Baccara Exklusiv Band 258

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WENN VERLANGEN DIE VERNUNFT BESIEGT von MAUREEN CHILD

Eigentlich ist Bestsellerautor Micah Hunter in Utah, um für seinen neuen Roman zu recherchieren. Nicht, um eine Affäre mit seiner Vermieterin anzufangen. Doch Kelly geht dem Milliardär nicht aus dem Kopf. Als Kelly ihn bittet, ihren Verlobten zu spielen, stimmt Micah zu …

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  • Erscheinungstag 03.05.2025
  • Bandnummer 258
  • ISBN / Artikelnummer 0858250258
  • Seitenanzahl 448

Leseprobe

Maureen Child, Barbara Dunlop, Olivia Gates

BACCARA EXKLUSIV BAND 258

Maureen Child

1. KAPITEL

„Tut mir echt leid“, sagte Micah Hunter. „Ich mochte dich wirklich gern, aber du musstest einfach sterben.“

Er lehnte sich im Schreibtischstuhl zurück und überflog die letzten Zeilen der Szene, die er gerade geschrieben hatte. Einer seiner bekanntesten Charaktere war nun tot. Zufrieden seufzte er und klappte den Laptop zu.

Vier Stunden hatte er schon gearbeitet, und es war höchste Zeit für eine Pause. Während er ans Fenster trat und auf die Straße hinaussah, murmelte er vor sich hin: „Das einzige Problem ist, dass ich hier nirgendwo hingehen kann.“

Gelangweilt zog er sein Handy aus der Tasche und tippte auf die Kurzwahl. Es klingelte ein oder zwei Sekunden, bevor ein Mann am anderen Ende abhob.

„Wie konntest du mich nur überreden, sechs Monate hierzubleiben?“

Sam Hellman lachte. „Ich freue mich auch, von dir zu hören, Micah.“

„Ja, ja.“ Klar, dass sein Freund sich über ihn lustig machte. Wäre er nicht in dieser amerikanischen Kleinstadt gestrandet, würde Micah es auch witzig finden. Allerdings war ihm gerade nicht nach Scherzen zumute. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und sah sich die sogenannte „herrliche Aussicht“ an.

Das Haus, das er gemietet hatte, war ein echtes viktorianisches Herrenhaus. Es lag an einer breiten Straße, die gesäumt war von riesengroßen, vermutlich sehr alten Bäumen. Die Blätter leuchteten in Rot und Gold, ein letztes Aufbäumen vor dem Winter. Der Himmel war strahlend blau, und die Herbstsonne lugte hinter dicken weißen Wolken hervor. Es ist still, dachte Micah, so still, dass es fast unheimlich ist.

Da die spannungsgeladenen Horrorromane, für die er bekannt war, regelmäßig auf Platz eins der New-York-Times-Bestsellerliste landeten, kannte er sich mit dem Unheimlichen gut aus.

„Ich meine es ernst, Sam. Ich stecke hier noch für vier Monate fest, weil du mich überredet hast, den Mietvertrag zu unterschreiben.“

Sam lachte. „Du sitzt da fest, weil du dir eine Herausforderung niemals entgehen lassen würdest.“

Hart, aber wahr, dachte Micah. Niemand kannte ihn in der Hinsicht besser als Sam. Kennengelernt hatten sie sich als junge Männer auf einem Schiff der US Navy, als sie dort ihren Dienst angetreten hatten. Sam war damals vor seiner reichen Familie und deren Erwartungen an ihn geflohen, er selbst vor seiner Vergangenheit, die er in verschiedenen Pflegefamilien verbracht hatte. Dieses Leben war voll mit Lügen und nicht eingehaltenen Versprechen gewesen. Irgendwie hatten sie einen Draht zueinander gefunden und waren in Kontakt geblieben, nachdem ihr Dienst vorbei gewesen war.

Damals war Sam nach New York zu der Literaturagentur zurückgekehrt, die sein Großvater gegründet hatte. Die Distanz hatte ihn erkennen lassen, dass er tatsächlich gerne in das Familiengeschäft einsteigen wollte. Währenddessen hatte Micah sämtliche Jobs auf Baustellen angenommen und in jeder wachen Minute an einem Roman gearbeitet.

Schon als Kind hatte Micah gewusst, dass er Bücher schreiben wollte, und als er endlich damit anfing, flossen die Worte schneller aus ihm heraus, als er sie aufschreiben konnte. Bis tief in die Nacht hinein tippte er und verlor sich in der Geschichte, die sich auf seinem Bildschirm entfaltete. Nach Beendigung seines ersten Romans hatte er sich wie ein Marathonläufer gefühlt – erschöpft, zufrieden und siegreich.

Den ersten Entwurf hatte er Sam geschickt, der ihm noch Millionen von Vorschlägen zur Verbesserung gemacht hatte. Niemand mochte es, wenn ein Text, den man vorher schon für sehr gut gehalten hatte, noch mal auf den Kopf gestellt wurde, aber Micah war so entschlossen gewesen, den Roman zu einem Erfolg zu machen, dass er die meisten Änderungen akzeptierte. Das Manuskript hatte er sofort für einen bescheidenen Vorschuss an den Mann gebracht. Nie zuvor war er so stolz auf einen Verdienst gewesen.

Und das Buch sollte nur der Anfang gewesen sein. Sein zweiter Roman wurde durch Weiterempfehlungen zu einer Sensation, die sich so rasant ausbreitete wie ein Virus und sich auf Anhieb auf die Bestsellerlisten katapultierte. Ohne es zu ahnen, wurden seine Träume allmählich zur Realität. Seitdem hatten Sam und Micah zusammengearbeitet und gaben ein großartiges Team ab. Und gerade weil sie so gute Freunde waren, wusste Sam genau, womit er Micah locken konnte.

„Das ist die Rache für letzten Winter, weil ich bei dem Snowboard-Rennen gewonnen habe, stimmt’s?“

„Hältst du mich für so nachtragend?“, fragte Sam lachend.

„Oh ja!“

„Na ja, okay, vielleicht“, gab Sam zu. „Aber du warst derjenige, der die Wette angenommen hat, für sechs Monate in einer Kleinstadt zu leben.“

„Auch wieder wahr.“

Wie schlimm kann es schon werden? Micah erinnerte sich, dass ihm diese Frage durch den Kopf gegangen war, bevor er den Mietvertrag mit der Eigentümerin Kelly Flynn abgeschlossen hatte. Jetzt, zwei Monate später, wusste er die Antwort auf diese Frage.

„Immerhin geht es um Recherche“, bemerkte Sam. „Das aktuelle Buch spielt nun mal in einer Kleinstadt. So kannst du Erfahrungen aus erster Hand sammeln.“

„Schon mal was von Google gehört?“ Micah lachte. „Und was ist mit dem Buch, das in Atlantis gespielt hat? Was glaubst du, wie die Recherche dazu ausgesehen hat?“

„Darum geht’s doch gar nicht. Also, Jenny und ich mochten das Haus, als wir vor ein paar Jahren da waren. Na gut, vielleicht ist Banner eine Kleinstadt, aber es gibt dort leckere Pizzen.“

Da konnte Micah nur zustimmen. „Pizza Bowl“ hatte schon eine Kurzwahl auf seinem Telefon bekommen.

„Ich hab’s dir schon gesagt: Warte noch einen Monat, dann sieht die Welt anders aus“, meinte Sam. „Dann genießt du den Pulverschnee in den Bergen, und alles ist vergessen.“

Micah war sich da nicht so sicher, aber er musste zugeben, dass das Haus wirklich toll war. Er schaute sich in dem Zimmer im ersten Stock um, das er vorläufig zum Büro erklärt hatte. Alle Zimmer waren groß mit hohen Decken, und der Ausblick auf die Berge war fantastisch. Das ganze Haus besaß viel Charme, aber wenn er durch das riesige Gebäude lief, kam er sich vor wie ein Gespenst. So viel Platz hatte er noch nie für sich allein gehabt, und er musste sich eingestehen, dass es ihm ab und zu unheimlich vorkam.

Außerdem gab es sonst in jeder verdammten Stadt, egal in welcher, Lichter, Menschen, Geräusche. Doch hier waren die Nächte dunkler als an allen anderen Orten, die er kannte. Selbst bei der Navy an Bord eines Schiffes gab es ausreichend Licht, sodass die Sterne am Nachthimmel nur schwach leuchteten. Die Stadt Banner in Utah allerdings stand auf der internationalen Liste der Lichtschutzgebiete. Sie lag direkt hinter einer Bergkuppe, die jeden Lichtschein, der aus Salt Lake City herüberstrahlte, verschluckte.

In Banner konnte man bei Nacht die Milchstraße und eine wahre Explosion an Sternen erkennen, bei deren Anblick man nicht nur staunte, sondern sich auf einmal auch sehr klein vorkam. Noch nie hatte Micah einen solchen Sternenhimmel gesehen, und irgendwie entschädigte ihn die Schönheit für das Gefühl, einsam und verlassen mitten im Nirgendwo zu sitzen.

„Wie geht es mit dem Buch voran?“, fragte Sam unvermittelt.

Der Themenwechsel brachte Micah kurz aus dem Konzept, trotzdem war er dankbar dafür. „Gut. Ich habe gerade den Bäcker umgebracht.“

„Schade eigentlich. Es ging doch nichts über den guten alten Bäcker.“ Sam lachte. „Wie ist er gestorben?“

„Auf ziemlich grausame Art und Weise“, sagte Micah. „Der Mörder hat ihn im heißen Fett der Donut-Fritteuse ertränkt.“

„Micah … das ist ja grauenvoll.“ Sam seufzte. „Wahrscheinlich werde ich nie wieder Donuts essen.“

Gut zu wissen, dass der Mord, den er sich ausgedacht hatte, den Leser gruselte.

„Das hält bestimmt nicht lange an“, meinte Micah.

„Dem Lektor wird wahrscheinlich schlecht beim Lesen, aber deine Fans werden es lieben“, versicherte Sam ihm. „Und wo wir gerade von Fans sprechen … Ist schon irgendjemand in der Stadt aufgetaucht?“

„Bisher nicht, aber das ist nur eine Frage der Zeit.“ Argwöhnisch ließ Micah den Blick über die Straße schweifen und erwartete beinahe, jemanden mit einer Kamera vor dem Haus zu sehen, der hoffte, ein Foto von ihm zu bekommen.

Ein Grund, warum er sich nie lange an einem Ort aufhielt, war, dass seine größten Fans ihn immer irgendwie aufspürten. Sie kreuzten dann in seinem Hotel auf, in der Annahme, er würde sich freuen, sie zu sehen. Die meisten waren natürlich harmlos, aber er wusste nur zu gut, wie schnell aus einem Fan ein Fanatiker werden konnte. Ein paar von ihnen waren sogar schon irgendwie in sein Hotelzimmer gelangt oder hatten sich ohne Einladung beim Abendessen zu ihm an den Tisch gesetzt und so getan, als wären sie entweder alte Freunde oder ehemalige Liebhaberinnen.

Den Social-Media-Diensten hatte er es zu verdanken, dass immer irgendjemand postete, wo er sich versteckt hielt oder zuletzt gesehen worden war. Deswegen reiste Micah weiter, sobald er ein Buch fertiggestellt hatte. Meistens suchte er sich große Städte aus, wo er in der Masse der Menschen unterging, und Fünf-Sterne-Hotels, die genügend Sicherheit boten. Bis jetzt.

„Niemand wird dich in dieser winzigen Stadt in den Bergen suchen“, sagte Sam.

„Das habe ich damals auch gedacht, als ich in dem Hotel in der Schweiz war“, erinnerte Micah ihn. „Bis dieser Typ aufgetaucht ist, der mich zusammenschlagen wollte, weil seine Freundin in mich verknallt war.“

Sam lachte wieder, und Micah schüttelte nur den Kopf. Okay, im Nachhinein war es vielleicht ganz lustig, aber dass ein Fremder ihm in der Hotellobby auflauerte, musste er nicht noch mal erleben.

„Es war die richtige Entscheidung, nach Banner zu gehen“, meinte Sam. „Ein Privathaus wird die Fans eher fernhalten als ein Hotel.“

„Ja, sollte es. Jedenfalls hält es mich fern von allem.“ Micahs Blick verfinsterte sich. „Es ist einfach viel zu ruhig hier.“

„Soll ich dir eine Tonaufnahme vom Verkehr in Manhattan schicken? Du könntest sie beim Schreiben abspielen.“

„Sehr witzig“, sagte Micah und wollte nicht einmal sich selbst eingestehen, dass die Idee gar nicht so dumm war. „Warum habe ich dich eigentlich noch nicht gefeuert?“

„Weil ich uns einen riesigen Haufen Geld einbringe, mein Lieber.“

Erwischt, dachte Micah. „Stimmt. Ich wusste, da war was.“

„Und weil ich charmant und witzig bin und der einzige Mensch auf der Welt, der mit deiner bescheuerten Einstellung zurechtkommt.“

Jetzt musste auch Micah lachen. Das war ein gutes Argument. Von Anfang an, schon als sie sich auf dem Flugzeugträger begegnet waren, auf dem sie beide ihren Dienst geleistet hatten, war Sam ein Freund für ihn gewesen – eine seltene Erfahrung für Micah. Da er in Pflegefamilien aufgewachsen und ständig umgezogen war, hatte er nie genügend Zeit gehabt, Freundschaften zu schließen. Und wahrscheinlich war es so auch ganz gut gewesen, denn nie hätte er es geschafft, die Freunde bei den ständigen Ortswechseln zu halten.

Er war also froh, dass es Sam gab – auch wenn der ihm manchmal den letzten Nerv raubte. „Klasse. Vielen Dank.“

„Kein Problem. Was hältst du eigentlich von deiner Vermieterin?“

Micah missfiel diese Frage, denn er versuchte krampfhaft, nicht an Kelly Flynn zu denken. Bisher funktionierte es zwar nicht, aber er gab noch nicht auf.

In den letzten zwei Monaten hatte er alles getan, um die Distanz zu wahren. Es gab wahrscheinlich keinen Mann, der sich nicht zu ihr hingezogen fühlte. Trotzdem konnte er eine Affäre gerade nicht gebrauchen. Er wollte noch vier Monate hierbleiben. Wenn er etwas mit Kelly anfing, würde das alles nur … verkomplizieren.

Im Falle eines One-Night-Stands wäre sie hinterher bestimmt zickig, und er müsste sie dann vier Monate ertragen. Und bei einer längeren Affäre würde sie die Zeit in Anspruch nehmen, die er zum Schreiben brauchte, und sich vermutlich eine gemeinsame Zukunft zurechtspinnen, die niemals eintreten würde. Auf so ein Drama konnte er verzichten. Das Einzige, was er wollte, waren Zeit und ein Platz zum Schreiben, damit er schnell wieder aus dieser winzigen Stadt verschwinden und zurück in die Zivilisation gehen konnte.

„Hm“, machte Sam. „Dein Schweigen sagt schon alles.“

„Es sagt gar nichts“, erwiderte Micah in dem Versuch, sowohl Sam als auch sich selbst zu überzeugen. „Und da läuft auch nichts.“

„Bist du krank?“

„Warum?“

„Komm schon“, sagte Sam, und Micah konnte sich lebhaft vorstellen, wie Sam sich in seinem Schreibtischstuhl zurücklehnte und die Füße auf die Ecke seines Schreibtisches legte. Vermutlich schaute er aus dem Fenster auf Manhattan hinaus. „Zum Teufel noch mal! Ich bin verheiratet, und sie ist mir trotzdem aufgefallen. Sie sieht klasse aus! Solltest du das Jenny erzählen, werde ich es übrigens leugnen.“

Micah sah in den Garten hinunter, wo Kelly gerade arbeitete, und schüttelte den Kopf. Die Frau kam nie zur Ruhe. Sie war immer in Bewegung, hatte immer etwas zu tun und bestimmt zehn unterschiedliche Jobs. Wobei sie offensichtlich trotzdem noch die Zeit fand, um Laub zu harken und in Säcke zu stopfen. Er sah zu, wie sie eine ganze Schubkarre mit Säcken belud und dann auf den Gehweg zusteuerte.

Ihr langes rotblondes Haar hatte sie im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden. Sie trug ein dunkelgrünes Sweatshirt und eine verwaschene Jeans, die ihren Po und ihre langen Beine zur Geltung brachte. Arbeitshandschuhe verbargen ihre Hände, und ihre Stiefel waren voller Kratzer und vom jahrelangen Tragen ganz abgewetzt.

Obwohl sie mit dem Rücken zum Haus stand, wusste Micah genau, wie ihr Gesicht aussah. Zarte Haut und Sommersprossen auf Nase und Wangen, grüne Augen, um die sich beim Lachen feine Fältchen bildeten, und ein breiter Mund, bei dem er sich jedes Mal fragte, wie sie wohl schmeckte.

Er sah, wie sie die Säcke auf dem Gehweg ablud und einer Nachbarin auf der gegenüberliegenden Straßenseite zuwinkte. Bestimmt lächelte sie. Er konnte es sich genau vorstellen. Schnell drehte er dem Fenster den Rücken zu, verbannte das Bild von Kelly aus seinem Kopf und ging zurück zu seinem Stuhl. „Ja, sie ist ganz hübsch.“

Sam lachte. „Ich kann deine Begeisterung geradezu spüren.“

Oh, Begeisterung ist schon vorhanden, dachte Micah. Zu viel Begeisterung. Und genau das war das Problem. „Ich bin nicht hier, um Frauen aufzureißen, Sam. Ich bin hier, um zu arbeiten.“

„Das ist aber traurig.“

Da musste er Sam recht geben. „Danke. Warum genau hast du mich noch mal angerufen?“

„Micah! Du solltest echt mal ’ne Pause machen. Du hast mich doch angerufen!“

„Ach ja, stimmt.“ Micah raufte sich die Haare. Vielleicht brauchte er wirklich eine Pause. Die letzten zwei Monate hatte er fast nonstop durchgearbeitet. Kein Wunder, dass er trotz der Größe des Hauses allmählich Platzangst bekam. „Gute Idee. Ich werde mal eine Spritztour machen. Den Kopf freikriegen.“

„Nimm die Vermieterin mit“, drängte Sam. „Sie könnte dich ein wenig herumführen. Ich gehe mal davon aus, dass du das große, alte Haus seit deiner Ankunft kaum verlassen hast.“

„Da hast du recht, aber ich brauche keine Touristenführerin.“

„Was brauchst du dann?“

„Das sage ich dir, wenn ich es herausgefunden habe.“ Micah legte auf.

„Und wie geht es unserem berühmten Autor so?“

Kelly grinste ihre Nachbarin an. Sally Hartsfield war der neugierigste Mensch auf dem gesamten Planeten. Sie und ihre Schwester Margie waren alleinstehend und um die neunzig Jahre alt. Die meiste Zeit verbrachten die beiden damit, vom Fenster aus zu beobachten, was in der Nachbarschaft vor sich ging.

„Ich schätze, er ist sehr beschäftigt“, antwortete Kelly und warf einen flüchtigen Blick hinauf zum Fenster im ersten Stock, wo sie Micah noch vor ein paar Minuten entdeckt hatte. Er war nicht mehr da. Etwas enttäuscht wandte sie sich wieder Sally zu. „Als er eingezogen ist, hat er gesagt, er kann sich vor Arbeit kaum retten und will nicht gestört werden.“

„Hm …“ Auch Sally linste kurz hinauf zum Fenster. „Nach seinem letzten Buch hatte ich Albträume. Da fragt man sich schon, wie er es aushält, die ganze Zeit allein zu sein, während er sich so unheimliches Zeugs ausdenkt …“

Kelly musste ihr recht geben. Sie selbst hatte nur einen von Micahs insgesamt sieben Romanen gelesen, weil sie danach so ängstlich gewesen war, dass sie zwei Wochen nur mit Licht hatte einschlafen können. Wenn sie las, wollte sie unterhaltsame Zuflucht finden und nicht in panische Angst versetzt werden. „Ich glaube, er fühlt sich ganz wohl“, sagte sie.

„Nun ja, jeder ist anders“, bemerkte Sally. „Und dafür sollten wir dankbar sein. Stell dir nur mal vor, was für ein langweiliges Leben wir hätten, wenn wir alle gleich wären.“ Zur Bekräftigung schüttelte sie den Kopf, aber ihre mit Haarspray verklebten Locken bewegten sich keinen Millimeter. „Und dann gäbe es auch nichts, worüber wir reden könnten.“

Für Sally wäre das die wahre Tragödie, so viel wusste Kelly. Diese Frau würde sogar einem Stein noch wertvolle Informationen entlocken.

„Aber er ist ein gut aussehender junger Mann, nicht wahr?“, fragte Sally lauernd.

Gut aussehend? Micah Hunter war viel mehr als das. Auf der Rückseite seiner Bücher war ein Foto von ihm abgedruckt, das ihn grüblerisch und ein wenig bedrohlich zeigte. Vermutlich war das Absicht. Begegnete man ihm allerdings persönlich, konnte man so viel mehr in ihm sehen.

Seine dichten braunen Haare waren ständig zerzaust, als wäre er gerade erst aufgestanden. Seine Augen hatten die Farbe von schwarzem Kaffee, und wenn er sich ein oder zwei Tage nicht rasierte, erinnerte er an einen Piraten. Er hatte ein breites Kreuz, schmale Hüften und war groß genug, dass sogar Kelly mit ihren eins fünfundsiebzig neben ihm klein wirkte.

Sobald Micah Hunter einen Raum betrat, zog er die gesamte Aufmerksamkeit sofort auf sich, egal, ob er es darauf anlegte oder nicht. Kelly konnte sich gut vorstellen, dass sämtliche Frauen, die ihn kannten, ab und an in Tagträume verfielen. Wie es schien, galt das sogar für Sally Hartsfield, deren Enkel im gleichen Alter wie Micah war.

„Er sieht ganz okay aus“, sagte Kelly, als sie bemerkte, dass Sally sie immer noch abwartend ansah.

Die alte Dame seufzte und stemmte die Hände in die Hüften. „Kelly Flynn, was ist nur mit dir los? Das mit Sean ist nun schon vier Jahre her. Wenn ich so alt wäre wie du …“

Bei der Erwähnung ihres verstorbenen Ehemanns versteifte Kelly sich automatisch und nahm eine abwehrende Haltung ein. Sally musste es bemerkt haben, denn sie brach ab, lächelte sie an und wechselte das Thema.

„Wie auch immer, ich habe gehört, du zeigst das Haus der Polks heute Nachmittag einem Pärchen, das extra anreist – ausgerechnet aus Kalifornien.“

Beeindruckt, aber auch ein wenig verärgert sah Kelly die alte Dame an. Den Termin hatte sie doch erst am Tag zuvor gemacht. „Woher weißt du das?“

Sally winkte ab. „Ach, ich habe da so meine Quellen.“

Schon lange vermutete Kelly, dass Sally und ihre Schwester eine Armee an Spionen beschäftigen mussten, die in ganz Banner verteilt waren. Diese Aussage bestärkte sie darin. „Du hast recht, Sally. Ich gehe jetzt wohl besser. Ich muss mich noch duschen und umziehen.“

„Natürlich, Schätzchen, nur zu.“ Sie sah wieder zum Fenster hinauf, und Kelly merkte ihr die Enttäuschung an, als sie Micah wieder nicht entdecken konnte. „Ich habe selbst noch einiges zu erledigen.“

Kelly beobachtete, wie sie über die Straße eilte. Sie trug rosa Sneakers, die auf dem Laub besonders hervorstachen. Die alten Eichen, die die Straße säumten, streckten ihre knorrigen Zweige so weit aus, dass sie über der Straße beinahe einen Bogen aus goldroten Blättern bildeten.

Die Häuser in ihrer Straße sahen alle unterschiedlich aus. Von kleinen Häuschen aus Naturstein bis hin zu dem erhabenen Gebäude im viktorianischen Stil, in dem Kelly aufgewachsen war, gab es hier alles. Jedes war mindestens hundert Jahre alt, aber alle wurden gut instand gehalten, und auch die Grünflächen sahen gepflegt aus. Menschen, die einmal in Banner lebten, blieben hier. Sie wurden hier geboren, wuchsen auf, heirateten und verbrachten ihr Leben hier, bis sie starben.

Diese Beständigkeit hatte Kelly immer beruhigt. Seitdem sie acht Jahre alt war, wohnte sie in Banner. Nachdem ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, war sie zu ihren Großeltern gezogen und zum Mittelpunkt ihrer Existenz geworden. Als dann auch ihr Großvater starb, war Granny nach Florida gezogen und hatte das große viktorianische Herrenhaus und das benachbarte kleinere Häuschen für den Hausverwalter in Kellys Obhut gelassen. Da es keinen Sinn ergab, alleine in diesem riesigen Haus zu wohnen, vermietete Kelly es und lebte stattdessen in dem kleinen Cottage.

In den letzten drei Jahren hatte das Haus nur selten leer gestanden. Wenn es nicht gerade an Urlauber vermietet war, wurde das Grundstück gerne für Hochzeiten und große Feste genutzt. Letztes Jahr hatten ein paar Pfadfinderinnen im großen Garten hinter dem Haus eine riesige Grillparty für die ganze Stadt veranstaltet.

Sie selbst verwandelte die Vorderfront des Hauses jedes Jahr an Halloween in ein Spukhaus. Darum sollte ich mich bald mal kümmern, dachte Kelly. Es war schon der erste Oktober, und wenn sie nicht langsam anfing, würde der Monat zu schnell an ihr vorbeiziehen.

Als sie gerade den halben Weg zum Haus zurückgelegt hatte, öffnete sich die Haustür, und Micah trat heraus. Kellys Herz machte einen Sprung, und in ihrem Bauch kribbelte es. Oh Mann! Vier Jahre waren vergangen, seitdem ihr Mann Sean gestorben war. In der ganzen Zeit hatte sie nicht allzu viele Dates gehabt, was ihre extreme Reaktion auf Micahs Anwesenheit vermutlich erklärte.

Er trug eine schwarze Lederjacke über einem schwarzen T-Shirt, das in der schwarzen Jeans steckte. Ganz offensichtlich war das seine Lieblingsfarbe. Schwarze Boots vervollständigten den düsteren Look, und während sie das Gesamtpaket bewunderte, pochte ihr Herz so laut, dass das Echo ihr in den Ohren widerhallte.

„Brauchst du Hilfe?“, fragte er und nickte mit dem Kopf zu der Schubkarre, an der sie sich nun festhielt.

„Was? Ach so. Nein.“ Toll, Kelly. Drei Worte. Wie wär’s mit einem ganzen Satz? „Ich meine, sie ist leer, so schwer ist sie nicht. Ich wollte sie nur hinters Haus fahren.“

„Okay.“ Er kam die breiten Stufen herunter und ging den Backsteinweg entlang, an dessen Rand Chrysanthemen in leuchtenden Herbstfarben wuchsen. „Ich mache gerade eine Pause und dachte, ich fahre mal ein bisschen herum – die Umgebung erkunden.“

„Nach zwei Monaten?“, fragte sie lächelnd. „Das wird dann aber auch Zeit.“

Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen. „Irgendeinen Vorschlag, welche Richtung ich nehmen könnte?“

Sie setzte die Schubkarre ab, warf ihren Pferdeschwanz zurück und dachte kurz nach. „Fast jedes Viertel hier ist schön. Wenn du aber ein Ziel haben willst, kannst du durch den Canyon runter fahren. Dort gibt es einige Marktstände. Du könntest mir ein paar Kürbisse mitbringen.“

Er neigte den Kopf zur Seite und betrachtete sie. Er schien sich zu amüsieren. „Habe ich denn gesagt, ich würde einkaufen gehen?“

„Nein“, sagte sie lächelnd. „Das war nur ein Vorschlag.“

„Oder du könntest mitkommen und dir selbst Kürbisse aussuchen.“

„Okay. Oder nein“, sagte sie. „Moment. Nein, lieber doch nicht.“

Er runzelte die Stirn.

Dass ihr jemand dabei zusah, wie sie mit sich selbst rang, war ihr ein bisschen peinlich. An Micahs Gesichtsausdruck konnte sie erkennen, dass er sie nicht wirklich dabeihaben wollte. Und genau aus diesem Grund wollte sie gerne mit. Aber eigentlich sollte sie es lieber lassen. Sie hatte genug zu tun, und Zeit mit Micah Hunter zu verbringen, war vielleicht nicht die klügste Entscheidung. Immer wieder schaffte er es, sie innerlich aufzuwühlen.

Aber konnte sie sich dann die Gelegenheit entgehen lassen, ihn genauso zu verunsichern?

„Ich meine … klar komme ich mit!“, sagte sie plötzlich. „Ich komme mit, aber ich muss in ein paar Stunden wieder zurück sein. Heute Nachmittag habe ich einen Besichtigungstermin für ein Haus.“

„Ich versichere dir, dass ich nicht zwei Stunden an einem Kürbisstand verbringen werde.“ Lässig schob er die Hände in die Jackentaschen. „Also, kommst du jetzt mit oder nicht?“

Sie begegnete seinem Blick, und in den dunklen Tiefen seiner braunen Augen sah Kelly, dass er immer noch hoffte, sie würde Nein sagen. Also hatte sie keine Wahl.

„Sicher.“

2. KAPITEL

„Wozu kaufst du Kürbisse, wenn du eigene anbaust?“

Sie hatten bereits die Hälfte der engen, kurvenreichen Straße durch den Canyon zurückgelegt. Zu beiden Seiten ragten die Berge auf, und überall standen Kiefern wie Soldaten in Reih und Glied. Dazwischen sprenkelten Eichen, Ahornbäume und Birken das dunkle Grün mit bunten Herbstfarben.

„Könntest du diese Dinger nicht auch irgendwo in der Nähe kaufen?“, fragte Micah weiter.

Sie betrachtete ihn von der Seite. „Natürlich könnte ich das, aber die ganz großen Kürbisse gibt es nur an den Marktständen.“

Kelly hätte schwören können, dass sie hörte, wie er die Augen verdrehte, aber es kümmerte sie nicht. Es war ein toller Herbsttag, sie machten gerade eine Spritztour in einem tollen Auto – auch wenn sie viel zu schnell über den Pass fuhren –, und sie saß neben einem tollen Mann, der sie ganz nervös machte.

Das kam einem Wunder gleich. Vier Jahre war es nun schon her, dass sie ihren Ehemann Sean verloren hatte, und Micah war der erste Mann, bei dem Gefühle in ihr wach wurden, die sie längst verloren geglaubt hatte. Sie wusste nur nicht, ob sie darüber froh sein sollte oder nicht.

Kelly ließ das Fenster herunter, und die kalte Herbstluft blies ihr ins Gesicht. Es hatte den gleichen Effekt wie eine kalte Dusche. Als sie wieder einigermaßen klare Gedanken fassen konnte, drehte sie sich in ihrem Sitz zu Micah um. „Die Kürbisse im Garten sind für die Kinder aus der Nachbarschaft.“

„Kannst du nicht ein paar davon selbst behalten?“

„Sicher. Aber wo bleibt denn da der Spaß?“

„Spaß?“, wiederholte er. „Ich habe dich beobachtet. Du musst Unkraut jäten, die Pflanzen stutzen und was sonst noch alles – das soll Spaß machen?“

„Mir schon.“ Der Wind wehte ihr die Haare ins Gesicht, doch sie strich sie rasch wieder nach hinten, um ihn ansehen zu können. „Außerdem … wenn ich wirklich Unterricht in Sachen Spaß bräuchte, würde ich mich nicht an dich wenden.“

Er schnaubte. „Ich würde dir auf jeden Fall etwas anderes zeigen als Kürbisse.“

Bei dem unterschwelligen Versprechen in seinen Worten machte ihr Magen einen Hüpfer, aber sie schluckte nur und blieb ruhig. Vermutlich deutete er mit seinen Aussagen ständig irgendetwas an, damit die Frauen nur so dahinschmolzen. Diesen Gefallen würde sie ihm nicht tun. Zumindest noch nicht.

„Das überzeugt mich irgendwie nicht“, sagte sie. „Du bist schon zwei Monate in der Stadt und hast kaum das Haus verlassen.“

„Das ist die Arbeit. Hab keine Zeit für Spaß.“

„Oder mit jemandem zu reden“, murmelte sie. Jedes Wort, das sie ihm entlockte, fühlte sich an wie ein kleiner Sieg.

„Was?“

„Nichts“, sagte sie. „Was verstehst du denn unter Spaß?“

Er überlegte einen Augenblick, dann sagte er: „Also, zuerst würde ich mir einen Privatjet mieten …“

„Deinen ganz persönlichen Jet?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich teile nicht gern.“

Sie lachte auf und erinnerte sich an das letzte Mal, als sie vom Flughafen aus Salt Lake City geflogen war. Auf einem ausgebuchten Flug hatte sie neben einer gesprächigen Dame gesessen, die nicht aufgehört hatte, über ihre Enkel zu reden. Auf der anderen Seite saß ein Geschäftsmann, dessen Aktentasche sich bei jeder seiner Bewegungen in ihren Oberschenkel gebohrt hatte. Sie verstand, warum er Privatjets bevorzugte. „Klar. Okay, also ein Jet. Und dann?“

Er fuhr den Range Rover immer weiter den Berg hinunter und schnitt dabei die Kurven wie ein Rennfahrer. Würde Kelly ihre Sorgen zulassen, hätte sie sich an ihrem Sitz festgeklammert, deswegen dachte sie nicht weiter darüber nach.

„Es ist Oktober, also würde ich auf das Oktoberfest in Deutschland gehen.“

„Oh.“ Das lag so weit außerhalb von Kellys normalem Leben, dass sie dazu kaum etwas sagen konnte. Allerdings war das auch gar nicht nötig, denn hatte man erstmal ein Thema gefunden, für das Micah sich interessierte, redete er nur so drauflos.

„Ein toller Ort, um Menschen zu beobachten.“

„Darauf möchte ich wetten“, sagte sie.

Er ging nicht darauf ein. „Autoren beobachten alles. Touristen. Einheimische. Wie Leute miteinander umgehen. Dabei kommen mir oft Ideen für meine Bücher.“

„Zum Beispiel, wer ermordet werden soll?“

„Unter anderem. Ein Hotelmanager musste in einem meiner Bücher mal dran glauben.“ Er zuckte mit den Achseln. „Der Typ war ein Mistkerl. So bin ich ihn wenigstens fiktional losgeworden.“

Sie sah ihn an. „Hast du vielleicht auch vor, deine jetzige Vermieterin zu beseitigen?“

„Noch nicht.“

„Wie beruhigend.“

„Nach einem verlängerten Wochenende in Deutschland würde ich jedenfalls weiter nach England reisen.“ Er schien ihre Frage sehr ernst zu nehmen. „Es gibt da ein Hotel in Oxford, das ich mag.“

„Du würdest nicht nach London gehen?“

„In Oxford erkennen mich weniger Leute.“

„Ist das häufig ein Problem?“, fragte sie.

„Manchmal.“ Er fuhr um eine weitere Kurve, und Kelly wurde in seine Richtung geschleudert. Davon nahm er allerdings keine Notiz.

„Dank Social Media spüren meine Fans mich ständig auf. Irgendwann nervt es einfach nur.“

Das konnte sie nachvollziehen. Micahs Foto auf der Rückseite seiner Bücher war aber auch faszinierend. Sie selbst hatte es eine ganze Weile betrachtet – die Augen, die wirren Haare, die ihm in die Stirn fielen, den markanten Kiefer.

„Vielleicht sollten sie dein Foto auf der Rückseite deiner Bücher entfernen.“

„Glaub mir, das habe ich schon vorgeschlagen, aber der Verleger wollte davon nichts wissen.“

Darauf wusste Kelly nicht mehr, was sie sagen sollte. Sie war noch nie von fremden Leuten verfolgt worden, die näher an sie herankommen wollten, und ihre bisher weiteste Reise war der Flug nach Florida gewesen, als sie ihre Großmutter besucht hatte. England? Deutschland? Das hatte bisher nicht zu ihrem Lifestyle gehört. Liebend gern würde sie irgendwann nach Europa reisen, aber sicherlich nicht in einem Privatjet.

Sie sah aus dem Fenster auf die vorbeiziehende vertraute Landschaft und spürte, wie sie ruhiger wurde. Micahs Leben war so vollkommen anders, dass sich ihr der Kopf drehte, wenn sie nur daran dachte.

„Eines Tages …“, sagte sie plötzlich und sah wieder zu ihm hinüber, „… möchte ich nach Schottland gehen und Edinburgh Castle besichtigen.“

„Es lohnt sich“, versicherte er ihr.

Natürlich war er schon dort gewesen. Kein Wunder, dass er sich immer in der Nähe des Hauses aufhielt. Warum sollte er sich auch in Banner umsehen wollen? Nach all den Orten, die er schon gesehen hatte, war ihm ihre kleine Heimatstadt vermutlich viel zu langweilig. Zwar zog Banner beim Vergleich mit Edinburgh oder dem Oktoberfest in Deutschland sicher den Kürzeren, aber Kelly mochte es hier.

„Gut zu wissen“, sagte sie. „Bis dahin pflanze ich halt einfach weiter Kürbisse für die Kinder.“ Bei diesem Gedanken musste sie lächeln, und auch der letzte Funken Neid verging. „Ich mag alles, was mit Gärtnern zu tun hat: zu sehen, wie die Samen sprießen, wie sich die Ranken ihren Weg suchen und wie schließlich große, leuchtend orangefarbene Kürbisse daraus entstehen. Ich finde es klasse, dass die Kinder aus der Nachbarschaft oft vorbeikommen, sich einen Kürbis aussuchen und dabei helfen, sie zu bewässern und Unkraut zu jäten. Sie können schnell besitzergreifend werden, wenn es um ihren Kürbis geht.“

„Ich weiß“, sagte Micah mit sarkastischem Unterton. „Ich kann sie im Büro noch hören.“

Sie bemerkte, dass er seinen Blick fest auf die Straße heftete. War er ein vorsichtiger Fahrer, oder wollte er nur vermeiden, sie anzusehen? Wahrscheinlich eher Letzteres. In den zwei Monaten, die er nun schon in ihrem Haus wohnte, hatte er die Fähigkeit, ihr auszuweichen, perfektioniert.

Was hatte sie auch anderes erwartet? Schließlich war er Schriftsteller und hatte schon zu Beginn gesagt, dass er zum Schreiben in Ruhe gelassen werden wollte. Er hatte kein Interesse, neue Freunde zu gewinnen, Besuch zu bekommen oder die kleine Stadt mit ihr zu besichtigen. War er freundlich? Nicht besonders. Aufregend? Oh ja, sehr!

Was sollte sie machen? Sie stand eben auf groß, geheimnisvoll und griesgrämig. Allerdings war es schon etwas seltsam, denn Sean war blond und blauäugig gewesen und hatte ein sehr offenes Lächeln gehabt. Micah war das genaue Gegenteil von offen.

„Du magst keine Kinder?“

„Das habe ich nicht gesagt. Nur, dass ich sie höre. Sie sind laut.“

„Ah ja“, sagte sie grinsend. „Hast du nicht letzte Woche noch gesagt, dass es in Banner viel zu ruhig ist?“

Sein Mund verzog sich zu einer schmalen Linie, aber er nickte widerstrebend. „Punkt für dich.“

„Sehr schön. Ich gewinne gerne.“

„Ein einziger Punkt heißt noch lange nicht, dass du irgendwas gewonnen hast.“

„Wie viele Punkte brauche ich denn?“

Kurz zuckte ein Grinsen über sein Gesicht, war einen Sekundenbruchteil später aber schon wieder verschwunden. „Mindestens elf.“

Wow, das Grinsen war so schnell verflogen, wie es gekommen war. Trotzdem spürte sie Schmetterlinge im Bauch, und auch ihr Mund war wie ausgetrocknet. Kelly atmete tief ein und langsam wieder aus. Sie musste sich auf das Gespräch konzentrieren, nicht auf das, was er in ihr auslöste.

„Wie beim Tischtennis“, sagte sie und rang sich ein Lächeln ab.

„Okay.“ Er klang belustigt.

Kelly beugte sich zu ihm hinüber und tätschelte ihm den Arm, um sich selbst zu beweisen, dass sie ihn anfassen konnte, ohne in Flammen aufzugehen. Doch ihre Finger fingen an zu kribbeln, und schnell zog sie die Hand zurück. „Gut, dann steht es eins zu null für mich.“

„Du willst wirklich mitzählen?“, fragte er ungläubig.

„Du hast doch damit angefangen und mir den ersten Punkt gegeben.“

„Stimmt. Ich werde es mir aufschreiben.“

„Nicht nötig, ich kann es mir merken.“ Sie schaute wieder nach vorn und musste lächeln. Es war ihr gelungen, ihn zum Reden zu bewegen und sich selbst zurückzuhalten – bis ihre Fantasien und Hormone mit ihr durchgegangen waren. Solange sie aber die Schmetterlinge und ihre Nerven unter Kontrolle behalten konnte, würde sie schon irgendwie mit der Anziehungskraft dieses Mannes fertigwerden.

In den darauffolgenden Tagen war Kelly zu beschäftigt, um sich über Micah Gedanken zu machen. Und das war auch gut so, denn nach ihrer Kürbissuche hatte es keine Minute gedauert, da hatte Micah sich schon wieder zurückgezogen. Sie hatte die Botschaft verstanden.

Ganz offensichtlich war ihr kleiner Ausflug eine Ausnahme für ihn gewesen. Ihr fiel es bedeutend leichter, sich auf ihr eigenes Leben zu konzentrieren und ihren Pflichten nachzukommen, wenn sie Micah nur in ihren Träumen zu Gesicht bekam.

Natürlich trug das nicht unbedingt zu einem ruhigen Schlaf bei, aber Müdigkeit war nichts Außergewöhnliches bei ihr. Neu waren ihr allerdings die übertrieben heißen Träume – zum Dahinschmelzen. Es ärgerte sie, dass sie ständig voller Verlangen aufwachte oder schnell wieder einschlafen wollte, um weiterträumen zu können.

Am Tag fiel es ihr nicht besonders schwer, Micah in den letzten Winkel ihrer Gedanken zurückzudrängen. Manchmal hetzte sie von einem Job zum nächsten, so sehr versuchte sie, alle unter einen Hut zu bringen. Zum Glück ergab sich auf diese Weise auch keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, ob Sex mit Micah im echten Leben wohl genauso fantastisch sein würde wie in ihren Träumen.

Sie schüttelte den Kopf, tunkte einen Pinsel in die orangene Temperafarbe, streifte den überschüssigen Rest ab und malte den ersten Kürbis eines Obstgartens auf das Schaufenster der „Coffee Cave“. Von all ihren Jobs war dies Kellys liebster. Sie malte gerne passende Bilder für die Feiertage auf Ladenfronten.

Zusätzlich kümmerte sie sich um Webseiten verschiedener ortsansässiger Unternehmen, war Immobilienmaklerin und hatte gerade ein Haus an die Familie aus Kalifornien verkauft. Sie war Gärtnerin und Landschaftsarchitektin, und zurzeit dachte sie ernsthaft darüber nach, sich bei der nächsten Wahl in Banner als Kandidatin für den Bürgermeisterposten aufstellen zu lassen, da sie entsetzt darüber war, was der jetzige Bürgermeister mit der Innenstadt vorhatte.

Während Kelly das Glas bemalte, schweiften ihre Gedanken ab. Nachdem sie einen Abschluss in Betriebswirtschaft an der Utah State University gemacht hatte, hatte sie sich nicht auf einen einzigen Job festlegen wollen. Sie mochte Abwechslung und war gern ihr eigener Chef. Letztendlich hatte sie sich dazu entschlossen, in verschiedenen Bereichen tätig zu werden. Ihre Freunde hatten sie anfangs für verrückt gehalten, doch sie erinnerte sich, dass Sean sie stets ermutigt hatte, das zu tun, was sie glücklich machte.

Als sie an Sean dachte, fühlte es sich an wie eine warme Brise an einem kühlen Tag. Kelly wurde das Herz schwer. Sie vermisste ihn immer noch, obwohl seine Konturen allmählich verschwammen – wie ein Bild aus Wasserfarbe, das man im Regen liegen gelassen hatte. Es war schrecklich. Sean in ihren Gedanken verblassen zu sehen, fühlte sich an, als würde sie ihn hintergehen. Aber immer am Schmerz festzuhalten, erschien ihr genauso unmöglich. Das Leben ging weiter, ob sie wollte oder nicht, und entweder ging sie mit oder würde zurückgelassen werden.

Kelly schaute die Hauptstraße hinauf und hinunter, und sofort ging es ihr ein bisschen besser. Banner war eine wunderschöne kleine Stadt – ein großartiger Ort, um aufzuwachsen. Mit acht Jahren und tieftraurig war sie hierhergekommen, hatte die Stadt, die Wälder, die Flüsse, die Wasserfälle und die Menschen hier aber schnell ins Herz geschlossen.

Banner war zwar nicht Edinburgh oder Oxford, aber sie fühlte sich hier wohl. Die meisten Gebäude waren älter als hundert Jahre, bestanden aus Ziegelsteinen und hatten knarzende Fußböden. Die Gehwege waren schmal, aber sorgsam gefegt, und am Fuß jeder einzelnen alten Straßenlaterne befand sich ein Blumenbeet. In etwa einem Monat würde man hier Weihnachtsschriftzüge und Lichterketten finden, die quer über die Straße gespannt waren. Wenn es dann schneite, würde es hier aussehen wie auf einem Gemälde. Natürlich reizte es sie, die Welt zu bereisen, aber am Ende würde sie doch immer wieder in ihre Heimatstadt Banner zurückkehren.

Zufrieden drehte sie sich wieder zum Fenster um und vollendete rasch das Kürbisbeet auf dem unteren Teil der Scheibe.

„Das sieht ja jetzt schon klasse aus!“

Kelly drehte sich um und lächelte ihrer Freundin entgegen. Terry Baker war Besitzerin des Cafés und machte die besten Zimtschnecken im Staate Utah. Mit den kurzen schwarzen Haaren, den strahlend blauen Augen und ihren eins siebenundfünfzig sah Terry aus wie eine Elfe – was sie nicht im Geringsten lustig fand.

Kelly und Terry waren seit dem dritten Schuljahr befreundet, und daran hatte sich über die Jahre nichts geändert. Terry war für Kelly da gewesen, als Sean gestorben war. Und nun, da Terrys Mann, der für das Militär arbeitete, schon das dritte Mal in vier Jahren einberufen worden war, war es an Kelly, sich um ihre Freundin zu kümmern.

„Danke, aber ich bin noch nicht fertig“, sagte Kelly mit prüfendem Blick auf das Fenster. Ein Fleck war noch frei. Sie würde ihn mit ein paar kleineren Kürbissen füllen.

„Deswegen habe ich dir extra einen Latte gemacht.“ Terry hielt ihr einen Becher hin.

Kelly nahm den Kaffee entgegen, trank einen Schluck und seufzte wohlig. „Und … hast du wieder englische Krimis gelesen?“

„Nee.“ Terry schob die Hände in die Taschen ihrer Jeans. „Aber dank meines traurigen Liebeslebens gucke ich mir jeden Abend englische Krimis im Fernsehen an.“

„Manchmal wird das Liebesleben auch überbewertet“, meinte Kelly.

„Klar.“ Terry nickte. „Wen genau willst du davon überzeugen? Mich? Oder dich?“

„Mich, natürlich. Schließlich bist du diejenige von uns, die einen Mann hat.“

Terry lehnte sich an die Ziegelwand des Hauses. „Im Moment habe ich auch keinen, glaub mir. Es ist unmöglich, Sex über den Computerbildschirm zu haben, wenn die Hälfte von Jimmys Einheit jeden Moment durchs Bild laufen könnte.“

Kelly lachte, schnappte sich einen anderen Pinsel und malte eine geschwungene grüne Ranke, die alle Kürbisse miteinander verband. „Okay, das wäre wirklich etwas unangenehm.“

„Wem sagst du das! Kannst du dich noch erinnern, als er mich an meinem Geburtstag angerufen hat, ich aus der Dusche gesprungen bin und noch die Videofunktion an war?“ Terry schüttelte sich. „Ich höre immer noch die Pfiffe seiner Freunde.“

Lachend sagte Kelly: „Das wird Jimmy das nächste Mal bestimmt davon abhalten, dich überraschen zu wollen.“

„Aber hallo! Jetzt telefonieren wir nur noch mit Termin.“ Terry grinste breit. „Aber genug von mir. Ich habe gehört, dass du letztens zusammen mit dem Schriftsteller weggefahren bist.“

„Woher weißt du …“ Kelly brach ab, atmete schnaubend aus und nickte wissend. „Klar doch. Von Sally.“

„Sie und ihre Schwester kamen gestern ins Café und haben mir alles erzählt“, erzählte Terry, legte den Kopf schief und sah ihre Freundin an. „Ich frage mich nur: Wenn es da etwas zu wissen gab, warum wusste ich noch nichts davon?“

„Weil es nichts Wissenswertes gibt“, sagte Kelly und konzentrierte sich wieder aufs Malen. Die Ranke konnte noch ein wenig Schatten und Tiefe vertragen. „Er hat mich zu den Marktständen mitgenommen, damit ich ein paar Kürbisse kaufen kann.“

„Aha. Sally sagt, ihr wäret fast zwei Stunden weg gewesen. Entweder bist du ganz schön wählerisch, was deine Kürbisse angeht, oder da lief noch was anderes.“

Kelly seufzte. „Wir haben eine Spritztour gemacht.“

„So, so.“

„Ich habe ihm ein bisschen die Gegend gezeigt.“

„So, so.“

„Es ist nichts passiert.“

„Warum nicht?“

Kelly blinzelte und zuckte zusammen, als ein paar Kinder den Gehweg auf Skateboards hinunterrasten. „Was?“

„Süße“, sagte Terry, trat zu Kelly und legte ihr den Arm um die Schultern. „Das mit Sean ist schon vier Jahre her. In der ganzen Zeit hattest du kein einziges Date. Und jetzt wohnt da für sechs Monate ein total attraktiver Mann in deinem Haus, und du willst nichts daraus machen?“

Unsicher lachte Kelly und schüttelte wieder den Kopf. „Was soll ich denn machen? Ihn fesseln und über ihn herfallen?“

Terry setzte einen verträumten Ausdruck auf. „Hm …“

„Ach, hör doch auf damit.“ Aber noch als Kelly das sagte, züngelte wieder dieses Verlangen an ihr hoch. Ein oder zwei Sekunden ließ sie es zu, bevor sie die Flammen erstickte.

Weder wollte noch durfte sie diesen Mann begehren. Er war ganz offensichtlich nicht an ihr interessiert. Kelly hatte ihre Liebe schon einmal verloren. Eine Beziehung, egal welcher Art, konnte sie nicht gebrauchen.

„Okay, schön!“, sagte Terry. „Wenn du dich entschieden hast, deinen Körper wegzuschließen, dann kann ich nichts dagegen machen. Aber sollte die CIA mal auf der Suche nach weiteren Spionen sein, dann schwöre ich dir, ich werde ihnen Sally und Margie empfehlen. Die beiden wissen immer ganz genau, was in dieser Stadt vor sich geht.“

Und die vom Glück verfolgte Kelly wohnte ihnen direkt gegenüber. Sean hatte beim Anblick der beiden älteren Damen immer gelacht, wie sie sich die Nasen an der Fensterscheibe platt drückten. Dann hatte er Kelly in eine feste Umarmung gezogen, sie halb besinnungslos geküsst und gesagt: „Sie sind nur so neugierig, weil sie selbst nichts erleben. Geben wir ihnen etwas, über das sie tratschen können.“

Diese Erinnerung entlockte Kelly ein trauriges Lächeln, das sie ebenso schnell wieder abschüttelte. Wenn sie an Sean dachte, hatte sie nicht nur die schönen Momente vor Augen – auch der Schmerz kam wieder. Sie hatte im Leben genug verloren. Zuerst ihre Eltern, dann ihren Großvater und zuletzt Sean. Sie hatte genug. Der einzige Weg, diesen Schmerz nie wieder spüren zu müssen, war, niemanden mehr nah genug an sich heranzulassen.

Sie hatte Terry, ihre Großmutter und ein paar gute Freunde. Wer brauchte schon einen Mann?

Micahs Bild tauchte vor ihrem inneren Auge auf, und sie hörte eine innere Stimme flüstern: „Du brauchst einen. Und er ist nur vorübergehend hier. Nutze die Gelegenheit! Da gibt es keine Zukunft und kein Risiko.“

Es stimmte. Micah würde nur noch vier Monate in Banner bleiben, es war also nicht so als ob …

„Weißt du“, sagte Terry und unterbrach damit Kellys Gedanken. „Es gibt da einen Typen in Jimmys Einheit, der dir wirklich gefallen würde …“

„Oh nein.“ Entschieden schüttelte Kelly den Kopf. „Lass das, Terry. Keine Kuppelversuche. Du weißt, dass das nie gut ausgeht.“

„Er ist ein netter Kerl“, beharrte Terry.

„Ich bin mir sicher, er ist ein Prinz“, sagte Kelly. „Bloß nicht mein Prinz. Ich will keinen Mann.“

„Das solltest du aber.“ Terry verschränkte die Arme vor der Brust.

„Hast du nicht gerade noch gesagt, du könntest nichts dagegen machen, wenn ich mich wegsperren will?“

„Ich will aber nicht, dass du die ganze Zeit allein bist.“

„Du bist doch auch allein“, erinnerte Kelly sie.

„Im Moment noch. Aber Jimmy kommt in ein paar Monaten wieder nach Hause.“

„Und das freut mich für dich.“ Kelly widmete sich wieder ihrem Kunstwerk. Sie nahm die gelbe Farbe und einen dünnen Pinsel und malte damit die Augen auf den ersten Kürbis. Mit der hellgelben Farbe würde es hinterher aussehen, als wäre der Kürbis von einer Kerze erleuchtet. „Ich hatte schon einen Mann, Terry. Ich will keinen zweiten.“

Aus dem Augenwinkel sah Kelly, wie Terry die Schultern hängen ließ und sich geschlagen gab. „Ich habe doch auch gar nicht gesagt, dass du gleich wieder heiraten sollst.“

„Das hättest du aber gerne.“

„Darum geht’s nicht“, erwiderte Terry stur. „Süße, Sean zu verlieren war schrecklich, das weiß ich. Aber du bist noch zu jung, um den Rest deines Lebens als Jungfrau zu verbringen.“

Kelly lachte. „Der Jungfrauenzug ist schon lange abgefahren.“

„Du weißt, wie ich das meine.“

Natürlich wusste sie das. Seit zwei Jahren predigte Terry ihr immer wieder das Gleiche.

„Ja, tu ich, und ich weiß deine Sorge zu schätzen …“

„Nein, tust du nicht“, sagte Terry.

„Du hast recht, tu ich nicht.“ Kelly sah ihre Freundin an und lächelte besänftigend. „Ehrlich gesagt bist du genauso schlimm wie Granny.“

„Oh! Das ist gemein“, grummelte Terry. „Macht sie sich immer noch solche Sorgen?“

„Seitdem Sean gestorben ist. Und seit ungefähr einem Jahr ist es noch schlimmer.“ Konzentriert malte Kelly weiter, während sie sprach. „Granny hat sogar schon erwähnt, dass sie hierher zurückziehen will, damit ich nicht alleine bin.“

„Oh Mann.“ Terry seufzte. „Ich dachte, sie lebt gern bei ihrer Schwester in Florida?“

„Das tut sie auch.“ Kelly bückte sich, um drei weiteren Kürbissen Gesichter zu verpassen. „Die beiden gehen zusammen Bingo spielen, fahren mit ihrem Seniorenverein weg … Sie genießt es, macht sich aber gleichzeitig Sorgen um mich.“

Kellys Handy klingelte. Sie richtete sich auf, um es aus der Jeanstasche zu ziehen. Nach einem Blick auf die Anruferkennung seufzte sie und sah Terry an. „Wenn man vom Teufel spricht …“

„Deine Granny? Wirklich?“ Terry riss die Augen übertrieben weit auf. „Mensch, ihre Ohren scheinen besser denn je zu sein, wenn sie uns bis in Florida gehört hat!“

Kelly lachte. Mit leichten Gewissensbissen wartete sie, bis der Anruf von ihrer Mailbox angenommen wurde.

Überrascht fragte Terry: „Ernsthaft? Du redest nicht mal mit ihr?“

Ein Gespräch am Tag über mein fehlendes Liebesleben reicht mir.“

„Schön.“ Terry hob resigniert die Hände. „Ich ziehe mich zurück … Vorerst.“

„Danke.“ Kelly steckte ihr Handy weg und versuchte, ihr schlechtes Gewissen zu unterdrücken.

Doch bevor Terry zurück ins Café ging, fügte sie hinzu: „Nur, weil du nicht an einem Mann für die Ewigkeit interessiert bist …“

Kelly schaute sie abwartend an.

„… heißt das nicht, dass du dir nicht vorübergehend einen angeln könntest. Ich meine ja nur.“

Nachdem sie gegangen war, überschlugen sich Kellys Gedanken. Vorübergehend. Als sie sich wieder dem Schaufenster zuwandte, nahm ein grober Plan in ihrem Kopf Gestalt an, und ihr huschte ein Lächeln übers Gesicht.

3. KAPITEL

Micah kochte nicht gern, hatte aber schon lange erkannt, dass man von bestelltem Essen allein nicht leben konnte. Vor allem nicht, wenn man sich mitten im Nirgendwo befand und nur ein einziger Pizza-Lieferservice zur Verfügung stand.

Er nahm einen Schluck von seinem Bier und schüttete gekochte Nudeln in eine Pfanne, zusammen mit ein bisschen Olivenöl und Knoblauch. Dann fügte er geschnittene Tomaten und kleine Steaks hinzu und vermischte alles mit einem Pfannenwender. Den meisten Menschen wäre es zu früh fürs Abendessen, aber Micah aß nicht zu festen Zeiten.

Die letzten Stunden war er vollkommen in sein Buch vertieft gewesen und hatte kaum bemerkt, wie die Zeit verging. Wie immer kam er anschließend, wenn der Schreibfluss wieder ins Stocken kam, wie ein Grizzlybär nach sechs Monaten Winterschlaf aus seiner Höhle.

„Hi.“

Micah drehte sich um. Es war bereits spät am Nachmittag, und er hatte die Hintertür offen stehen lassen, weil kühle Luft von draußen angenehm hereinwehte. Hätte er allerdings gewusst, dass man ihn stören würde, hätte er die Tür zugemacht. Jetzt war es zu spät.

Ein kleiner Junge stand im Türrahmen und starrte ihn an. Er konnte nicht älter als drei oder vier Jahre sein und hatte hellbraunes Haar, das in Büscheln wild vom Kopf abstand. Die braunen Augen waren vor Neugier geweitet, die Knie der Jeans und die Spitzen der Turnschuhe schlammbefleckt.

„Wer bist du?“, fragte Micah.

„Ich bin Jacob. Ich wohne da.“ Mit einer Hand deutete er grob in die Richtung des Hauses nebenan. „Darf ich zu meinem Kürbis?“

Micah musterte den Jungen. Er musste zu der Gruppe von Kindern gehören, die in Kellys Garten immer so viel Krach machten. Das erklärte aber immer noch nicht, warum er hier war und ausgerechnet ihn um Erlaubnis bat. „Warum fragst du denn mich?“

„Weil … Kelly ist nicht hier, und ich muss immer einen Erwachsenen fragen, und du bist einer.“

Eine unschlagbare Logik.

„Ich muss meinem Kürbis Gute Nacht sagen.“

Dass man Gemüse eine Gute Nacht wünschen musste, war Micah neu. Aber dem Jungen schien es sehr wichtig zu sein. Im Umgang mit Kindern war Micah nicht besonders gut. War er noch nie gewesen. Nicht einmal, als er selbst noch ein Kind gewesen war.

Schon damals hatte er sich von allen anderen abgekapselt und sich nicht bemüht, Freunde zu finden. Er hätte sie ohnehin nicht halten können. Als Kind war er von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht worden, wodurch es ihm schwergefallen war, sich an jemanden zu binden. Stattdessen hatte er seine Nase in Bücher gesteckt und auf seinen achtzehnten Geburtstag gewartet, damit er dem ganzen System entrinnen konnte.

Doch während er noch versuchte, den Jungen zu ignorieren, schaute Micah in die großen braunen Augen und bekam auf einmal Gewissensbisse. „Na schön, dann los. Sag deinem Kürbis Gute Nacht.“

„Du musst aber das Tor aufmachen, ich bin zu klein.“

Genervt erinnerte Micah sich an den weißen Palisadenzaun, den Kelly um das Beet im Garten errichtet hatte. Sie hatte ihm erklärt, er sei zur Abschreckung von Kaninchen und Rehen. Obwohl Rehe mit Leichtigkeit über den Zaun springen konnten, wollte Kelly es ihnen doch so schwer wie möglich machen.

Mit einem Seufzer schaltete Micah die Herdplatte aus und ließ seine Mahlzeit schweren Herzens zurück. „Dann lass uns mal gehen.“

Das Gesicht des Jungen hellte sich auf. „Danke!“

Ungestüm rannte er aus der Küche, die Stufen hinunter und um die Ecke zur Seite des Hauses. Micah folgte gemächlich und genoss währenddessen den Ausblick. Um ihn herum war alles in herbstliches Gold und Rot getaucht, während das dunkle Grün der Kiefern in den Wäldern wie ein Schatten wirkte. In aller Ruhe plante er den nächsten Mord, tief im Wald.

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Autor

Barbara Dunlop
<p>Barbara Dunlop hat sich mit ihren humorvollen Romances einen großen Namen gemacht. Schon als kleines Mädchen dachte sie sich liebend gern Geschichten aus, doch wegen mangelnder Nachfrage blieb es stets bei einer Auflage von einem Exemplar. Das änderte sich, als sie ihr erstes Manuskript verkaufte: Mittlerweile haben die Romane von...
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Olivia Gates
<p>Olivia Gates war Sängerin, Malerin, Modedesignerin, Ehefrau, Mutter – oh und auch Ärztin. Sie ist immer noch all das, auch wenn das Singen, Designen und Malen etwas in den Hintergrund getreten ist, während ihre Fähigkeiten als Ehefrau, Mutter und Ärztin in den Vordergrund gerückt sind. Sie fragen sich jetzt bestimmt...
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