Cornwall - im Hafen der Liebe

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Ein rätselhaftes Virus auf dem Traumschiff! Der Notruf, den Dr. Ed Roberts von Schiffsschwester Maddy erhält, klingt sehr ernst. Vor der Küste Cornwalls, nahe Penhally Bay, geht Ed an Bord. Tag und Nacht arbeitet er mit Maddy Seite an Seite, um die Menschen auf dem Schiff zu retten, und er spürt, wie sehr er sich zu ihr hingezogen fühlt. Doch nur, wenn er es schafft, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen, kann er an eine Zukunft mit Maddy denken ...


  • Erscheinungstag 29.06.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733747428
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Heiraten Sie mich, Maddy? Wir leben in meiner großen weißen Villa am Hang und essen jeden Morgen zum Frühstück Erdbeeren.“

Schwester Madeleine Granger lächelte. „Erdbeeren? Das hört sich verlockend an. Ich würde Sie ja liebend gern heiraten, Mr. Bryce, aber werden die Leute nicht sagen, ich sei nur hinter Ihrem Geld her?“

„Es ist doch mein Geld, und ich kann damit machen, was ich will. Vor allen Dingen will ich es nicht dem Fiskus in den Rachen werfen. Au!“

„Entschuldigung. Ich weiß, es tut weh, aber …“

„Schon gut, schließlich bin ich selbst schuld, wenn ich die Stufen hinauffalle und mir das Bein aufschürfe.“

„Leider heilt es nur langsam ab.“ Maddy stäubte antiseptischen Puder auf das eitrige Schienbein und griff nach dem Verband. Bei älteren Menschen verzögerte sich die Wundheilung oft. Malcolm Bryce war fünfundachtzig, ein hagerer, munterer Witwer, der auf dem Kreuzfahrtschiff mehr Freunde gewonnen hatte als jeder andere hier.

„Sie wollen mich also nicht heiraten? Ich bin zutiefst enttäuscht, meine Liebe“, verkündete er mit einem schelmischen Funkeln in den blassen Augen.

„Heiraten ist nichts für mich. Niemals.“

Der alte Herr musterte sie aufmerksam. „Sie scheinen sich dessen sehr sicher zu sein.“

„Oh ja“, erwiderte sie sanft, aber bestimmt.

„Nun denn. Wieder ein Korb. Ich muss stark sein. Aber was soll ich dann mit den Bryce-Millionen machen?“

„Verteilen Sie sie an die Armen. Oder buchen Sie eine zweite Kreuzfahrt durch den Indischen Ozean an Bord der guten alten Emerald.“

„Ja, die Reise hat mir gefallen. Sagten Sie nicht, es wäre Ihr erster Trip als Kreuzfahrtschwester? Wie fanden Sie es?“

„Sehr viel luxuriöser als die Notaufnahme eines Krankenhauses, in der ich vorher gearbeitet habe. Mr. Bryce, mir ist aufgefallen, dass Sie bisher immer zur Krankenstation gekommen sind. Heute hatten Sie darum gebeten, dass ich Sie in Ihrer Kabine aufsuche. Gibt es einen besonderen Grund dafür?“

„Ich bin ein bisschen wacklig auf den Beinen. Als ich heute Morgen aufwachte, war mein linker Arm merkwürdig taub, und dann bin ich wieder eingeschlafen. Das passiert mir sonst nie.“

„Hatten Sie besonders starkes Herzklopfen?“

Mr. Bryce überlegte. „Stimmt. Und auch so ein Herzstolpern.“

Maddy versuchte, sich ihre Besorgnis nicht anmerken zu lassen. „Wahrscheinlich sind Sie aufgeregt, weil es wieder nach Hause geht“, meinte sie betont unbekümmert. „Sicherheitshalber messe ich mal Ihren Blutdruck.“

Sein Blutdruck war zu hoch, und als sie das Herz abhorchte, war sie erst recht alarmiert. Gut, der Mann war fünfundachtzig, aber … „Ich schlage vor, Sie bleiben heute lieber im Bett. Oder noch besser, schonen Sie sich, bis wir anlegen. Dann holen wir einen Arzt. Die Mahlzeiten lasse ich Ihnen von einem Steward in die Kabine bringen – leichte Kost und keinen Alkohol. Und ich werde Ihnen Aspirin verordnen.“

Mr. Bryce nickte bedächtig. „Es war ein leichter Schlaganfall, nicht? Eine transitorische ischämische Attacke, kurz TIA.“

„Was wissen Sie von TIA?“ Erstaunt fragte sie sich, ob er Gedanken lesen konnte.

„Das Gehirn wird zeitweise nicht ausreichend mit Blut und Sauerstoff versorgt. Ursache ist ein winziges Blutgerinnsel. Meine Frau hatte so etwas vor ihrem Tod öfter. Ich kenne die Symptome. Am meisten betrübt mich jedoch, dass Sie mich nicht heiraten wollen, Maddy.“ Das Lächeln konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Stimme schwächer wurde.

„Vielleicht überlege ich es mir noch einmal“, sagte sie warmherzig. „Schlafen Sie jetzt. Der Steward wird bald nach Ihnen sehen, und ich komme später wieder vorbei.“

„Ich freue mich darauf, meine Liebe.“ Erschöpft schloss Mr. Bryce die Augen.

Zum nächsten Patienten musste sie zwei Decks höher. Auch in diesem Fall war aus der Kabine angerufen worden, was leider nichts Gutes verhieß.

Auf ihr Klopfen hin ertönte eine zittrige Stimme. „Herein …“

Kaum hatte Maddy die Tür geöffnet, schlug ihr ein verräterischer säuerlicher Geruch entgegen. Ein Blick in das kreideweiße Gesicht von Mrs. Adams bestätigte ihr, dass die Patientin sich tatsächlich nicht wohlfühlte. Maddy sank das Herz, als ihr klar wurde, womit sie es hier wahrscheinlich zu tun hatte. Es war leider nicht die erste Magenverstimmung, die sie in den letzten vierundzwanzig Stunden hatte behandeln müssen.

„Wie geht es Ihnen, Mrs. Adams?“

„Schwester, ich habe das Gefühl, ich sterbe. Ich habe mich schon ein paarmal übergeben, und mir ist immer noch so furchtbar schlecht. Und ich bin ganz schwach, ich kann gar nicht aufstehen.“

„Dann wollen wir Fieber messen und Puls und Blutdruck überprüfen. Seit wann ist Ihnen übel?“

„Heute Nacht fing es an. Es kam ganz plötzlich, und …“ Mrs. Adams würgte und erbrach sich wieder in die Schale neben dem Bett.

Als es vorbei war, entschuldigte sie sich verlegen ein ums andere Mal, aber Maddy beruhigte sie. Sie wischte der Patientin das Gesicht ab, schüttelte das Kissen auf und machte es ihr bequem. „Verlassen Sie Ihre Kabine heute nicht, Mrs. Adams, und ruhen Sie sich aus. Sie sollten auch nichts essen, jedoch dafür umso mehr trinken. Aber kein Leitungswasser und keine zuckerhaltigen Getränke. Ich lasse Ihnen zwei Flaschen Wasser da. Und nehmen Sie diese Tabletten. Nachher schaue ich noch einmal nach Ihnen.“

„Mir war noch nie so elend“, flüsterte Mrs. Adams.

„Wir tun, was wir können, damit es Ihnen bald besser geht“, versicherte Maddy. „Versuchen Sie, ein bisschen zu schlafen.“

Zurück in der Krankenstation wusch Maddy sich gründlich die Hände, kochte sich einen Kaffee und setzte sich nachdenklich an den kleinen Tisch. Wenn sie mit ihren Vermutungen richtig lag, hatten sie ein Problem. Ein großes Problem.

Bis gestern Morgen war sie einfach ein Mitglied des medizinischen Teams an Bord der Emerald gewesen, zusammen mit dem Arzt und einer zweiten Krankenschwester. Doch die beiden wurden dringend auf einem auslaufenden Kreuzfahrtschiff gebraucht. Und da die Emerald sich bereits in britischen Küstengewässern aufhielt und in zwei Tagen ihren Bestimmungshafen erreichen sollte, hatte niemand daran gezweifelt, dass sie für den Rest der Reise mit nur einer Krankenschwester auskommen würden.

Inzwischen sah die Sache anders aus.

Gestern Abend hatte sie zwei Passagiere mit heftigem Erbrechen behandeln müssen – und heute Morgen eine weitere. Maddy befürchtete, dass es noch mehr werden würden. Gerade auf einem Kreuzfahrtschiff konnte sich eine hoch ansteckende Krankheit in Windeseile ausbreiten.

Fröstelnd legte sie beide Hände um ihren Kaffeebecher. Vieles deutete darauf hin, dass sie es mit akuter Gastroenteritis zu tun hatten, bekannt auch als Kreuzfahrtfieber.

Sie musste den Kapitän informieren.

„Dringend?“ Ken Jackson, sein Steward, nahm den Anruf entgegen. „Er ist sehr beschäftigt. Sie wissen doch, dass wir bald in den Hafen einlaufen.“

„Ich würde es nicht sagen, wenn es nicht wirklich eilig wäre.“

„Okay, ich rufe gleich zurück“, versprach Ken.

Maddy wartete. Captain Smith würde präzise Fakten verlangen, und sie überlegte sich genau, was sie ihm sagen wollte.

Keine fünf Minuten später klingelte das Telefon. Maddy nahm sofort ab. „Captain Smith, ich …“

„Hallo, Maddy? Hast du mich vermisst?“

Es war nicht die Stimme des Kapitäns. Trotzdem kam sie ihr bekannt vor. Wer …? Im nächsten Moment wurde ihr klar, wen sie in der Leitung hatte, und sie straffte entsetzt die Schultern. Diese Stimme hatte sie nie, nie wieder hören wollen!

Sie gehörte Brian Temple, ihrem Exverlobten. Dem Mann, der ihr furchtbar wehgetan hatte. Seinetwegen hatte sie ihre geliebte Arbeit in der Notaufnahme aufgegeben und sich um den Kreuzfahrtjob beworben. Nur, um weit, weit wegzukommen und ihn niemals wiedersehen zu müssen.

„Bist du noch dran, Maddy? Ich weiß, dass du es bist.“

„Was willst du, Brian? Wir waren uns einig, dass es zwischen uns aus ist.“

„Das hast du doch nicht ernst gemeint. Eine deiner Kolleginnen hat mir erzählt, dass ihr morgen anlegt. Ich dachte, wir treffen uns und gehen zusammen etwas trinken.“

„Nein! Es ist endgültig vorbei, Brian!“

Als er antwortete, geschah es mit diesem nörgelnden, ärgerlichen Unterton, den sie so sehr verabscheute. „Maddy, ich liebe dich. Wir lieben uns, das weißt du.“

„Nein, Brian. Ich wünsche dir alles Gute, aber unsere Wege haben sich getrennt.“

„Sag das nicht! Niemals!“

Er klang aufrichtig betroffen, fast schmerzerfüllt. Sanft fragte sie: „Nimmst du auch regelmäßig deine Medikamente?“

„Nicht nötig, die brauche ich nicht mehr.“

Maddy seufzte. So würde es ewig weitergehen.

„Gib’s zu, du hast einen anderen.“ Der weinerliche Tonfall war in einen drohenden umgeschlagen. „Einen schicken Schiffsoffizier oder einen dieser reichen alten Knacker. Aber ich habe es dir schon mal gesagt – das lasse ich mir nicht bieten!“

Eifersucht, Vorwürfe, Verdächtigungen, das kannte Maddy zur Genüge aus ihrer Beziehung mit Brian. Ärger kam in ihr hoch, und sie war schon drauf und dran, ihm zu sagen, ja, sie hätte jemanden kennengelernt. Doch es würde alles nur schlimmer machen.

„Deinetwegen habe ich für den Rest meines Lebens von Männern genug. Ruf mich nicht wieder an.“

Leider konnte sie sich nicht darauf verlassen, dass er sich nie mehr bei ihr melden würde.

Maddy ging in ihre Kabine und holte die Mappe mit ihren privaten Unterlagen aus der Kommodenschublade. Sie wusste auch nicht, warum, aber sie hatte Brians letzten Brief aufbewahrt. Jetzt überflog sie ihn. Es war die gewohnte Mischung aus Betteln und Drohungen. Und er erinnerte sie wortreich an die schöne Zeit, die sie miteinander gehabt hätten.

Sicher, anfangs waren sie verliebt gewesen und hatten Zukunftspläne geschmiedet. Maddy wollte mindestens zwei Kinder. Irgendwann hatte es die ersten Probleme gegeben, und es wurde schnell schlimmer. Kein Glück in der Liebe … Das zog sich wie ein roter Faden durch ihr Leben. Jeder Mann, mit dem sie sich näher einließ, tat ihr am Ende weh.

Sie holte ein paarmal tief Luft, um sich zu beruhigen, und blickte aus dem Bullauge. Die englische Küste glitt vorbei, ein traumhaftes Bild im Sonnenlicht. Maddy sah felsige Klippen, saftig grüne Weiden und gelegentlich ein Cottage, weiß getüncht oder schlicht aus grauem Stein erbaut. Vor vier Jahren hatte sie hier einen Sommer lang als Praxisschwester gearbeitet, bei Dr. Roberts – Nick Roberts. Ein guter Arzt. Der Kontakt war nie ganz abgerissen; sie schrieben sich immer noch Weihnachtskarten. Jetzt fiel ihr ein, dass er erwähnt hatte, er sei in den Norden von Cornwall gezogen, in ein Fischerstädtchen namens Penhally Bay.

Hoffentlich war er glücklich. Glücklicher als sie. Wozu allerdings nicht viel gehörte …

Ihr Telefon klingelte. Maddy zögerte. Wenn es wieder Brian war? Als sie schließlich abnahm, meldete sich Ken Jackson. „Sie können jetzt zum Kapitän kommen, Maddy.“

Bevor sie die Kabine verließ, sah sie prüfend in den Spiegel. Ihr schulterlanges Haar war ordentlich zurückgebunden, die Schwesternuniform saß tadellos. Captain Smith legte größten Wert auf ein korrektes Erscheinungsbild. „Wer sich nachlässig kleidet, vernachlässigt irgendwann auch seine Arbeit“, lautete sein Credo. Maddy war ganz seiner Meinung. Sie nahm ihre Notizen und machte sich auf den Weg zu ihm.

Captain Smith war ein imposanter, kräftiger Mann mit einem gepflegten weißen Vollbart. Er hatte bei der Royal Navy gedient und im Dienste Ihrer Majestät eine beachtliche Karriere gemacht. Fotos der zahlreichen Schiffe, die unter seinem Kommando gefahren waren, zierten die Wände seiner Kabine. Jetzt lächelte er Maddy freundlich an und bat sie, Platz zu nehmen. „Was gibt es so Dringendes, Schwester Maddy?“

„Keine guten Neuigkeiten, Sir.“ Sie tat es ungern, aber es war ihre Pflicht, ihm Bericht zu erstatten. „Ich fürchte, unter unseren Passagieren grassiert ein Virus, vermutlich Gastroenteritis. Sie werden sicher die Hafenbehörde verständigen wollen. Vielleicht muss das Schiff unter Quarantäne gestellt werden.“

„Verstehe. Wie viele Krankheitsfälle haben wir bisher?“

„Vier. Leider verbreiten sich solche Krankheiten rasend schnell. Wahrscheinlich sind es inzwischen mehr geworden.“

„Nicht zu fassen. Sie wissen, dass man Gastroenteritis auch als Kreuzfahrtfieber bezeichnet?“

„Ja, davon habe ich gehört.“

„Und Sie sind unsere einzige medizinische Fachkraft.“ Nachdenklich strich er sich über den Bart.

„Ich habe eine Liste der Stewards, die über gewisse Basiskenntnisse verfügen. Sie werden mir helfen. Aber das ist auch alles.“

„Stimmt. Gestern erst sind der Arzt und Ihre Kollegin von Bord gegangen.“ Ihm war anzusehen, wie sehr er sich darüber ärgerte. „Für wie ernst halten Sie die Sache?“

Sie war Unfallschwester. Infektionskrankheiten gehörten nicht zu ihrem Spezialgebiet. „Ich bin keine Expertin, aber ich weiß, dass es besonders schwere Formen von Gastroenteritis gibt. Die meisten unserer Passagiere sind schon älter, und für sie könnte es kritisch werden. Wir müssen damit rechnen, dass sehr viele erkranken, und dann brauche ich professionelle Hilfe. Allein, um sie alle rechtzeitig zu behandeln.“

„Ja, das ist mir klar. Wenn ich herausfinde, wer dafür verantwortlich ist, dass man mir zwei Drittel meines medizinischen Teams abgezogen hat …“ Der Kapitän schüttelte den Kopf. „Natürlich muss ich die Hafenbehörde informieren. Sie werden uns auf Abstand halten, bis die Situation geklärt ist. Und die Mühlen unserer Hauptverwaltung mahlen erfahrungsgemäß langsam, sodass von dort auch keine rasche Hilfe zu erwarten ist.“

„Ich hätte einen Vorschlag“, begann sie zögernd, „falls Sie nichts dagegen haben.“

„Warum sollte ich? Heraus mit der Sprache.“

„Ein Arzt, für den ich einmal gearbeitet habe, hat hier irgendwo an der Küste seine Praxis. Er könnte uns helfen. Sein Name ist Nick Roberts. Berufen Sie sich auf mich, und sagen Sie, ich sei hier an Bord.“

„Telefonnummer?“

Maddy zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nur, dass er in einem Ort namens Penhally Bay praktiziert.“

Captain Smith griff zum Hörer. „Jackson? Holen Sie mir bitte einen gewissen Dr. Roberts aus Penhally Bay ans Telefon.“

Der Rückruf kam überraschend prompt. „Dr. Nick Roberts? Hier ist Captain Smith, Kapitän des Kreuzfahrtschiffs, das Sie möglicherweise ein paar Meilen von der Küste entfernt sehen können. Wir haben ein medizinisches Problem.“

Maddy verfolgte das Gespräch aufmerksam.

„Schwester Madeleine Granger hat Sie empfohlen … Verdacht auf Gastroenteritis. Es wäre eine privatärztliche Konsultation … Umgehend? Danke, Sie tun uns einen großen Gefallen.“

Der Kapitän wandte sich an Maddy. „Er kommt, so schnell er kann. Er meinte, das könnte sich in Windeseile zu einer Epidemie ausweiten. Als ob mir das nicht bewusst wäre.“

Dr. Ed Roberts stand jeden Morgen früh auf. Er brauchte nicht viel Schlaf. Vor allem nicht diesen seltsamen Zustand zwischen Wachen und Schlafen, der ihn im Morgengrauen befiel. Wenn man nicht mehr wusste, was wirklich und was nur geträumt war. Er brauchte auch nicht die Erinnerungen, die Realität vorgaukelten, bis man dann in der Wirklichkeit aufwachte. Sie machten ihn verletzlich. Ed hatte lieber alles unter Kontrolle.

Für England war es an diesem Morgen Anfang Mai ungewöhnlich warm. Und stickig. Ganz anders als der heiße, trockene Wind, den Ed in Afrika kennengelernt hatte.

Er parkte seinen Wagen am Strand und streifte Sportschuhe und Trainingsanzug ab. Die kleine Bucht hatte es ihm auf den ersten Blick angetan gehabt, und so kam er fast jeden Tag in aller Frühe zum Schwimmen hierher. Ihm gefielen die Abgeschiedenheit und das Gefühl von Freiheit, wenn er mit kraftvollen Zügen durchs Wasser schwamm.

Er streckte sich und blickte sich um. Eine alte Gewohnheit, die er nicht ablegen konnte: seine Umgebung aufmerksam wahrnehmen, abschätzen, was einen vielleicht erwartete, um vor unangenehmen Überraschungen sicher zu sein. Am Horizont ballten sich dicke Wolkenfelder zusammen, die ihm verrieten, dass das Wetter gegen Ende des Tages umschlagen würde. Im Gebüsch halb verborgen entdeckte er ein kleines Zelt. Im Sommer kamen oft junge Leute her, und sie übernachteten, wo es ihnen gerade in den Sinn kam.

Froh darüber, dass niemand in der Nähe war, lief er zum Wasser. Sie hätten ihn angestarrt. Nicht wegen seines muskulösen Körpers, sondern wegen der Narben.

Zügig schwamm er drauflos, als hätte ein unbeugsamer Gegner ihn zu einem harten Wettkampf herausgefordert. Ed genoss es, seine Kräfte zu testen, und bald hatte er das offene Meer erreicht. Er trat Wasser und sah sich wieder um. Plötzlich stutzte er.

Keine hundert Yards entfernt schaukelte ein Schlauchboot auf den Wellen. Darin saßen ein Mädchen und ein Junge, sicher nicht älter als siebzehn oder achtzehn, und bespritzten sich lachend mit Wasser.

Ed kraulte zu ihnen hinüber. „Sie wissen vielleicht nicht, dass das Meer hier tückisch ist“, warnte er. „Wenn Sie in die Rippströmung geraten, werden Sie aufs offene Meer hinausgetrieben. Paddeln Sie lieber in die Bucht zurück, da sind Sie sicher.“

„Später.“

„Nein, jetzt“, sagte Ed mit freundlichem Nachdruck. „Ich kenne diese Gewässer. Hier ertrinken jedes Jahr Menschen. Wollen Sie dazugehören?“

„Ertrinken? Ja, klar. Passen Sie lieber auf, dass Sie nicht ertrinken. Wir haben wenigstens ein Boot.“

Ed schwamm noch näher. „Paddeln Sie zurück, oder ich kippe das Boot um. Dann können Sie zurückschwimmen.“

„Wollen Sie uns umbringen?“

„Im Gegenteil.“

„Kieran, vielleicht hat er recht“, meldete sich das Mädchen zu Wort. „Ich habe sowieso keine Lust mehr.“ Sie sah Ed an. „Wir sind gleich weg.“

„Ich warte, bis Sie sicher wieder in der Bucht sind.“ Der junge Mann schien weiterdiskutieren zu wollen, aber Ed ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Sehen Sie den Felsen da hinten?“

Beide blickten in die angegebene Richtung. „Ja.“

„Vor zwei Jahren haben wir dort einen ertrunkenen Touristen gefunden. Er hatte zwei Tage im Wasser gelegen. Kein schöner Anblick, das kann ich Ihnen sagen. Also, los, zurück in die Bucht.“

Das überzeugte die beiden. Ohne ein weiteres Wort tauchten sie die schmalen Paddel ins Wasser und machten sich hastig auf den Rückweg.

Ed schwamm noch eine Runde, und als er eine Weile später wieder an Land watete, waren Zelt, Boot und das Pärchen verschwunden. Er zuckte mit den Schultern. Okay, er war hart zu ihnen gewesen. Aber lieber einmal das Gesicht verlieren als das Leben.

Wieder blickte er sich um. Am Horizont entdeckte er ein weißes Kreuzfahrtschiff. Die dunklen Wolken dahinter verkündeten, dass ein Sturm heraufzog.

2. KAPITEL

Ed hatte das Cottage erst vor Kurzem gekauft. Er ließ sich Zeit beim Renovieren und Einrichten, weil er sich noch nicht entschieden hatte, wie sein Zuhause aussehen sollte. Passend zu der Frage, was für ein Leben er führen wollte. Also war auch das Cottage erst halb fertig.

Unerwünschte Gedanken drängten sich ihm auf. Selbst wenn er es eines Tages in ein richtiges Heim verwandelt hätte, so würde immer etwas fehlen. Er wusste genau, was es war, aber er wollte nicht darüber nachdenken. Früher hatte er Pläne gehabt. Die waren gescheitert, und jetzt musste er nach vorn blicken. Vergangenheit war Vergangenheit.

Ed duschte, frühstückte schnell und fuhr zur Praxis. Noch war er kein offizieller Partner in der Gemeinschaftspraxis Penhally Bay, aber seinem Vater lag sehr viel daran, dass er so bald wie möglich voll einstieg.

Zu tun gab es genug.

Zurzeit war er zwar noch krankgeschrieben, aber nicht mehr lange. Eigentlich ging es ihm gut. Mehr oder weniger. Nachdem er aus der Armee ausgeschieden war, freute er sich nun auf die Arbeit als Allgemeinmediziner. Warum war er dann nicht glücklich? Ärgerlich über sich selbst schüttelte er den Kopf. Probleme waren dazu da, überwunden zu werden!

Wie gewöhnlich war er einer der Ersten. Die Tür zum Personalraum stand offen, und er sah seinen Vater, der sich mit Kate Althorp, einer der Hebammen, unterhielt. Nick wirkte ungewohnt entspannt. Beide beugten sich über einige Papiere, Kates Kopf dicht neben seinem. Jetzt lachten sie über etwas.

Ed wunderte sich. Zwischen ihnen herrschte eine Vertrautheit, die ihm früher nie aufgefallen war. Oder bildete er sich das nur ein?

Sie hatten ihn nicht gehört, und so stand er da und betrachtete sie. Sein Vater war ein großer, schlanker Mann, der eine natürliche Autorität ausstrahlte. Allein durch seine Haltung und sein entschlossenes Auftreten verschaffte er sich Respekt – Liebe und Zuneigung dagegen nicht. Jedenfalls nicht auf Anhieb. In den letzten Jahren hatte Ed kaum Kontakt zu ihm gehabt, und wirklich nahe waren sie sich nie gewesen. Als Mensch war Nick Roberts schwer zugänglich, aber Ed wollte es versuchen. Leider gehörte er selbst auch eher zu den verschlossenen Männern.

Er räusperte sich. Nick und Kate blickten auf und lächelten. Kate warm und herzlich, wie immer. Das Lächeln seines Vaters hingegen wirkte zwar aufrichtig, aber auch wachsam.

„Schon so früh?“, fragte er. „Ich dachte, du hättest heute Morgen keine Sprechstunde.“

„Stimmt, aber ich wollte zu den Clintons rausfahren und mir Isaac Clinton ansehen. Dafür brauche ich seine Patientenakte.“

„Gibt es Probleme?“

„Ich hoffe nicht. Seine Tochter rief gestern Abend an und bat mich, heute vorbeizukommen. Am Nachmittag hatte er einen Angina-Anfall, der allerdings vorbeiging, nachdem sie Isaac überredet hatte, sich hinzulegen.“

Kate schob die Papiere zusammen und verstaute sie in ihrer Aktentasche. „Ich glaube, wir sind hier so weit fertig, Nick, und ich muss jetzt los.“ Sie lächelte den beiden fröhlich zu, und dann war sie weg.

Nick sah ihr nach. Ed fragte sich, was ihm wohl durch den Kopf ging. Auch das war ungewöhnlich für seinen Vater – diese Nachdenklichkeit am frühen Morgen, wenn er sonst vor Energie und Tatkraft strotzte. Sekunden später hatte er sich wieder gefangen. „Isaac Clinton ist ein Arbeitstier. Er glaubt, wenn er seine Augen nicht überall hat, wird der Hof den Bach runtergehen. Dabei ist seine Tochter Ellie eine tüchtige Frau, die den Laden gut im Griff hat. Soll ich …“

„Nicht nötig“, unterbrach Ed ihn. „Er ist mein Patient, und ich werde ihn schon zur Vernunft bringen. Falls ich Hilfe brauche, frage ich dich. Versprochen.“

„Natürlich, ich habe vollstes Vertrauen in dich. Du weißt sicher, dass Isaac schon vor seinem Herzinfarkt eine dicke Akte bei uns hatte? Ich kann schon gar nicht mehr sagen, wie oft ich rausgefahren bin und ihn zusammengeflickt habe. Der Mann steht mit Maschinen auf Kriegsfuß, aber er ist ein guter Farmer.“

Ed grinste. „Hätte er all die Verletzungen beim Militär erlitten, könnte er sich jetzt mit einem Dutzend Orden behängen.“

„Und ich wette, er hat dir jede einzelne genau beschrieben“, antwortete Nick lächelnd.

Autor

Gill Sanderson
Alles fing damit an, dass seine Frau Gill ihn um Hilfe bat, als sie begann, Liebesromane zu schreiben.
Unter dem Namen seiner Frau veröffentlicht Roger Sanderson bis heute sehr erfolgreich Arztromane. Er und Gill haben drei erwachsene Kinder, die in medizinischen Berufen tätig sind und ihn immer wieder aufs Neue zu...
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