Bianca Extra Band 120

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BITTE BLEIB FÜR IMMER! von MARIE FERRARELLA
Liebevoll unterstützt Josie ihre Schwester und deren kleine Zwillinge. Als Dank bekommt sie Reitstunden geschenkt! Doch je mehr Zeit Josie mit dem sexy Rancher Declan verbringt, umso heftiger spürt sie, dass sie bei aller Hilfsbereitschaft ihre eigenen Sehnsüchte verdrängt hat …

SÜSSE KATASTROPHE NACH REZEPT von NINA CRESPO
Die Affäre mit Dominic war zuckersüß, das Ende unendlich bitter. Weshalb Philippa alles andere als begeistert ist, als sie unvermittelt mit dem Starkoch zusammenarbeiten muss! Brodelt zwischen ihnen der alte Streit – oder erfinden sie gemeinsam ein neues Rezept zum Verlieben?

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LÜGEN HABEN ROTE LIPPEN von SHANNON STACEY
Typisch für Finns Grandma: Sie lässt ihr altes Haus bei einer Home-TV-Show renovieren – und Finn, eigentlich erfolgreicher Unternehmer, soll den Hausmeister spielen. Aber von der ersten Sekunde an fühlt es sich für ihn völlig falsch an, die schöne Moderatorin Anna zu belügen …


  • Erscheinungstag 07.03.2023
  • Bandnummer 120
  • ISBN / Artikelnummer 9783751516815
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Marie Ferrarella, Nina Crespo, Makenna Lee, Shannon Stacey

BIANCA EXTRA BAND 120

1. KAPITEL

Josie Whitaker schlich sich auf Zehenspitzen ins Kinderzimmer.

Eigentlich war das gar nicht notwendig, denn die winzige Zwillingsschwester weinte so ohrenbetäubend, dass es an ein Wunder grenzte, wie ihr Brüderchen dabei friedlich weiterschlafen konnte.

Allerdings galt Josies Sorge in diesem Augenblick weder dem sechs Monate alten Lucas noch der kleinen Lilly. Vielmehr sorgte sie sich um die erschöpfte Mutter. Josies Schwägerin Rebekah wirkte seit einigen Tagen wie ein Zombie. Die Art ausgezehrter, schlafloser, augenringtragender Zombie, der jeden Moment zusammenklappen könnte.

Die junge Mutter saß im Kinderzimmer in dem Schaukelstuhl, den Josies jüngerer Bruder Grant ihr geschenkt hatte. Geistesabwesend wiegte sie ihre kleine Tochter, die sich trotz der liebevollen Fürsorge langsam in einen Schreikrampf hineinsteigerte. Bald würde sie damit auch noch ihren Bruder aufwecken.

Lautlos wie eine Katze näherte sich Josie dem Schaukelstuhl und legte sanft die Hände auf Rebekahs Schultern. Rebekah zuckte zusammen, nur um gleich darauf wieder müde in sich zusammenzusinken.

Erst vor wenigen Tagen hatte Josie gehört, wie Rebekah mit Grant über Josie gesprochen hatte. Sie hatte sie mit einem rettenden Engel verglichen, der gerade noch rechtzeitig in ihr Leben getreten war, bevor dieser Haushalt unrettbar im Chaos versank.

„Josie“, flüsterte Rebekah erschöpft, und irgendwie gelang es ihr, sämtliche Hoffnung und Erschöpfung in diese beiden Silben zu legen.

„Lass mich übernehmen“, sagte Josie sanft. Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern schob behutsam Rebekahs Arm zur Seite und griff mit einer erfahrenen Geste unter den Po des Babys.

„Du hast sie weinen gehört“, stellte Rebekah unnötig fest und wehrte sich nicht, als ihr die Ältere das schreiende kleine Bündel aus den Armen nahm.

„Der gesamte Staat North Carolina hat Lilly weinen gehört“, entgegnete Josie mit einem Lächeln.

Seit sie von Florida hierher nach Spring Forest gezogen war, einer kleinen Stadt in North Carolina, hatte sie alles in ihrer Macht Stehende getan, um den jungen Eltern unter die Arme zu greifen. Und nicht nur das: Obendrein vertrat sie Rebekah bei ihrem Job im Tierheim. Grant und Rebekah hatten Josie dafür das Apartment über der Garage eingerichtet, und Josie war froh, den frisch gebackenen Eltern eine Hilfe zu sein.

Josie spähte über ihre Schulter zu Lucas Bettchen. Der Junge schlief noch immer friedlich, seine Brust hob und senkte sich regelmäßig. Der Kleine hatte wirklich einen gesegneten Schlaf.

„Lucas scheint wirklich der Einzige zu sein, der sie nicht gehört hat“, sagte Josie leise lächelnd.

Rebekahs erschöpfte Gesichtszüge wandelten sich in Besorgnis. „Aber warum eigentlich nicht? Glaubst du, es stimmt etwas nicht mit seinem Gehör?“

Josie musste unwillkürlich daran denken, wie Lucas gestern Abend reagiert hatte, als sie ihm ein Schlaflied vorsang. Er hatte vor Vergnügen gequietscht, als sie trällerte und tirilierte und ihre Stimme mit Absicht höher klingen ließ. Wenn er imstande war, diese Töne zu unterscheiden, konnte er definitiv hören.

„Nein, das glaube ich nicht“, sagte sie mit Überzeugung und wiegte Lilly sanft weiter. „Ich glaube, du solltest einfach dankbar sein für diese willkommene Pause. Und jetzt geh schlafen, Mama, bevor er doch noch auf die Idee kommt, in das Geschrei mit einzufallen. Husch, husch“, fügte sie hinzu und wedelte mit der freien Hand.

Rebekahs Miene entspannte sich. „Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.“

„Indem du ins Bett gehst“, bestand Josie und nickte in Richtung Tür.

Rebekah war bereits zurückgewichen, aber sie schien es völlig unbewusst getan zu haben. Die arme war wirklich am Ende mit ihren Kräften, dachte Josie. Ihre Schwägerin brauchte dringend ein wenig Schlaf.

„Geh schon“, formte sie lautlos mit den Lippen. Sie ahnte, dass es mit dem halben Frieden bald vorbei sein und Lucas gleich aufwachen würde.

Josie seufzte leise, nachdem Rebekah gegangen war. „Jetzt sind wir allein“, murmelte sie dem Bündel in ihren Armen zu. Lilly schien sich langsam zu beruhigen. Sie war schrecklich süß, wenn sie sich nicht gerade die Lunge aus dem Leib schrie.

Rebekah und Grant bedankten sich jeden Tag überschwänglich bei Josie dafür, dass sie ihr Leben in Florida aufgegeben hatte, um ihnen zu helfen. Aber in Wahrheit war es Josie, die für diese Gelegenheit dankbar war. Sie kümmerte sich gerne um die Zwillinge. Und es erfüllte sie, anderen eine Stütze zu sein.

Ihr Leben lang hatte sie versucht, ihren Lieben zu helfen. Mit vollem Einsatz hatte sie ihren Ehemann unterstützt, damit er seine Ausbildung als Arzt machen konnte. Selbst nachdem ihre Tochter Hannah geboren wurde, hatte sie weitergearbeitet und alles daran gesetzt, dass er sein Ziel erreichen würde.

Vor vier Jahren dann hatte sich alles schlagartig geändert.

Ihr Mann hatte tatsächlich seinen Traum verwirklicht. Er war Arzt geworden und hatte seine eigene Praxis eröffnet. Und dann war es, als wäre er einem schlechten Klischee gefolgt. Ihr mehr als undankbarer Ehemann hatte eine Affäre mit seiner Krankenschwester begonnen. Nicht nur das: Am Ende hatte er die Jüngere vorgezogen und Josie und ihre Tochter im Stich gelassen.

Seltsamerweise hatte Hannah später denselben Weg eingeschlagen. Sie wollte Ärztin werden – womöglich, um ihren Vater wieder für sich zu gewinnen. Um das zu erreichen, war sie zum Studieren in einen anderen Staat gezogen. Und um schneller voranzukommen, hatte sie beschlossen, sich in diesem Semester in doppelt so viele Kurse einzuschreiben.

Josie hatte ihre Tochter nicht aufgehalten. Aber Josies eigenes, einst extrem betriebsames Leben war von einem Tag auf den anderen extrem leer geworden.

Sicher, in Florida hatte sie noch ihren Catering Service gehabt. Aber vor allem mochte Josie es, gebraucht zu werden.

Als sie gehört hatte, wie überfordert sich ihr Bruder und seine Frau mit den Zwillingen fühlten, hatte sie sofort angeboten, den frischgebackenen Eltern zu helfen. Schließlich wusste sie aus eigener Erfahrung, wie schwer es war, ein Baby großzuziehen und gleichzeitig seinen Job zu behalten.

In gewisser Weise fühlte sich das hier wie ein Déjà-vu an. Nur mit dem Unterschied, dass sie dieses Mal die Babys in den Armen halten durfte. Denn Josie selbst hatte damals weiterarbeiten müssen, und sie war auf die Hilfe verschiedener Freunde angewiesen gewesen, die abwechselnd auf Hannah aufpassten.

Eigentlich konnte sie nun nachholen, was sie damals so schmerzlich vermisst hatte. Bei ihrem Ehemann hatte sie sich nie beschwert, aber in Wahrheit wäre sie lieber eine Vollzeitmama gewesen als weiterhin arbeiten zu gehen.

„Du bist meine zweite Chance“, flüsterte sie Lilly zu.

Lillys Antwort bestand darin, dass ihr endlich die Augen zufielen.

Josie wiegte das Baby sanft weiter. Es war ein wundervolles Gefühl, etwas so Zartes in den Armen zu halten.

Deswegen blieb sie noch lange so sitzen, nachdem Lilly bereits fest eingeschlafen war.

Declan Hoyt hatte sich nie großartigen Fantasien hingegeben. Er wollte weder berühmt werden noch besonders reich. Alles, was er je wollte, war, ein erfolgreicher Pferdezüchter zu sein. Davon hatte er schon seit frühester Kindheit geträumt. Und eigentlich hatte er nie geglaubt, dass das zu viel verlangt war.

Aber dann musste er lernen, dass selbst ein einfacher Plan schiefgehen konnte. Oder eine seltsame Eigendynamik entwickeln, die die Dinge am Ende doch kompliziert machte.

Jedenfalls hatte er bald festgestellt, dass man als kleiner Pferdezüchter kaum genug verdiente, um davon leben zu können. Also hatte er damit begonnen, Pensionspferde in seinem Stall aufzunehmen. Und als das immer noch nicht ausreichte, um die Rechnungen zu bezahlen, hatte er angefangen, Reitstunden zu geben.

Declan war ein bescheidener Mann. Womöglich hätte sein Einkommen nun ausgereicht, um sich selbst, Haus und Hof über Wasser zu halten, doch dann hatte das Schicksal zum ersten Mal zugeschlagen. Vor einem Jahr war sein Vater unerwartet verstorben. Seine Mutter Ruth war damit nur schwer zurechtgekommen. Die Trauer hatte sie völlig überwältigt, und Declan hatte beschlossen, sie zu sich in sein Haus zu holen.

Ab diesem Zeitpunkt hatte sie sich wieder in der Gewalt. Es war, als würde sie langsam aus diesem endlosen Meer der Trauer und Einsamkeit auftauchen. Um ihrer Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen, und auch, um von Nutzen zu sein, hatte sie angefangen, für Declan zu kochen und den Hausputz zu übernehmen.

Nach und nach hatten sich beide an die neue Lebenssituation gewöhnt.

Und dann hatte das Schicksal ein zweites Mal zugeschlagen.

Dieses Mal in Form von Declans jüngerer Schwester.

Um es vorsichtig auszudrücken, war Peggy noch nie besonders emotional ausgeglichen gewesen. Unglücklicherweise hatte sie dann auch noch einen Mann geheiratet, der ebenfalls mehr als instabil war.

Die Situation war eskaliert, als Peggy damit begonnen hatte, ihre Depressionen und Angstzustände eigenmächtig zu behandeln – mit einem wilden Mix aus Tabletten und Alkohol.

Zwei Jahre und ein Baby später hatte Peggys Mann die Nase voll, sowohl von ihrem Trinken als auch von ihrem Tablettenmissbrauch. Er hatte sich aus dem Staub gemacht.

Leider hatte das Peggy erst recht aus der Bahn geworfen.

Ihre Familie hatte Hilfe angeboten, aber Peggy hatte sich weiterhin mit Alkohol und Drogen betäubt.

Hin und wieder hatte es Phasen gegeben, in denen sie sich besser im Griff hatte. Dann hatte sie geschworen, eine bessere Mutter zu sein und sich zusammenzunehmen. Mehrere Male hatte sie sich selbst in eine Entzugsklinik eingewiesen, und während dieser Zeit war die kleine Shannon bei ihren Großeltern geblieben.

Solange Declans Vater noch am Leben war, hatte das funktioniert.

Aber nun hatten sich die Dinge geändert. Ruth musste den Tod ihres Mannes verarbeiten. Sie war nicht mehr die Jüngste. Und Shannon war kein kleines Mädchen mehr, sondern ein vierzehn Jahre alter, ziemlich verzweifelter Teenager.

Und da Ruth nicht länger ein eigenes Zuhause hatte, sondern bei Declan wohnte, zog nun auch noch Shannon zu ihm ins Farmhaus.

Von einem Tag auf den anderen verwandelte sich Declans einfaches, geordnetes und arbeitsreiches Leben in ein unglaubliches Durcheinander.

Zwischen Hofarbeit, Zucht und Reitstunden versuchte er sich um seine Mutter und einen missgelaunten Teenager zu kümmern.

Keine leichte Aufgabe. Nicht einmal für einen achtunddreißigjährigen, gestandenen Cowboy mit einer Größe von einem Meter neunzig.

Es war ihm nicht leichtgefallen, Shannon bei sich aufzunehmen. Doch seine Mutter hatte darauf bestanden. Und sie hatte ihm verraten, dass Peggy vor der Wahl stand, für neunzig Tage in eine Entzugsklinik zu gehen – oder ins Gefängnis.

„Wenn wir Shannon nicht bei uns aufnehmen, muss sie ins Heim“, hatte Ruth mit einem Schauern gesagt. Ihr war anzusehen gewesen, dass es ihr das Herz brach, sich ihre Enkelin in einem staatlichen Heim vorzustellen. „Das willst du doch nicht, oder?“

„Nein“, hatte Declan schließlich eingeräumt. „Natürlich nicht.“

Allerdings hatte er keine Ahnung, wie er seine Nichte durchbringen sollte. Weder emotional noch finanziell. Doch diese Sorgen behielt er lieber für sich. Seine Mutter hatte im vergangenen Jahr genug durchgemacht.

Und irgendwie würde er einen Weg finden.

Schon wenige Tage später begann Declan seine Entscheidung zu bereuen.

Wie sich herausstellte, war Shannon mehr als nur der typische, missgelaunte Teenager. Sie war ein echter Quälgeist.

„Was stimmt denn bloß nicht mit deinem Internet?“, fragte sie herausfordernd, als sie am Morgen das Wohnzimmer betrat. Sie sah ihn nicht einmal an. Ihr Blick war starr auf das Handydisplay gerichtet, und ihre Finger hämmerten ungeduldig darauf ein.

„Ich wünsche dir auch einen guten Morgen“, erwiderte Declan finster. Doch Shannon bemerkte es nicht einmal. „Das Internet ist hier ziemlich eigenwillig“, bemerkte er düster. „Du weißt ja, was das ist, oder?“

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, kannte sich Declan nicht besonders gut aus mit dem Internet. Er bezahlte jemanden in der Stadt, der ihm eine schlichte Website für die Pferdezucht gestaltete und unterhielt. Aber eigentlich hatte er sich fest vorgenommen, das irgendwann selbst zu übernehmen.

Shannon hob die Brauen. „Eigenwillig“, wiederholte sie. „Heißt das, ich muss erst all diese hohlen Aufgaben erledigen, die du mir gegeben hast?“ Damit meinte sie die Liste, die Declan ihr gestern Abend in die Hand gedrückt hatte.

„Nein, das heißt es nicht.“ Declan versuchte, sich seine Verärgerung nicht anmerken zu lassen. Seltsamerweise brachte Shannon ihn sogar noch schneller auf die Palme als Peggy in ihrem Alter.

Aber er hatte sich fest vorgenommen, sich nicht reizen zu lassen. Eine Woche lang hatte er nun schon Shannons miese Laune ertragen. Jetzt reichte es. Der Teenager brauchte eine Aufgabe. Dieses ewige Herumsitzen und Aufs-Handy-Starren tat ihr nicht gut.

„Wir wohnen zusammen. Jeder hat hier seine Pflichten“, erklärte er.

Shannon reckte trotzig das Kinn, sodass ihr rotes Haar über die Schultern fiel. „Vielleicht mag ich keine Pflichten.“

„Du magst Essen, oder?“, fragte Declan spitz.

„Jaa?“, bemerkte Shannon vorsichtig, als handele es sich um eine Fangfrage.

„Gut. Dann erledige deine Aufgaben. Und zwar bis ich wieder zu Hause bin“, sagte er schlicht.

Shannon sah ihn herausfordernd an. „Aber …“

„Ich verhandele nicht mit dir“, unterbrach Declan sie. Dann wandte er sich an seine Mutter. „Bis später, Mom.“ Er beugte sich zu der zunehmend gebrechlich wirkenden Frau und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Sei nicht so streng mit ihr“, flüsterte Ruth in sein Ohr.

„Aber genau das ist doch das Problem“, erwiderte er leise. „Bei ihrer Mutter durfte sie tun und lassen, was sie wollte. Peggy war viel zu sehr damit beschäftigt, ihre eigenen Sorgen zu ertränken. Aber jetzt ist Schluss damit. Shannon muss lernen, Verantwortung zu übernehmen. Sie soll sehen, dass man mehr aus seinem Leben machen kann.“

„Schon“, bemerkte Ruth zögernd. „Aber nicht alles an einem Tag, Schatz.“

Doch Declan sah das anders. „Besser heute als morgen.“

Er nahm seine Baseballkappe vom Haken neben der Tür und verließ das Haus.

Es machte ihn definitiv nicht glücklich, die Rolle eines strengen Vorbilds zu übernehmen. Aber wer sollte es sonst tun? Shannon sollte auf keinen Fall dem schlechten Beispiel ihrer Mutter folgen. Das Mädchen brauchte eine sinnvolle Aufgabe. Etwas, das sie mehr erfüllte, als den ganzen Tag herumzuhängen. Auch wenn sie das im Augenblick noch nicht wahrhaben wollte.

Mit finsterer Miene stapfte er auf seinen zehn Jahre alten Jeep zu.

Seiner Meinung nach hätten seine Eltern der aufmüpfigen Shannon längst etwas Respekt beibringen sollen. Aber das hatten sie nicht.

Für Peggy war es vielleicht zu spät, aber er würde nicht zulassen, dass Shannon auch noch vom Weg abkam. Auch wenn sie ihn für seine Strenge gerade nicht mochte, am Ende würde sie einsehen, dass er nur ihr Bestes wollte.

Zumindest hoffte er das.

2. KAPITEL

Doch zunächst musste er sich um seine eigene Arbeit kümmern.

Heute erwartete er eine neue Reitschülerin. Zu allem Überfluss auch noch eine blutige Anfängerin. Wahrscheinlich hatte sie sehr überzogene, romantische Vorstellungen vom Reiten. Seufzend lenkte er den Jeep in Richtung der Ställe. Er konnte nur hoffen, dass sie zumindest anständig angezogen war. Und ihm nicht die Ohren abquatschte.

Um wen es sich bei seiner neuen Reitschülerin handelte, wusste er nicht. Der Name hatte ihm nichts gesagt. Außerdem hatte sie nicht selbst angerufen, sondern ihre Schwägerin. Die Reitstunden waren ein Geschenk, offensichtlich als kleines Dankeschön.

Und Declan musste sich jetzt mit diesem Greenhorn herumschlagen.

Andererseits spielte das gar keine Rolle, solange die Reitstunden bezahlt wurden.

Declan stieg aus dem Jeep, betrat den Stall und überlegte einen Moment, welches Pferd er für die Anfängerin wählen sollte. Er entschied sich für Marigold, eine sanfte, ausgeglichene Stute, die jedes Kind reiten könnte.

Er sattelte die Stute rasch und holte dann seinen eigenen Hengst. Midnight war ein schwarzes, starkes Tier mit einem ausgeprägten Charakter. Außer Declan duldete er niemandem auf seinem Rücken.

Vor vier Jahren hatte Declan eigenhändig geholfen, den Hengst zur Welt zu bringen, und später hatte er selbst sein Training übernommen. Seither war Midnight sein ganzer Stolz. Declan hätte sich kein besseres Pferd wünschen können.

„Na komm, Junge“, sagte er zum Hengst. „Heute müssen wir uns ein bisschen zusammennehmen. Wir haben es mit einer blutigen Anfängerin zu tun. Also nicht ungeduldig werden“, ermahnte er das Tier sanft.

Der Hengst scharrte mit dem Vorderhuf. Ganz so, als würde er die Worte verstehen und seine Zustimmung kundtun. Manchmal hatte Declan das Gefühl, dass er bei den Tieren mehr Verständnis fand als bei den Menschen. Definitiv fiel es Declan an vielen Tagen leichter, mit seinen Pferden umzugehen.

Er führte Midnight und Marigold in den nächstgelegenen Paddock.

Hoffentlich würde die neue Schülerin nicht unablässig reden. Er hatte weder Interesse an ihr noch an ihrer Lebensgeschichte.

Seine Mutter redete mitunter auch eine Menge. Und sie brauchte jemanden zum Zuhören. Sein Vater hatte das Talent gehabt, einfach all das auszublenden, was er nicht hören wollte. Aber diese Gabe hatte Declan leider nicht geerbt, dachte er mit einem leisen Lächeln.

Und nun gab es da auch noch Shannon. Zwei weitere Stimmen, die zu dem unablässigen Lärm in seinem Kopf beitrugen, der ohnehin schon gefüllt war mit Sorgen, Erinnerungen und To-do-Listen.

Er vermisste die Tage, die er einfach stundenlang auf dem Pferderücken verbracht hatte, um seine Herde zu beaufsichtigen.

Plötzlich hielt er abrupt inne.

Am gegenüberliegenden Zaun des Paddocks stand eine Frau.

Als ihre Blicke sich begegneten, wirkte sie für einen winzigen Moment ein wenig unbehaglich. Ihre Augen waren leuchtend blau wie der Himmel.

Declan ertappte sich dabei, wie er von diesen Augen gefangen genommen wurde.

Seiner Erfahrung nach waren erwachsene Reitanfänger meistens matronenhafte, wenig sportliche Frauen in teuren Designer-Jeans und einem Shirt, das mindestens eine Größe zu klein war.

Aber diese Frau war nicht so gekleidet, als wollte sie jemanden beeindrucken. Sie trug legere Kleidung und hatte das lange, blonde Haar zu einem losen Knoten zusammengesteckt, aus dem sich ein paar Strähnen gelöst hatten und um ihr Gesicht fielen.

Declan verkniff sich ein Grinsen. Das letzte, was er gebraucht hätte, war eine weitere Primadonna, die sich gerne bewundern ließ. Überhaupt konnte er mit eitlen Menschen wenig anfangen. Für Eitelkeiten hatte er weder die Zeit noch die Geduld.

Zugegeben: Diese Frau war ziemlich attraktiv. Nicht, dass es für Declan eine Rolle gespielt hätte.

„Sind Sie Declan Hoyt?“, fragte Josie den großen, breitschultrigen und muskulösen Mann, der sie schweigend und unverwandt ansah.

„Ja.“ Offensichtlich war er nicht gewillt, mehr zu sagen.

„Ich bin Josie Whitaker. Ich glaube, meine Schwägerin hat sich bei Ihnen wegen Reitstunden gemeldet.“

„Hat sie“, bemerkte er knapp.

„Es ist ein … verfrühtes Geburtstagsgeschenk“, fühlte sich Josie bemüßigt hinzuzufügen. „Von ihr und meinem Bruder.“

„Aha.“

Schön. Dieser Mann würde ihr gewiss nicht mit seiner Redseligkeit auf die Nerven gehen.

„Nun, da bin ich“, sagte sie betont fröhlich. Allerdings war sie sich nicht sicher, ob dieser wortkarge Cowboy überhaupt vorhatte, ihr Reitstunden zu geben.

„Das sehe ich“, entgegnete er.

Eine unangenehme Stille folgte. Josie überlegte verzweifelt, wie sie die Pause beenden sollte. Sie kam vorsichtig näher und richtete ihren Blick auf den schwarzen Hengst. „Du bist aber eine Schönheit“, sagte sie und streckte die Hand aus, um seine Nase zu berühren.

„Midnight ist mein Pferd“, sagte Declan und zog den Hengst am Halfter zurück.

Verwirrt sah sie ihn an. „Ich hatte nicht vor, ihn Ihnen wegzunehmen“, erklärte sie. „Ich wollte ihn nur streicheln.“ Sie sah wieder den Hengst an. „Dagegen hast du doch nichts, oder, Junge?“ Mit diesen Worten hob sie langsam die Hand und gab Midnight die Gelegenheit, daran zu schnuppern, bevor sie ihn berührte.

Declan wollte sie gerade zurechtweisen und erklären, dass dieser Hengst nur auf ihn trainiert war, als ihm auffiel, dass Midnight sich nicht im Geringsten gestört fühlte. Im Gegenteil: Diese Frau, die laut ihrer Schwägerin angeblich überhaupt keine Erfahrung mit Pferden hatte, schien eine beruhigende Wirkung auf den Hengst zu haben.

Midnight wandte den Kopf und mustertes sie von der Seite, als ob er nicht genau wüsste, was er mit ihr anfangen sollte.

Damit sind wir schon zwei, Junge, dachte Declan im Stillen.

„Hier. Marigold ist Ihre Stute“, sagte er und hielt der Frau die Zügel hin.

„Hallo Marigold“, sagte sie und lächelte. „Schön, dich kennenzulernen.“

Sie war wirklich komisch, dachte Declan. Aber zumindest benahm sie sich nicht herrisch oder eingebildet. Es hätte noch schlimmer kommen können.

„Haben Sie schon einmal auf einem Pferd gesessen?“, wollte er jetzt wissen, obwohl er die Antwort erahnte.

„Zählt auch ein Karussellpferd?“, fragte sie mit einem freundlichen Lächeln.

Wer in aller Welt würde ein Holzpferd als Reittier bezeichnen? „Nein“, erwiderte er unbarmherzig.

„Dann nicht.“ Ihr Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. „Heute ist mein erstes Mal.“

„Großartig“, murmelte er. Sein Gesichtsausdruck bedeutete allerdings das genaue Gegenteil.

Das, dachte Josie bei sich, wird eine lange, schweigsame Reitstunde. Eine sehr lange, schweigsame Stunde.

„Sie sind also noch nie zuvor geritten.“

Der muskulöse Cowboy musterte sie, als käme sie von einem anderen Stern.

„Da, wo ich herkomme, gibt es nicht viele Pferde“, erklärte sie betont freundlich und fügte hinzu: „In Florida hatte ich nie die Gelegenheit zum Reiten. Aber ich träume schon lange davon. Und ich lerne schnell“, fügte sie hinzu, in der Hoffnung, ihm doch noch ein nettes Wort zu entlocken.

„Florida“, wiederholte Declan. „Da haben Sie vorher gewohnt?“

Es überraschte sie, dass er plötzlich Interesse zeigte. Und irgendwie machte es sie nervös. „Wenn es so wäre, hätten Sie ein Problem damit?“

Declan zog die Stirn kraus. „Ich habe überhaupt kein Problem mit Ihnen.“

Josie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Gut. Dann bin ich ja beruhigt.“

Nun war er vollends verwirrt. Er kniff die Augen zusammen. „Sind Sie etwa eine von diesen Personen, die krampfhaft versucht, das Beste aus allem zu machen?“

Das konnte sie nicht leugnen. Warum auch? Diese Eigenschaft hatte sie durch ein paar sehr harte Zeiten gebracht. „Warum nicht? Manchmal bleibt einem nichts anderes übrig.“

In diesem Moment entschied Declan, dass es das Beste wäre, sich auf den Unterricht zu konzentrieren.

„Na schön. Fangen wir an.“ Aus seiner Stimme war jede Emotion gewichen. „Halten Sie die Zügel.“

Josie nickte, nahm die Zügel und tätschelte die Nase der Stute. „Marigold“, sagte sie sanft.

„Sie haben ja zugehört.“ In seiner Stimme lag eine Spur Erstaunen.

„Ich höre immer zu“, erwiderte sie, allerdings ohne einen Hauch von Verärgerung.

„Eine gute Eigenschaft“, entgegnete er hölzern, als ob er nicht recht wüsste, was er darauf sagen sollte.

Er macht sich über mich lustig, dachte Josie. Allerdings hatte sie keine Ahnung, warum. Womöglich hatte das gar nichts mit ihr persönlich zu tun. Womöglich hatte er gerade einen Streit mit seiner Frau gehabt, bevor er zur Reitstunde kam. Sie nahm sich vor, die Bemerkung einfach zu ignorieren.

Stattdessen sagte sie: „Ich finde Zuhören sehr wichtig. Es erspart einem kostbare Zeit. Und es erspart dem Gegenüber, alles zwei Mal sagen zu müssen.“

Was wie eine simple Feststellung daherkam, war irgendwie eine Spitze gegen ihn – so empfand es Declan zumindest. Und wahrscheinlich hatte er genau das verdient.

Er seufzte. „Können wir loslegen?“

„Sehr gerne“, sagte sie eifrig.

Er hätte schwören können, dass ihre Augen vor Eifer aufblitzten.

Seltsamerweise rieb Marigold die Nase am Arm der Frau. Declan hatte noch nie gesehen, wie ein Schüler so schnell eine Beziehung zu seinem Pferd aufgebaut hatte.

„Da Marigold sich bereits an Sie gewöhnt zu haben scheint, können wir diesen Teil schon einmal überspringen.“

Die Frau nickte. Sie schien an seinen Lippen zu hängen und jede Silbe begierig aufzunehmen. Kaum jemand war seiner Erfahrung nach so aufmerksam und lerneifrig.

„Und was kommt als nächstes?“, fragte sie.

Es war ziemlich offensichtlich, aber offenbar musste er es trotzdem aussprechen. „Sie steigen auf.“

Das klang einfach. Doch als Josie sich der Stute näherte, schüttelte ihr Lehrer den Kopf. „Falsche Seite“, sagte er.

Die Leute nahmen immer an, sie wüssten, wie man reitet, nur weil sie ein paar Westernfilme gesehen hatten. Doch Declan wollte, dass seine Schüler von Anfang an die richtigen Schritte machten, bevor sich Fehler einschlichen.

„Vielleicht können Sie mir einmal vormachen, wie man richtig aufsteigt?“, fragte Josie.

Er hob die Brauen. „Ich habe eine bessere Idee.“

Sie starrte ihn an. „Sie wollen doch nicht etwa schon aufgeben?“

Die Frage kam ernsthaft entsetzt. Ganz so, als ob ihr wirklich etwas an dem Unterricht liegen würde.

„Ich gebe niemals auf“, informierte er seine neue Schülerin.

„Oh. Gut.“ Da war sie wieder, diese eifrige Fröhlichkeit. „Was dann?“

In gewisser Weise war ihre Art wohltuend. So ganz anders als die anderen Schülerinnen, die entweder eingebildet oder abgelenkt waren. Aber Declan versuchte, nicht darüber nachzudenken. Sie war nur eine weitere Schülerin. Sonst nichts.

„Ich erkläre Ihnen jetzt Schritt für Schritt, was Sie tun müssen“, sagte er. Er trat einen Schritt näher. „Stellen Sie den linken Fuß in den Steigbügel, halten Sie sich am Sattel fest, ziehen Sie sich hoch und schwingen Sie das rechte Bein über den Pferderücken.“

Sie versuchte, genau das zu tun – doch zu ihrer Überraschung gelang es ihr nicht.

Auch nicht beim zweiten Versuch.

Beim dritten Mal spürte sie plötzlich, wie er seine Hand auf ihren Po legte und nach oben drückte. Es lag nichts Intimes in der Berührung, es war eine schlichte Hilfestellung. Und es half.

Ein wenig beschämt über ihren Auftritt sah Josie auf den Lehrer hinab. „Jetzt sieht man, dass ich nie Zeit hatte, Sport zu treiben.“

Er wusste zwar nicht, was sie damit sagen wollte, aber er spürte, dass sie von ihm erwartete, nachzuhaken. „Warum nicht?“, fragte er deshalb pflichtbewusst.

Unwillkürlich ließ er den Blick über den Körper seiner neuen Schülerin gleiten. Allerdings fand er nicht, dass irgendetwas an dieser Frau unsportlich aussah.

„Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, meinem Mann die Ausbildung als Arzt zu ermöglichen. Wenn mir nach der Arbeit überhaupt noch Zeit blieb, habe ich versucht, sie mit meiner Tochter zu verbringen. Als sie noch klein war“, fügte sie hinzu. Schließlich war Hannah inzwischen erwachsen, und vor drei Jahren war sie ihren eigenen Weg gegangen, um das College zu besuchen.

Ohne es zu wollen, hatte Declan nun zwei empfindliche Informationen über die Frau bekommen: Sie war verheiratet und sie hatte eine Tochter.

Und so, wie sie ihn ansah, erwartete sie jetzt irgendeine Reaktion.

Declan entschied sich für das Offensichtliche. „Also sind Sie mit einem Arzt verheiratet.“

Zu seiner Überraschung sagte sie „Nein.“

Sollte das ein Witz sein? „Haben Sie nicht eben gesagt, dass Sie Ihrem Mann die Ausbildung zum Arzt finanziert haben? Was ist passiert? Hat er aufgegeben?“ Vor seinem geistigen Auge sah Declan einen verwöhnten Kerl, der nie gelernt hatte, sich durchzubeißen. Womöglich war er mehr feiern gegangen als zu lernen, während sich seine Frau für ihn abrackerte. Plötzlich empfand er Mitleid für sie.

„Nur die Ehe hat er aufgegeben“, antwortete sie aufrichtig und versuchte, auf dem Sattel in eine bequeme Position zu finden. Das war gar nicht so einfach.

„Was ist passiert?“, hörte Declan sich fragen.

„Die klassische Geschichte“, sagte sie wegwerfend. „Er hat eine Praxis eröffnet, eine Hilfsschwester eingestellt, beschlossen, dass er lieber diese heiraten sollte, und woanders eine Praxis eröffnet.“

Mit einer derart ehrlichen Antwort hatte Declan nicht gerechnet.

„Oh. Tut mir leid. Das geht mich überhaupt nichts an.“ Er hatte nie vorgehabt, etwas Persönliches über seine neue Schülerin zu erfahren. Hatte er ihr etwa das Gefühl gegeben, dass er das über sie wissen wollte? Das war sonst gar nicht seine Art. „Machen wir weiter“, sagte er schroff.

Sie nickte. Dann sagte sie: „Ist schon in Ordnung.“

Dieser Satz brachte ihn vollends durcheinander. „Was ist in Ordnung?“, hakte er nach.

Ihr nachsichtiges Lächeln traf ihn mitten in die Brust. „Sie können mich alles fragen.“

Allerdings machte ihr großzügiger Tonfall ihn erst recht missmutig. „Sie sollten hier die Fragen stellen. Und zwar übers Reiten“, betonte er scharf.

Anstatt nun beleidigt zu sein, nickte die Frau. „Sorry. Ich war für einen Moment in Gedanken.“

„Konzentrieren Sie sich“, ermahnte er streng – obwohl er das ebenso gut zu sich selbst hätte sagen können.

„Gut. Entschuldigung.“ Sie lächelte.

Jetzt fühlte er sich erst recht schlecht. Sie hatte überhaupt keinen Grund, sich zu entschuldigen. Andererseits hatte er bereits viel mehr über sie erfahren, als ihm lieb war. Wie gelang es ihr bloß, gleichzeitig so umgänglich und so irritierend zu sein?

Konzentrier dich auf den Unterricht. Je schneller du das hinter dich bringst, desto schneller kannst du zu deinen anderen Aufgaben zurück, ermahnte er sich.

Immerhin hörte diese Frau auf das, was er sagte. Sie war überraschend verträglich. Angenehm. Er hatte also keinen Grund, seine schlechte Laune an ihr auszulassen.

Moment mal. Er hatte gerade zugegeben – wenn auch nur innerlich –, dass er schlechte Laune hatte. Nun, er schob es auf den Zusammenstoß mit seiner missgelaunten Nichte.

Pflichtbewusst ritt er mit Josie im Schritt durch den Paddock, immer wieder im Kreis herum. Er korrigierte ihren Sitz, überprüfte, wie sie die Zügel hielt, und gab ihr Tipps zur Balance.

Schließlich fragte er ohne Vorwarnung: „Sind Sie bereit für einen kleinen Ausritt?“

Josie sah ihn überrascht an. Sie fühlte sich noch nicht besonders sattelfest.

„Glauben Sie, ich bin schon bereit dafür?“, fragte sie den Cowboy.

Nicht der Hauch eines Lächelns spielte um seinen Mund. „Nun, ich weiß, dass Sie nervös sind. Aber ich habe Sie beobachtet. Sie kommen besser zurecht, als Sie glauben. Vertrauen Sie mir.“

Klang seine Stimme eine Spur weicher?

Josie straffte sich. „Wenn Sie meinen … Aber bitte, sagen Sie doch Josie zu mir. Das ist weniger förmlich.“

Er starrte sie an. Nach einer unendlich scheinenden Pause sagte er ohne zu lächeln: „Na schön. Josie. Ich möchte, dass du da rüberreitest. Auf diesen Baum zu.“

Die Unsicherheit stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Na schön“, wiederholte sie. Offenbar wollte sie es zumindest versuchen.

Declan musterte ihr Gesicht. Sie hatte ein hübsches Profil.

Und im Gegensatz zu seinen vergangenen Schülerinnen machte sie nicht den Eindruck, als wollte sie mit ihm flirten. Im Gegenteil. Offensichtlich war sie wirklich nur hier, um reiten zu lernen. Nicht, um Komplimente abzustauben, weil sie von ihrem Mann abserviert wurde.

Ihrem Ex-Mann also. Was für ein Idiot, dachte Declan. Er hatte eine attraktive Frau gehabt, die ihm auch noch ermöglicht hatte, sich seinen Traum zu erfüllen. Was für ein undankbarer Bastard, ging es ihm unwillkürlich durch den Kopf.

„Bereit?“, fragte er und nickte in Richtung Baum.

„Bereit“, sagte sie, und ihr Blick war eifrig auf das Ziel gerichtet.

„Dann los!“, ordnete er an.

Automatisch drückte er seinem Hengst die Fersen in die Flanken und ließ ihn angaloppieren. Für einen Moment hatte er völlig vergessen, dass er eine Schülerin bei sich hatte.

Er warf einen Blick über die Schulter. Josie tat es ihm nach – als wäre sie sein Spiegel. Und schon flogen sie beide über die Wiese.

Declan zügelte den Hengst. Er durfte ihm nicht seinen Willen lassen, sonst wären sie zu schnell geworden. Er durfte seiner neuen Schülerin nicht zu viel zumuten.

Doch als er sich das nächste Mal umdrehte, bemerkte er, dass sie ihm dicht auf den Fersen war – auch wenn es so aussah, als ob sie sich kaum halten konnte.

3. KAPITEL

Als Josie den Baum erreichte, waren ihren Wangen gerötet. Ihr Atem ging schwer, als ob sie diejenige gewesen wäre, die die ganze Strecke gerannt wäre.

Gleichzeitig zog sich ein breites Grinsen von einem Ohr zum anderen. Wie bei einem Kind, das gerade unerwartet einen Sieg errungen hatte.

Declan war niemand, der leichtfertig Lob verteilte. Aber in diesem Fall fühlte er sich bemüßigt zu sagen: „Nicht schlecht.“

Josie fing seinen Blick auf. Ihm war anzusehen, wie schwer es ihm fiel, ein Kompliment zu machen. Aber das machte es umso mehr wert. Es war, als würde sich ein warmer Sonnenstrahl in ihrem Inneren ausbreiten. „Danke“, sagte sie aus tiefstem Herzen. Dann gab sie zu: „Ich bin einfach froh, dass ich nicht runtergefallen bin.“

„Da sind wir schon zwei“, murmelte Declan leise.

Er hatte nicht damit gerechnet, dass Josie ihn hörte. „Keine Sorge“, sagte sie, „wenn ich runtergefallen wäre, wäre ich sofort wieder aufgestiegen.“

Wortlos maß er mit seinen Blicken den Abstand zwischen Boden und Pferderücken.

„Ich wäre wieder aufgestiegen“, beharrte sie.

Eine Art schiefes Lächeln kräuselte seine Mundwinkel. „Gut, dass wir das nicht herausfinden mussten. Sollen wir zurückreiten?“

„Oh, ist der Unterricht schon vorbei?“ Sie machte keinen Versuch, ihre Enttäuschung zu verbergen.

„Nein“, entgegnete er. „Da gibt es noch etwas, das du lernen musst, sobald wir wieder im Stall sind.“

„Und das wäre?“, fragte sie misstrauisch, als sie seinen selbstzufriedenen Gesichtsausdruck bemerkte.

„Du musst lernen, wie du dein Pferd absattelst, putzt und versorgst.“

Sie atmete auf. „Ach so.“

Einige seiner anderen Schülerinnen hatten sich an dieser Stelle beschwert. Sie waren der Meinung, dass diese Aufgaben niedere Stallarbeit waren, die sie nicht zu tun brauchten, und für die Declan schließlich bezahlt wurde.

Josie dagegen war sofort einsichtig. „Das ist ein bisschen so, als würde man einem Baby am Ende des Tages ein Bad geben, bevor man es ins Bett steckt.“

Man konnte dieser Frau wirklich nicht vorwerfen, ein Spielverderber zu sein. Selbst weniger angenehme Aufgaben nahm sie mit Leichtigkeit an.

„So in etwa“, räumte er ein. „Bist du bereit dafür?“ Ein kleiner Teil von ihm glaubte noch immer, sie würde nun mit irgendeiner Entschuldigung aufwarten, um der Arbeit zu entgehen.

Doch sie überraschte ihn ein weiteres Mal. „Natürlich“, sagte sie fröhlich. „Das gehört doch dazu, oder?“

Declan nickte bloß wortlos und wandte den Hengst in Richtung Stall. Aus dem Augenwinkel beobachte er, wie Josie es ihm nachtat. Sie brauchte einen Moment, um Marigold zum Gehen zu bewegen, doch dann fiel sie neben ihm in einen langsamen, gleichmäßigen Schritt.

Mit einem Anflug von Stolz begutachtete Declan die Fortschritte, die seine Schülerin in der kurzen Zeit gemacht hatte.

Doch zurück beim Stall kam es anders als erwartet.

Declan schwang sich mit einer flüssigen Bewegung von Midnights Rücken, nahm Marigolds Zügel und wartete, dass Josie es ihm nachtat.

Doch Josies Absitzen verlief nicht ganz so flüssig. Als ihre Füße den Boden berührten, gaben ihre Knie unerwartet unter ihr nach. Sie wäre gefallen, wenn Declan nicht blitzartig reagiert und sie aufgefangen hätte.

Instinktiv schloss er die Arme um sie und zog sie an sich.

Kein Zentimeter lag mehr zwischen ihnen.

Es war schwer zu sagen, wer von beiden mehr irritiert war.

Allerdings war Josie die Erste, die ihre Sprache wiederfand. Dankbar lächelte sie ihren Lehrer an. „Danke. Das hätte sehr peinlich enden können“, befand sie.

Hätte?“, fragte er.

Er konnte sich nicht vorstellen, dass es ihr wirklich angenehmer war, von ihm aufgefangen zu werden.

Doch Josie lächelte tapfer. Und sie versuchte, die warmen Wellen zu ignorieren, die durch ihren Körper gingen. Seine Brust fühlte sich stark, definiert und durchtrainiert an.

Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal einem Mann so nahe gewesen war. Wahrscheinlich lange bevor ihre Ehe in die Brüche gegangen war, vor über sechs Jahren.

„Na ja, es ist ja noch mal gut gegangen“, räumte sie ein. „Du bist sehr zuvorkommend.“

Er sah sie skeptisch an. „Man hat mir ja schon vieles nachgesagt, aber bestimmt nicht das.“

„Hm. Vielleicht hat es nur niemand laut ausgesprochen“, fuhr sie fort. „Immerhin hast du eine ziemlich einschüchternde Art.“

Nun fühlte er sich noch schlechter. Er hatte gar nicht vorgehabt, sie einzuschüchtern. Er wollte bloß so schnell wie möglich den Unterricht hinter sich bringen. Schließlich hatte er noch genug andere Dinge zu tun.

Jetzt, da er darüber nachdachte, hatte er sie ziemlich unfair behandelt. Immerhin war sie nichts als liebenswürdig gewesen und hatte sich von Anfang an bemüht, seinen Anweisungen zu folgen.

„Hör mal, du brauchst dein Pferd heute nicht abzusatteln“, sagte er. „Ich mache das schon.“

„Aber ich möchte es gerne“, protestierte sie. „Ich möchte meinen Beitrag leisten. Ich möchte alles lernen, was mit dem Reiten zu tun hat. Selbst das Putzen. Ich bin gut in solchen Dingen, du wirst sehen.“

Es überraschte ihn, dass sie das sagte. Und es erinnerte ihn an die Diskussion mit Shannon. „Schade, dass meine Nichte nicht mehr von dir hat“, entfuhr es ihm, bevor er sich bremsen konnte. Warum hatte er etwas so Persönliches gesagt?

„Du hast eine Nichte?“, fragte Josie interessiert.

„Ja“, rang er sich ab. Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich.

„Und im Augenblick scheinst du nicht besonders glücklich darüber zu sein“, bemerkte Josie.

„Weil sie einem wirklich auf den Wecker gehen kann“, gab er zu, auch wenn er das nicht vorgehabt hatte.

„Wie alt ist deine Nichte?“, fragte Josie, ohne auf den Kommentar einzugehen.

Nun, das war eine harmlose Frage, die er leicht beantworten konnte. „Sie ist vierzehn.“

„Ah.“ Josie nickte, als ob das alles erklären würde.

„Ah?“, wiederholte er ungeduldig.

„Nun, es würde mich wundern, wenn sie dir nicht auf den Wecker fallen würde. Teenager in diesem Alter testen ihre Grenzen. Du wirst noch viel Spaß mit ihr haben.“

„Ich kann’s kaum erwarten“, murmelte er düster.

„Halt durch“, ermunterte Josie ihn. „Irgendwann wird es besser. Sie will dich bloß testen. Am besten bleibst du immer freundlich – aber bestimmt. Lass nicht zu, dass sie dich manipuliert. Und verlier nie die Nerven. Wenn du immer beständig bleibst, weiß sie, dass sie sich auf das verlassen kann, was du sagst. Du wirst sehen: In ein paar Jahren wird sie eine großartige, smarte junge Frau sein, auf die du stolz sein kannst.“

Er sah sie zweifelnd an. „Da bin ich mir noch nicht so sicher.“

„Warte es nur ab“, bekräftigte Josie. „Und gib ihr niemals das Gefühl, dass du sie aufgegeben hast. Wenn du merkst, dass du die Nerven verlierst – dann zieh dich zurück. Zähl bis zehn. Zähl bis hundert, wenn es sein muss, und versuche es dann noch einmal“, riet Josie ihm. „Ich nehme an, dass sie bei dir wohnt?“

„Ja. Vorerst“, stellte er richtig.

Josie hätte gerne gewusst, wie lange dieses vorerst war, doch sie spürte, dass er das nicht beantworten konnte oder wollte. „Gut. Dieses vorerst könnte die wichtigste Zeit ihres Lebens sein.“

Unwillkürlich fragte er sich, ob sie aus eigener Erfahrung sprach. Und von ihrer eigenen Tochter.

Für einen Augenblick versuchte er abzuwägen, ob er sie danach fragen sollte. Und entschied, dass er nichts zu verlieren hatte. „Du hörst dich an, als hättest du das alles schon selbst durchgemacht“, sagte er schließlich.

Ein seltsames Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. „Das habe ich.“

„Deine Tochter“, stellte er fest. Wahrscheinlich hatte sie ihre Tochter allein großziehen müssen. Ob ihr das besser gelungen war als seiner Schwester Peggy?

„Meine Tochter“, bestätigte sie.

„Ist sie eine großartige, smarte junge Frau geworden?“, fragte er und wunderte sich im selben Augenblick über sich selbst. Seit wann fragte er Fremde derart persönliche Dinge? Es war überhaupt nicht seine Art. Und er wollte das alles überhaupt nicht wissen.

Diese Frau war eine Hexe, entschied er. Sie brachte ihn dazu, Dinge zu sagen, die er gar nicht wollte.

„Sie ist eine großartige junge Frau, die genau weiß, was sie will, und auf dem besten Wege ist, selbst Ärztin zu werden. Ich würde sie gerne öfter sehen, aber sie hat sich vorerst für ihre Ausbildung entschieden. Dafür tut sie alles, und ich bin froh, dass sie es durchzieht.“

Josie lächelte ihn an. „Ich bin sicher, du wirst auch irgendwann sehr stolz sein auf …“

„Shannon“, bemerkte er zögernd.

„Shannon“, wiederholte sie. „Das ist ein hübscher Name.“

Declan hob die Schultern. „Wenn du meinst.“

In diesem Moment hatte sie das Gefühl, dass er es seiner Nichte auch nicht unbedingt leicht machte. Sie hätte ihm gerne noch mehr Fragen gestellt. Es lag einfach in ihrer Natur, anderen Menschen zu helfen. Doch sie spürte, dass sie seine Grenze erreicht hatte. Und sie wollte noch weitere Reitstunden bei ihm nehmen. Also war es das Klügste, sich vorerst zurückzuhalten.

„Ich bin sicher, du hast heute noch viel zu erledigen. Du kannst Marigold ruhig mir überlassen“, schlug sie vor.

Er sah sie skeptisch an. „Du weißt doch gar nicht, wie man ein Pferd absattelt.“

„Ich folge meiner Intuition. Schließlich kümmere ich mich gerade auch um sechs Monate alte Zwillinge.“

„Zwillinge hast du auch noch?“, fragte er überrascht. Wie viele Kinder hatte diese Frau eigentlich?

„Es sind die Kinder meines Bruders“, erklärte sie. „Ich bin hergezogen, um der frischgebackenen Familie zu helfen.“

„Du bist den ganzen Weg von Florida hergekommen?“, hakte er nach. Andererseits hatte er sein Leben schließlich auch geändert, um seiner Mutter und seiner Nichte zu helfen. So etwas tat man eben als Familie.

Ihr Lächeln wurde weiter. „Du kannst ja auch zuhören“, stellte sie zufrieden fest.

„Sieht so aus.“ Er hob die Schultern. „Siehst du den Jungen da drüben?“ Er deutete auf Steve Cartright, der gerade über den Hof auf sie zukam. Der Junge ging noch zur Highschool. Er hatte sein Pferd bei Declan untergestellt, und als Gegenleistung arbeitete er ein bis zwei Stunden pro Tag im Stall.

„Er wird dir zeigen, wie du Marigold absatteln und striegeln musst. Komm später rüber ins Wohnhaus, dann können wir einen neuen Termin ausmachen.“ Mit diesen Worten wandte er sich ab und ging davon.

Wie alles, was Josie im Leben anging, wollte sie auch diese Aufgabe gut machen.

Sie ließ sich von dem Jungen, der sich als Steve vorstellte, zeigen, wie man den Sattelgurt löste, den Sattel korrekt abnahm und verstaute. Dann erklärte Steve, welche Bürsten sie verwenden sollte.

Schließlich blieb Josie mit der Stute allein im Stall zurück, um sie zu putzen. „Sieh mal, mein Mädchen“, sagte Josie zu ihr und musterte die Flanken, „ich habe dich zwar nicht hart geritten, aber du bist trotzdem verschwitzt. Aber das kriegen wir schon wieder hin.“

Marigold wandte den Kopf und sah sie an. Fast so, als würde sie genau verstehen, was Josie zu ihr sagte. Es war ein schöner Gedanke, und so begann Josie, der Stute noch mehr zu erzählen.

Sie hatte Tiere schon immer geliebt, große und kleine. Deswegen fiel es ihr leicht, Rebekahs Aufgaben im Tierheim zu übernehmen. Fellknäuel fürs Leben nahm hauptsächlich Hunde auf, deren Besitzer sie ausgesetzt hatten oder sie abgaben, weil sie mit den Tieren überfordert waren.

Bis vor Kurzem hatten ihre beiden Tanten, die von allen nur liebevoll Bunny und Birdie genannt wurden, das Tierheim geleitet. Doch nach all den Jahren hatten die beiden Schwestern beschlossen, dass es an der Zeit war, die Leitung jemand Jüngerem zu übergeben.

Überraschenderweise hatte Bunny die Stadt mit ihrem Wohnmobil verlassen – und mit einem geheimen Liebhaber, von dem niemand etwas geahnt hatte. Birdie war zwar noch in der Nähe, hatte sich aber mehr und mehr von ihren Aufgaben zurückgezogen, nachdem Rebekah als Direktorin eingestellt worden war.

Erst als Rebekah in Mutterschutz ging, brauchten sie dringend eine Vertretung. Gleichzeitig gab es eine ganze Welle von Neuankömmlingen: Hunde, die bei einem dubiosen Züchter in einem Hinterhof gefunden worden waren und dringend eine anständige Unterkunft brauchten. So hatte man Bethany Robeson eingestellt, die die Leitung des Heims übernehmen sollte.

Da Josie ohnehin schon in Spring Forest war, um ihrer Schwägerin unter die Arme zu greifen, war es für sie nur logisch gewesen, in ihrer wenigen freien Zeit auch noch im Tierheim auszuhelfen.

„Siehst du, viele Tiere brauchen unsere Hilfe“, schloss sie an Marigold gewandt und betrachtete ihr Werk. Das Fell der Stute glänzte nun seidig. „Du siehst großartig aus, Marigold“, befand Josie. „Du wirst dich in Acht nehmen müssen. Vor allem vor diesem sexy Hengst Midnight.“

Sie lächelte. „Aber lass dich nicht hinreißen. Nur, weil er groß und stark ist, heißt das nicht, dass er dich sofort haben kann. Lass ihn ruhig ein bisschen zappeln.“

Marigold wieherte, als ob sie genau verstanden hätte. Josie lachte. „Du weißt genau, was ich meine, stimmt’s, mein Mädchen?“

Verstohlen sah sie sich um, doch Steve war längst nach draußen gegangen, und sie war allein im Stall. Nicht, dass jemand auf den Gedanken kommen könnte, sie spreche von Declan.

„War schön, mit dir zu reden, Marigold. Ich muss jetzt gehen. Wir sehen uns bald wieder – hoffentlich.“ Allerdings hatte sie keine Ahnung, wie viele Reitstunden Rebekah und ihr Bruder wirklich gebucht hatten. Sie bezweifelte, dass es viele waren.

Aber jetzt, da sich ihr ihr lebenslanger Traum erfüllt und sie endlich auf einem Pferd gesessen hatte, wollte sie es nicht gleich wieder aufgeben. Auch wenn sich beim Gehen nun ein scharfer Schmerz in Rücken und Po bemerkbar machte.

Sie ignorierte den Schmerz, räumte die Bürsten ordentlich an ihren Platz zurück und setzte sich in ihr Auto, um die kurze Strecke bis zum Wohnhaus zu fahren.

Dort stieg sie die niedrigen Stufen zur Haustür hinauf und klopfte an die Tür, doch niemand öffnete.

Sie klopfte erneut.

Normalerweise wäre sie nun gegangen, aber ihr ernster Reitlehrer hatte sie schließlich gebeten, zum Wohnhaus zu kommen, um einen neuen Termin auszumachen.

In dem Moment, in dem sie die Hand hob, um ein drittes Mal zu klopfen, wurde die Tür geöffnet. Doch wider Erwarten stand dort nicht ihr muskulöser Lehrer, sondern ein schlaksiger Teenager. Die Vierzehnjährige hatte rotes Haar und starrte Josie aus feindseligen, leuchtend grünen Augen an.

„Ja?“, fragte sie schließlich.

Es war bemerkenswert, wie viel trotzige Provokation in dieser einzelnen Silbe lag.

Doch anstatt sich angegriffen zu fühlen, schenkte Josie dem Mädchen ein warmes Lächeln. „Du musst Shannon sein.“

Für einen Augenblick spiegelte sich Überraschung in den Augen des Mädchens, dann zog sie die Stirn kraus. „Na und?“, fragte sie herausfordernd.

Unwillkürlich wurde Josie an ihre eigene Tochter erinnert. Sie hatte als Teenager eine schwere Zeit gehabt. Sie war wütend auf ihre Eltern, weil diese sich scheiden ließen, wütend auf sich selbst, weil sie sich verlassen und klein fühlte, und wütend auf den Rest der Welt, weil es dort für sie und all ihre Ängste keinen rechten Platz zu geben schien.

Kein Wunder, dachte Josie, dass Declan gerade nichts zu lachen hatte. Für einen Mann war eine pubertierende Vierzehnjährige definitiv eine Herausforderung. Und so, wie es sich anhörte, war ihm die Verantwortung gerade erst aufgebürdet worden.

Doch Josie war fest entschlossen, sich mit dem grantigen Teenager anzufreunden. „Dein Onkel hat mir eine Menge über dich erzählt.“

Shannons grüne Augen verfinsterten sich. „Ich wette, das hat er“, antwortete sie mürrisch. Ihr Blick maß Josie von Kopf bis Fuß. „Sind Sie seine Freundin?“, fragte sie, und ihr Ton klang noch abweisender als zuvor.

Ihre Frage überraschte Josie, aber sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. „Nein. Ich bin seine Schülerin“, sagte sie freundlich.

Shannons Brauen zogen sich zusammen. „Er ist ein Lehrer?“, fragte sie skeptisch.

„Nun ja, er gibt Reitstunden“, erklärte Josie geduldig. „Er bringt mir das Reiten bei.“

Shannon wandte den Blick zum Himmel und lachte leise auf. Es war kein freundliches Lachen. „Das gefällt ihm bestimmt“, sagte sie. „Onkel Declan gibt gerne Befehle. Das ist so was wie sein Hobby.“ 

Josie hatte das Bedürfnis, ihren Reitlehrer zu verteidigen. Es war offensichtlich, dass er mit dem Teenager überfordert war. Das konnte man ihm nicht vorwerfen, schließlich konnten Teenager ziemlich schwierig sein.

„Vielleicht möchte er anderen einfach gerne helfen, und du hast ihn missverstanden“, sagte Josie daraufhin.

Doch Shannon musterte Josie lediglich mit einem Blick, der halb herablassend, halb mitleidig war. „Das glauben Sie doch selbst nicht.“

„Doch. Das tue ich“, entgegnete Josie aufrichtig. Mit dem Kinn deutete sie ins Haus. „Darf ich reinkommen?“

Für einen Moment schien Shannon abzuwägen, dann hob sie betont desinteressiert die Schultern. „Mir doch egal.“ Sie trat zurück. „Tun Sie, was Sie wollen.“

Sie wollte sich zum Gehen wenden, um sich in ihr Zimmer zurückzuziehen. Ihr Zimmer, was eine lächerlich kleine Höhle war, die ihre Großmutter ihr zugewiesen hatte.

Doch als Shannon noch einmal aufblickte, sah sie Josie breit grinsen. „Was gibt es da zu grinsen?“, fragte sie feindselig.

„Ach, du erinnerst mich bloß an jemanden“, entgegnete Josie leichthin.

„An wen?“, fragte Shannon angriffslustig. Ihr Körper spannte sich, als ob sie sich für eine Beleidigung wappnen müsste.

„An meine Tochter, als sie in deinem Alter war“, antwortete Josie. „Ganz gleich, was ich gesagt habe, sie hat immer versucht, mit mir zu streiten.“

Shannon kniff die Augen zusammen und nickte schließlich. „Ach, und was haben Sie ihr daraufhin gesagt? Dass sie sich zusammenreißen soll, weil Sie sie sonst aus dem Haus werfen?“ Das hatte ihre Mutter ihr mehr als einmal an den Kopf geworfen. Wenn sie denn einmal nüchtern genug war, um Shannon überhaupt zu bemerken.

Mit ihrer Bemerkung hatte das Mädchen viel mehr über sich verraten, als ihr bewusst war, dachte Josie.

Diese Bemerkung erzählte eine ganze Geschichte – eine traurige Geschichte von einer tiefen Verletzung. Josies Herz öffnete sich für das Mädchen, dem man offensichtlich so sehr wehgetan hatte.

Es würde schwer werden, all diese Verletzungen heil zu überstehen. Shannon brauchte ihre Familie. Sie brauchte das Wissen, dass es trotz allem noch jemanden gab, der immer hinter ihr stand.

„Nein“, widersprach Josie sanft. „Ich würde sie in den Arm nehmen. Das heißt, wenn sie mich lässt“, berichtigte Josie sich. „Und ich würde ihr sagen, ganz egal was sie tut oder sagt, ich werde immer für sie da sein.“

Das Mädchen sah nicht so aus, als ob sie Josie glauben würde. „Hat sie gelacht?“, fragte sie hinterhältig.

„Tja, es hat eine Weile gedauert, bis sie mir geglaubt hat“, räumte Josie ehrlich ein. „Aber nein, sie hat nicht gelacht.“

In diesem Moment kam Champ ins Zimmer, Declans australischer Schäferhund.

Josie bemerkte, wie Shannons Augen bei seinem Anblick aufleuchteten.

Doch der Hund ignorierte sie beide und durchquerte den Raum, ohne sich auch nur nach ihnen umzusehen.

„Champ sucht meinen Onkel. Er ist wie sein Schatten. Total anhänglich.“ Die Wehmut in Shannons Stimme war kaum zu überhören.

Josie nickte wissend. Eine Idee hatte begonnen, in ihrem Kopf Gestalt anzunehmen. „Es ist schade, wenn ein Hund nur auf eine Person fixiert ist. Vor allem, wenn man sich gerne mehr mit ihm beschäftigen würde.“

„Ich will überhaupt nichts“, blaffte Shannon. Es war, als wollte sie sich selbst jegliche Gefühle verbieten.

„Ich meinte bloß im Allgemeinen“, ruderte Josie zurück. Behutsam musterte sie Shannons Gesicht. „Weißt du, ich helfe ein paar Mal die Woche im Tierheim aus.“ Damit hatte sie Shannons Aufmerksamkeit erregt. „Dort können sie immer Hilfe gebrauchen. Wenn dich so etwas interessiert.“

„Tut es nicht“, antwortete Shannon schnell. Sie wollte unbedingt den Eindruck erwecken, sie sei auf nichts und niemanden angewiesen.

Doch dann bekam ihre harte Fassade erste Risse. „Was für Tiere gibt es da?“, fragte sie.

„Alle möglichen“, antwortete Josie leichthin. „Aber vor allem Hunde und Katzen. Und die könnten ein bisschen liebevolle Zuwendung gebrauchen, bevor sie ein neues Zuhause finden.“

Shannon hob die Schultern, als ob sie das alles nichts anginge. Aber ihre Augen hatten sie verraten. „Vielleicht kann ich ja mal aushelfen. Wenn ich nichts Besseres zu tun habe.“

Josie nickte. „Das wäre toll. Sobald du mal Zeit und Lust hast, würde ich dich abholen. Das heißt, wenn dein Onkel nichts dagegen hat.“

Shannon reckte das Kinn. „Onkel Declan kann mir gar nichts verbieten. Er ist nicht mein Boss.“

„Ich fürchte, im Augenblick ist er das irgendwie schon“, erklärte Josie geduldig. „Und weißt du was? Ihm liegt sehr viel an dir.“

„Ja, klar. Sicher“, entgegnete Shannon sarkastisch. „Glaub’ ich sofort.“ Ihr Gesicht nahm wieder einen verschlossenen Ausdruck an.

Doch noch war Josie nicht bereit, aufzugeben. „Du kannst es wirklich glauben. Weißt du, Männer haben oft Schwierigkeiten, ihre Gefühle zu zeigen. Sie glauben, das lässt sie schwach aussehen“, erklärte Josie. „Aber das heißt nicht, dass sie keine haben. Oder dass du ihnen egal bist.“ Sie senkte verschwörerisch die Stimme, als würde sie ein Geheimnis teilen. „Ich weiß, dass sie einen damit in den Wahnsinn treiben können. Manchmal möchte man einfach schreiend davonlaufen. Glaub mir, das haben wir alle schon erlebt.“

Shannons Augen leuchteten auf. Für einen Moment vergaß sie sogar ihre Rolle als gleichgültiger Teenager. „Wirklich?“, hakte sie nach.

„Wirklich“, bestätigte Josie feierlich.

Ein echtes Grinsen zog in Shannons Gesicht auf. Josie war froh: Endlich war sie zu dem Teenager durchgedrungen. Hoffentlich wurde es von nun an leichter.

Diesen Moment des Waffenstillstands wählte Declan, um das Wohnzimmer zu betreten. Sein Blick wandelte sich von Überraschung zu Verärgerung, als er Shannon bei seiner Schülerin sah.

„Niemand hat mir gesagt, dass du hier bist“, sagte er zu Josie. Es war offensichtlich, wem er die Schuld daran gab.

„Ich bin gerade erst hereingekommen“, versuchte Josie seine Nichte in Schutz zu nehmen. „Ich habe deiner Nichte erklärt, wer ich bin. Sie hat gezögert, eine Fremde ins Haus zu lassen“, erklärte Josie und hoffte, Shannon damit in ein besseres Licht zu rücken. Dann wechselte sie das Thema. „Marigold ist übrigens abgesattelt und geputzt.“

„Wenigstens eine hier tut, was ich ihr sage“, bemerkte Declan grimmig.

Shannons Gesichtsausdruck verfinsterte sich sofort.

Josie wollte es nicht zum Eklat kommen lassen. „Darf ich dich einen Moment sprechen?“, fragte sie.

Declan sah zwar keinen Anlass, das Gespräch unter vier Augen fortzuführen, aber er hatte auch keine Lust, vor seiner aufmüpfigen Nichte zu debattieren. „Gehen wir in die Küche“, sagte er daher und ging voraus.

In der Küche drehte er sich so abrupt um, dass Josie beinahe gegen ihn gestoßen wäre. „Na schön, was willst du mir sagen?“

„Ich möchte dir einen Vorschlag machen“, sagte sie.

„Ah?“ Declan hatte keine Ahnung, worauf sie hinauswollte, aber er ahnte, dass es ihm nicht gefallen würde. Schon wieder hatte das Gespräch mit dieser Frau eine völlig unerwartete Richtung genommen.

„Ganz offensichtlich kannst du ein bisschen Hilfe gebrauchen mit deiner Nichte“, begann sie. „Wie wäre es, wenn ich das übernehme?“

Im Leben gab es nichts umsonst, so viel war Declan klar. „Was verlangst du dafür?“, wollte er wissen.

„Ein paar Reitstunden“, antwortete Josie. „Ich bin sicher, mein Bruder und meine Schwägerin haben nicht so viele gebucht.“

„Zwei. Sie haben zwei gebucht“, bestätigte er.

„Gut. Dann lass uns auf fünf Stunden aufstocken. Und ich komme drei, vier Mal die Woche vorbei, um Shannon abzuholen. Ich nehme sie mit ins Tierheim, wo sie mir ein bisschen zur Hand gehen kann. Sie hat sich sehr dafür interessiert, also dachte ich …“

Mehr brauchte Declan nicht hören. Egal, was es war: Jede sinnvolle Tätigkeit für Shannon kam ihm sehr gelegen. Er streckte die Hand aus. „Abgemacht, Miss Whitaker.“

„Josie“, berichtigte sie.

Er nickte. „Josie.“

Das war einfacher gewesen, als sie dachte. Der Mann war ganz offensichtlich verzweifelt.

Lächelnd schlug sie ein.

4. KAPITEL

Als Josie nach Hause fuhr, war sie mehr als zufrieden mit sich.

Die nächste Reitstunde sollte zwar erst kommende Woche stattfinden, doch sie hatte fest vor, Shannon schon vorher zum Tierheim mitzunehmen.

Sie bezweifelte, dass Declan und der Teenager es noch einen Tag länger zu Hause zusammen aushielten. Shannon brauchte Ablenkung. Und das Gefühl, gebraucht zu werden. Schließlich brauchte jeder Mensch das Gefühl, gebraucht zu werden.

Josie parkte ihren Wagen vor der Garage, doch anstatt gleich in ihr kleines Apartment hinaufzugehen, wandte sie sich zunächst zum Haupthaus. Dort fand sie Rebekah vor, die offensichtlich versuchte, gleichzeitig zu putzen und die Berge an Wäsche zu waschen, die die Zwillinge verursachten.

„Schlafen die beiden?“, fragte Josie behutsam.

Rebekah nickte müde. Unter ihren Augen lagen dunkle Ringe. „So Gott will, ja. Ich nutze den kurzen Frieden, um das Schlachtfeld aufzuräumen.“

„Du solltest den Frieden nutzen, um dich hinzulegen. Du siehst aus, als würdest du gleich im Stehen einschlafen. Lass mich das machen“, sagte Josie sanft und nahm ihrer Schwägerin das Geschirrtuch aus der Hand.

Rebekah war so müde, dass sie nicht einmal mehr halbherzig zu protestieren versuchte. „Josie, du bist eine Heilige“, sagte sie stattdessen.

„Und du redest schon im Wahn, so müde, wie du bist“, erwiderte Josie fröhlich. „Los, geh schon ins Bettchen!“

„Wie war deine Reitstunde?“, fiel Rebekah noch ein, als sie schon im Türrahmen war.

„Großartig! Ich bin nicht heruntergefallen!“, entgegnete Josie mit einem Grinsen.

Zum ersten Mal lächelte Rebekah glücklich. „Das nächste Mal springst du über Baumstämme! Ich bin froh, dass es dir gefallen hat.“

Sobald Rebekah die Küche verlassen hatte, machte sich Josie an die Arbeit. Sie half nicht nur, weil sie Rebekah wirklich mochte. Sie hatte auch das Gefühl, dass sie etwas nachholen konnte, was ihr selbst damals gefehlt hatte.

Für ihre eigene Tochter hatte sie oft keine Zeit gehabt, als diese noch ein Baby war. Josies Freundinnen hatten Hannah deswegen oft bei sich aufgenommen – junge Mütter, die sich ohnehin zu Hause um ihre Kinder kümmerten.

Es war eine schmerzhafte Erinnerung, und Josie hoffte, dass Rebekah diese Gefühle erspart blieben.

Josie nahm gerade den zweiten Berg Wäsche in Angriff, als sie einen der Zwillinge schreien hörte. Es schien Lilly zu sein.

Sie eilte ins Kinderzimmer. Mit etwas Glück würde es ihr gelingen, Lilly zu beruhigen, bevor sie auch noch ihren Bruder weckte. Und damit die übermüdete Mama.

Bevor sich Josie am folgenden Morgen auf den Weg ins Tierheim machte, rief sie Shannon an. Das Mädchen wirkte aufgeregt und beinahe überwältigt, dass Josie tatsächlich Wort halten und sie abholen wollte.

Allerdings drängte Josie darauf, dass Shannon ihrem Onkel Bescheid gab, bevor sie losfuhren. Shannon, die bereits im Hof auf Josie gewartet und sofort auf den Beifahrersitz gesprungen war, wirkte sofort aufgebracht. Offensichtlich hatte sie Angst, dass Declan Nein zu ihr sagen würde.

„Keine Angst“, versuchte Josie den Teenager zu beruhigen. „Ich habe mit ihm darüber gesprochen. Er freut sich, wenn du etwas findest, das dir Freude macht. Er will dir nicht das Leben schwer machen, Shannon. Er liebt dich.“

Shannons Augen verengten sich. „Das bezweifle ich.“

Josie schüttelte den Kopf. „Doch, das tut er, Shannon. Sehr sogar. Sonst hätte er dich nicht bei sich aufgenommen.“

„Ach, das tut er doch nur, weil meine Oma ihm sonst die Hölle heißmachen würde“, widersprach Shannon. „Sie hat mich sonst immer aufgenommen, wenn meine Mutter nicht mehr klarkam.“

Josie schlug einen sanften Ton an. „Shannon, du tust ihm unrecht. Außerdem: Wenn ihm wirklich alles so egal wäre, wie du behauptest, dann würde er sich auch nicht darum kümmern, was deine Großmutter denkt.“

Sie lächelte das Mädchen aufmunternd an. „Na komm, Shannon. Gib ihm eine Chance. Er gibt dir doch auch eine.“

Shannon schien einen Moment abzuwägen. „Okay“, sagte sie schließlich.

„Rufst du ihn an?“

„Ich schicke ihm eine SMS“, sagte Shannon und griff tatsächlich nach ihrem Handy.

Josie nickte. „Sehr gut. Dann steht uns ja nichts mehr im Wege.“

Shannon sah sie von der Seite an. „Muss ich irgendetwas … wissen, bevor wir ins Tierheim kommen?“ Es war offensichtlich, dass sie keine Fehler machen wollte.

Josie überlegte. „Nun … ein paar der größeren Hunde können ziemlich stürmisch sein. Pass auf, dass sie dich nicht überwältigen. Aber du brauchst keine Angst zu haben. Alles, was sie wollen, ist ein bisschen Zuneigung.“

„Zuneigung.“ Shannon wiegte den Kopf. „Damit kann ich umgehen.“

„Da bin ich mir sicher.“ Josie lächelte. „Wir werden viel Spaß haben“, versprach sie.

Sie hatten tatsächlich Spaß.

Sobald sie das Tierheim betrat, schien Shannon ein anderer Mensch zu sein. Ein glücklicherer Mensch, hatte Josie den Eindruck. Vor allem beim Anblick der zahlreichen Hunde leuchteten Shannons Augen auf.

Sie wollte alles genau wissen: Wie die Tiere hierhergekommen waren, um welche Rasse es sich handelte und welche Pflege sie benötigten. Eine Hündin hatte es ihr besonders angetan – und das beruhte offensichtlich auf Gegenseitigkeit.

Die fünf Monate junge Cockapoo-Dame stürzte sich auf Shannon und begann bald liebevoll am Saum ihrer Jeans zu nagen. „Ein Cockapoo ist eine Mischung aus einem englischen Cocker Spaniel und einem Pudel“, erklärte Josie. „Cocka und poodle. Ihr Name ist Harlow. Sie wurde bei einem dubiosen Züchter in einem Hinterhof gefunden, zusammen mit vielen anderen Hunden.“

Shannon streichelte behutsam Harlows Kopf, woraufhin die Hündin begann, hingebungsvoll ihre Hand abzulecken.

Im Laufe des Tages vollzog sich eine wunderbare Verwandlung. Aus dem grimmigen, angriffslustigen und komplexbehafteten Teenager wurde ein liebevolles, aufmerksames junges Mädchen. Shannon brachte selbst für die schwierigen und älteren Hunde eine grenzenlose Geduld auf, die ihren Onkel in Staunen versetzt hätte.

Es gelang ihr sogar, die zutiefst verängstigte Schäferhündin Audrey aus ihrem Versteck unter dem Tisch hervorzulocken. Etwas, das sonst noch kaum jemandem geglückt war.

Als Josie sich dazu äußerte, strahlte Shannon vor Stolz. Es kam offensichtlich nicht oft vor, dass sie für etwas gelobt wurde.

Umso unglücklicher war sie, als Josie nach vier Stunden erschrocken zur Uhr sah und bemerkte, dass es an der Zeit war, nach Hause zu fahren.

„Können wir morgen wieder kommen?“, fragte Shannon hoffnungsvoll.

„Morgen habe ich leider andere Verpflichtungen. Aber übermorgen können wir wieder kommen“, versprach Josie. Sie sah, wie das Mädchen versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

Josie legte den Arm um Shannons Schultern. „Ich habe vorhin mit Bethany Robeson gesprochen, das ist die neue Direktorin. Sie hat dich mit den Hunden arbeiten sehen. Sie war sehr angetan von dir und hofft, dass du wiederkommst, um zu helfen.“

„Wirklich?“ Shannons Augen weiteten sich.

„Wirklich.“

„Josie?“, fragte Shannon schüchtern.

„Ja?“

„Danke, dass du mich mitgenommen hast“, murmelte sie leise.

„Danke, dass du uns so großartig geholfen hast“, entgegnete Josie aufrichtig.

Als Shannon in Josies Auto stieg, schien sie im siebten Himmel zu sein. Ein seliges Lächeln spielte um ihre Mundwinkel.

Es erinnerte Josie daran, wie ihre Tochter Hannah in Shannons Alter gewesen war. Damals war es Hannah schwergefallen, Komplimente anzunehmen. Du musst das sagen, du bist schließlich meine Mutter, war ihre Standardantwort gewesen.

Es hatte eine Weile gedauert, bis Hannah ihr geglaubt hatte.

Bevor Josie den Motor startete, nahm sie das Handy und schickte Hannah eine kurze Nachricht. Ich bin so stolz auf dich, tippte sie.

Gleich darauf kam die Antwort in Form eines lächelnden Smileys und eines Herzens.

Und nun war es Josie, die selig lächelte.

Es war merkwürdig: Die Tage bis zur nächsten Reitstunde vergingen gleichzeitig rasend schnell – und viel zu langsam.

Josie hatte Shannon wie versprochen zwei Tage später wieder abgeholt und ins Tierheim mitgenommen, wo sich das Mädchen sogar noch wohler zu fühlen schien als beim ersten Mal.

Allerdings äußerte sie ihre Angst, dass sie nicht mehr würde kommen können, sobald ihr Onkel Declan sie in der Schule anmeldete. Josie hatte ihr versprochen, dass sie auch nachmittags aushelfen durfte. Dafür würde Josie sogar ihre eigenen Termine verlegen.

Josie selbst freute sich immer mehr auf die nächste Reitstunde. Allerdings war sie in der Zwischenzeit beschäftigt mit den Zwillingen, damit, ihre Nachbarn kennenzulernen, und all ihre neuen Bekannten mit Kuchen zu versorgen.

In Florida hatte sie nicht nur den Catering-Service betrieben, sondern auch mit Hingabe gebacken. Was als Entspannung begonnen hatte, wurde zum Hobby, und bald hatte sie zu jeglichen Anlässen und Festlichkeiten die leckersten Kuchen gemacht. Ob für den kranken Nachbarn, die Kindergeburtstagsparty oder die werdende Mutter. So vergingen auch hier in Spring Forest für Josie einige Stunden mit Backen.

Dann kam endlich der ersehnte Tag der zweiten Reitstunde.

Josie war aufgeregt und kam zu früh auf Declans Hof an. Suchend sah sie sich um, konnte ihn allerdings nirgendwo entdecken. Sie hätte noch einmal vorher anrufen sollen, schalt sie sich selbst. Doch da bog Declan um die Ecke des Stallgebäudes.

„Bereit für die nächste Lektion?“, fragte er ohne Einleitung oder Grußwort.

„Absolut.“ Josie hatte in der vergangenen Nacht sogar vom Reiten geträumt. Sie erinnerte sich an den Wind in ihrem Haar und das Gefühl absoluter Freiheit.

„Gut. Heute wirst du Marigold selbst aufsatteln.“ Mit diesen Worten führte er Josie in den Stall. Wortlos begann er dort seinen Hengst zu satteln. Offenbar erwartete er, dass Josie es ihm nachtat.

Sie beobachtete aufmerksam, wie er Decke und Sattel auflegte und welche Riemen und Gurte er zusammenführte. Dann probierte sie dasselbe mit der Stute. Als sie fertig war, traf sie Declans Blick. Er nickte. „Gut.“

Dieses eine Wort der Anerkennung wirkte beinahe berauschend auf Josie. Schließlich war er kein Mann der vielen Worte. Und schon gar kein Mann der leichtfertigen Komplimente.

Doch kaum hatten sie den Stall verlassen, überraschte er sie mit einem weiteren Kompliment. „Du weißt schon, dass du an Shannon Wunder gewirkt hast, oder?“

Fassungslos sah sie ihn an. „Wie bitte?“

„Das Mädchen ist nicht mehr wiederzuerkennen, seit sie mit dir im Tierheim war. Sie hat sogar alle Aufgaben erledigt, die ich ihr gegeben habe.“

„Das freut mich. Sie hat ein besonderes Talent, mit Tieren umzugehen. Sie hat viel Geduld, vor allem mit den verängstigten Hunden.“

Für eine Sekunde hob Declan die Brauen, dann schwang er sich auf den Rücken seines Hengstes. „Willst du ein bisschen ausreiten, statt hier im Paddock zu bleiben?“

Josies Herz machte einen Sprung. „Sehr gerne.“ Konzentriert hielt sie sich am Sattel fest und saß ebenfalls auf. Zum Glück kam sie ohne Probleme auf den Pferderücken.

Declan hatte sie beobachtet. „Dann los.“ Schon stieß er dem Hengst die Absätze in die Flanken und schoss davon.

Josie fühlte sich für einen Augenblick überrumpelt. Dann meldete sich ihr Kampfgeist. Sie würde sich von Declan nicht einfach so abhängen lassen.

Behutsam wendete sie die Stute und drückte ihr ebenfalls die Fersen in die Flanken, bis sie sich in Bewegung setzte. Erst langsam, dann immer schneller.

Es war ein unglaubliches Gefühl.

Beinahe wie in ihrem Traum.

Josies Herz überschlug sich beinahe in ihrer Brust.

Ihr Atem ging heftig und stoßweise. Sie war erleichtert, als sie sah, wie Declan schließlich die Zügel anzog.

Selbst im vollen Galopp konnte Marigold nicht an seinen Hengst herankommen, doch im Augenblick war das Josies geringste Sorge. Sie war froh, dass sie sich überhaupt bei diesem Tempo auf dem Pferderücken hatte halten können.

Außer Atem kam sie neben Declan und Midnight zum Stehen und versuchte, ihre Sprache wiederzufinden.

Declan musterte seine Schülerin. Ihr Gesicht leuchtete, und in diesem Moment wirkte es unwiderstehlich und anziehend. Einige Strähnen hatten sich aus dem Haarknoten gelöst und umrahmten ihre glühenden Wangen.

Unwiderstehlich. Und sexy, ertappte sich Declan in Gedanken.

Die Stille, die nur durch ihren heftigen Atem durchbrochen wurde, machte ihn plötzlich verlegen. Für gewöhnlich hatte er überhaupt nichts gegen Schweigen. Aber ärgerlicherweise war es ihm nun unangenehm. Sag irgendetwas.

„Ich hatte schon Angst, ich hätte dich verloren.“ Nun, das war nicht gerade geistreich. Er schwang sich aus dem Sattel.

Josie wäre nun auch gerne abgesessen, aber sie konnte sich nicht rühren.

Ihr Rücken und ihre Beine fühlten sich völlig steif an. Sie hatte Angst, dass sie ziemlich unsanft auf dem Boden landen würde, wenn sie jetzt versuchte, abzusteigen.

„So leicht wirst du mich nicht los“, entgegnete sie und bemühte sich, einen leichten Ton anzuschlagen.

Declan trat näher zu seiner Schülerin. „Möchtest du nicht absteigen? Oder siehst du gerne auf mich hinunter?“

„Ich steige ab“, sagte sie leichthin. Doch in diesem Moment wurde ihr Bein von einem Krampf erfasst. „Gleich.“

Er bemerkte ihr Zögern. „Dann mal los. Steig ab.“ Declan ahnte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war – wenn er sich auch nicht erklären konnte, was. Hatte sie plötzlich keine Lust mehr zum Reiten? War sie seinen Umgang bereits satt? Immerhin war er nicht umgänglichste Mensch auf der Welt, das wusste er.

„Gut. Ich steige ab.“ Josie biss sich auf die Lippe. Vielleicht würde der Krampf vergehen, sobald sie auf dem Boden stand.

Vorsichtig hielt sie sich am Sattelknauf fest und schwang sich über den Pferderücken.

Doch als ihre Füße den Erdboden berührten, fühlte es sich an, als seien ihre Beine und Knie aus Gummi. Bloß nicht fallen, dachte sie. Sie hasste es, hilflos zu wirken.

Doch ihre Beine gaben einfach unter ihr nach.

Bevor sie allerdings fallen konnte, wurde sie von Declan aufgefangen. Seine Arme schlossen sich fest um ihren Körper.

Josie glaubte, er würde sie nun sofort wieder absetzen, doch er hielt sie weiterhin eng an sich gedrückt.

„Du entwickelst eine interessante Art, abzusteigen“, meinte er. Um seine Mundwinkel spielte ein amüsiertes Lächeln.

„Vielleicht hätte ich langsamer machen sollen“, räumte Josie ein.

„Sei froh, dass Marigold nicht plötzlich angehalten hat. Sie ist berüchtigt dafür, mitten im Galopp anzuhalten, wenn sie zu sehr angetrieben wird“, erwiderte er, und sein Grinsen vertiefte sich.

Insgeheim war er allerdings heilfroh darüber, dass genau das nicht passiert war.

Er hätte nicht gedacht, dass Josie die Stute zu vollem Galopp animieren würde. Offensichtlich hatte er seine neue Schülerin falsch eingeschätzt.

„Hm. Gut, dass du mich nicht retten musstest“, sagte sie lächelnd.

„Ja. Gut“, wiederholte er, obwohl seine Arme noch immer um ihren Körper lagen.

Ein warmer Wind hüllte sie ein und spielte mit ihrem Haar. Plötzlich verspürte Declan den beinahe übermächtigen Drang, den Kopf zu neigen und seinen Mund auf ihre Lippen zu legen.

Da war etwas an dieser Frau, das ihn ungemein anzog. Ihre Art, die Dinge anzugehen, so ganz ohne Zögern und Zaudern, fand er absolut attraktiv.

Und wenn er ganz ehrlich zu sich war, störte es ihn, dass Josie sich nicht an ihn heranwarf. Im Gegenteil. Sie war gerade das zweite Mal in seinen Armen gelandet, ohne auch nur die geringsten Anstalten zu machen, sich an ihn zu schmiegen.

Sie hatte nicht einmal mit ihm geflirtet.

Sie behandelte ihn eher wie einen kleinen Bruder. Das war Declan von Frauen nicht gewöhnt. Die anderen Schülerinnen hatten ihm mehr oder weniger deutlich zu verstehen gegeben, dass sie an mehr interessiert waren als an seinen Reitkünsten.

Manche hatten schamlos mit ihm geflirtet. Aber er war nie darauf eingegangen.

Er mochte es nicht, wenn die Grenze zwischen Arbeit und Privatem überschritten wurde.

Aber zum ersten Mal im Leben wünschte er sich, es wäre so. Mit Josie.

Die allerdings schien nicht das geringste Interesse daran zu haben, auch nur irgendeine Grenz mit ihm zu überschreiten.

„Hm, ich glaube, du kannst mich jetzt loslassen“, sagte sie da auch schon.

Declan sah sie skeptisch an. „Wirst du auch nicht auf der Nase landen, wenn ich dich jetzt loslasse?“

„Bestimmt nicht“, versicherte sie, obwohl sie sich ganz und gar nicht sicher war.

„Na schön. Aber ich denke, es ist das Beste, wenn du dich für einen Moment hinsetzt“, sagte Declan.

Nun war es an ihr, ihm einen skeptischen Blick zuzuwerfen.

„Gut, wir werden uns beide für einen Moment setzen“, räumte er ein.

Ganz sachte zog er sie neben sich auf die Wiese.

5. KAPITEL

Josie war sich mit einem Mal seiner Präsenz überdeutlich bewusst.

Der Mann, der da neben ihr auf der Wiese saß, war unwahrscheinlich attraktiv.

Aber davon durfte sie sich nicht hinreißen lassen.

Und dafür gab es einen Grund.

Sie hatte das Gefühl, dass sie zu alt für ihn war. Shannon hatte erwähnt, dass ihr Onkel achtunddreißig war. Das bedeutete, er war sechs Jahre jünger als sie.

Josie hatte bereits eine Familie. Auch wenn diese Familie streng genommen nur aus einer Tochter bestand – einer Tochter, die inzwischen eigene Wege ging.

Trotzdem hatte sie in dieser Hinsicht bereits mehr hinter sich gebracht als Declan.

Er mochte sich um seine Mutter kümmern und um seine junge Nichte, aber das war nicht dasselbe, wie eine eigene Familie zu gründen.

Und Josie wünschte ihm, dass er das tat.

Mit ihr würde das nicht möglich sein.

Auf keinen Fall wollte sie ihm diese Option nehmen.

Declan sah sie an. Und je länger er es tat, desto größer wurde in ihm das Verlangen, sie zu küssen. Sie hatte etwas Mitreißendes an sich – etwas Berauschendes. Warum reagierte sie nicht auf ihn? Er war ja nicht gerade abstoßend. Zumindest an den Reaktionen anderer Frauen gemessen.

In dem Moment, in dem er dem Verlangen nachgeben und sich vorbeugen wollte, um sie zu küssen, erklang Midnights durchdringendes Wiehern.

Es war, als würde es den Zauber brechen, in dem Declan für einen Moment gefangen gewesen war. „Wir sollten uns wieder aufs Reiten konzentrieren“, sagte er.

Josie schenkte ihm ein Lächeln, das er nicht recht deuten konnte. „Ja, das sollten wir.“

Declan erhob sich und reichte ihr die Hand.

Josie ergriff sie und ließ sich von ihm aufhelfen. Doch sobald sie wieder auf den Füßen war, ließ sie seine Hand rasch los und wich einen Schritt zurück.

Declan hielt Marigolds Zügel, während Josie aufsaß. „Shannon hat mir erzählt, dass du nicht nur im Tierheim aushilfst, sondern dich auch um Zwillinge kümmerst“, sagte er. „Dafür hast du dein Leben in Florida aufgegeben.“

Josie hob die Schultern. „Mein Leben aufgegeben wäre ein bisschen zu viel gesagt. Ich wollte einfach helfen. So wie du. Schließlich hast du deine Mutter bei dir aufgenommen. Und Shannon.“

„Es blieb mir nichts anderes übrig“, murmelte er.

Doch Josie sah ihn an, als ob sie genau wüsste, dass das nicht stimmte.

„Du brauchst das nicht herunterzuspielen. Ich weiß, wie viel du dir aus den beiden machst. Und du wirst sehen: Shannon wird sich zu einer großartigen jungen Frau entwickeln.“

„Womöglich. Mit deiner Hilfe“, räumte Declan ein.

Josie schüttelte den Kopf. „Sie musste nur etwas finden, was ihr liegt. Und sie macht das toll. Du solltest mal im Tierheim vorbeischauen und sehen, was sie leistet.“

Declan hob die Brauen. „Ich bezweifle, dass ihr das recht wäre.“

„Ich glaube, da irrst du dich“, widersprach Josie sanft. „Alles, was sie will, ist ein bisschen Anerkennung. Deine Anerkennung“, fügte sie hinzu.

Declan sah sie zweifelnd an.

„Glaube mir, ihr liegt etwas an deiner Meinung“, sagte Josie. „Sie möchte, dass du stolz auf sie bist. Und es kann ja nicht schaden, ihr das zu sagen.“

„Hm.“ Declan wandte den Blick nach vorn. „Wir werden sehen.“

„Ganz bestimmt“, erwiderte Josie fröhlich.

Declan beschlich das dunkle Gefühl, er würde gar keine Wahl haben.

Am nächsten Morgen begegnete Declan seiner Nichte im Wohnzimmer.

Für gewöhnlich hätte er ihr nun einfach zugenickt. Er wäre davon ausgegangen, dass sie am frühen Morgen ohnehin keine Lust auf Konversation hatte.

Doch Josies Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt, und Declan nahm sich vor, ein Gespräch mit Shannon zu begingen. „Du bist früh auf“, sagte er. Wenig geistreich, wie er selbst fand, aber irgendwo musste er anfangen.

Shannon hielt inne. „Ja“, sagte sie gedehnt. „Ich bin früh aufgestanden, um all meine Aufgaben zu erledigen. Weil ich gleich mit Josie ins Tierheim fahre.“ Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Argwöhnisch sah sie ihn an. „Du hast doch nichts dagegen, oder?“

Declan schüttelte den Kopf. „Nein. Ich finde das … gut.“ Er holte tief Atem und gab sich einen Ruck. „Josie hat mir erzählt, dass du ihr eine echte Hilfe bist. Du machst das offensichtlich ganz großartig. Ich bin stolz auf dich.“

Shannon starrte ihn an, als hätte sie sich verhört.

„Ich nehme an, du gehst jetzt öfter ins Tierheim“, fuhr Declan fort. „Das heißt … Du magst es doch dort, oder?“

„Nein.“

Declan fasste sie scharf ins Auge. Doch Shannon hatte es gar nicht schnippisch gemeint. Nun breitete sich ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. „Ich liebe es!“, sagte sie voll Überzeugung.

In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass er seine Nichte nie richtig ernst genommen hatte. Für ihn war sie nur eine Bürde gewesen, eine weitere Last, die ihm das Leben aufgegeben hatte.

Aber Shannon brauchte mehr als ein Dach über dem Kopf.

Er hatte sich nie in ihre Lage versetzt. Wie musste es sich anfühlen, wenn man von der eigenen Mutter im Stich gelassen und dann von einem Erwachsenen zum nächsten abgeschoben wurde? Kein schönes Gefühl, musste Declan einsehen.

„Das freut mich“, sagte er daher aufrichtig. „Wo hast du gelernt, so gut mit Hunden umzugehen?“

Bei diesem wenig versteckten Kompliment wurde Shannons Lächeln noch strahlender. „Das ist gar nicht schwer“, sagte sie. „Alles, was sie brauchen, ist ein bisschen Liebe und Aufmerksamkeit. Die braucht doch jeder.“

So, wie sie es sagte, hätte Declan schwören können, dass sie über ihn sprach.

Es war, als könnte Declan das Eis brechen hören, das zwischen ihm und seiner Nichte bestanden hatte.

In diesem Moment klopfte es an der Haustür.

„Das ist Josie!“, sagte Shannon freudig.

Josie. Die Frau, der es irgendwie gelungen war, ihn seiner Nichte näherzubringen.

Bevor sie zur Tür ging, drehte Shannon sich noch einmal um. Dann winkte sie schüchtern. „Bis später, Onkel Declan.“

„Bis später. Viel Spaß“, fügte er noch hinzu, doch da war sie bereits zur Tür hinaus.

„Shannon macht sich“, bemerkte Declans Mutter, als sie kurz darauf die Küche betrat.

Declan nickte. „Sie hat sogar alle Aufgaben erledigt, die ich ihr aufgetragen hatte. Erstaunlich.“

„Sie hat es nicht leicht“, erinnerte Ruth ihren Sohn. „Alles hat sich verändert. Und sie vermisst ihren Großvater.“ Ihre Augen nahmen einen wehmütigen Ausdruck an. „Die beiden hatten einen ganz besonderen Draht zueinander.“

Sie seufzte. „Nach allem, was passiert ist, fühlt Shannon sich alleingelassen. Und sie ist kein kleines Mädchen mehr. Die Pubertät ist für sich gesehen schon eine große Veränderung.“

Declan wiegte den Kopf. „Ich nehme an, es war gut, dass Josie zum Reiten hergekommen ist, was?“

Ruths Gesicht erhellte sich. „Oh ja! Weißt du, wir sollten uns erkenntlich zeigen. Ich möchte, dass du sie fragst, was sie besonders gerne mag. Dann laden wir sie zum Abendessen ein.“

Declan sah sie entsetzt an. „Mom! Das ist hier doch keine Seifenoper.“

Ruth warf ihm einen strengen Blick zu. „Hast du mich je Seifenopern schauen sehen?“

„Nicht wirklich“, musste Declan zugeben.

Ruth grinste. „Na bitte. Also frage sie einfach, was sie gerne mag, wenn ihr das nächste Mal ausreiten geht.“

Er starrte sie an. „Das ist nicht dein Ernst.“

„Und ob. So, und jetzt muss ich backen. Mach mal Platz da. Du hast doch bestimmt etwas im Stall zu erledigen“, sagte seine Mutter pfiffig.

Declan kniff die Augen zusammen. „Ja. Gott sei Dank. Pferde kommen wenigstens nicht auf dumme Ideen“, beschwerte er sich beim Hinausgehen über die Schulter.

Seine Mutter lächelte nur wissend.

Auf dem Weg zum Stall war Declan verärgert.

Der Gedanke, mit Josie zu Abend zu essen, war zwar in gewisser Weise verlockend. Aber die Vorstellung, dass seine Mutter sich als Kupplerin betrachtete und aus Mitleid ein Date für ihn einfädelte, war ihm unerträglich.

Sie hatte es geschafft, dass es ihm vor der nächsten Reitstunde mit Josie graute.

Allerdings sollte er lieber tun, was sie sagte. Sonst kam seine Mutter noch auf dumme Ideen und lud Josie womöglich selbst ein.

Im Grunde war er einfach froh und dankbar, dass sie langsam wieder die Alte war. Der Tod seines Vaters hatte ihr schwer zugesetzt. Immerhin zeigte sie jetzt wieder Interesse an anderen.

An ihm, Shannon – und der Fremden, der es gelungen war, Shannon aus der Reserve zu locken.

Auch wenn diese Fremde keinen Funken Interesse an ihm zu haben schien.

Womöglich war die Idee, sie zum Abendessen einzuladen, gar nicht mal so schlecht. Mit diesem Gedanken stürzte Declan sich in die Arbeit.

Josies Tanten Gwendolyn und Bernadette, die von allen nur liebevoll Bunny und Birdie genannt wurden, hatten das Tierheim damals auf dem Grundstück eröffnet, das sie von ihren Eltern geerbt hatten.

Seither hatten sie sich völlig dem Wohl der Tiere verschrieben und nie geheiratet.

Doch vor Kurzem hatten sich die Dinge geändert. Birdie war mit dem Tierarzt Richard Jackson zusammengekommen.

Daraufhin hatte Bunny eröffnet, dass sie seit Jahren eine Internetbekanntschaft hatte, mit der sie heimlich chattete. Sein Name war Stew Redmond, und mit diesem wollte sie sich nun ins Abenteuer stürzen.

Mit Mitte zwanzig war Bunny einmal verlobt gewesen. Doch nachdem ihr Verlobter verstorben war, hatte sie die folgenden Jahrzehnte allein verbracht.

Diese unerwartete Wendung in Bunnys Leben klang wie aus einem romantischen Film. Jeder in Spring Forest hatte sich für sie gefreut, dass sie etwas Neues wagte und mit ihrem heimlichen Lover durchbrannte.

Und niemand hatte damit gerechnet, sie bald wieder zu sehen. Zumindest nicht in den kommenden Monaten.

Daher war Josie völlig verblüfft, als sie eines Morgens Bunnys abgenutzten Wohnwagen vor dem Haus ihres Bruders vorfahren sah.

Sie war gerade dabei, Rebekah mit den Zwillingen zu helfen. „Sieh mal“, sagte sie zu ihrer Schwägerin. „Tante Bunny ist zurück.“

„Wirklich?“ Rebekah spähte aus dem Fenster. „Das gibt’s doch nicht. Und wo ist dieser Internet-Don-Juan, mit dem sie sich ins Abenteuer stürzen wollte?“

„Ich fürchte, der ist nicht dabei.“

Diese Vermutung erwies sich als richtig. Allerdings wollte ihre Tante keine Fragen dazu beantworten, sobald sie das Haus betreten hatte. Sie wirkte ungewöhnlich niedergeschlagen und wortkarg. Josie versuchte, etwas aus ihr herauszubringen, doch es war unmöglich.

Erst als Rebekah ihr die Zwillinge vorstellte, erhellte sich Tante Bunnys Gesichtsausdruck.

Josie fragte sich, was wohl passiert ist. Ob Stew nicht der war, für den er sich ausgegeben hatte? Oder waren sich die beiden einfach auf die Nerven gefallen? Solche Dinge passierten schließlich im echten Leben. Vor allem, wenn zwei im Grunde fremde Personen plötzlich auf engstem Raum in einem Wohnwagen reisten.

Josie beschloss, vorerst einfach nett zu ihrer Tante zu sein. Bunny brauchte Ablenkung – und ihre Familie. Wenn sie reden wollte, würde sie es schließlich von selbst tun.

Aus diesem Grund sagte Josie sowohl die heutige Reitstunde als auch ihre Schicht im Tierheim ab. Sie wollte für Bunny da sein, und sie ahnte, warum ihre Tante nicht gleich zurück in das gemeinsame Haus ihrer Schwester gegangen war.

Sie konnte Birdie nichts vormachen, und diese hätte zweifellos angefangen, Fragen zu stellen. Josie nahm sich fest vor, ihre Tante auf andere Gedanken zu bringen.

Als sie Declan anrief, um die Reitstunde abzusagen, rechnete sie fest damit, dass ihr grimmiger Reitlehrer verärgert sein würde. Stattdessen war er ungewohnt redselig. „Warum möchtest du die Stunde verschieben?“, fragte er zu ihrer Überraschung.

„Meine Tante Bunny ist überraschend nach Hause gekommen“, erklärte sie bereitwillig. „Es scheint ihr nicht gut zu gehen. Ich möchte versuchen, sie aufzuheitern.“

Einen Moment herrschte Schweigen. Dann fragte er unerwartet: „Wie kommt es, dass du die Probleme der ganzen Welt löst?“

Josie war sich nicht sicher, ob er sich über sie lustig machen wollte, aber seine Stimme klang nicht danach. Deswegen sagte sie schlicht: „Das passiert mir einfach so. Bitte sag Shannon, wie leid es mir tut, dass ich sie heute nicht zum Tierheim mitnehmen kann. Aber ich mache es wieder gut.“

Und noch bevor er etwas erwidern konnte, hatte Josie aufgelegt.

6. KAPITEL

Einige Tage später hatte Josie endlich ihre nächste Reitstunde.

Doch als sie den Stall betrat, hörte sie in einer der hinteren Boxen ein unterdrücktes Schluchzen. Sie wusste, dass das Geräusch unmöglich von einem Pferd kommen konnte, und näherte sich vorsichtig der Box.

Auf dem Boden kauerte Declans Nichte und weinte herzzerreißend. Sie hatte die Arme um die angezogenen Knie geschlungen, das Gesicht vergraben und schien Josie nicht einmal zu bemerken.

Josie legte Shannon behutsam die Hand auf die Schulter. „Shannon, Schätzchen, was ist denn passiert?“, fragte sie.

Das Mädchen hob den Kopf. Ihre Augen waren rot und verweint. Es dauerte einen Moment, bis sie ihre Sprache gefunden hatte. „Morgen findet in der Schule ein Kuchenverkauf statt“, sagte sie schließlich schluchzend.

Josie wusste, dass Shannon verzweifelt versuchte, sich in die neue Schule zu integrieren. „Und warum ist das so schlimm?“, fragte sie sanft.

„Weil … weil ich nicht backen kann!“, weinte Shannon.

In diesem Moment trat Declan zu ihnen. „Ich habe ihr angeboten, ein paar Cupcakes im Supermarkt zu kaufen“, erklärte er. „Aber die sind wohl nicht gut genug.“

„Wir dürfen nur selbst gemachte Kuchen mitbringen“, schniefte Shannon. „Und Grandma kann mir gerade nicht helfen. Sie hat wieder so schlimme Arthritis in den Händen und kann weder kochen noch backen.“

Shannon fuhr sich über die Augen. „Ich werde die Einzige sein, die nichts mitbringt.“

„Nein. Das wirst du nicht“, sagte Josie entschlossen. „Komm, Süße“, drängte sie. „Komm mit mir. Wir haben Arbeit vor uns.“

Shannon blinzelte. „Haben wir?“

„Oh ja. Ich brauche dich als meine Assistentin.“ Josie hielt Shannon die Hand hin, um ihr aufzuhelfen.

Shannon sah sie ungläubig an. „Du kannst backen?“

„Na, besser wär’ das“, sagte Josie mit einem Schmunzeln. „Ich hatte meinen eigenen Catering Service, bevor ich nach Spring Forest kam.“

Shannon schien ihr Glück kaum fassen zu können. „Wirklich?“

„Habe ich dich je angelogen?“, fragte Josie zurück.

„Nicht, dass ich wüsste“, antwortete Shannon vorsichtig.

Keine Frage – dieses Mädchen kam eindeutig nach ihrem Onkel.

„Nun, du kannst dich darauf verlassen. Ich habe schon Kuchen gebacken, bevor ich zehn Jahre alt war“, sagte Josie. „Und jetzt sollten wir anfangen, wenn wir bis morgen fertig sein wollen.“

„Aber …“ Shannon sah verunsichert aus. „Du wolltest doch gerade reiten gehen.“

Josie wollte nicht, dass das Mädchen sich wegen ihr schlecht fühlte. „Wenn ich die Stunde wegen meiner Tante Bunny verschieben kann, dann kann ich sie auch für dich verschieben. Ich sehe das als einen Notfall“, sagte sie.

Shannon begann zu strahlen. Doch dann blickte sie unsicher zu ihrem Onkel. „Geht das in Ordnung?“

Er hob die Schultern. „Hey, wenn Josie sagt, dass sie dir helfen will, werde ich nicht im Weg stehen“, sagte er.

„Vielleicht musst du uns noch ein paar Zutaten besorgen“, sagte Josie entschuldigend zu Declan.

Er hob die Brauen. „Wie viel habt ihr denn vor, zu backen?“

Josie grinste Shannon an. „Eine Menge.“

Josie hatte das durchaus ernst gemeint.

Nach ein paar Stunden war buchstäblich jede freie Fläche in Declans Küche mit Kuchen belegt. Es gab Minz-Schokolade-Brownies, hübsch verzierte Kekse mit Zuckerdekor, und ein überbordendes Tablett voll Schokoladen-Biscotti.

Eigentlich war Declan nicht so wild auf Süßes. Aber beim Anblick all der Köstlichkeiten lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Er streckte die Hand nach einem Brownie aus, als Shannon ein leiser Quietscher entfuhr. „Was ist?“, fragte er erstaunt. „Darf ich nicht einmal probieren?“

„Wir brauchen alles für den Kuchenverkauf“, sagte Shannon nervös.

„Alles?“ Er grinste.

„Josie“, jammerte Shannon.

Autor

Marie Ferrarella

Marie Ferrarella zählt zu produktivsten US-amerikanischen Schriftstellerinnen, ihren ersten Roman veröffentlichte sie im Jahr 1981. Bisher hat sie bereits 300 Liebesromane verfasst, viele davon wurden in sieben Sprachen übersetzt. Auch unter den Pseudonymen Marie Nicole, Marie Charles sowie Marie Michael erschienen Werke von Marie Ferrarella. Zu den zahlreichen Preisen, die...

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New York Times und USA TODAY Bestseller Autorin Shannon Stacey lebt mit ihrem Ehemann und zwei Söhnen in New England, USA. Zwei ihrer liebsten Aktivitäten sind das Schreiben von Geschichten mit Happy End und das Quadfahren. Von Mai bis November verbringt die Stacey Familie ihre Wochenenden mit ihren Quads und...

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