Bianca Exklusiv Band 178

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BLEIB BEI MIR, SHAYLA von COLTER, CARA
"Bitte bring Nicky zu Turner McLeod!" Wie könnte Shayla ihrer Nachbarin diesen Wunsch abschlagen? Also macht sie sich mit dem Dreijährigen auf den Weg nach Montana - zu dessen Vater, wie Shayla annimmt. Doch bei Turner angekommen, erlebt sie eine süße Überraschung.

NOCH EINE CHANCE FÜR DIE LIEBE von WILSON, MARY ANNE
Kann so viel Zärtlichkeit ein Irrtum sein? In der Nacht nach dem Unterzeichnen der Scheidungspapiere kommen Samantha Zweifel, ob ihre Blitzehe mit Nicholas wirklich ein Fehler war: Noch einmal begegnen sie sich voller Leidenschaft - und das hat ungeahnte Folgen …

WOCHENENDE DER LIEBE von RIVERS, NIKKI
Wer ist nur dieser charmante Fremde, dem es so galant gelingt, Charlottes Schüchternheit zu umgehen? Sie weiß selbst nicht recht, wie ihr geschieht - vor allem nicht, als sie bei einem unerwarteten Wiedersehen erkennen muss, wem sie da in die Arme gesunken ist …


  • Erscheinungstag 10.09.2008
  • Bandnummer 178
  • ISBN / Artikelnummer 9783863495527
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

NIKKI RIVERS

WOCHENENDE DER LIEBE

Charlotte ist bei Männern sehr zurückhaltend – eigentlich! Doch bei einer Dienstreise nach San Francisco kommt es diesmal ganz anders. Noch ehe sie ihren offiziellen Termin mit dem neuen Programmdirektor ihres Radiosenders wahrnehmen kann, begegnet sie einem Mann, dessen Charme sie gleich erliegt. Und sie erkennt zu spät, wer der Fremde wirklich ist …

CARA COLTER

BLEIB BEI MIR SHAYLA

Eigentlich sollte Shayla den dreijährigen Nicky nur bei seinem vermeintlichen Vater Turner MacLeod absetzen. Doch als sie dem attraktiven Pferdetrainer in die stahlblauen Augen blickt, wünscht sie sich, er würde sie bitten, für immer zu bleiben. Da er das aber nicht tut, beschließt Shayla, selber aktiv zu werden.

MARY ANNE WILSON

NOCH EINE CHANCE FÜR DIE LIEBE

Nicholas traut seinen Augen nicht: Die Scheidung zwischen Samantha und ihm ist gerade erst vollzogen, da wird sie schwanger. Wer ist ist nur dieser neue Mann an ihrer Seite? Nicholas rast vor Eiversucht – und erkennt in seiner Wut gar nicht, wer der Vater des Kindes ist. Wohl aber merkt er, wie viel Liebe er noch immer für seine Exfrau empfindet …

1. KAPITEL

„Entschuldigung.“ Charlotte Riesling versuchte, den Pagen einzuholen. „Das ist nicht das richtige Hotel, glaube ich.“

Der junge Mann drehte sich um und schob den Gepäckwagen rückwärts gehend weiter. „Wie bitte?“

Der Teppich unter Charlottes Füßen war zwar weich und sicher teuer, aber … nun, sie hatte ein pastellfarbenes Blumenmuster erwartet und keine neonfarbenen, geometrischen Formen auf schwarzem Untergrund. Ihr Großvater hatte betont, dies wäre eines der altehrwürdigsten Hotels von San Francisco. Bisher hatte sie allerdings nichts gesehen, was altehrwürdig gewirkt hätte.

„Das hier ist doch das Cameron House, oder nicht?“, fragte sie.

„Ja, eigentlich schon, Ma’am.“

„Eigentlich schon?“, wiederholte Charlotte.

„Der alte Chef starb, und sein Sohn hat das Haus geerbt. Er ließ es renovieren.“

„Aha“, bemerkte sie trocken.

„Ja, und jetzt wird es bloß noch Cameron’s genannt.“

Der Page blieb vor Zimmer 1822 stehen und schloss auf. Passend, diese Namensänderung, dachte Charlotte. Der Erbe hatte es offenbar mit den Veränderungen sehr eilig gehabt. Veränderungen! Charlotte liebte das Althergebrachte und mochte keine Überraschungen. Und nun wohnte sie ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt in einem solchen Hotel.

Sie folgte dem Pagen ins Zimmer, hörte kaum zu, als er die Klimaanlage erklärte, gab ihm ein Trinkgeld und schloss hinter ihm die Tür.

Auch das Zimmer war in grellen Farben gestrichen. Das Bett war extrem niedrig, die Möbel modern. Charlotte zog altmodische Polstermöbel vor, aber da sie nur bis zum kommenden Montag hier wohnte, würde sie es schon aushalten.

Trotzdem war es ein schlechter Witz. Sie war in dieses alte Hotel gekommen, um WEND, die Rundfunkstation ihres Großvaters in Madison im Bundesstaat Wisconsin, vor einer Erneuerung, wie sie hier im Hotel stattgefunden hatte, zu bewahren.

Das heißt, dafür war es leider schon zu spät. Großvater Barnabas hatte bereits entschieden, bei WEND von klassischer Musik und intelligenten Gesprächen zu klassischem Rock und fröhlicher Moderation überzuwechseln.

Charlotte fand das schrecklich. Sie war praktisch mit WEND aufgewachsen. Zu ihren schönsten Kindheitserinnerungen gehörten die Besuche bei Großvater Barnabas. Sie hatte in seinem weichen Ledersessel hinter dem Schreibtisch gesessen, und klassische Musik hatte die Sorgen ihres jungen Lebens vertrieben.

Der Page hatte ihren Koffer auf einen verchromten Ständer gestellt. Charlotte holte den winzigen Schlüssel aus ihrer Handtasche und öffnete die Schlösser. Die Konfrontation mit J. J. Tanner, dem Mann, der ihr Leben verändern sollte, ließ sich nicht länger aufschieben. Erst einmal aber wollte sie duschen und leichtere Sachen anziehen, bevor sie ohne Vorwarnung über den Feind hereinbrach.

„Was soll das denn?“, stieß sie verblüfft aus. Vielleicht war sie ja doch nicht im richtigen Hotel. Jedenfalls waren das ganz sicher nicht ihre langen, fließenden Röcke in gedeckten Farben, auch nicht die weiten Pullover und übergroßen T-Shirts. Sogar ihr Pyjama aus Baumwolle fehlte. „Verrückt!“, murmelte sie und starrte auf Seide und Satin.

Wahrscheinlich hatte sie am Flughafen den falschen Koffer erwischt. Aber wieso passte dann der Schlüssel? Der Kofferanhänger stimmte auch.

„Das ist mein Koffer, aber das sind nicht meine Sachen!“

Wer sollte ihren alten Jeansrock sowie den verwaschenen Pyjama stehlen und durch äußerst modische Garderobe ersetzen? Das konnte sie doch den Leuten von der Fluggesellschaft niemals erklären.

Es war schon spät. Sie wollte duschen, sich umziehen, zu WEXL fahren und sich ihrem Feind stellen. In dem Koffer musste doch irgendetwas zu finden sein, mit dem sie erst einmal über die Runden kommen konnte.

Eine halbe Stunde später betrachtete Charlotte sich im Spiegel. „Du lieber Himmel, das geht doch nicht“, sagte sie leise zu sich selbst.

Ein Paar Jeans und ein schwarzer Body waren das Dezenteste im Koffer gewesen, doch vor dem Spiegel stellte sie fest, dass die Jeans sich eng um Hüften und Po schmiegten. Und der Body betonte auch noch die Brüste, die ihrer Meinung nach ohnehin viel zu üppig waren. So konnte sie dem Feind nicht gegenübertreten.

„Da muss doch noch etwas sein …“

Erneut durchwühlte sie den Koffer, aber alles war zu kurz, zu tief ausgeschnitten, zu auffällig und zu wenig ihr Stil. Die Reisekleidung – langer brauner Rock, weiter Pullover und braune Wanderschuhe – war viel zu warm für San Francisco im Oktober. Schwitzend konnte sie J. J. Tanner auch nicht gegenübertreten.

In ihren Augen war der Mann ein echter Mistkerl. Bloß weil sie einmal die Beherrschung verloren hatte, weigerte er sich, mit ihr zu telefonieren. Er hatte nur mit Barnabas gesprochen. Wie albern! Charlotte sollte schließlich seine Chefin werden. Barnabas hatte mitgemacht, weil J. J. Tanner als Programmdirektor sagenhaft sein sollte. Angeblich konnte er jedem Rundfunksender neues Leben einhauchen. Na schön, Barnabas war der Eigentümer von WEND, aber Charlotte war die Managerin und leitete den Sender. Und kein Angestellter durfte sie dermaßen schneiden.

J. J. Tanner musste sich damit abfinden, dass sie das Sagen hatte.

„Was heißt, er ist weg?“

Die junge Frau am Empfang ließ den Kaugummi platzen, ehe sie antwortete. „J. J. arbeitet nicht mehr hier.“

„Ich weiß, dass er hier aufhört“, erklärte Charlotte, „aber erst nächste Woche.“

„Falsch. J. J. ist schon am Montag verschwunden.“

„Sind Sie sicher?“

Die junge Frau sah Charlotte ungläubig an. „Hören Sie, wäre J. J. noch hier, wüsste ich das. So einen Mann übersieht man nicht. Er ist toll, und glauben Sie mir, hätte ich die Gelegenheit gehabt, dann hätte ich ihn …“

Charlotte wollte keine Einzelheiten hören. „Können Sie mir wenigstens seine private Telefonnummer geben?“

„Hat er nicht.“

„Er hat kein Telefon?“

„Nein, ich meine, er hat keine Wohnung. Jedenfalls nicht mehr in San Francisco. Er ist fort, das habe ich doch gesagt. Er ist in den Mittleren Westen gezogen, in irgend so ein Kaff, in dem er nichts mit seinen Nächten anfangen kann. Wenn Sie mich fragen, ist ein Mann wie er viel zu schade für diese Landeier, die …“

„Aber ich frage Sie nicht“, unterbrach Charlotte ihr Gegenüber gereizt.

Die junge Frau musterte sie vom Scheitel bis zur Sohle. „Sind Sie vielleicht eine von seinen Freundinnen?“

„Natürlich nicht“, erwiderte Charlotte verlegen.

„Na klar“, meinte die junge Frau. „Ich habe zu tun, in Ordnung?“ Sie schnalzte wieder mit dem Kaugummi und vertiefte sich in ein Magazin.

Vielleicht waren alle Mitarbeiter von WEXL so unhöflich. Bei dem kurzen Telefongespräch hatte J. J. Tanner sich jedenfalls nicht groß anders verhalten als die Empfangsdame. Doch so leicht gab Charlotte nicht auf. „Ich möchte mit dem Manager sprechen.“

Hinter dem Magazin erklang ein tiefer Seufzer. Ein Finger mit einem grellrot lackierten Nagel drückte einen Knopf am Telefon.

„Da will jemand zu Ihnen, Heather“, sagte die Empfangsdame hinter ihrem Magazin. „Ich glaube, es ist eine von J. J.s Süßen.“

Charlotte wünschte sich sehnlichst, doch die viel zu warme Reisekleidung angezogen zu haben.

Zehn Minuten später stand Charlotte wieder auf der Straße und hatte noch immer keine Ahnung, wie sie J. J. Tanner finden konnte. Zwar konnte sie Heather davon überzeugen, dass sie keine Freundin von J. J. war, aber erfahren hatte sie trotzdem nichts. Was machte dieser Mann mit Frauen, dass sie ihn dermaßen eifersüchtig gegen andere abschirmten?

Nun, Charlotte konnte es sich vorstellen. Und es ärgerte sie, dass Heather und die Empfangsdame dachten, er hätte genau das auch mit ihr gemacht. Wenn sie sich ärgerte, bekam sie Hunger auf Schokolade oder Pasta. Prompt knurrte ihr Magen.

Also, zurück ins Hotel, Essen im Restaurant und dann ein Anruf bei der Fluggesellschaft, damit sie mit der nächsten Maschine zurückfliegen konnte. Wenn J. J. Tanner nicht mehr in San Francisco war, hatte er sich bestimmt schon auf den Weg nach Madison gemacht.

So oder so – Charlotte war fest entschlossen, ihn zur Rede zu stellen, bevor er am Montag in einer Woche zur Arbeit erschien.

Charlotte blickte von ihren Fettuccine mit Krabben hoch, als es am Eingang des Restaurants zu einem kleinen Aufruhr kam.

„Die Fische auf dem Teller sind doch schon tot und stören sich nicht daran, ob ich Jackett und Krawatte trage“, sagte ein Mann.

Charlotte konnte ihn nicht deutlich sehen, weil der Oberkellner ihn am Eintreten hinderte.

„Aber wir stören uns daran, Sir, und unsere Gäste. Würden sSie keine Jeans tragen …“

Charlotte blickte auf ihre eigenen Jeans hinunter und dann wieder zu dem Mann, der am Oberkellner vorbei direkt zu ihr herübersah.

„Das ist offenbar ein Fall sexueller Diskriminierung.“

„Wie bitte?“

„Die Dame mit der Krabbe auf der Gabel …“

Charlotte starrte auf die Gabel, die sie soeben zum Mund führte. Eine von Olivenöl glänzende Krabbe steckte daran. Der Mann meinte eindeutig sie.

„Sie trägt auch Jeans, wenn ich mich nicht irre.“

Andere Gäste drehten sich zu Charlotte um.

„Stimmt, Sir, aber diese Dame ist Gast in unserem Hotel. In einem solchen Fall machen wir schon mal eine Ausnahme“, erklärte der Oberkellner, wenn auch in einem so herablassenden Ton, dass es Charlotte gar nicht gefiel, zu diesen Ausnahmen zu gehören.

„Wenn ich mir also an der Rezeption ein Zimmer nehme, bekomme ich dann einen Platz im Restaurant?“

„Nun, Sir, so würde ich es zwar nicht ausdrücken …“

„Und wie ist das mit Gästen von Gästen?“

„Wie bitte?“

„Falls mich ein Gast Ihres Hauses zum Mittagessen eingeladen hätte, könnte ich dann Hummer essen, obwohl ich Jeans trage?“

„Nun ja, ich nehme an …“

Bevor der Oberkellner den Satz beenden konnte, ging der Mann an ihm vorbei und kam direkt auf Charlotte zu.

„Tut mir leid, Liebste, dass ich mich verspätet habe, aber Sie kennen ja diese Cable Cars.“

Der Oberkellner eilte hinter ihm her. „Sir, ich bitte Sie …“

Der Fremde seufzte ziemlich genervt. „Was ist denn jetzt schon wieder?“

„Ich bin sicher, dass die Dame nicht gestört werden möchte.“

„Stimmt das?“ Der Fremde richtete die dunklen Augen mit einem so mutwilligen Blick auf Charlotte, dass sie sich nicht abwenden konnte.

„Also … nun ja …“, stammelte sie.

„Madam, soll ich den Sicherheitsdienst rufen?“

Tiefe Stille senkte sich über das Restaurant. Charlotte stand im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. „Natürlich nicht“, erklärte sie dem Oberkellner gelassen und schlug ausnahmsweise jenen arroganten Ton an, den ihr Vater so gut beherrschte. „Bringen Sie bitte meinem Gast eine Speisekarte.“

Der Oberkellner lenkte ein und gab einem Kellner ein Zeichen.

Charlotte schob endlich die Krabbe in den Mund, sah den Fremden an und wurde von seinem Blick gebannt.

J. J. betrachtete die Lippen der sichtlich verwirrten Frau. Neben ihm räusperte sich der Kellner diskret. „Wünscht der Gentleman zu bestellen?“

Im Moment wünschte der Gentleman nichts weiter, als Charlottes energisch geschnittenes Gesicht zu betrachten, auf dem jede Spur von Make-up fehlte. „Der Gentleman wünscht eine ganze Menge“, erklärte er und unterdrückte ein Lächeln, als die Fremde ihn gereizt ansah. „Aber er begnügt sich vorerst gern mit dem Essen.“

„Selbstverständlich, Sir“, versicherte der Kellner.

„Meinen Sie, dass ich die Krabben mag?“, fragte er die Fremde.

Sie zögerte nur kurz. „Ich habe nicht die geringste Ahnung, was Sie mögen.“

Sie schlug einen so hochnäsigen Ton an, dass er sie unbedingt noch mehr reizen musste. „Ach, ich denke schon, dass Sie das recht gut wissen.“ Er hielt ihre Hand fest, spießte mit ihrer Gabel eine Krabbe auf und biss davon ab. „Aber ich fange mit den Krabben an.“

„Sir?“, fragte der Kellner verwirrt.

Die Frau zog die Hand ruckartig zurück und ließ die Gabel auf den Teller fallen. „Bringen Sie meinem … Gast die Fettuccine und mir die Rechnung.“

„Ja, Ma’am“, erwiderte der Kellner und eilte davon.

Jacob lachte leise. „Der Ton wirkt gut.“

„Wie bitte?“

„Miss Nob Hill.“

„Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.“ Charlotte griff nach der Handtasche. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen …“

Er hielt ihre Hand fest. „Das tue ich nicht.“

Betroffen sah sie ihn an. „Was?“

„Ich entschuldige Sie nicht. Bleiben Sie und essen Sie mit mir.“

Sie warf ihm einen herablassenden Blick zu. „Das ist doch wohl ein Scherz!“

„Nein.“ Jacob merkte erstaunt, dass er schon lange nichts mehr so ernst gemeint hatte.

Er hatte einen anstrengenden Vormittag hinter sich und war an Orten gewesen, die er mit seiner Frau besucht hatte. Michelles Tod vor fünf Jahren hatte eine tiefe Leere in ihm hinterlassen. Doch fünf Jahre Trauer reichten, und darum hatte er sich in einem Hotel eingemietet, das sie sich damals auf der Hochzeitsreise nach San Francisco nie hätten leisten können. Die kommenden fünf Tage wollte er zum Abschiednehmen nutzen.

Doch das kostete emotionale Kraft. Er brauchte eine Erholungspause und fand dafür das Restaurant eines Luxushotels am Union Square geeignet. Wegen der schäbigen Jeans und des ältesten T-Shirts hatte er Ärger vorhergesehen und auch prompt bekommen. Allerdings hatte er nicht vorhergesehen, dass er eine Frau finden würde, die ihn völlig fesselte.

„Bleiben Sie“, wiederholte er eine Spur sanfter.

„Nein, ich kann nicht“, erklärte sie, nun nicht mehr arrogant, sondern eher bedauernd. „Ich muss gehen“, fügte sie hinzu und entfernte sich so hastig, als fürchtete sie, er könnte ihr folgen.

Es dauerte eine Weile, bis Jacob sich fragte, warum er ihr denn nicht folgte. Als er jedoch die Halle erreichte, war sie nicht mehr zu sehen.

Zehn Minuten später versuchte er noch immer, den Angestellten an der Rezeption zu überreden, ihm den Namen der Fremden zu nennen.

„Sir, Sie müssen doch verstehen …“

„Nein, Sie müssen verstehen. Das war die einzige Frau, die … die …“

„Die was, Sir?“, fragte der Angestellte reserviert.

„Also, die …“ Was sollte er denn sagen? Das war die einzige Frau, die ihn seit dem Tod seiner Frau interessiert hatte.

„Die was, Sir?“, wiederholte der Angestellte.

„Vergessen Sie es“, erwiderte Jacob schroff und strebte dem Ausgang zu. In San Francisco blieben ihm nur noch so wenige Tage, dass er ganz sicher keine Probleme mit einer Frau brauchen konnte.

„Warum bleibst du denn nicht einige Tage da, Charlotte, und gönnst dir einen richtigen Urlaub?“

„Barnabas.“ Charlotte drückte den Hörer fester ans Ohr. „Du weißt, dass es nicht geht. Es gibt so viel zu tun.“

„Erst, wenn Tanner hier ist. Dann kannst du dir in den nächsten Monaten keinen Urlaub mehr leisten, meine Liebe.“

Wahrscheinlich hatte ihr Großvater recht, aber gerade wegen Tanner glaubte sie, sich noch einmal bestätigen zu müssen. Sie musste einfach da sein, falls … falls … Ja, falls was passierte?

Sie hatte keine Ahnung, aber ein Mann, der ihr Leben verändern würde, war unterwegs zum Sender. Sie musste dort sein, um ihre Position zu stärken. Oder nicht?

„Na schön“, meinte sie seufzend. „Ich bekäme sowieso erst heute Abend um elf einen Flug. Dann kann ich auch hier übernachten und morgen Früh fliegen.“

„Charlotte!“ Ihr Großvater schlug den gleichen Ton an wie früher, wenn er darauf bestand, dass sie noch ein Musikinstrument erlernte, anstatt mit Gleichaltrigen ins Kino oder zum Tanz zu gehen. „Das meinte ich nicht.“

„Ich weiß, Barnabas“, erwiderte sie. „Aber ich muss einfach anwesend sein. Wir sehen uns morgen, wenn …“

„Charlotte“, unterbrach er sie. „Es hat keinen Sinn, wenn du deine Reise abkürzt. Morgen ist Samstag. Nach dem Samstag kommt der Sonntag. An diesen Tagen hast du ohnehin frei.“

„Du weißt, dass ich mir kein freies Wochenende mehr gegönnt habe, seit das alles begonnen hat.“

„Genau das meine ich doch, Charlotte! Ich erwarte dich am Montag. Dann bleibt dir immer noch eine Woche Zeit, bis die Umstellung abgeschlossen ist.“

Barnabas schlug zwar den gleichen Ton wie vor fünfundzwanzig Jahren an, doch Charlotte war nicht mehr elf. „Hör zu, Barnabas, ich …“

„Charlotte“, unterbrach er sie. „Tu mir bitte den Gefallen. Zwinge mich nicht, meine Stellung hervorzukehren.“

Sie musste lächeln. „Zwinge mich nicht, meine Stellung hervorzukehren.“ Genau das sagte er jedes Mal, bevor er es dann doch tat. Aber warum regte sie sich eigentlich auf? Drei Tage in San Francisco konnte man kaum als Strafe betrachten. „Gut, Barnabas, ich tue dir den Gefallen.“

Sekundenlang herrschte am anderen Ende der Leitung Schweigen. „Charlotte, bist du das wirklich?“

„Du hast gewonnen, Barnabas“, bemerkte sie amüsiert. „Dieses eine Mal.“ Sie hörte noch sein Lachen, während sie auflegte.

So war Barnabas. Was für sie ein großes Problem darstellte, betrachtete er ganz nüchtern. Dagegen konnten ihn Kleinigkeiten zutiefst berühren, zum Beispiel die Taschentücher mit dem eingestickten Wort „Großvater“, die sie als Kind von ihrem Taschengeld gekauft hatte. Oder der Weihnachtsschmuck, den sie für ihn mit fünf Jahren gebastelt hatte und jedes Jahr an den Baum hängte.

Seinen geliebten Rundfunksender dagegen veränderte er so gelassen, als würde sein Leben bloß einen neuen Weg einschlagen. Dann wurde eben in Zukunft Musik für Leute gespielt, die im Stau standen, und nicht mehr für Menschen, die ihr Leben mit klassischen Klängen bereichern wollten.

Kein Wunder, dass ihr Großvater nie begriffen hatte, dass sie Beständigkeit brauchte. Er ging seinen Weg wie immer, die Meinung anderer Leute war ihm egal. Daher verstand er auch nicht, wie sehr sie sich danach sehnte, von ihren Eltern anerkannt zu werden.

Ihr Vater war ein brillanter Konzertpianist. Ihre Mutter eine großartige Geschäftsfrau mit dem richtigen Gespür für Talent, die als Managerin ihres Vaters gearbeitet hatte. In früher Kindheit war Charlotte mit den beiden gereist und hatte die stürmische Beziehung ihrer Eltern erlebt.

Sie besaß weder die Schönheit noch den Verstand ihrer Mutter, und ihr fehlte das Talent ihres Vaters. Schon als Kind hatte sie gewusst, dass sie ihre Eltern enttäuschte und nur mitgenommen wurde, damit sich die Familie komplett der Presse präsentieren konnte.

Nach ihrem fünften Lebensjahr blieb Charlotte immer öfter bei Barnabas. Die Scheidung der Eltern war für sie geradezu eine Erleichterung. Ihr Vater nahm sich einen neuen Manager, ihre Mutter kümmerte sich um andere Klienten, und Charlotte blieb ganz bei ihrem Großvater. Abgesehen von ein oder zwei äußerst schwierigen Wochenenden im Jahr, die sie mit Vater und Mutter in New York verbrachte, vergaßen ihre Eltern, dass es sie überhaupt gab.

Sie gehörte ganz zu Barnabas und liebte seine Rundfunkstation fast so sehr wie ihn. Und jetzt wollte ihr ein Kerl von der Westküste den Sender wegnehmen.

Nun, es konnte ohnehin nicht mehr schlimmer werden. Also konnte sie auch ein Wochenende in San Francisco verbringen. Sie griff nach der Bürste, zog die Nadeln aus dem Haar und beobachtete während des Bürstens, wie ihre Brüste sich unter dem Body bewegten.

Sie musste unbedingt etwas unternehmen, einen Blazer und vielleicht auch einen langen Rock kaufen. Der Vorfall beim Mittagessen hatte sicher etwas mit ihrer Kleidung zu tun gehabt. Dieser Mann mit dem kurz geschnittenen dunklen Haar und dem mutwilligen Ausdruck in den dunklen Augen hätte sich nie zu ihr gesetzt und mit ihr geflirtet, hätte sie ihre eigenen Sachen getragen.

So etwas passierte Charlotte Riesling einfach nie.

2. KAPITEL

„Ich trage diese Farbe nie“, erwiderte die Fremde, ohne stehen zu bleiben.

„Sollten Sie aber.“ Jacob bemühte sich, mit ihr Schritt zu halten. „Sie betont Ihre Augen.“

Bei seinen Worten stolperte sie, ging danach aber umso schneller weiter. Der Abstand zwischen ihnen wuchs, aber er ließ sich nicht abhängen. Stattdessen betrachtete er sie genauer, und was er sah, gefiel ihm so gut, dass er sie vorerst gar nicht einholen wollte.

Das schnelle Gehen wirkte sich sehr hübsch auf ihre Kehrseite aus. Das braune Haar hatte sie im Nacken zusammengebunden. Wie es wohl aussah, wenn es offen im Wind flatterte? Mit ihrer hochgewachsenen Gestalt und den weiblichen Formen konnte er sie sich gut in einem Minirock und einem T-Shirt vorstellen.

Er lief ein Stück und kam an ihre Seite.

„The Haight ist am besten, wenn Sie etwas zum Anziehen kaufen wollen.“

Sie warf ihm nur einen kurzen Blick zu, aber er merkte, dass er ihr Interesse geweckt hatte.

„Ja, da gibt es wirklich die tollsten Sachen. Secondhand-Läden, die von alten Hippies geführt werden. Jede Menge Atmosphäre und alte Klamotten.“

„Alte Klamotten?“, fragte sie und blieb so unerwartet stehen, dass er einige Schritte weiterging, ehe er sich umdrehte. „Wie komme ich dorthin?“

„Das könnte ein Problem sein“, erwiderte er und bemühte sich, nicht zu lächeln.

„Wieso?“

„Es ist kompliziert.“ Nur zum Schein sah er auf die Uhr. „Was soll’s, ich habe im Moment nichts vor. Ich bringe Sie hin.“

„Sind Sie verrückt?“, fragte sie.

Die Frage hörte er nicht zum ersten Mal in seinem Leben. „Aber sicher“, behauptete er und grinste möglichst irre.

Sie schüttelte den Kopf, doch er merkte, dass es ihr schwerfiel, ernst zu bleiben. „Es tut mir leid“, meinte sie endlich. „Ich kenne Sie nicht und …“

„Das lässt sich leicht beheben. Wenn wir an der Kreuzung Haight und Ashbury angelangt sind, werden wir schon alte Freunde sein.“

„Nicht nötig. Ich finde selbst hin, wenn Sie mir den Weg beschreiben.“

„Ausgeschlossen“, wehrte er ab. „Nur wir Verrückten kennen das Geheimnis.“ Er klopfte sich an die Brust. „Sie brauchen einen von uns, um dorthin zu gelangen.“

Sie sah ihn reichlich verwirrt an.

„Sie könnten es schlimmer treffen“, behauptete er. „Ich gehöre noch zu denen, die am wenigsten verrückt sind.“

Beinahe hätte sie gelächelt, doch sie hielt sich zurück. „Kaum zu glauben.“

„Es stimmt aber. Ich gehöre zur untersten Kategorie der Verrückten. Es reicht gerade aus, um Sie nach The Haight zu bringen.“

„Leider bin ich nicht verrückt genug, um auf der Straße einen Fremden aufzugabeln und mich von ihm zum Einkaufen begleiten zu lassen“, erwiderte sie und ging weiter.

Jacob eilte ihr nach. „Aber Sie gabeln mich doch gar nicht auf. Ich habe Sie aufgegabelt. Das ist ein gewaltiger Unterschied.“

„Wirklich?“, fragte sie trocken.

„Aber sicher! Dadurch trifft Sie keine Schuld, was auch passiert. Sobald Sie sich mir überlassen, verlieren Sie völlig die Kontrolle.“

Sie warf ihm von der Seite her einen Blick zu. „Genau das befürchte ich.“

„Ach, kommen Sie“, meinte er lachend. „Ich bin ein perfekter Gentleman.“

„Wirklich?“, fragte sie und blieb wieder stehen.

Jacob strich sein verknittertes T-Shirt glatt. „Sehe ich denn nicht wie einer aus?“

„Nein“, erwiderte sie direkt. „Und Sie benehmen sich auch nicht wie einer“, fügte sie hinzu und ging weiter.

Er lief ihr nach. „Allmählich machen Sie mich ganz schön müde.“

„Das hoffe ich.“

„Dafür gibt es aber bessere Methoden“, bemerkte er mit einem vieldeutigen Unterton.

„Ganz sicher. Warum gehen Sie nicht weg und wenden diese Methoden an?“

„Warum kommen Sie nicht mit mir?“

Charlotte blieb stehen und sah ihn sich genauer an. Er hatte ein kräftiges Kinn, dichte Brauen und lebhafte, dunkle Augen. Er war nur wenige Zentimeter größer als sie, aber sehr gut gebaut und tief gebräunt. Und er bat sie, mit ihm zu kommen und ihn müde zu machen. Bei seinem Lächeln gab es gar keinen Zweifel, woran er dachte.

Nur einen Moment lang stellte sie sich vor, wie es wäre, in diesen dunklen Augen Leidenschaft zu finden, wie sich diese Lippen wohl anfühlten, wie sie durch das dunkle Haar strich und …

Wie kam sie bloß darauf? Dabei hielt sie sich doch stets an die Regeln. An roten Ampeln blieb sie stehen. Bücher aus der Bibliothek gab sie stets einen Tag vor dem Ablaufdatum zurück. Eine Frau sollte nicht mit Fremden reden, und darum redete sie nicht mit Fremden.

Doch nun stand sie hier und redete nicht nur mit einem Fremden, sondern stellte sich auch vor, wie es wäre, mit ihm zu … wie es wäre, mit ihm zu …

Rasch ging sie weiter und wünschte sich inständig, er würde ihr nicht folgen, aber so viel Glück hatte sie nicht.

„Kommen Sie“, forderte er sie auf und hüpfte neben ihr her wie ein lästiger Jugendlicher. „Sie wollen es doch.“

Am liebsten hätte sie über seine Frechheit laut gelacht, es gelang ihr jedoch nicht. Er hatte nämlich recht. Sie wollte es tatsächlich.

„Ich kenne hier in der Nähe einen Pub, in dem Sie ein Bier trinken, Dart spielen und einen sagenhaften Shepherd’s Pie kosten können.“

„Ich wollte doch einkaufen.“

„Hinterher. Ich helfe Ihnen, eine duftige weiße Bluse und ein T-Shirt zu finden. Und danach …“

Charlotte wollte nicht wissen, was ihm noch vorschwebte. Ohne zu überlegen, drückte sie die nächstbeste Eingangstür auf und trat ein.

Drinnen war es still und kühl. Zu den beruhigenden Klängen eines Brahms-Konzerts gingen schwarz gekleidete Gestalten hin und her. War sie in ein Bestattungsinstitut geraten?

„Hat Madam einen Termin?“

„Wie? Was?“ War es jetzt typisch für Kalifornien, dass man schon vor dem Tod einen Termin im Bestattungsinstitut machte?

„Einen Termin?“, wiederholte der Mann. „Sollte Madam nämlich nur zufällig hier sein, haben Sie Glück. Eine unserer Kundinnen hat soeben abgesagt und …“

„Abgesagt? Kann man das denn machen?“ Charlotte stellte sich eine Dame aus Nob Hill vor, die dem Tod erklärte: „Heute passt es nicht. Die Dienerschaft hat Ausgang. Kommen Sie ein anderes Mal.“

„Nun, es wird natürlich nicht gern gesehen“, erwiderte der Mann, „aber bei einer guten alten Kundin macht man schon einmal eine Ausnahme.“

Bei seinem forschenden Blick fragte sich Charlotte, ob sie vielleicht so aussah, als würde sie gleich sterben.

„Vermutlich wollen Sie nicht färben lassen, wie diese Kundin vereinbart hatte. Aber Ihr Haar verlangt nach einer vollständigen Behandlung.“

„Mein Haar?“

„Ja, eine tiefenwirksame Behandlung und einen neuen Schnitt. Schick, aber mühelos zu pflegen.“

„Mühelos?“

„Ja. Ich bin sicher, Madam hat ein ausgefülltes Leben.“

Das Wort „Leben“ gefiel Charlotte sehr, aber passte es in ein Bestattungsinstitut? Sie sah sich um und bemerkte erst jetzt, dass die schwarze Kleidung Arbeitskittel waren. Auf den Marmortischen lagen angesehene und teure Magazine. In der Glasvitrine standen Haarpflegeprodukte mit luxuriösen Namen.

Sie war nicht in ein Bestattungsinstitut, sondern einen Friseursalon geraten, allerdings einen hocheleganten.

„Nun, ich wollte eigentlich nicht die volle Behandlung, sondern nur …“

Sie deutete zur Tür und konnte es nicht fassen. Er war noch immer da und lehnte an einem Laternenmast. Er sah verboten attraktiv aus, lächelte und winkte ihr zu, machte jedoch keine Anstalten hereinzukommen. Offenbar störte es ihn nicht, in Restaurants für Wirbel zu sorgen. Schönheitssalons schien er hingegen nicht zu betreten.

„Wie lange würde alles dauern?“, fragte sie, ohne den Fremden aus den Augen zu lassen.

„Nun, schätzungsweise zwei Stunden … mindestens.“

Zwei Stunden. Nicht einmal ein Verrückter würde zwei Stunden auf der Straße warten.

„Also gut“, erklärte sie kurz entschlossen, „einverstanden.“

Jacob sah auf die Uhr. Seit einer halben Stunde lehnte er jetzt schon an dem Lichtmast, während diese Frau in Antonio’s Parlor war. Länger konnte er nicht warten. Womöglich ließ sie ihn sonst noch verhaften.

„Was für eine Welt“, murmelte er. Ein Mann konnte nicht einmal mehr einer schönen Frau so lange folgen, bis sie sich mit ihm verabredete. Nun hatte er das allerdings auch noch nie gemacht, und diese Frau war auch keine Schönheit. Nein, sie war nicht besonders schön, und doch fand er sie hinreißend mit ihrer zarten Haut, den ungeschminkten Lippen und dem Körper eines Hollywood-Starlets aus den fünfziger Jahren.

Was soll’s, dachte er und warf noch einen Blick auf die Eingangstür von Antonio’s. Er hatte sich vorgenommen, den Sonnenuntergang über der Bucht zu betrachten, und es war schon spät. Diese Fremde konnte er abschreiben. Vielleicht dachte er vor dem Einschlafen kurz an sie, aber am nächsten Tag würde er sie dann schon wieder vergessen haben.

Der Sonnenuntergang am Vorabend war enttäuschend gewesen. Der jetzige Vormittag in The Haight verlief schon besser. Vielleicht lag es daran, dass Michelle The Haight nicht gemocht hatte. Sie hatte der Flower-Power-Bewegung nichts abgewinnen können und hatte sich auch nicht wie Jacob gewünscht, im „Sommer der Liebe“ jung gewesen zu sein. Sie hatte den Anblick der Golden Gate Bridge bevorzugt oder sich den Sonnenuntergang vom Ocean Park aus angesehen.

Seit Jahren war Jacob nicht mehr im Park gewesen. Am Abend zuvor hatte er am Meer gestanden, das Farbenspiel am Himmel und im Wasser betrachtet und auf die gleichen Gefühle wie am Abend nach ihrer Hochzeit gewartet.

Sie hatten sich jedoch nicht eingestellt. Stattdessen hatte er erkannt, dass er endlich Abschied nehmen durfte. Und als die Sonne im Meer versank, wusste er, dass er mit seinem Leben weitermachen konnte.

Später dann im Bett hatte er an die Frau aus dem Restaurant gedacht. Und am Morgen hatte er beschlossen, sich einen Vormittag in The Haight zu gönnen. Er war in der richtigen Stimmung, um die Haight Street bis zum Golden Gate Park und wieder zurück zu gehen.

Als er die Cole Street erreichte, pfiff er vor sich hin und genoss die Mischung aus exzentrischen Typen, Touristen und Yuppies.

Zuerst glaubte er an eine Halluzination, aber da stand doch tatsächlich diese attraktive Fremde vor einem Laden und blickte ins Schaufenster. Dann drehte sie sich um, und es war, als würde die Sonne aufgehen.

Das Haar fiel glatt und schimmernd wie Seide bis auf Kinnlänge. Auch ihr Gesicht hatte sich verändert. Sie – es gab dafür keine andere Bezeichnung – strahlte von innen heraus.

Schon wollte sie weitergehen, als sie es sich überlegte und den Laden betrat. Jacob folgte ihr.

„Sie müssen verrückt sein.“

Charlotte wirbelte herum und ließ beinahe das Kleid fallen, das sie in den Händen hielt. Sie bekam Herzklopfen, als sie den Sprecher betrachtete. Er lehnte an einem Pfeiler. Dieselben alten Jeans wie am Vortag schmiegten sich um Hüften und Schenkel. Die Ärmel des schwarzen T-Shirts hatte er hochgerollt.

„Verrückt?“, wiederholte sie. „Sie meinen vermutlich sich selbst. Ich verfolge nämlich niemanden durch San Francisco.“

Er lächelte, und sie kam sich plötzlich albern vor. Warum sollte dieser Mann ihr folgen? Er konnte garantiert jede Menge junger Frauen für sich interessieren, und mit sechsunddreißig kam sie sich nicht mehr sonderlich jung vor.

„Sie sind jedenfalls verrückt genug, dass Sie allein den Weg nach The Haight gefunden haben.“

„Ach ja, das Viertel, das man nur findet, wenn man verrückt ist. Richtig, ich habe es gefunden.“ Charlotte suchte das Preisschild des schwarzen Kleides in ihrer Hand.

„Dass Sie dieses Ding da kaufen wollen, ist ein weiterer Beweis für Irrsinn.“

Sie betrachtete das Kleid. „Was ist damit?“

„Erstens ist es schwarz.“

„Wie Ihr T-Shirt. Sie können also kaum etwas gegen die Farbe haben.“

„Nein, Schwarz ist eine schöne Farbe, aber nichts für Sie.“

„Nein?“, fragte sie trocken.

„Sicher nicht“, beteuerte er lächelnd. Bevor sie ihn daran hindern konnte, nahm er ihr das Kleid aus der Hand, hängte es wieder auf die Stange und sah die anderen Kleider durch. „Es liegt aber nicht nur an der Farbe.“

„Nein?“

„Nein. Es ist auch zu lang.“

„Zu lang?“

„Richtig. Sie brauchen etwas, das Ihre Beine betont.“

„Einen Moment mal! Sie kennen meine Beine gar nicht, und dabei will ich es auch belassen, wenn Sie nichts dagegen haben.“

„Aber ich habe etwas dagegen, und ich kenne Ihre Beine gut genug, um zu wissen, dass Sie nur enge Jeans oder kurze Röcke tragen sollten.“

Charlotte bekam den Mund nicht mehr zu. „Das ist doch …“, setzte sie an.

„Hier.“ Er nahm ein Kleid von der Stange. „Das ist genau richtig für Sie.“

Das Kleid war aus dunkelrotem Samt mit einem tiefen Ausschnitt und weiten langen Ärmeln. Es war sagenhaft, aber nichts für sie. Erstens war es kaum länger als die Ärmel, und zweitens hätte der tiefe Ausschnitt viel zu viel von den Brüsten gezeigt, die sie stets kaschierte. Charlotte hatte sie mit zwölf praktisch über Nacht bekommen. Während die anderen Mädchen hübsche BHs trugen, hatte ihre Mutter ihr etwas gekauft, das wie ein Pferdegeschirr aussah und sich auch so anfühlte.

„Du musst sie unterdrücken, Schatz“, hatte ihre Mutter gewarnt. „Du willst doch nicht billig wirken, oder?“ Ihre Mutter wäre mit diesem Kleid niemals einverstanden gewesen.

„Diese Farbe trage ich auf keinen Fall“, erklärte Charlotte und ging zur Tür.

„Sollten Sie aber“, erwiderte er und folgte ihr. „Das würde den Rotstich in ihrem Haar hervorheben.“

„Ich habe keinen Rotstich im Haar“, erklärte sie energisch und trat auf die Straße hinaus.

„Doch, und durch die Behandlung bei Antonio ist er noch stärker zum Vorschein gekommen. Im Sonnenschein steht Ihr Haar in Flammen.“

Charlotte blieb stehen und drehte sich um. „Wirklich?“, fragte sie ungläubig.

„Wirklich“, bestätigte er leise und betrachtete sie mit einem Blick, dem sie kaum widerstehen konnte.

Was war denn nur mit ihr los? Charlotte schüttelte den Kopf und ging rasch weiter. Sie war doch nicht die Hauptperson in einem kitschigen Liebesfilm!

Prompt folgte er ihr. „Sie waren schon vorher hübsch, aber jetzt haut es einen um.“

Beinahe wäre sie gestolpert. Sie? Sie haute einen Mann um? „Also, bitte“, sagte sie abwehrend.

„Sie brauchen nicht zu bitten, meine Liebe. Sie können alles haben, was Sie nur wollen.“

Und nun stolperte sie wirklich. Träumte sie, oder folgte ihr tatsächlich ein sagenhaft aussehender Mann durch San Francisco und machte ihr derartige Komplimente? Natürlich fiel sie nicht darauf herein. Sie war schließlich nicht von gestern.

„Ich kann alles haben? Sehr gut. Dann möchte ich The Haight weiter erforschen – und zwar allein.“

„Wie Sie wollen“, antwortete er, ohne auch nur zu versuchen, sich dagegen zu wehren.

Verblüfft drehte sie sich um, aber er ging schon auf die andere Straßenseite.

Na bitte, dachte sie zufrieden.

Jacob hatte fast schon den Golden Gate Park erreicht, als er spontan in eine Seitenstraße bog und durch eine Gegend wanderte, die er nicht kannte. Er genoss den Sonnenschein, die Freiheit und die Ziellosigkeit, mit der er die Stadt durchstreifte.

Natürlich dachte er dabei immer wieder an die Fremde, bis er merkte, dass er schon den Buena Vista Park erreicht hatte. Indem er die Buena Vista Avenue verließ und den Parkweg betrat, begann er, die Stadt hinter sich zu lassen. Pinien, Redwood-Bäume und Zypressen bildeten über seinem Kopf ein natürliches Dach, während er bergan stieg. Einige Leute mit Hunden kamen ihm entgegen, aber ansonsten war der Park menschenleer. Vögel sangen, der Wind raschelte in den Zweigen, und die Geräusche der Großstadt waren plötzlich weit entfernt.

Diese absolute Einsamkeit gefiel Jacob, bis er eine Lichtung erreichte und die Fremde wieder vor sich sah. Eigentlich war er gar nicht überrascht, dass diese Frau, die immer wieder seinen Weg kreuzte, zur gleichen Zeit wie er diese Gegend erforschte.

Er hätte sie gern eine Weile beobachtet, doch vermutlich hätte sie Angst bekommen, wenn sie ihn dann entdeckte. Also ging er langsam auf sie zu und wartete, dass sie ihn bemerkte.

Er war nur noch wenige Meter von ihr entfernt, als sie sich umdrehte und ihn sah. Der Wind blies das Haar in ihr Gesicht. Sie strich es zurück, und bevor sie die Sonnenbrille aufsetzte, fing Jacob einen seltsamen Blick auf.

„Ich hätte es wissen müssen“, stellte sie fest.

„Was hätten Sie wissen müssen?“, fragte er behutsam.

„Dass Sie sich nicht wie ein normaler Tourist verhalten würden.“

„Sie meinen, dass ich mir nicht die Golden Gate Bridge ansehe?“

„Ja, oder Fisherman’s Wharf.“

„Ich habe den Ausblick von hier oben schon immer geliebt.“

„Sie waren schon früher hier?“

Er nickte und blickte über die Dächer von Ashbury Heights zur Golden Gate hinüber, deren Pfeiler sich gegen den blauen Himmel über der Bucht abhoben. Dies hier war einer der wenigen Orte in San Francisco, die keine Verbindung zu seiner Vergangenheit hatten. Hier war er stets allein gewesen und hatte keine Erinnerungen an einen nahestehenden Menschen gesammelt. Von jetzt an würde er allerdings stets an diese Fremde denken.

Er wandte sich ihr wieder zu. Sie genoss den Ausblick. Der sinnliche Mund stellte einen starken Gegensatz zur energischen Kinnpartie dar. Beim Anblick ihrer Lippen stellte er sich einen von Kerzen erleuchteten Raum, zerwühlte Laken und zärtliche Berührungen vor. Beim Anblick der Kinnpartie sah er allerdings eine Frau vor sich, die jeder Versuchung widerstehen konnte.

Sie wandte sich ihm so schnell zu, dass die Sonnenbrille ein Stück verrutschte und er wieder ihre Augen sah. Dunkel, verwirrt, unschuldig. Diese Frau musste er verführen, um sie zu bekommen. Und dass er sie begehrte, stand schon längst fest.

„Kaum zu glauben, dass wir mitten in der Stadt sind“, bemerkte sie leise und schob die Sonnenbrille wieder hoch. „Hier ist alles so wild und unberührt.“

„Wild und unberührt“, wiederholte Jacob. „Sehr verführerisch.“

Als sie rot wurde, wusste er, dass sie genau verstanden hatte, was er meinte. Er konnte nicht anders und ging noch einen Schritt weiter.

„Und einsam. An einem solchen Ort will niemand allein sein.“

„Wie?“, fragte sie verwirrt.

„Haben Sie jemals im Wald geliebt? Auf einem Bett aus Blättern unter einem Baldachin aus Zweigen? Der Wind streicht einem über die Haut, auf die einzelne Sonnenstrahlen fallen.“ Behutsam zog er die Sonnenbrille tiefer, damit er ihre dunklen Augen sehen konnte. „Liebe ist etwas Natürliches. Man sollte sie in freier Natur genießen.“

Charlotte biss sich auf die Unterlippe. Sie glaubte, den Wind auf der Haut zu fühlen. Einen Moment lang wünschte sie sich, was er beschrieben hatte … mit ihm.

Sex mit einem Fremden?

Nein, das kam für sie nicht in Frage.

Wirklich nicht?

Sie blickte ihm in die dunklen Augen. Nein, absolut nicht! Und doch sehnte sie sich danach.

Blätter raschelten, als der Fremde auf sie zutrat und ihr die Sonnenbrille abnahm. Sie betrachtete seinen Mund und wollte wissen, wie diese Lippen sich anfühlten. Sie betrachtete sein Haar und wollte wissen, wie es war, wenn sie sanft hindurchstrich. Sie betrachtete seine Augen und wollte wissen, wie er sie ansah, wenn er …

Er beugte sich zu ihr, und sie konnte den Blick nicht mehr von seinen Lippen abwenden. Dieser Mann küsste bestimmt nicht sanft, sondern forderte und eroberte.

Und Charlotte wollte plötzlich erobert werden.

Im nächsten Moment zerbrachen Zweige, trockene Blätter flogen durch die Luft, und ein tiefes Knurren war zu vernehmen, das absolut nichts mit einem leidenschaftlichen Stöhnen zu tun hatte.

Ein riesiger Hund sprang Charlotte von hinten so heftig an, dass sie zu Boden ging.

Ein junges Mädchen tauchte zwischen den Büschen auf. „Ach, du lieber Himmel! Entschuldigen Sie bitte! Ist Ihnen etwas passiert?“

Charlotte holte tief Atem. „Nein, alles in Ordnung.“

„Ich helfe Ihnen und …“ Im Wald erklang vielstimmiges Bellen, und das Mädchen sprang auf und lief weg. „Tut mir leid!“

Der Fremde kauerte sich neben sie und strich das Haar aus ihrem Gesicht. Eigentlich hätte die unsanfte Landung auf der Erde ausreichen müssen, um alle lustvollen Gedanken zu vertreiben, aber die Berührung löste erneut Sehnsucht in ihr aus. Hastig rutschte sie von ihm weg und raffte sich auf.

„Ist wirklich nichts passiert?“, fragte er und streckte die Hand nach ihr aus.

„Gar nichts“, antwortete sie, wich ihm aus und trat den Rückweg an.

„Wohin gehen Sie?“, rief er ihr nach.

„Ich möchte noch viel sehen!“, rief sie zurück.

„Ich begleite Sie“, bot er an und folgte ihr.

„Kommt nicht in Frage.“

„Vier Augen sehen mehr als zwei. Außerdem kenne ich mich in der Stadt aus. Ich erkläre mich hiermit zu Ihrem offiziellen Fremdenführer.“

Wenn überhaupt, dann war er ihr offizieller Verführer. „Ich habe einen Führer gekauft“, wehrte sie ab und zeigte ihm das Buch.

„Ich bin viel besser“, behauptete er. „Ich kann Ihnen Dinge zeigen, die im Michelin nicht vorkommen.“

Tief in ihr erwachte ein Verlangen, als sie sich vorstellte, was er ihr alles zeigen konnte. Doch das ließ sie unter keinen Umständen zu.

„Vermutlich bin ich viel konventioneller, als Sie denken. Jetzt will ich zum Golden Gate Park, und der ist für einen Nonkonformisten wie Sie sicher zu normal.“

„Ach, ich kann mich überall über Konventionen hinwegsetzen.“

„Daran zweifle ich nicht. Lassen Sie sich also von mir nicht aufhalten.“

Sein verführerisches Lachen wurde leiser, als sie sich der Straße näherte. Und sobald sie den Park verließ, war sie wieder allein.

3. KAPITEL

Charlotte war von Shakespeare’s Garden entzückt. Langsam ging sie herum, betrachtete die Pflanzen und las die Zitate auf den einzelnen Schildern. Allerdings musste sie blinzeln. Wo war denn ihre Sonnenbrille?

Als sie sich gegen eine Mauer lehnte und in ihrer Schultertasche danach suchte, hörte sie hinter sich eine Stimme, bei deren Klang sie erstarrte.

„Keine noch so gerötete Nase leuchtet so rot wie Ihr Haar im Sonnenschein.“

„Ich glaube nicht, dass das von Shakespeare ist“, entgegnete sie trocken.

„Nein, das ist von mir.“

„Sind Sie mir vielleicht gefolgt?“, fragte sie und wollte wieder einen herablassenden Ton anschlagen, was ihr jedoch nicht gelang, weil sie sich erst räuspern musste.

„Nein“, behauptete der Fremde.

„Ach nein? Sie sind rein zufällig im Golden Gate Park gelandet?“

„Gar nicht rein“, erwiderte er lächelnd.

Der Mann besaß zu viel Charme, war zu attraktiv und zu sexy und … Charlotte bremste ihre Gedanken. „Bestimmt sind Sie daran gewöhnt, dass Frauen Ihnen in die Arme sinken. Bei mir bemühen Sie sich vergeblich. Ich schlage daher vor …“

„Die haben Sie vergessen“, sagte er und hielt ihr die Sonnenbrille hin.

Es hatte ihr zwar nicht gefallen, vor diesem Mann auf dem Po zu landen. In diesem Moment sehnte sie sich jedoch nach einem Dobermann oder noch besser nach einem Elefanten, der sie endgültig plattwalzte. Wie hatte sie annehmen können, dass dieser attraktive Mann ihr aus einem anderen Grund gefolgt war? Er wollte ihr nur die Brille bringen. Sie war keine Frau, die einen so erotisch wirkenden Mann anlockte.

Sie riss dem Fremden die Sonnenbrille aus der Hand, setzte sie auf und senkte den Kopf, damit er nicht sah, dass sie rot wurde. „Danke.“

„Und weiter?“

Sie holte tief Atem. „Und es war falsch von mir anzunehmen …“ Der Rest des Satzes blieb ihr im Hals stecken. Sie konnte nicht zugeben, dass sie gedacht hatte, er wollte sich ihr nähern. Vorsichtig sah sie ihn an. Er genoss die Szene. „Ach, lassen Sie mich endlich in Ruhe!“

Als sie weggehen wollte, war er schneller und stützte die Hände zu beiden Seiten ihres Kopfes gegen die Mauer. Anstatt sich bedroht zu fühlen, bekam sie Herzklopfen, als er ihre Lippen betrachtete und ihr in die Augen sah.

„Ich will doch gar nichts“, behauptete er.

„Ich weiß. Sie sind nur hier, um mir die Sonnenbrille zu bringen.“

„Nein, nicht ganz“, versicherte er lächelnd.

„Nein?“, flüsterte sie.

„Nein.“

„Und warum sind Sie dann hier?“

„Ich bin hier“, erklärte er leise, „weil ich mit Ihnen zusammen sein will.“

Charlotte rang nach Luft. „Wie bitte?“

„Ich will mit Ihnen zusammen sein und Ihnen mein San Francisco zeigen.“

„Aber … aber warum?“

Er wurde ernst, während er den Blick über ihr Gesicht gleiten ließ. „Vielleicht, weil Sie bei jedem Zusammentreffen gleichzeitig eine Frau sind, die auf sich aufpassen und einen Mann abweisen kann, und ein Mädchen, das …“

„Ein Mädchen, das …?“, flüsterte sie.

„Ein Mädchen, das wie eine Jungfrau zittert.“

„Das ist ja albern“, stieß sie hervor. „Ich zittere nicht.“

„Doch, das tun Sie. Jetzt auch.“

„Das stimmt nicht“, behauptete sie.

Ganz sanft griff er nach ihrer Hand. „Ich fühle Ihren Puls.“

Charlotte entzog ihm die Hand. „Ich bin sechsunddreißig Jahre alt und zittere nicht, wie eine … wie eine …“ Sie erstickte fast an dem Wort. „Jungfrau!“

„Außerdem will ich nicht nur den Tag mit Ihnen verbringen“, fuhr er lächelnd fort.

„Was denn sonst noch?“, fragte sie vorsichtig.

„Ich will Sie küssen.“

„Was?“, stieß sie hervor.

„Ich will Sie küssen. Darf ich?“

Sie musste mehrmals zum Sprechen ansetzen. „Nein, natürlich nicht!“ Endlich fand sie die Kraft, sich von der Mauer abzustoßen und wegzugehen.

Selbstverständlich kam er hinter ihr her. „Warum nicht?“

„Sie sind unmöglich!“

„Ich küsse gut.“

Beinahe hätte sie laut losgelacht. Das glaubte sie ihm gern. Wahrscheinlich war er schon mit zwölf ein Experte gewesen.

„Ich verlasse mich auf Ihr Wort“, sagte sie im Gehen.

„Aber Sie kennen mich nicht. Woher wollen Sie wissen, dass Sie mir vertrauen können?“

„Genau das meine ich!“, rief sie triumphierend und brachte ihn damit zum Lachen.

Charlotte strebte der Akademie der Wissenschaften zu, weil sie sich im Museum einige Kunstwerke ansehen wollte. Der Mann war ihr weiterhin dicht auf den Fersen.

„Wenn Sie mir sagen, wohin Sie gehen, könnte ich Sie dort treffen. Oder ich könnte Sie begleiten.“

„Lieber nicht“, wehrte sie ab.

„Sagen Sie nicht, dass Sie ins Museum wollen!“

„Genau dorthin will ich“, bestätigte Charlotte. „Bestimmt ist das nichts für Sie. Also verabschiede ich mich schon jetzt. Und vielen Dank, dass Sie mir die Sonnenbrille gebracht haben.“

Er griff nach ihrer Hand. „Ich möchte Ihnen etwas Interessanteres zeigen.“

„Wenn Sie nichts dagegen haben“, erwiderte sie und versuchte, die Hand zurückzuziehen, „möchte ich mir lieber …“

„Sie möchten sich tote Gegenstände ansehen“, fiel er ihr ins Wort. „Da drinnen gibt es nichts anderes. Ich zeige Ihnen etwas sehr Lebendiges.“ Er zog sie weiter, bis sie sich energisch gegen ihn stemmte. „Kommen Sie“, bat er entwaffnend. „Ich zeige Ihnen meinen Lieblingsplatz im Park.“

Es kam ihr fast so vor, als hätte sie es mit einem eigensinnigen Kind zu tun. „Lassen Sie mich dann in Ruhe?“

„Ich mache Ihnen einen Vorschlag“, entgegnete er. „Wenn Ihnen dieser Platz nicht so gut gefällt wie mir, gehe ich weg und lasse Sie völlig in Ruhe.“

„Wirklich?“

„Hundertprozentig. Dann sehen Sie mich nie wieder. Ich gehe sogar auf die andere Straßenseite, wenn Sie mir begegnen.“ Er lächelte und streichelte ihre Hand. „Bitte!“

Lächelnd schüttelte sie den Kopf. „Hat Ihnen jemals irgendjemand irgendetwas abgeschlagen?“

„Bisher nur Sie. Begleiten Sie mich?“

Sie nickte. „Ja, ich begleite Sie.“

Er wollte sie mit sich ziehen, doch sie wich nicht von der Stelle.

„Denken Sie daran, was Sie versprochen haben.“

„Und was war das?“

Charlotte seufzte. „Wenn es mir nicht so gut gefällt wie Ihnen …“

„Dann vergesse ich, dass ich Sie kenne“, vollendete er den Satz.

„Sie kennen mich doch gar nicht.“

„Noch nicht.“ Sein sanfter Ton wirkte sogar entwaffnender als sein Lächeln. „Aber bald.“

Der Fremde zog sie mit sich, und sie hatte keine andere Wahl, als mit ihm Schritt zu halten.

„Wollen Sie nicht langsamer gehen?“, klagte sie, als er die Stufen zur Akademie der Wissenschaften hinaufeilte.

„Nein.“

„Nein?“, fragte sie keuchend.

„Nein. Es wird noch toller, wenn einem die Luft ausgeht.“

Das klang nicht gut. Gar nicht gut.

Sie betraten die Akademie, erreichten einen Hof und schoben sich zwischen Leuten hindurch, die sich um ein Becken drängten.

„Delfine“, rief Charlotte begeistert. „Ich liebe Delfine.“

Er ging einfach weiter. „Was ich Ihnen zeige, wird Ihnen noch besser gefallen“, behauptete er und blieb plötzlich stehen. Charlotte prallte gegen ihn. „Schließen Sie die Augen.“

„Was?“

„Sie sollen die Augen schließen.“

„Hören Sie, das reicht jetzt. Ich …“ Charlotte verstummte, als er ihre Wange streichelte.

„Vertrauen Sie mir“, bat er.

Wie sollte sie ihm vertrauen, wenn sie keinen zusammenhängenden Gedanken fassen konnte?

„Sie wissen, dass Sie mir vertrauen können“, beschwor er sie mit leiser Stimme.

Charlotte schloss die Augen. Die Stimmen lachender Kinder und ihrer Eltern, die nach ihnen riefen, rückten in weite Ferne, und Charlotte fühlte nur noch die streichelnde Hand an ihrer Wange. Dann führte der Fremde sie weiter, als wären sie einfach ein Paar, das Händchen haltend spazieren ging.

Ich muss verrückt sein, sagte sie sich, ließ sich jedoch einen Weg oder eine Rampe hinaufführen. Um sie herum waren Leute, und Charlotte wünschte sich, sie wären allein an einem einsamen und dunklen Ort …

„Nicht die Augen öffnen.“ Er war ihr so nahe, dass sie seinen Atem auf der Wange fühlte. Andere Spaziergänger berührten sie im Vorbeigehen, doch sie fühlte nur seine Hand. Kinder lachten.

Dann rief eine Frau einen energischen Befehl. Hastige Schritte erklangen, zahlreiche Personen liefen an Charlotte vorbei. Und dann war es still um sie herum.

„Öffnen Sie die Augen“, flüsterte ihr Begleiter ihr ins Ohr.

Sie gehorchte und brachte kein Wort hervor. Schweigend bestaunte sie unzählige bunte Fische, die rings um sie herum schwammen. Es war wie ein gewaltiges Kaleidoskop, unwirklich und unbeschreiblich. Sie befand sich unter Wasser, ohne nass zu werden.

„Toll“, flüsterte sie.

„Habe ich es Ihnen nicht gesagt?“

Charlotte riss sich von dem Anblick der wirbelnden Farben los und betrachtete ihren Begleiter. Reflexionen des Lichts aus dem Aquarium fielen auf sein Gesicht und tauchten es in Regenbogenfarben. Er wirkte magisch – und vielleicht war er das auch.

„Gefällt es Ihnen?“

„Ja“, versicherte sie. „Es gefällt mir.“

Nur mit Mühe wandte sie den Blick von ihm ab und trat näher an die gekrümmte Glaswand heran, die sie umgab. Ein Hai schwamm so dicht an ihr vorbei, dass sie unwillkürlich zurückzuckte.

„Beeindruckend, nicht wahr?“

Charlotte schauderte. „Furchterregend.“

„Fürchten Sie sich leicht?“

„Nur, wenn eindeutig Gefahr droht.“

„Aber die Haie sind hinter Glas und können Sie gar nicht berühren.“

„Ich fürchte auch nicht die Haie.“ Kaum hatte sie es gesagt, als sie es auch schon bereute.

Sachte legte er die Hand an ihre Wange. „Ich werde nicht über Sie herfallen – es sei denn, Sie wollen es.“

Buntes Licht schimmerte auf seinem Gesicht. Sein Mund stellte eine sanfte Verlockung dar, seine Augen waren auf sie gerichtet. Wie gern hätte sie sein kurzes, dichtes, vom Wind zerzaustes Haar berührt. Das schwarze T-Shirt schmiegte sich um seinen kräftigen Oberkörper und seine starken Arme. Und doch fürchtete Charlotte nicht diesen Mann, sondern vielmehr sich selbst und ihren Wunsch, er möge über sie herfallen.

Er kam einen Schritt näher. „Erinnern Sie sich noch an Ihr Versprechen?“

„An mein … mein Versprechen?“

„Ja. Wenn Ihnen gefällt, was ich Ihnen zeige, verbringen Sie den Rest des Tages mit mir.“

„Ich …“ Sie musste sich räuspern. „Ich habe das versprochen?“

„Allerdings“, bestätigte er lächelnd.

„Nicht, dass ich wüsste“, wehrte sie schwach ab.

„Ich kann Ihnen ein San Francisco zeigen, das in keinem Führer beschrieben wird“, versprach er mit tiefer Stimme. „Ich zeige Ihnen die Stadt, wie nur Liebende sie sehen.“

Ob sie gleich ohnmächtig wurde? Ihr war heiß, und sie fühlte sich schwindelig. „Wie Liebende?“, flüsterte sie.

„Warum nicht?“, fragte er zurück, hob ihre Hand, an der kein Ring funkelte, an seine Lippen und hauchte einen Kuss darauf. „Sie sind nicht verheiratet, oder?“

„Ich … nein.“

„Gebunden?“

Charlotte schüttelte den Kopf.

„Willst du mir gehören, solange du hier bist?“

Sie konnte sich nicht bewegen, konnte ihn nur anstarren. Ein leises Stöhnen entfuhr ihr. Ihr Begleiter richtete den Blick auf ihre Lippen, und sie wusste, dass er ihr tiefes Verlangen erkannte.

Er legte die Hand in ihren Nacken, doch er brauchte sie gar nicht an sich zu ziehen, so sehr sehnte sie sich nach seinem Kuss. Und es war kein sanfter Kuss. Sie wollte es so, öffnete die Lippen und erlaubte ihm, Besitz von ihrem Mund zu ergreifen. Mit einem Seufzer ließ sie ihre Finger durch sein Haar gleiten. Zuerst zog er sie an sich, dann schob er die Hand auf ihren Po und presste ihre Hüften gegen seine.

Charlotte rang nach Luft, als sie seine Erregung fühlte. Die Empfindung zog sich bis in ihre Brüste hoch und brachte die Brustspitzen zum Prickeln. Jetzt küsste sie ihn, drückte sich an ihn, um ihn noch deutlicher zu spüren.

Plötzlich zog er sich zurück. Sie wollte ihn nicht freigeben, doch er hielt sie an den Händen und schob sie von sich.

„Was ist …“, setzte sie verwirrt an, als eine Gruppe Schulkinder hereindrängte. Ihr Begleiter hatte sie kommen gehört, sie nicht, so sehr war sie von ihm bezaubert gewesen. „O nein“, flüsterte sie unendlich verlegen, riss sich los und eilte zum Ausgang.

„Warte!“, rief er ihr nach, doch sie lief weiter und wünschte sich nur, zwischen all den Kindern untertauchen zu können.

Verdammt! Jacob hatte seine Begleiterin aus den Augen verloren. Ganze Busladungen von Kindern waren gleichzeitig eingetroffen. Wo war sie bloß?

Eine Stunde lang durchstreifte er den Park und wartete vergeblich am Ausgang. Sinnlos. Er sollte zum Hotel zurückgehen, duschen und diese Frau vergessen.

Hotel! Das war es! Er wusste, in welchem Hotel sie wohnte. Früher oder später würde sie dort auftauchen.

Das Kleid war zu kurz und zu tief ausgeschnitten. Außerdem hatte Charlotte bisher nie Rot getragen. Sie hatte noch immer keine Ahnung, wem das Kleid gehörte. Sie hatte mit der Fluggesellschaft telefoniert, aber die Leute hatten nur gemeint, wenn es ihr Koffer sei, dann seien es auch ihre Sachen. Daraufhin hatte sie aufgegeben, das Rätsel zu lösen.

Nicht schlecht, dachte sie und drehte sich vor dem Spiegel hin und her. Sie sah sogar recht gut aus, und sie fühlte sich mutig. Das kam davon, dass sie mitten in einem Aquarium über einen fremden Mann hergefallen war.

Lieber Himmel! Wieso hatte sie sich nicht gleich auf den Boden gelegt und den Fremden angefleht, sie zu lieben? Vielleicht hätte sie es sogar getan, wären nicht die Schulkinder aufgetaucht!

Noch einmal betrachtete sie sich im Spiegel und überlegte, ob sie es mit Make-up versuchen sollte. Nervös zupfte sie an dem Kleid. Durch einen V-Ausschnitt wirkten Brüste angeblich kleiner, aber ihre waren mehr als deutlich zu sehen. Das wurde durch den enganliegenden Stoff sogar noch verstärkt.

Charlotte wandte sich vom Spiegel ab und hob die Jeans vom Boden auf. Vielleicht sollte sie die Hose wieder anziehen und ihr Essen beim Zimmerservice bestellen.

„Nein“, entschied sie laut und warf die Jeans achtlos beiseite. „Du gehst ins Restaurant hinunter – und zwar in diesem roten Kleid!“ Und wenn sie schon dieses Kleid trug, konnte sie es auch mit Make-up versuchen.

Eine halbe Stunde später führte der Oberkellner sie an einen Tisch. „Wird Madam heute Abend allein speisen?“

„Madam wird heute Abend ganz sicher allein speisen“, erklärte sie energisch, weil sie genau wusste, dass er auf ihren unerwarteten und unmöglich gekleideten Gast anspielte.

Er verneigte sich. „Sehr gut. Der Kellner kommt sofort. Ich wünsche guten Appetit.“

Charlotte lächelte und versuchte, sich zu entspannen. Niemand beachtete sie.

Der Kellner hatte ihr gerade erst die Speisekarte gebracht, als er schon wieder am Tisch erschien.

„Tut mir leid, aber ich bin noch nicht bereit zu bestellen“, sagte sie.

„Selbstverständlich nicht, Ma’am. Der Herr hat mich gebeten, Sie zu fragen, ob er an Ihren Tisch kommen darf.“

„Welcher Herr?“

„Er steht dort an der Tür, Ma’am.“

Seufzend schloss sie die Augen. Doch nicht schon wieder! Sie war in dem roten Kleid bereits auffällig genug und brauchte niemanden, der zusätzliche Aufmerksamkeit auf sie lenkte.

Dann öffnete sie die Augen wieder und erwartete das bereits vertraute schwarze T-Shirt und die ausgefransten Jeans. Stattdessen erblickte sie breite Schultern in einem blütenweißen Hemd und einem Armani-Anzug mit Nadelstreifen.

Charlotte hatte nicht gedacht, dass dieser Mann, der sie zwischen Haien geküsst hatte, noch besser aussehen könnte. Im Anzug tat er es. Mit einem leichten Lächeln neigte er den Kopf.

„Madam?“, fragte der Kellner.

„Nein“, antwortete sie hastig.

„Nein?“

„Nein“, wiederholte sie. „Sagen Sie dem Herrn, dass er sich nicht zu mir setzen darf.“

„Ist Madam sicher?“, fragte der Kellner ungläubig.

„Madam ist absolut sicher.“

Achselzuckend ging er weg.

Charlotte versuchte, die Speisekarte zu lesen, konnte jedoch kaum etwas erkennen. War der Kerl wirklich weggegangen, ohne eine Szene zu machen? Sie spähte zur Tür, doch da war er nicht.

„Suchst du jemanden?“

Beinahe hätte sie die Speisekarte fallen lassen. „Nein, natürlich nicht“, erwiderte sie und versuchte, ihren Verfolger nicht anzusehen. Das war allerdings schwer, weil er genau in Blickrichtung am nächsten Tisch saß.

„Was sieht denn gut aus?“, fragte er.

Sie legte die Speisekarte beiseite. „Sprechen Sie mit mir?“

„Ja, sicher, Schatz.“

Sie versuchte es wieder mit ihrem herablassendsten Ton. „Da ich Sie nicht kenne, habe ich keine Ahnung, was für Sie gut aussehen könnte.“

„Also, Schatz, du kennst mich ausreichend, um zu wissen, dass du in diesem Kleid für mich sehr, sehr gut aussiehst.“

Hinter sich hörte sie jemanden lachen, wagte es jedoch nicht, sich umzudrehen. Sie fürchtete, dass das ganze Restaurant die Bemerkung gehört hatte.

Ihre Hand zitterte, als sie das Wasserglas an die Lippen führte, und ein Tropfen fiel in ihren Ausschnitt. Sie blickte zu ihrem Verfolger auf. Lächelnd beobachtete er den Tropfen, der zwischen ihren Brüsten verschwand.

„Wünscht Madam jetzt zu bestellen?“

„Ja“, erklärte sie dem Kellner und griff wieder nach der Speisekarte. „Die Schweinemedaillons mit Pilzsoße.“

„Und mit Engelshaar-Pasta“, fügte der Kellner hinzu. „Sehr wohl, Madam. Eine ausgezeichnete Wahl.“

Nachdem der Kellner gegangen war, griff sie erneut nach dem Wasserglas, wagte jedoch nicht, es an die Lippen zu heben.

„Hast du den Nachmittag genossen?“

Die Frage klang für ihren Geschmack viel zu intim. Nervös blickte sie zu den beiden älteren Frauen, die am Nebentisch saßen und auf ihre Antwort warteten.

„Ich … habe mir die Brücke angesehen.“

„Ach, die Golden Gate.“

„Ja, natürlich. Wenn man in San Francisco ist, muss man sich die Brücke ansehen.“

„Sicher, aber es gibt noch viel romantischere Sehenswürdigkeiten.“

„Ich suche keine Romantik“, wehrte Charlotte ab.

„Was denn sonst?“, fragte er so leise, dass sie ihn kaum hören konnte.

Der Kellner kam an den Tisch und füllte ihr Weinglas.

„Ich habe keinen Wein bestellt“, sagte sie verunsichert, weil sie sich nicht mehr genau erinnerte.

„Der Herr, Madam.“

Sie blickte wieder zu dem anderen Tisch. „Sagen Sie dem Herrn, dass ich nicht …“

„Sagen Sie der Dame“, unterbrach er sie, „dass sie nicht ein solches Kleid anziehen sollte, wenn sie keine Romantik sucht.“

„Ach, du liebe Zeit“, murmelte sie und wandte sich ab. Die beiden älteren Frauen beobachteten sie.

„Nehmen Sie den Wein an“, riet eine von ihnen. „Eine so galante Geste sollte man nicht verschmähen.“

Charlotte griff nach dem Glas und trank einen Schluck. Wärme breitete sich in ihr aus, und nach dem nächsten Schluck herrschte im Raum ein wahres Treibhausklima. Das musste allerdings nicht unbedingt etwas mit dem Wein zu tun haben, sondern eher mit dem Blick aus den dunklen Augen des Fremden.

„Du siehst heute Abend besonders schön aus“, sagte ihr Verfolger.

Sie nahm noch einen Schluck Wein.

„Ich dachte, du trägst nie Rot?“

„Das tue ich auch nicht“, betonte sie.

„Dann hast du dieses Kleid heute Abend eigens für mich angezogen?“

Die Antwort lag ihr schon auf der Zunge, doch sie beging einen Fehler. Sie sah den Mann an und konnte plötzlich nicht mehr denken.

„Ich will mit dir zusammen sein“, erklärte er, und irgendjemand schnappte hörbar nach Luft.

„Das ist verrückt“, erwiderte Charlotte. „Ich weiß gar nichts über Sie.“

„Aber ich weiß, dass ich dich berühren will. Und ich weiß, dass es heute Nachmittag während des Kusses außer uns niemanden auf der Welt gab.“

Eine der älteren Damen seufzte, und Charlotte musste lächeln. „Nur uns beide und eine Million Fische.“

„Waren da Fische?“, fragte er amüsiert. „Ist mir gar nicht aufgefallen.“

„Setzen Sie diesen Trick immer so forsch ein?“, fragte sie lachend.

„Nein, der war brandneu.“

„Ach ja? Ich fühle mich geschmeichelt.“

„Du brauchst dich nicht geschmeichelt zu fühlen“, sagte er plötzlich ernst. „Du brauchst mir nur für den Rest des Abends zu gehören.“

Ihr Herz machte einen Satz. Geschah das alles wirklich? Dieser Mann, der aussah, als wäre er einem Filmplakat entstiegen, verführte sie mitten in einem vornehmen Restaurant mit Worten?

Der Kellner brachte Charlotte die Vorspeise, ehe er ihrem Verfolger das Gleiche servierte.

Sie beobachtete ihn beim Essen.

Er beobachtete sie beim Essen.

Beide nahmen einen Schluck Wein.

Er fragte, wie ihr das Hotel gefiel.

Sie fragte ihn, wo er wohnte.

Er fragte, wie sie das Schweinefleisch in Pilzsoße fand.

„Köstlich“, erwiderte sie. Was dachte er jetzt?

„Ich denke, es wäre einfacher, wenn wir am selben Tisch zusammen essen“, antwortete er.

„Wissen Sie, er hat recht, meine Liebe“, meinte eine der älteren Damen. „Warum bitten Sie ihn nicht zum Dessert an Ihren Tisch?“

„Ja“, meinte ihr Verfolger lächelnd. „Warum eigentlich nicht?“

4. KAPITEL

Der Verfolger saß Charlotte am Tisch gegenüber und wirkte auf sie wesentlich köstlicher und einladender als das Angebot auf dem Dessertwagen.

„Sie wünschen, Madam?“, erkundigte sich der Kellner.

Sie warf noch einen Blick auf den Wagen, konnte jedoch nichts mehr richtig erkennen.

„Wir werden uns später entscheiden.“

„Wie Sie wünschen, Sir.“ Der Kellner verbeugte sich und rollte den Wagen weg.

„Verschieben wir den Nachtisch“, schlug Charlottes Verfolger vor. „Ich kenne ein Lokal in North Beach, in dem es das himmlischste Tiramisu gibt.“

„In North Beach?“

„Ja. Wir können mit einem Cable Car zum Washington Square fahren und dann zum Pier gehen. Dort gibt es außerdem einen Club und …“

„Einen Moment. Es war von Nachtisch die Rede.“

„Ja sicher, aber da wir schon mal in North Beach sind …“

„Wir sind nicht in North Beach, sondern hier.“

Er lehnte sich zurück. „Warum wehrst du dich dermaßen?“

„Wogegen wehre ich mich?“

„Das weißt du sehr gut. Würde ich dich jetzt berühren, bekämest du Herzklopfen. Und würde ich dich wieder in die Arme nehmen …“

„Dazu wird es nicht kommen.“

Er beugte sich vor und griff nach ihrer Hand. „Warum nicht? Wir sind beide frei und über einundzwanzig. Wir sind allein in einer der romantischsten Städte der Welt. Warum sehen wir sie uns nicht gemeinsam an?“

Charlotte schloss die Augen, als er mit dem Daumen ihren Handrücken streichelte. Am liebsten hätte sie sich widerstandslos diesen Empfindungen hingegeben. War sie dermaßen ausgehungert, oder lag es an dem Fremden?

„Hast du Angst vor mir?“, fragte er leise.

„Nein“, antwortete sie aufrichtig. „Zumindest nicht in diesem Sinn.“

„Du hast nur Angst davor, wohin es führen könnte?“

„Genau das ist es. Es kann nirgendwohin führen. Ich fliege am Montag zurück nach Hause und nehme mein normales Leben wieder auf.“

Er drückte einen Kuss auf ihre Hand. „Dann haben wir noch anderthalb Tage. Es könnte wunderbar sein.“

Ja, dachte sie, das könnte es. Keine Zukunft, keine Vergangenheit, nur die Gegenwart. Träumte nicht jede Frau davon, im Urlaub einen unglaublich erotischen Mann kennenzulernen? Dieser Traum wurde nur dadurch gestört, dass man hinterher auf unzählige Ferngespräche wartete, bis die Beziehung schließlich dahinsiechte. Hier wäre das allerdings nicht der Fall, wenn ihnen beiden klar war, dass sich das Erlebnis auf die Gegenwart beschränkte.

„Wenn wir es versuchen …“ Charlotte musste noch einmal beginnen. „Wenn wir diese Zeit tatsächlich gemeinsam verbringen, sind einige Regeln nötig.“

„Regeln?“, fragte er lächelnd.

„Ja, Regeln“, bestätigte sie nervös.

„Und wer erstellt diese Regeln?“

„Ich … das mache ich.“

„Das dachte ich mir schon“, meinte er mit einem leisen Lachen. „Und wenn ich mit diesen Regeln nicht einverstanden bin?“

„Dann können wir darüber reden und vielleicht einen Kompromiss erzielen.“

„Na schön, fang an“, meinte er vergnügt.

„Keine Namen.“

„Moment, das geht nicht. Ich muss dich doch irgendwie ansprechen.“

Sie überlegte einen Moment. „Also gut, aber nur Vornamen.“

„Einverstanden. Ich bin Jacob.“

Der Name gefiel ihr.

„Und du bist …?“

„Char…“ Sie wollte „Charlotte“ sagen, überlegte es sich jedoch anders und wählte den Spitznamen aus ihrer Kindheit. „Charlie.“

„Charlie“, wiederholte er. „Gefällt mir. Regel Nummer zwei?“

„Keine Vorgeschichte.“

„Das ist schwierig, Charlie. Kommen wir nicht automatisch auf die Vorgeschichte, wenn wir über etwas reden?“

„Wie meinst du das?“, fragte sie.

„Nun, angenommen ich sage, dass ich einen guten Jazzclub kenne.“

„Ach so. Na gut, dann eben nur harmlose Dinge, aber nichts Persönliches.“

„Das geht“, stimmte er zu.

„Und auf keinen Fall tauschen wir Telefonnummern und Adressen aus.“

„Klar. Wir kennen uns nur hier in San Francisco.“

Sie nickte energisch. „Genau.“

„Das ist alles?“

Sie überlegte einen Moment, aber eigentlich war alles geregelt. „Ja.“

„Dann sind wir uns einig, Charlie. Und jetzt wollen wir losziehen und unser San Francisco entdecken.“

Jacob hielt im Cable Car Charlottes Hand. Es war noch nicht ganz dunkel. Nahe dem Washington Square stiegen sie aus, und er ließ ihre Hand auch nicht los, während sie zu dem Café gingen, von dem er erzählt hatte. Endlich saßen sie an einem kleinen Tisch und hatten Cappuccino vor sich stehen.

„Tanzt du gern?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich tanze nicht.“

„Wie soll ich es dann anstellen, dich in den Armen zu halten?“

Er hatte die Krawatte abgenommen und einige Knöpfe an dem schneeweißen Hemd geöffnet. Und er sah noch besser aus als vorher.

„Willst du mich zu etwas drängen?“, fragte sie.

„Ich stelle nur eine Tatsache fest. Ich würde dich gern wieder in den Armen halten.“

„Was du nicht sagst“, entgegnete sie abwehrend, aber ihre Hand bebte, als sie nach der Tasse griff.

„In den Regeln war keine Rede von Körperkontakt“, erwiderte er lachend.

Charlotte versuchte, ihn mit einem kalten Blick zu dämpfen, erreichte jedoch nur das Gegenteil und musste lächeln. „Nein, davon war nicht die Rede.“

„Wir wollten allerdings einen Nachtisch genießen.“

„Das stimmt.“

„Teilen wir uns eine Portion Tiramisu“, schlug er vor und rief den Kellner an den Tisch.

Es war wirklich das beste Dessert, das sie jemals gekostet hatte. Und es war eine sinnliche Erfahrung, mit einem Mann vom selben Teller zu essen. In einem scherzhaften Wettkampf sicherte Jacob sich den letzten Bissen und wischte mit der Fingerspitze einen Krümel von ihrer Unterlippe. Charlotte hätte sich nicht träumen lassen, wie erotisch sich das anfühlte.

Danach stützte er das Kinn in die Hand und sah sie unverwandt an.

„Du starrst mich an“, stellte sie nach einer Weile unbehaglich fest.

„In den Regeln war von Anstarren nicht die Rede.“

„Wir hätten diesen Punkt aufnehmen sollen.“

„Zu spät.“

„Nicht unbedingt“, behauptete sie. „Wir könnten eine Zusatzklausel anfügen.“

„Kommt gar nicht in Frage, Charlie. Wenn ich nur bis Montag Zeit habe, will ich dich ausreichend lange ansehen dürfen.“

„Meiner Meinung nach hast du das schon getan“, bemerkte sie.

„Nicht einmal annähernd.“

Sie wollte seinem Blick ausweichen, es gelang ihr jedoch nicht. Aber warum sollte sie es auch tun? Sie war nicht Charlotte Riesling, sondern Charlie. Und sie trug ein rotes Minikleid. Jacob hatte sie durch ganz San Francisco gejagt, weil er mit ihr zusammen sein wollte. Sie hatte zwar keine Ahnung, wieso ihm so viel daran lag, aber vielleicht spielten die Gründe keine Rolle.

„Was für komplizierte Gedanken gehen hinter deiner Stirn vor sich?“

„Das verstößt gegen die Regeln.“

„Gegen welche?“, fragte Jacob.

„Gegen die Regel über die Vorgeschichte. Ich müsste in einer Antwort zu viel von meiner Vorgeschichte verraten.“

„Dann schlage ich eine neue Regel vor“, meinte er und drückte ihre Hand. „Wenn du mit mir zusammen bist, darfst du solche Gedanken nicht wälzen.“

„Und warum nicht?“

„Weil ich dabei ausgeschlossen werde, und ich möchte, dass du nur an mich denkst, Charlie. Du sollst nur mich sehen und fühlen und begehren.“

„Was?“, flüsterte sie.

Er beugte sich näher zu ihr und legte die Finger an ihre Lippen. „Noch eine Regel. Frage nie nach dem Grund“, sagte er leise und sah ihr tief in die Augen. „Ich will dich jetzt in den Armen halten“, fügte er leiser hinzu. „Lass uns von hier verschwinden.“

Er stand auf, warf Geld auf den Tisch und zog sie mit sich zum Ausgang. Sie fühlte die kühle Nachtluft im erhitzten Gesicht.

„Charlie“, hauchte er, zog sie an sich und küsste sie.

Noch nie war sie so geküsst worden. Sie konnte nicht denken, konnte nichts anderes tun, als sich an ihn zu klammern und sich erobern zu lassen.

„Ich begehre dich“, flüsterte er, als er den Kuss unterbrach. „Das weißt du doch, nicht wahr? Ich begehre dich, Charlie.“

Seine Worte lösten tief in ihr ein Verlangen aus, das sich in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Jacob legte den Arm um ihre Schultern, als sie weitergingen. Und es war für Charlotte ganz natürlich, den Arm um seine Taille zu legen.

Während sie durch die Straßen schlenderten, war stets leise Musik zu hören. Aus Restaurants duftete es nach Gewürzen und Knoblauch. Bäckereien stellten Brote aus, die wie kleine Kunstwerke geformt waren. Bei einem Delikatessenladen bestand Jacob darauf, dass sie Käse und Fladenbrot mit Olivenöl kosteten.

„Ich kann nicht mehr“, erklärte Charlotte, als er sie füttern wollte.

„Koste! Nichts schmeckt besser.“

Lachend öffnete sie den Mund. Das Öl war mit Basilikum gewürzt, das Brot war frisch und knusprig. „Mmmh“, stöhnte Charlotte, und Jacob küsste sie, bevor sie hinunterschlucken konnte.

Mit einem Cable Car fuhren sie einige Straßen weiter und gingen dann zu Fuß, bis ein neuer Geruch in der Luft hing.

„Sind wir hier in der Nähe des Wassers?“

„Ziemlich nahe. Ich führe dich in einen Club direkt am Ufer. Der Blues ist heiß, das Bier ist kalt, und dort zeigt sich so gut wie nie ein Tourist.“

„Wir sind Touristen.“

„Nein, nicht heute Abend. Heute Abend gehört uns die Stadt.“ Jacob blieb stehen. „Fühlst du es nicht? Diese Stadt hat uns aufgenommen.“

Charlotte schloss die Augen. Sie fühlte sich unbeschreiblich lebendig. Jacob hatte diese Empfindung in ihr ausgelöst, aber jetzt ging es über erotische Anziehung hinaus. Nicht nur der Mann an ihrer Seite gehörte ihr, sondern die ganze Welt.

Sie überquerten die Straße und betraten einen dunklen Club. Der sanfte Klang eines Saxophons begrüßte sie.

Sie fanden einen winzigen Tisch in einer Ecke. Ihre Schenkel berührten sich, als sie sich setzten. Charlie holte tief Luft. Dadurch hoben sich ihre Brüste, und Jacobs Verlangen wuchs. Er zog ihre Hand an die Lippen, und sie schloss fest die Augen. Offenbar verspürte sie die gleiche Spannung wie er.

Doch dann nahm sie sich zusammen, setzte sich kerzengerade hin und entzog ihm die Hand.

„Du solltest nicht dagegen ankämpfen“, riet er leise lachend.

„Nein?“

„Nein. Man sollte sich niemals gegen die Entwicklung einer Urlaubsromanze stemmen.“

„Ist das eine Regel?“

„Falls nicht, machen wir es zur Regel.“

„Und wenn die Entwicklung zu schnell läuft?“

Er griff erneut nach ihrer Hand. „Wir haben nur bis Montag Zeit. Meiner Berechnung nach sollte ich dich unbedingt viel öfter küssen. Zum Beispiel so“, flüsterte er und küsste sie auf den Hals. „Und so“, fügte er hinzu und drückte die Lippen auf ihre Schulter.

Sie zog sich zurück, doch damit hatte er gerechnet. Er spielte mit ihrem Haar.

„Ich bin nicht daran gewöhnt, in der Öffentlichkeit zu … zu schmusen.“

Er schüttelte den Kopf. „Charlie, Charlie, du hast vermutlich das Kleingedruckte nicht gelesen.“

„Das Kleingedruckte?“

Autor

Mary Anne Wilson
Mary Anne wurde in Toronto, Kanada, geboren und fing bereits im Alter von neun Jahren mit dem Schreiben kleiner Geschichten an. Über den Ausgang von Charles Dickens' berühmtem Roman "A Tale of Two Cities" ("Eine Geschichte zweier Städte") war sie so enttäuscht, dass sie das Ende kurzerhand nach ihren Vorstellungen...
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