Was eine Nacht im Castello verspricht …

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Sie hat den Job! Gemma ist glücklich, dass sie von nun an für die Gäste im eleganten Castello kochen und backen wird! Bis sie sieht: Der Besitzer des Schlosshotels ist Vincenzo Gagliardi, der ihr als Teenager nach einer heißen Nacht das Herz brach - und den sie nie vergessen hat …


  • Erscheinungstag 20.08.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733719111
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Castello di Lombardi, zehn Jahre zuvor

Um zwei Uhr morgens schlüpfte Vincenzo Gagliardi, der gerade achtzehn geworden war, eilig in Jeans und einen Pullover, dessen Kapuze er sich über das schwarze Haar zog. Die Striemen auf seinem Rücken und den Rückseiten seiner Beine schmerzten noch immer, als er seinen Rucksack aufsetzte. Ein letztes Mal drehte er sich um und blickte zum Bett.

Immer wieder musste er an Gemma denken, die dort in der Nacht zuvor in seinen Armen geschlafen hatte. Trotz seiner Wunden hatten sie einander liebkost, und er hatte sich ihre gemeinsame Zukunft ausgemalt. Doch nun musste er sie zurücklassen, auch wenn es ihn fast zerriss. Die Schwierigkeiten mit seinem Vater ließen ihm keine Wahl, als zu fliehen. Und schlimmer noch: Er konnte ihr nicht einmal sagen, wohin er ging und warum – zu ihrem eigenen Schutz.

Schon bald würde sein Vater, der amtierende Duca di Lombardi, nach ihm suchen und jeden vernehmen, einschließlich Gemma. Und er würde sofort merken, wenn sie log. Wenn das Mädchen, das er schon seit frühester Kindheit kannte, nichts über sein Verschwinden wusste, würde sein Vater ihr glauben müssen.

Arrivederci, Gemma, seufzte sein Herz. Ti amo.

Vorsichtig schlich er sich durch das castello aus dem vierzehnten Jahrhundert zu Dimis Zimmer im anderen Turm. Sein Cousin hatte die Tür offen gelassen. Die beiden waren einander so nahe wie Brüder und hatten Vincenzos Flucht seit über einem Jahr geplant.

„Du bist spät dran“, sagte Dimi. „Beeil dich jetzt und brich sofort auf! Ich habe von der Brustwehr aus Ausschau gehalten. Der Wachmann mit dem Hund wird erst in frühestens sieben Minuten wieder am Eingang vorbeikommen.“

„Dann ist es jetzt so weit. Du weißt ja: Wenn ich richtig in New York angekommen bin, werde ich mich bei dir melden. Meine Telefonnummer findest du irgendwann kaschiert im Anzeigenteil von Il Giorno, also halte die Augen offen. Und ruf mich auf jeden Fall von einem nicht gemeldeten Handy aus an, das du danach entsorgst.“

Dimi nickte.

„Du bist ja auch bald achtzehn. Dann schicke ich dir Geld, damit du zu mir kommen kannst. Und sobald ich angekommen bin, rufe ich unseren Großvater an, damit er sich keine Sorgen macht.“ Der Großvater der Jungen war der an Krebs erkrankte Herzog Emanuele Gagliardi, der alte Duca di Lombardi, der sein Amt nicht mehr offiziell ausüben konnte und dem Tode nahe war.

Tränen traten seinem Cousin in die Augen. „Che Dio di benedica, Vincenzo.“

Er räusperte sich. „Und möge Gott auch mit dir sein, Dimi. Versprich mir, dass du auf Gemma achten wirst.“

„Natürlich werde ich das.“

Vincenzo fand es unerträglich, dass er sie zurücklassen musste, doch es ging nicht anders. Alles in ihm sträubte sich gegen den Abschied und die grässliche Lage, in der er sich befand. Doch alles andere wäre viel zu gefährlich.

Als sie sich umarmten, konnte Vincenzo durch seine Tränen kaum etwas sehen. Der Schmerz und die Selbstvorwürfe darüber, dass er seine Mutter nicht hatte beschützen können, würden sein Leben lang auf ihm lasten. Gemma war ohne ihn besser dran. Und dank seines loyalen Cousins Dimi würde niemand erfahren, wohin er gegangen war.

Vincenzo musste die Welt verlassen, die er kannte und die ihm vertraut war. Nun würde die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, zu seinem Lebensinhalt werden.

Um sechs Uhr morgens lag Gemma im Bett und durchlebte noch einmal die Momente, die sie mit Vincenzo in der vorletzten Nacht genossen hatte. Als sie von den Verletzungen erfahren hatte, die von einem Sturz vom Pferd stammten, hatte sie sich in sein Turmzimmer geschlichen, um nach ihm zu sehen.

Trotz seiner Schmerzen hatten sie einander liebkost und zu lieben versucht, bis er ihr irgendwann gesagt hatte, sie müsse zurück in ihr Zimmer gehen. Gemma wäre am liebsten die ganze Nacht bei Vincenzo geblieben und hatte nicht verstanden, warum er darauf bestanden hatte, dass sie ging. Könnte sie doch nur für immer in seinen Armen liegen!

Sie hatte sich vergewissert, dass kein Wachmann in der Nähe gewesen war. Dann hatte sie sich die gewundene Treppe im hinteren Teil des castello hinuntergeschlichen, zu den Räumen hinter der Küche, in denen ihre Mutter Mirella und sie wohnten.

Gestern nach der Schule hatte sie ihn gar nicht zu Gesicht bekommen, und nun hatte sie Angst, dass es ihm schlechter ging. Sollte er auch heute nicht im hinteren Hof auftauchen, wenn sie wieder zu Hause war, würde sie nach ihm sehen.

Es war schwer zu begreifen, dass ein so erfahrener Reiter wie er sich bei einem Sturz so schwer verletzt hatte …

Während Gemma noch mit ihren sorgenvollen Gedanken beschäftigt war, klopfte jemand an ihre Tür.

„Gemma? Zieh dich schnell an und komm zu mir!“, sagte ihre Mutter aufgeregt.

Normalerweise stand Gemma erst um halb sieben auf, um zur Schule zu gehen. Als sie aus dem kleinen Schlafzimmer trat, erschrak sie. Vincenzos Vater, der amtierende Duca di Lombardi, stand dort, während drei Polizisten ihre Zimmer durchsuchten, die sich an die Küche des castello anschlossen.

Er sah Vincenzo sehr ähnlich, und doch waren die beiden ganz unterschiedlich. Der duca sah sie so drohend an, dass sie schauderte.

Ihre Mutter nahm ihre Hand. „Der duca möchte dir ein paar Fragen stellen, Gemma.“

Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass er mit ihr sprach. „Ja, Eure Hoheit?“

„Wo ist mein Sohn?“

Sie blinzelte verwirrt. „Ich … Ich verstehe nicht …“

„Wenn du irgendetwas weißt, musst du es ihm sagen, Gemma“, sagte ihre Mutter eindringlich.

„Ich weiß aber nichts, Mamma.“

Die Polizeibeamten tauchten wieder auf und schüttelten den Kopf. Drohend kam der duca auf Gemma zu. „Mein Sohn ist aus dem castello verschwunden. Und ich glaube, du weißt, wo er ist.“

Gemma war wie erstarrt. Vincenzo war verschwunden? „Ich schwöre bei der Heiligen Jungfrau Maria, dass ich nicht weiß, wo er ist!“

Das Gesicht des duca lief rot an. Er warf Gemmas Mutter einen so wütenden Blick zu, dass diese sich bekreuzigte. „Sie lügt! Und da Sie ihr offenbar nicht die Wahrheit entlocken können, befehle ich Ihnen, sofort das Anwesen zu verlassen. Ich werde dafür sorgen, dass Sie nie wieder eine Stelle bekommen.“

Aufgebracht rauschte er hinaus. Die Polizisten folgten ihm und schlossen die Tür hinter sich.

Als Gemma ihre Mutter umarmte, spürte sie, dass diese genauso zitterte wie sie selbst. „Ich weiß wirklich nichts über Vincenzo, Mamma!“

„Das glaube ich dir. Aber jetzt müssen wir packen und so bald wie möglich gehen, falls der duca zurückkommt. Ich rufe uns aus der Küche ein Taxi, mit dem wir zum Bahnhof fahren werden – und dann zurück nach Florenz.“

Eine Viertelstunde später trafen sie sich in der Küche. Auch die andere Köchin und ihre Tochter Bianca, Gemmas beste Freundin, standen mit gepackten Koffern dort. Der Zorn des duca kannte keine Grenzen – er hatte sie ebenfalls fristlos entlassen. Als sie das castello durch den Dienstboteneingang verließen, gingen Gemma immer wieder seine Worte durch den Kopf.

Sie lügt! Und da Sie ihr offenbar nicht die Wahrheit entlocken können, befehle ich Ihnen, sofort das Anwesen zu verlassen. Ich werde dafür sorgen, dass Sie nie wieder eine Stelle bekommen.

Als sie mit den anderen ins Taxi stieg, fühlte sie sich innerlich kalt und taub.

New York, ein halbes Jahr zuvor

Am Vorabend hatte Dimi Vincenzo per Telefon Neuigkeiten überbracht, die ihn sehr aufgewühlt hatten. Nun rief Vincenzo seine beiden besten Freunde an und bat sie, so schnell wie möglich in sein Penthouse zu kommen, das über seinem Büro lag.

Dann teilte er seiner Assistentin mit, dass er an diesem Tag nicht ins Büro kommen würde und unter keinen Umständen gestört werden wolle. Zwei Stunden später waren seine beiden Freunde mit dem Privatlift zu ihm gekommen.

Das ultramoderne Apartment passte perfekt zu Vincenzo. Ihm gefielen die zeitgenössischen Werke an den weißen Wänden und die raumhohen Fenster, durch die so viel Licht hereinkam. Hier oben erinnerte ihn nichts an seine Vergangenheit, hier konnte er frei durchatmen. Zumindest hatte er das bis zu Dimis Anruf gekonnt.

„Danke, dass ihr so schnell gekommen seid“, sagte er auf Italienisch.

„Es klang, als ginge es um Leben und Tod“, erwiderte Cesare.

„Für mich tut es das auch.“

Sein Freund Takis sah ihn fragend an. „Was ist denn los, Vincenzo?“

„Etwas, das euch überraschen wird. Kommt mit ins Speisezimmer, ich werde es euch beim Frühstück erzählen.“

Als sie sich gesetzt hatten und zu essen begannen, reichte Vincenzo den beiden ein Foto des wuchtigen Castello di Lombardi. „Das hier ist der ehemalige Wohnsitz der Familie Gagliardi. Aus ihr stammt der vor zweihundert Jahren geborene berühmte erste Duca di Lombardi, der in jenem Teil Italiens eine wichtige politische Figur war.“

Die zwei Männer sahen erst das Foto an, dann blickten sie ihn verwirrt an.

„Ich erzähle euch das, weil es vieles gibt, das ihr nicht über mich wisst. Und vielleicht werdet ihr mir misstrauen, wenn ich euch jetzt gleich etwas anvertraue. Ich könnte es gut verstehen, wenn ihr dann geht und nie wieder etwas mit mir zu tun haben wollt.“

„Was willst du uns erzählen?“, fragte Cesare.

„Dass ich euch gegenüber nicht ganz ehrlich war. Ihr kennt mich als Vincenzo Nistri, aber mein vollständiger Name lautet Vincenzo Nistri Gagliardi. Nistri ist der Mädchenname meiner Mutter.“

„Dann bist du also hundertprozentiger Italiener.“ Taki blinzelte verwundert. „Dabei hast du mich immer an einen meiner Freunde aus Mazedonien erinnert.“

„Für mich hattest du auch immer etwas Osteuropäisches“, stimmte Cesare ihm zu.

„Ach ja?“ Vincenzo lächelte, denn ihre Offenheit gefiel ihm. „Nein, soweit ich weiß, gibt es keine osteuropäischen Einflüsse in meiner Familie. In dem castello habe ich meine ersten achtzehn Lebensjahre verbracht.“ Und die Frau, die ich dort zurückgelassen habe, ist noch immer die einzige, die ich je geliebt habe – auch wenn es andere in meinem Leben gegeben hat. „Wäre es in meiner Familie nicht zu einer großen Katastrophe gekommen, wäre ich nach dem Tod meines Vaters der nächste Duca di Lombardi geworden. Aber ich bin geflohen.“

Als seine Freunde ihn nur sprachlos ansahen, fuhr er fort: „Ihr werdet das alles verstehen, wenn ich euch die ganze Geschichte erzählt habe. Mein Vater und mein Onkel waren beide sehr bösartig, sie haben Schlimmes angerichtet. Irgendwann wurde mir klar, dass ich in Lebensgefahr schwebte.“

Vincenzo erzählte ihnen die Einzelheiten und fügte hinzu: „Der alte duca, mein Großvater, ist vor neun Jahren gestorben, und mein Vater und mein Onkel brachten das Haus Gagliardi zu Fall. Um ihre Schulden zu begleichen, fingen sie an, alte Familienschätze zu verkaufen – auch Dinge, die sich seit Jahrhunderten im Besitz der Familie befanden. Natürlich entließen sie auch das Personal, das unserer Familie treu gedient hatte. Dann ist mein Vater vor einem Monat, als er im Vollrausch durch den Wald hinter dem castello ritt, vom Pferd gefallen und hat sich das Genick gebrochen. Seitdem hatte mein Onkel Alonzo das Sagen.“

Er atmete durch und fuhr fort: „Aber nun ist er wegen Totschlags, Veruntreuung, Trunkenheit und Schulden in Millionenhöhe zu dreißig Jahren Gefängnis verurteilt worden. Und die staatlichen Behörden haben das castello verschlossen.“

Seine Freunde schüttelten den Kopf. „Wie konnte so etwas einer so mächtigen Familie passieren?“, fragte Takis.

„Die Antwort lautet: Korruption. Die Familienschätze wurden über so lange Zeit geplündert, dass nur noch Schulden übrig waren. Meine Großeltern mütterlicherseits sind vor zwei Jahren gestorben, und auf der Seite meines Vaters gibt es außer meinem inhaftierten Onkel nur noch meinen Cousin Dimi, der für mich wie ein Bruder ist, und seine Mutter Consolata. Die beiden leben in einem kleinen Palazzo in Mailand, den meine Tante vor ihrer Hochzeit mit meinem Onkel geerbt hat.“

Es war die einzige Immobilie, die weder Alonzo noch Vincenzos Vater in die Finger hatten kriegen können.

„Dimi kümmert sich um seine Mutter, sie ist dement und sitzt im Rollstuhl.“ Er sah seine Freunde direkt an. „Könnt ihr mir verzeihen, dass ich euch das alles bisher verschwiegen habe?“

„Si“, sagten beide sofort. „Du warst schließlich in Lebensgefahr“, fügte Takis hinzu.

„Das ist jetzt zum Glück Vergangenheit. Nun hat sich etwas ergeben, das ich mir nie erträumt hätte. Und darüber möchte ich mit euch sprechen“, erklärte Vincenzo. „Das castello befindet sich in Zwangsverwaltung. Ich habe mir eigentlich geschworen, nie mehr nach Italien zurückzukehren, aber ich finde die Vorstellung unerträglich, dass mein Erbe zum Wohle der schwächelnden italienischen Wirtschaft an irgendeinen ausländischen Machthaber verkauft wird.“ Er fuhr fort: „Auch mein Cousin Dimi macht sich große Sorgen. Er hat ein Auge auf das, was dort vor sich geht. Sowohl das Museum Villa Giulia in Rom, erbaut von Papst Julius III, und der neunhundert Jahre alte Normannenpalast in Palermo, ein früherer Königssitz, sollen von der Regierung verkauft werden. Angesichts dieser unschönen Aussichten wollte ich euch fragen, ob ihr mit mir ein gemeinsames geschäftliches Projekt starten möchtet. Dimi würde uns dabei hinter den Kulissen unterstützen. So könnten wir nicht nur das Familienerbe bewahren, sondern auch aus dem castello ein erstklassiges Hotel machen – mit einem Restaurant, das in Europa seinesgleichen suchen wird. Das würde bedeuten, dass wir drei unseren Stellvertretern und Assistentinnen die Verantwortung für unsere Unternehmen übergeben, wenn wir nicht im Land sind.“

Eine Weile herrschte Schweigen, dann stießen beide Männer einen Begeisterungsschrei aus. Den Rest des Tages verbrachten sie mit Brainstorming.

Schließlich sagte Vincenzo: „Um einen Gefallen muss ich euch noch bitten: Falls wir dieses Projekt gemeinsam angehen, möchte ich aufgrund des Skandals in meiner Familie nicht offiziell auftreten, sondern anonym bleiben.“

Beide Freunde waren sofort einverstanden, und ihm wurde warm ums Herz.

„Wenn bekannt wird, dass zwei Geschäftsmänner aus den USA das castello gekauft und zu einem Hotel umgebaut haben, wird die Presse sich nur so darauf stürzen. Dimi wird mir alle nötigen Informationen schicken und den Kontakt zu den entsprechenden Stellen herstellen, damit die Sache ins Rollen kommt. Und ihr beide werdet sämtliche Verhandlungen übernehmen“, fuhr er fort. „Natürlich werde ich die benötigten Geldmittel bereitstellen, damit wir sofort mit den Renovierungsarbeiten anfangen können.“

Cesare lächelte. „Die Rückkehr des duca.“

„Nein“, wehrte Vincenzo ab. „Ich möchte nicht, dass mein Titel erwähnt wird.“ Er hatte den Titel zwar von seinem Vater geerbt, wollte ihn aber ablegen. Und ich werde Gemma finden, koste es, was es wolle. Seit zehn Jahren gab es nicht die geringste Spur von ihr.

„Alles klar.“ Cesare sah ihn ernst an. „Als wir uns im Studium kennengelernt haben, war mir sofort klar, dass es vieles gibt, das du nicht preisgibst. Aber ich wollte dich nicht mit Fragen bedrängen.“

„Mir wird nun auch einiges klar“, gab Takis zu. „Warum dein Englisch so perfekt ist und warum du so viel gebildeter und vornehmer bist als alle Menschen, die ich kenne.“

„Eure Freundschaft bedeutet mir unendlich viel. Hoffen wir, dass unser neues gemeinsames Projekt ein Erfolg wird.“

Takis lehnte sich zurück. „Gegen dich ist Edmond Dantès nichts, Vincenzo Gagliardi.“

Florenz, Gegenwart

An der Anschlagtafel der Florentiner Gourmetschule für Gastronomie, Koch- und Konditorkunst hingen Stellenanzeigen aus vier Kontinenten, die die Absolventen sich ansehen konnten.

Mit siebenundzwanzig hatte Gemma endlich nicht nur den heiß ersehnten Abschluss, sondern auch die begehrte Auszeichnung für den ersten Platz als beste Absolventin in der Tasche. Sie eilte durch den Flur zum Büro, denn natürlich wollten sich alle auf die prestigeträchtigste der Stellen bewerben. Gemma wusste nicht, wie ihre Chancen standen, doch es war ohnehin egal. Die unglaublich strapaziösen Jahre der Ausbildung waren vorbei, und sie würde eine Stelle finden, die ihr ein neues Leben ermöglichte, sodass sie sich beweisen konnte.

Sie wollte sich bei der Familie ihrer Mutter revanchieren, die Mirella und sie nach dem Hinauswurf aus dem Castello di Lombardi bei sich aufgenommen hatte. Wegen Gemmas Beziehung zu Vincenzo vor all den Jahren war ihre Familie in große Bedrängnis geraten – und ihre Mutter hatte es die berufliche Laufbahn gekostet. Dafür fühlte Gemma sich verantwortlich, denn sie hatte die Warnungen ihrer Mutter in den Wind geschlagen, dass Bürgerliche sich von Adligen fernhalten sollten. Aber das alles war nun lange her.

Vor der Anschlagtafel herrschte großes Gedränge, deshalb fotografierte Gemma die Anzeigen mit dem Handy, um sie sich später in Ruhe ansehen zu können.

Ihre beste Freundin, Filippa Gatti, hatte mit ihr zusammen die Konditorausbildung und den Abschluss gemacht. Sie verabredeten sich für später, dann eilte Filippa davon. Gemma ging hinaus, stieg in ihr altes blaues Auto und fuhr zur Wohnung ihrer Tante, die drei Kilometer entfernt lag. Die Schwester von Gemmas Mutter war die Besitzerin der hundert Jahre alten Bäckerei der Familien Bonucci und betrieb diese gemeinsam mit ihrer verheirateten Tochter. Als Gemma und ihre Mutter nach Florenz geflüchtet waren, hatte ihre Tante sie in der Wohnung über der Bäckerei wohnen lassen.

Ihre gutherzige Tante hatte Gemmas Mutter Arbeit gegeben und Gemma geholfen, ein Stipendium für die Koch- und Konditorschule zu bekommen. Auch die Cousine war ein toller Mensch. Sie verstanden sich alle sehr gut.

Gleich nach dem Beginn ihrer Ausbildung hatte Gemma täglich nach dem Unterricht in der Bäckerei ausgeholfen. Die Ausbildung an der Kochschule dauerte zehn Jahre. Und nun, nachdem sie ihren Abschluss in der Tasche hatte, wollte sie sich bei ihrer Tante dafür revanchieren, dass diese sie und ihre Mutter so großzügig bei sich hatte wohnen lassen und ihnen wieder auf die Beine geholfen hatte. Sie wollte ihr etwas zurückzahlen.

Heute rannte Gemma geradezu die Stufen zur Eingangstür hinauf. Sie brannte darauf, ihrer Mutter und ihrer Tante zu erzählen, dass sie zur besten Absolventin ihres Abschlussjahrgangs gekürt worden war. Nachdem die beiden so viel Vertrauen in sie gesetzt hatten, war Gemma umso erfreuter, dass sich all die harte Arbeit ausgezahlt hatte.

Doch ausgerechnet jetzt waren ihre Mutter und ihre Tante im wohlverdienten Urlaub, zum ersten Mal seit Jahren. Sie reisten durch England, Schottland, Wales und Irland und würden erst in drei Wochen zurückkommen.

Jetzt, da Gemma ihren Abschluss hatte, wollte sie sich eine super Stelle suchen, ausziehen und ihre mamma Mirella mitnehmen. Sie würden in eine kleine, günstige Wohnung ziehen, ihre Mutter bräuchte nicht mehr zu arbeiten und könnte einfach das Leben genießen, während ihre Tochter den Lebensunterhalt für sie beide verdiente.

Gemma nahm sich ihre Lieblings-Fruchtlimo aus dem Kühlschrank und setzte sich an den kleinen Küchentisch, um ihre Mutter anzurufen. Doch leider erreichte sie nur die Mailbox. Sie hinterließ eine Nachricht und bat um schnellstmöglichen Rückruf.

Dann sah sie sich die Fotos von den Stellenanzeigen für Konditoren an. Zu ihrer großen Enttäuschung war keine einzige aus Frankreich dabei, wo sie am liebsten arbeiten wollte.

Die Franzosen waren ebenso wie die Italiener überzeugt, die besten Köche und Konditore hervorzubringen. Wie Gemma von ihrer Mutter und ihrer Tante wusste, würde es schwer sein, es in einem der beiden Länder in ein führendes Fünf-Sterne-Restaurant zu schaffen. Noch immer waren Frauen in dieser Branche benachteiligt. Irgendwann werde ich an der Côte d’Azur arbeiten, dachte Gemma entschlossen. Aber jetzt brauchte sie erst einmal einfach Arbeit.

Sie verdrängte ihre Enttäuschung und sah sich die Stellen an: fünf in Spanien, drei in England, eine in Liechtenstein, zwei in Australien, drei in Japan, drei in Kanada und eine in Italien. Keins der Länder begeisterte sie, trotzdem las sie sich alle Anzeigen aufmerksam durch. Als sie zur letzten gelangte, der aus Italien, erstarrte sie. Ihr Herz schlug wie verrückt, während sie immer wieder den kurzen Text las.

Einsatzort: Umland von Mailand. Castello aus dem vierzehnten Jahrhundert, ehemaliges Anwesen des verstorbenen Duca di Lombardi, Salvatore Gagliardi. Feierliche Eröffnung des Fünf-Sterne-Hotelrestaurants Castello di Lombardi, 6. Juli.

Der 6. Juli war schon in vier Wochen! Gemma las weiter.

Wir nehmen Bewerbungen für die Position des Chefkochs und des Chefkonditors entgegen. Anforderungen: siehe Liste. Es werden nur Kandidaten berücksichtigt, die die Voraussetzungen erfüllen.

Gemma musste sofort an Vincenzo denken und wäre fast in Ohnmacht gefallen. Dass er damals einfach verschwunden war, ohne sich von ihr zu verabschieden, machte sie noch immer wütend. Er hatte ihr doch gesagt, er würde sie lieben und eines Tages würden sie heiraten.

Aber dann war er spurlos verschwunden, und sie hatte sich so ausgenutzt gefühlt. Wie hatte sie nur so dumm sein können! Als würde der künftige duca sich allen Ernstes mit der Tochter einer Köchin abgeben … Als Vincenzos Vater sie und ihre Mutter hinausgeworfen hatte wie Müll, war Gemma unsanft in die harte Realität zurückgekehrt. Dieses schmerzliche Erlebnis hatte ihre ganze Welt zutiefst erschüttert.

Sie spürte, wie sich in ihrem Innern etwas zusammenzog. Das castello, ein historisches Wahrzeichen, war zu einem Hotel mit Restaurant umgebaut worden. Wie konnte so etwas einer so alten, angesehenen Familie passieren?

Autor

Rebecca Winters

Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

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