauen, und sah, wie Mitch um die Hausecke bog. Sie stellte das Eis auf die Arbeitsfläche und rannte ins Wohnzimmer. Wenn sie die Gardine vorsichtig anhob …

Als es an der Haustür läutete, schrie sie auf. Barfuß eilte sie hinüber, legte die Handfläche ans Holz und lugte durch den Spion.

Ihr Herz schlug noch schneller, als sie Mitch Ryder sah. Keine Panik, dachte sie und atmete tief durch. Es gab keinen Grund zur Panik.

Abgesehen davon, dass sie sich einen Monat zuvor dazu hatte überreden lassen, mit Mitch Ryder noch einen Drink zu nehmen, und zu beschwipst gewesen war, um nach Hause zu fahren. Am nächsten Tag hatte sie nur noch gewusst, dass sie an jenem Abend mit ihm in ihren Wagen gestiegen und am Morgen in ihrem Doppelbett aufgewacht war …

Allein.

Nackt.

Und sie schlief fast nie nackt.

Da sie Mitch seit jener Nacht weder gesehen noch gesprochen hatte, wusste sie nicht, ob er der zweite Mann war, mit dem sie in ihrem Leben geschlafen hatte, oder nur … der Scheidungsanwalt, der sie nackt gesehen hatte. Wie auch immer …

Dass er heute hier auftauchte, war einfach zu grausam. Erst Stephanie mit ihrer frohen Botschaft und jetzt das.

Elaine presste die Stirn gegen die Tür und widerstand der Versuchung, mit dem Kopf gegen das Holz zu hämmern, bis sie bewusstlos wurde.

Bitte mach, dass es nur ein Albtraum ist. Wenn ich aufwache und er weg ist, werde ich für immer auf Kohlehydrate verzichten, das verspreche ich.

2. KAPITEL

Mitch stand vor Elaine Lowrys Tür und versuchte, seinen wachsenden Zorn im Zaum zu halten. Die Doppelhaushälfte, in der sie seit mehreren Monaten lebte, war das Letzte. Seine Freundin bei Portland Property Management hatte ihm versichert, dass das Haus strukturell solide sei. Aber äußerlich?

Er schnippte gegen die abblätternde braune Farbe am Türrahmen und fluchte leise. Das hier war nicht die Art von Unterkunft, die er sich für Elaine vorgestellt hatte, als er seinen Freund bei der Immobilienverwaltung gebeten hatte, ihr „etwas Günstiges“ zu besorgen.

Mit gesenktem Kopf wartete er darauf, dass sie ihm öffnete. Das Hemd, das er sich vorhin um die Hüften geknotet hatte, bedeckte jetzt den Oberkörper, wenn auch nur halb zugeknöpft und nicht in die Hose gesteckt. Schweiß lief ihm über den Nacken, und er wischte ihn ab, während eine Wespe im Sturzflug nur knapp sein Gesicht verfehlte. Er schaute zum Dachvorsprung hinauf. Großartig. Noch etwas, um das er sich kümmern musste.

Er wollte nicht hier sein. Sollte nicht hier sein. Wie bei der Arbeit, so zog Mitch auch privat Situationen vor, in denen es keine Grauzonen gab, sondern nur Schwarz und Weiß, wie bei den besten Fällen.

Elaine Lowry war nicht schwarz-weiß, sie war ein Problem auf zwei Beinen, und zwar in Technicolor.

Seit anderthalb Jahrzehnten hatte Mitch sich einen guten Ruf erworben, indem er Scheidungsfälle innerhalb der High Society übernahm. Er sah es als seine Aufgabe an, Leute dazu zu bringen, sich vernünftig und anständig zu benehmen, auch wenn es um verletzte Gefühle, gekränkten Stolz und viel, viel Geld ging. Keine kleine Herausforderung – und eine, die er genoss. Meistens. Kevin Lowry zu vertreten war in etwa so lohnend gewesen wie ein Loch im Zahn.

Mitch hob eine fast schmerzhaft geballte Faust und klopfte.

Er vermied jede persönliche Beziehung mit Mandanten, erst recht mit denen der gegnerischen Anwälte. Grundsätzlich. Immer. Aber er hatte dagegen verstoßen. Und war dabei, es schon wieder zu tun.

Es war nicht seine Sache, dafür zu sorgen, dass sie keine finanziellen Nachteile hatte.

Es war nicht seine Sache, dafür zu sorgen, dass sie gut untergebracht war.

Es war nicht seine Sache, sie für ihre gescheiterte Ehe oder die Scheidung oder … etwas anderes zu entschädigen. Und doch war er hier.

„Beeil dich einfach“, flüsterte er und klopfte ein weiteres Mal, härter als nötig. Er würde kurz bleiben, sagen, was er zu sagen hatte, und ihr vielleicht einen guten Finanzberater nennen. Sie konnte damit anfangen, was sie wollte. Oder auch nicht. Es ging ihn nichts an.

Elaines Nase, Lippen und Kinn waren an die Tür gepresst, als Mitch klopfte. Sie zuckte zusammen und hätte sich an dem altmodischen Spion fast das Auge ausgestoßen. Sie drehte den Knauf und öffnete.

„Warte! Mach nicht …“, begann Mitch, aber es war zu spät. Eine Wespe, so groß, das für sie eigentlich Leinenzwang gelten sollte, flog direkt auf ihr Gesicht zu.

Elaine schrie auf und fuchtelte mit den Händen.

„Beweg dich nicht!“ befahl Mitch mit der tiefen, befehlsgewohnten Stimme, die sie aus dem Gerichtssaal kannte.

Leider ignorierte die Wespe die Anweisung, also machte auch sie weiter. Dann hörte das Summen auf, und ihre Nase fühlte sich an, als hätte sie sie gegen ein Nadelkissen gerammt.

„Autsch!“

„Verdammt.“ Mitch schob die Tür auf. Sie stieß gegen ihr Schienbein.

„Autsch!“

Er fluchte. „Tut mir Leid. Bist du okay?“

Autor

Wendy Warren

Wendy lebt mit ihrem Ehemann in der Nähe der Pazifikküste. Ihr Haus liegt nordwestlich des schönen Willamette-Flusses inmitten einer Idylle aus gigantischen Ulmen, alten Buchläden mit einladenden Sesseln und einem großartigen Theater. Ursprünglich gehörte das Haus einer Frau namens Cinderella, die einen wunderbaren Garten mit Tausenden Blumen hinterließ. Wendy und...

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