Das Geheimnis meiner Mutter

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Gibt es eine zweite Chance für die Liebe?

In der längsten Nacht des Jahres verliert Jenny Majesky ihren gesamten Besitz in einem alles zerstörenden Feuer. Nur wenige Habseligkeiten kann sie aus der Asche retten. Ihr alter Freund Rourke McKnight eilt ihr zu Hilfe - und weckt damit Gefühle, die es zwischen ihnen nicht geben darf. Jenny zieht sich alleine in die kleine Holzhütte am See zurück. Hier, in der Stille und Einsamkeit der winterlichen Landschaft will sie endlich das Buch über ihre Familie schreiben. Dabei entdeckt sie unter ihren Habseligkeiten einen Schatz, dessen Herkunft ihr völlig rätselhaft ist. Gemeinsam mit Rourke macht sie sie daran, das Geheimnis zu ergründen. Es betrifft ihre verschwundene Mutter, ihren neu entdeckten Vater und einen Mann, der nicht zögern würde, sie für immer zum Schweigen zu bringen.


  • Erscheinungstag 10.11.2011
  • Bandnummer 2
  • ISBN / Artikelnummer 9783862781164
  • Seitenanzahl 464
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

ESSEN FÜR DIE SEELE
von Jenny Majesky

KOLACHES FÜR ANFÄNGER

Es ist lustig, wie viele Bäcker sich von Hefe einschüchtern lassen. Sie sehen sie als Zutat in einem Rezept aufgelistet und blättern schnell um. Dabei gibt es dafür gar keinen Grund.

Dieser spezielle Teig ist sehr gutmütig. Er ist elastisch, belastbar, und er erlaubt Ihnen, sich wie ein Profizu fühlen. Wie meine Großmutter Helen Majesky immer zu sagen pflegte: „Mit dem Backen ist es wie im Leben: Man weiß immer mehr, als man denkt.“

Ich habe alle Rezepte so übernommen, wie meine Großmutter sie mir beigebracht hat. Da viele noch aus Polen stammen und nicht jeder eine Waage hatte, sind die meisten Zutaten in Tassen angeben – denn eine Tasse gab es in jedem Haushalt. Suchen Sie sich zu Hause einfach eine Tasse aus, in die 200 Gramm Zucker passen, und machen Sie diese zu Ihrem ganz persönlichen Tassenmaß. Sie werden sehen, bald wollen Sie es gar nicht mehr anders haben.

Grundrezept Kolache

1 EL Zucker

2 Päckchen Trockenhefe

Tasse warmes Wasser

2 Tassen Milch

6 EL ungesalzene Butter

2 TL Salz

2 Eigelb, leicht aufgeschlagen

Tasse Zucker

6 Tassen Mehl

375 g Butter

Geben Sie die Hefe in einen Messbecher und streuen Sie einen EL Zucker darüber. Fügen Sie warmes Wasser hinzu. Wie warm? Die meisten Kochbücher sagen 40 – 45 Grad Celsius. Erfahrene Köche erkennen die richtige Temperatur, wenn sie sich ein paar Tropfen Wasser auf die Innenseite des Handgelenks tröpfeln. Anfänger sollten jedoch lieber ein Thermometer benutzen. Wenn das Wasser zu warm ist, tötet es die Aktivstoffe in der Hefe ab.

Erwärmen Sie die Milch in einem kleinen Topf. Fügen Sie die Butter hinzu und rühren Sie so lange, bis sie geschmolzen ist. Nehmen Sie den Topf vom Herd und lassen Sie ihn abkühlen, bis die Flüssigkeit lauwarm ist. Gießen Sie die Milch dann in eine große Rührschüssel. Fügen Sie Salz und Zucker hinzu und gießen Sie die geschlagenen Eigelbe in einem dünnen Strahl hinein, dabei kräftig rühren. Mischen Sie nun die Hefemischung unter.

Rollen Sie die Ärmel hoch und fügen Sie eine Tasse Mehl nach der anderen hinzu. Wenn der Teig zu schwer wird, um ihn mit dem Mixer zu rühren, nehmen Sie ihre Hände. Der Teig soll schön glänzend und klebrig werden. Fügen Sie weiter Mehl hinzu und kneten Sie, bis der Teig einen leichten Glanz annimmt. Geben Sie den Teigball in eine weitere geölte Rührschüssel und rollen ihn darin herum, bis er ganz von Öl bedeckt ist. Legen Sie ein feuchtes Küchenhandtuch über die Schüssel und stellen Sie diese an einen warmen, zugfreien Platz. Nach ungefähr einer Stunde hat der Teig seine Größe verdoppelt. Meine Großmutter steckte immer zwei bemehlte Fingerspitzen in die weiche Masse, und wenn die Dellen, die ihre Finger hinterlassen hatten, blieben, erklärte sie den Teig für fertig. Nun muss man ihn natürlich mit leichten Schlägen flach klopfen. Ein leises, seufzendes Geräusch und der warme Duft frischer Hefe zeigen an, dass der Teig bereit ist, sich zu ergeben.

Zwacken Sie eigroße Portionen ab und formen Sie sie zu Kugeln. Legen Sie sie mit etwas Abstand auf einem Backpapier aus. Lassen Sie sie erneut für 15 Minuten gehen und drücken Sie dann mit Ihrem Daumen ein tiefes Loch in jede Kugel. Hier kommt die Fruchtfüllung hinein. Welche Füllung die richtige ist, darüber werden seit Jahrhunderten endlose Debatten unter den polnischen Bäckern geführt. Meine Großmutter hat sich daran jedoch nie beteiligt. „Nimm, was gut schmeckt“ war ihr Motto. Einen Löffel Himbeermarmelade, Pfirsichkompott, Feigenkonfitüre, Pflaumenmus …

Jetzt mischen Sie Tasse geschmolzene Butter mit einer Tasse Zucker, Tasse Mehl und einem Teelöffel Zimt. Streuen Sie diese Mischung über die Kolaches. Stellen Sie das Blech noch einmal an einen warmen Ort – vielleicht über den Kühlschrank – und erlauben Sie dem Teig, sich noch einmal zu verdoppeln; das dauert ungefähr 45 bis 60 Minuten. In der Zwischenzeit heizen Sie den Ofen auf 190 °C vor. Backen Sie die Kolaches auf mittlerer Schiene in 20 – 40 Minuten goldbraun. Achten Sie besonders auf die Unterseiten, die schnell verbrennen, wenn sie zu nah an der Hitzequelle sind.

Nehmen Sie die Kolaches aus dem Ofen, pinseln sie sie mit geschmolzener Butter ein und nehmen Sie sie zum Abkühlen vom Blech. Dieses Rezept ergibt ungefähr drei Dutzend Kolaches.

Meine Großmutter hat mir immer gesagt, ich soll mir keine Gedanken darüber machen, wie zeitaufwendig der Vorgang ist. Backen ist ein Akt der Liebe, und wen kümmert es schon, wie lange Liebe dauert?

1. KAPITEL

Jenny Majesky stand von ihrem Schreibtisch auf, streckte sich und massierte eine verspannte Stelle im unteren Rücken. Irgendetwas – vielleicht die tief greifende Stille des leeren Hauses – hatte sie um drei Uhr nachts geweckt. Einmal wach, hatte sie nicht wieder einschlafen können. In ihrem abgewetzten Bademantel und den flauschigen Hausschuhen hatte sie sich an ihren Laptop gesetzt und eine Weile an ihrer Zeitungskolumne gearbeitet. Im Moment ging es mit dem Schreiben allerdings nicht wesentlich besser als mit dem Schlafen.

Es gab so viel, was sie sagen wollte, so viele Geschichten zu erzählen, aber wie sollte sie es schaffen, die Erinnerungen und Küchenweisheiten eines ganzen Lebens in eine wöchentliche Kolumne zu pressen?

Andererseits hatte sie immer schon mehr schreiben wollen als nur eine Kolumne. Viel mehr. Sie erkannte, dass das Universum ihr langsam, aber sicher alle Entschuldigungen nahm. Sie sollte sich wirklich daranmachen, das Buch zu schreiben.

Wie jeder gute Autor versuchte Jenny, Zeit zu schinden. Träge nahm sie den Ehering ihrer Großmutter in die Hand, der in einem kleinen Porzellanschälchen auf dem Tisch gelegen hatte. Sie hatte noch nicht entschieden, was sie mit dem schmalen Goldreif tun wollte, den Helen Majesky fünfzig Jahre ihrer Ehe und weitere zehn Jahre ihrer Witwenschaft getragen hatte. Wenn sie backte, hatte Gran den Ring immer in ihre Schürzentasche gesteckt. Es war ein Wunder, dass sie ihn nie verloren hatte. Dennoch hatte Jenny ihr versprechen müssen, ihn nicht mit ihr zu begraben.

Sie drehte den Ring um die Spitze ihres Ringfingers und stellte sich die Hände ihrer Großmutter vor, wie sie fest und kräftig einen Teig kneteten oder leicht und sanft die Wange ihrer Enkelin streichelten oder ihre Stirn berührten, um zu sehen, ob sie Fieber hatte.

Jenny schob den Ring auf ihren Finger und ballte die Hand zu einer Faust. Sie hatte einen eigenen Ehering, den sie in einem Anflug von leichtfertiger Hoffnung angenommen, aber nie getragen hatte. Er lag nun ganz unten in einer Schublade, die Jenny nie öffnete.

Es war schwer, in dieser samtschwarzen Stunde nicht all ihre Verluste aufzuzählen – ihre Mutter, die sie verlassen hatte, als Jenny noch ganz klein gewesen war. Dann Jennys Großvater und schließlich der vielleicht wichtigste Mensch in ihrem Leben, ihre Granny.

Erst wenige Wochen waren vergangen, seitdem Jenny ihre Großmutter zur letzten Ruhe gebettet hatte. Die anfängliche Flutwelle an Beileidsanrufen und Besuchen war abgeebbt, und Jenny fühlte es bis in ihre Knochen: Sie war wirklich allein. Ja, sie hatte Freunde, die sich um sie sorgten, und Mitarbeiter, die wie eine Familie für sie waren. Aber ihr fehlte die ständige Präsenz ihrer Großmutter, die sie wie eine Tochter aufgezogen hatte.

Aus Gewohnheit sicherte sie ihre Arbeit auf dem Laptop. Dann zog sie den Bademantel enger um sich herum und trat ans Fenster. Die Wange an die kalte Scheibe gedrückt, schaute sie in die Winternacht hinaus. Der Schnee hatte alle harten Ecken und Farben der Landschaft ausgelöscht. Mitten in der Nacht war die Maple Street vollkommen verlassen. Nur die einsam in der Mitte des Häuserblocks stehende Straßenlaterne warf ihr fahles gelbes Licht auf den Gehsteig. Jenny hatte ihr ganzes Leben hier verbracht. Unzählige Male hatte sie genau an dieser Stelle gestanden, darauf gewartet, dass … was? Dass sich irgendetwas änderte. Begann.

Sie stieß einen rastlosen Seufzer aus. Das Fenster beschlug von ihrem Atem. Das Schneegestöber hatte sich zu dicken Flocken gewandelt, die um das Licht der Straßenlaterne herumtanzten. Jenny liebte den Schnee, schon immer. Beim Blick auf die zugedeckte Landschaft konnte sie sich als Kind vor sich sehen, wie sie gemeinsam mit ihrem Großvater zum Schlittenhügel gestapft war. Sie war wortwörtlich in seine Fußstapfen getreten und von einem tiefen Stiefelabdruck in den nächsten gesprungen, wobei sie den leichten Plastikschlitten an einem Band hinter sich herzog.

Ihre Großeltern waren in jedem wichtigen Augenblick ihrer Kindheit bei ihr gewesen. Jetzt, wo sie fort waren, gab es niemanden, der die Erinnerungen mit ihr teilte, der sie anschaute und sagte: „Weißt du noch, wie du …“

Ihre Mutter war gegangen, als Jenny vier gewesen war. Ihr Vater war ein nahezu Fremder, den sie erst vor sechs Monaten kennengelernt hatte. Jenny nannte das Glück im Unglück. Von dem, was sie bisher über ihre biologischen Eltern erfahren hatte, wäre keiner von ihnen so gut gerüstet gewesen, ein Kind großzuziehen, wie es Helen und Leo Majesky gewesen waren.

Ein Geräusch – ein dumpfer Knall und dann ein Kratzen – riss sie aus ihren Gedanken und ließ sie zusammenzucken. Sie neigte den Kopf, lauschte und entschied dann, dass es sich wohl um ein Schneebrett oder ein paar Eiszapfen gehandelt haben musste, die vom Dach gefallen waren. Man wusste nicht, wie leise ein Haus sein konnte, bis man ganz alleine darin war.

Seit ihre Großmutter gestorben war, wachte Jenny jede Nacht auf, den Kopf voller Erinnerungen, die darum bettelten, niedergeschrieben zu werden. Sie alle schienen aus der Küche zu strömen wie der Geruch von Grannys Backwaren. Jenny hatte ihr ganzes Leben lang Tagebuch geführt, und in den letzten Jahren hatte sich diese Angewohnheit von ihr zu einer regelmäßigen Kolumne für den Avalon Troubadour entwickelt. Es war eine Mischung aus Rezepten, Küchenkunde und Anekdoten. Seit Grannys Dahinscheiden konnte Jenny sich nicht mehr schnell bei ihr rückversichern oder sie wegen der Herkunft einer bestimmten Zutat oder einer Backtechnik befragen. Sie war nun auf sich allein gestellt, und sie hatte Angst, dass sie Dinge vergessen würde, wenn sie zu lang wartete.

Dieser Gedanke löste einen Aktionsdrang aus. Schon lange hatte sie vorgehabt, die alten Rezepte ihrer Großmutter abzuschreiben. Einige von ihnen waren noch auf Polnisch auf brüchigem gelben Papier geschrieben. Sie bewahrte die Rezepte in der Vorratskammer in einer verschlossenen Dose auf, die seit Jahren nicht geöffnet worden war. Ohne Rücksicht darauf, dass es halb vier Uhr in der Früh war, ging Jenny nach unten. Beim Betreten der Vorratskammer trat ihr ein schmerzhaft vertrauter Geruch in die Nase – der Geruch von Mehl und Körnern und den Gewürzen ihrer Großmutter. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte sich nach der metallenen Dose. Als sie sie vorsichtig vom Regal holte, verlor sie das Gleichgewicht und ließ die Dose fallen. Ihr Inhalt ergoss sich über ihre flauschigen Hausschuhe.

Sie stieß einen Fluch aus, der niemals über ihre Lippen gekommen wäre, solange Granny noch am Leben gewesen war, und zog sich dann vorsichtig auf Zehenspitzen zurück, um nicht auf eines der empfindlichen Dokumente zu treten. Jetzt würde sie eine Taschenlampe benötigen, weil es in der dunklen Speisekammer kein Licht gab. Sie fand die Lampe in einer Schublade, doch die Batterien waren leer und sie hatte auch keine neuen mehr im Haus. Sie überlegte, eine Kerze anzuzünden, entschied sich aber dagegen, weil sie keinen Unfall mit den alten Aufzeichnungen riskieren wollte. Mit einem Seufzer lehnte sie sich gegen die Arbeitsplatte in der Küche und verdrehte die Augen himmelwärts. „Tut mir leid, Granny“, sagte sie.

Ihr Blick landete auf dem Rauchmelder. Aha, dachte sie. Schnell zog sie einen Küchenstuhl darunter, stellte sich darauf, holte die beiden Batterien aus dem Gerät und steckte sie in die Taschenlampe.

Sie kehrte zur Speisekammer zurück und hob vorsichtig die Blätter auf, die wie trockenes Herbstlaub raschelten. Sie legte sie in die Dose zurück und trug sie in die Küche. Es waren alte Aufzeichnungen und Rezepte in der polnischen Muttersprache ihrer Großmutter. Auf der Rückseite eines vergilbten Blattes mit verknickten Ecken entdeckte sie eine Unterschrift in verblassender Tinte – Helenka Maciejewski stand dort wohl ein Dutzend Mal in der mädchenhaften Handschrift. Das war der Name ihrer Großmutter, bevor er anglisiert worden war. Sie musste das als junge Braut geschrieben haben.

Es gab Dinge, die ihre Großeltern betrafen, die Jenny nie erfahren würde. Wie war es für sie gewesen, als Frischverheiratete, die kaum ihre Kindheit hinter sich hatten, ihre Heimat zu verlassen, um eine halbe Welt entfernt ein neues Leben zu beginnen? Hatten sie Angst gehabt? Waren sie aufgeregt? Hatten sie miteinander gestritten oder sich aneinander festgehalten?

Sie schloss ihre Augen, als eine schon vertraute Welle der Panik in ihrem Magen losbrach, durch ihren Körper schoss und ihre Brust zusammendrückte. Diese Panikattacken waren ganz neu für Jenny. Eine schreckliche und unerwartete Entwicklung. Die Erste hatte sie im Krankenhaus überfallen, als sie wie erstarrt den ganzen Papierkram erledigt hatte, um den die nächsten Verwandten sich kümmern mussten. Sie hatte irgendein Formular unterzeichnet, als die Finger ihrer linken Hand mit einem Mal taub wurden und sie den Stift fallen ließ, um sich an die Kehle zu fassen.

„Ich kann nicht atmen“, hatte sie der Angestellten im Krankenhaus gesagt. „Ich glaube, ich habe einen Herzinfarkt.“

Der sie behandelnde Arzt, ein müde aussehender Einwohner von Tonawanda, war während der Untersuchung ruhig und mitfühlend gewesen und erklärte ihr im Anschluss ihren Zustand. Diese heftige Attacke war eine gar nicht mal so unübliche körperliche Reaktion auf ein emotionales Trauma. Die Symptome waren allerdings genauso real und Furcht einflößend wie bei einer echten Krankheit.

Seitdem waren Jenny diese Symptome nur zu vertraut geworden. Die praktische, nüchterne Jenny Majesky sollte sich nicht von etwas so Unkontrollierbarem und Irrationalem wie Panikattacken einschüchtern lassen. Und doch konnte sie nichts tun, als ein unangenehmes Gefühl in ihr aufstieg, wie eine Parade von Spinnen, die ihre Kehle hinaufkletterten. Ihr Herz schien sich in ihrer Brust auszuweiten.

Sie schaute sich hektisch um auf der Suche nach den Tabletten, die der Arzt ihr gegeben hatte. Sie hasste die Pillen beinahe so sehr wie die Panikanfälle. Warum konnte sie sie nicht einfach abschütteln? Warum konnte sie nicht ein paar tiefe Atemzüge nehmen und sich mit einer Tasse starkem Kaffee und dem Geschmack der mit Aprikosenmarmelade gefüllten Kolaches ihrer Großmutter beruhigen?

Zumindest wäre es eine Ablenkung. Der einzige Ort, wo sie um diese Uhrzeit mitten in der Nacht jemand anders finden konnte, der nicht schlief, war die Sky River Bakery, die 1952 von ihren Großeltern gegründet worden war. Helens Spezialität waren mit Marmeladen oder Frischkäse gefüllte Kolaches und Kuchen, die inzwischen weit über die Grenzen des Ortes hinaus bekannt waren. Sämtliche am Marktplatz liegenden Restaurants und Feinkostgeschäfte bestellten ihre Backwaren bei Helen und verkauften sie an die gut situierten Touristen, die im Sommer und Herbst nach Avalon kamen, um entweder der Hitze der Großstadt zu entfliehen oder das bunte Farbenspiel der Laubbäume zu bewundern.

Jetzt war Jenny die einzige Besitzerin der Bäckerei. Sie zog sich schnell an: lange Fleeceunterwäsche, karierte Bäckerhose und einen dicken Wollpullover, dazu warme Stiefel, eine Winterjacke und eine Mütze. Auf gar keinen Fall würde sie mit dem Auto fahren, bevor der Schneeräumdienst seine erste Runde gefahren war. Außerdem müsste sie erst die Auffahrt freischaufeln, bevor sie das Auto aus der Garage fahren könnte, und darauf hatte sie nun überhaupt keine Lust. Die Bäckerei lag nur sechs Häuserblocks entfernt, direkt am Hauptplatz in der Stadtmitte. In wenigen Minuten wäre sie zu Fuß da. Vielleicht würde die Anstrengung auch helfen, die Panik ein wenig in Schach zu halten.

Jetzt fiel ihr auch wieder ein, wo sie die Tabletten hingelegt hatte. Sie holte sie und steckte sie in die Jackentasche. Nur für den Notfall.

Dann schnappte sie sich ihre Handtasche und machte sich auf den Weg durch die gefrorene Stille. Es hatte aufgehört zu schneien, und die Wolken zogen davon und machten den Sternen Platz. Neuschnee quietschte unter ihren Schuhen, als sie der Strecke folgte, die sie kannte, seitdem sie ein kleines Mädchen gewesen war. Sie war in der Bäckerei aufgewachsen, umgeben von dem schweren Duft nach Brot und Gewürzen, den geschäftigen Geräuschen der Misch- und Rührmaschinen, klingelnden Küchenuhren und den rollenden Regalen, die nach draußen zum wartenden Lieferwagen geschoben wurden.

Eine einzige Lampe leuchtete über dem Hintereingang. Sie schloss die Tür auf und stapfte sich den Schnee von den Schuhen. Vor der blitzsauberen Schleuse, die in die Backstube führte, zog sie die Stiefel aus und schlüpfte in ihre Bäckereiclogs, die auf einem Regal vor der Tür standen.

„Ich bin’s“, rief sie und ließ den Blick durch die Backstube schweifen. Sie war so sauber wie immer. An einer Wand waren Zentnersäcke frisch gemahlenen Mehls säuberlich aufeinandergestapelt. Daneben standen Fünfhundertliterfässer Honig. Eine andere Wand wurde vom Boden bis zur Decke von einem Regal eingenommen, in dem spezielle Zutaten in durchsichtigen Plastikbehältern aufbewahrt wurden – Hirse, Pinienkerne, Oliven, Rosinen, Pekannüsse. Die Kühlschränke, Öfen und Arbeitsflächen aus Edelstahl schimmerten unter den Deckenlampen, und der reiche Duft von Zimt und Hefe erfüllte die Luft. Die Musik von „Three 6 Mafia“ dröhnte aus dem Radio, ein Hinweis darauf, dass Zach heute Frühschicht hatte. Zwischen den Hip-Hop-Beats konnte sie das Summen der Mischmaschine hören.

„Hey, Zach“, rief sie und reckte den Hals, um den Jungen zu finden.

Er kam aus dem Bereich, in dem die Teige angemischt wurden, und schob einen Wagen mit frischem rohen Teig vor sich her. Zach Alger ging in die Highschool und arbeitete bereits seit zwei Jahren nebenbei in der Bäckerei. Ihm schien das frühe Aufstehen und Arbeiten nichts auszumachen, und jeden Morgen machte er sich nach der Schicht mit einer Tüte frischer Backwaren auf den Weg in die Schule. Er war ein schlaksiger, gut aussehender Junge, dessen weißblonde Haare und blaue Augen seine nordische Herkunft verrieten.

„Stimmt was nicht?“, fragte er.

„Ich konnte nicht schlafen.“ Sie war ein wenig verlegen. „Ist Laura da?“

„Spezialbrote“, sagte er und machte sich dann wieder daran, die Wanne voller Teig in die Garkammer zu schieben.

Laura Tuttle arbeitete bereits seit dreißig Jahren in der Bäckerei. Davon fünfundzwanzig als Meisterin. Sie kannte das Geschäft sogar noch besser als Jenny. Sie behauptete immer, die frühen Morgenstunden zu lieben und dass dieser Arbeitsplan perfekt zu ihrer inneren Uhr passe. „Sieh einer an, wer da ist“, sagte sie, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen.

„Ich hatte Heißhunger auf eine Kolache.“ Jenny ging durch die Schwingtüren aus dickem Gummi in das Café, wo sie sich eine Tasse Kaffee eingoss und ein Gebäckstück vom Vortag aus der Auslage nahm. Dann kehrte sie in die Backstube zurück. Der Geschmack der Kolache breitete sich zwar vertraut auf ihrer Zunge aus, aber er konnte sie auch nicht beruhigen. Aus Gewohnheit nahm sie sich eine Schürze vom Haken.

Jenny arbeitete selten in der Backstube mit. Als Besitzerin und Managerin lagen ihre Aufgaben mehr im administrativen Bereich. Im oberen Stockwerk hatte sie ihr Büro mit Blick über den Marktplatz, und über den Monitor einer Sicherheitskamera konnte sie stets sehen, was im Café los war. Die meisten Tage verbrachte sie damit, sich mit Telefonhörer am Ohr und fest auf den Computer gerichtetem Blick um die Bedürfnisse der Angestellten, Lieferanten, Kunden und verschiedenen Ämter zu kümmern. Aber manchmal, dachte sie jetzt, muss man einfach die Ärmel aufrollen und etwas Handfestes tun. Es gab kein besseres Gefühl, als die Hände in einen warmen, seidigen Teig zu tauchen.

Sie zog sich die Schürze über den Kopf und gesellte sich zu Laura an die Arbeitsplatte. Die Spezialbrote wurden in kleineren Chargen hergestellt und von Hand geformt. Die heutige Auswahl würde aus einem traditionellen polnischen Brot mit Eiern, Orangenschale und Korinthen sowie einem von Laura erdachten Kräuterbrot bestehen. Sie und Laura arbeiteten Seite an Seite, kneteten und wogen Teig ab, obwohl sie das Gewicht aus Erfahrung auch so wussten.

Auf der anderen Seite des Raumes erblickte Jenny den gekühlten Tortenschrank, der mit Torten ihrer Großmutter gefüllt war. Technisch gesehen waren das natürlich nicht Helen Majeskys Torten. Aber die Originalrezepte für die luftige Zitronenrolle, die glänzende Drei-Beeren-Tarte mit Baisergitter, den cremigen Buttermilch-Käsekuchen und all die anderen Köstlichkeiten stammten von Helen und waren Jahrzehnte alt. Ihre Techniken waren von einem Bäckermeister zum nächsten weitergereicht worden, und sogar jetzt noch, nach ihrem Tod, suchte sie die Backstube so liebevoll und herzlich heim, wie sie es zu ihren Lebzeiten immer getan hatte.

Während sie den Teig zu dicken, runden Laiben formte, fühlte Jenny sich seltsam losgelöst von ihrem Körper. Sie schaute ihre weißen, mehlbedeckten Hände an und sah die Hände ihrer Großmutter, die den Teig in einem ruhigen Rhythmus kneteten, den Jenny von sich nicht kannte. Die Erkenntnis, dass ihre Granny tatsächlich von ihr gegangen war, setzte sich in ihrem Inneren fest. Es war drei Wochen, zwei Tage und vierzehn Stunden her. Jenny hasste es, so genau zu wissen, wie lange sie jetzt alleine war.

Laura arbeitete unermüdlich und legte jeden eingeölten Laib in eine Backform. Sie nickte im Rhythmus der Hip-Hop-Musik, die aus dem Radio tönte. Ihr schien Zachs Musikgeschmack zu gefallen, auch wenn Jenny annahm, dass Laura nicht allzu genau auf den Text hörte.

„Sie fehlt dir sehr, nicht wahr?“, fragte Laura. Sie war gut darin, die Gefühle und Gedanken anderer Menschen zu lesen.

„Ja, sehr“, gab Jenny zu. „Und ich dachte immer, ich wäre darauf vorbereitet. Ich weiß nicht, warum es mich so erschüttert. Ich bin nicht gut in solchen Dingen. Falsch, ich bin grottenschlecht darin. Schlecht darin, die Toten zu betrauern und alleine zu leben.“ Sie straffte ihre Schultern und versuchte, den Anfall von Panik und Melancholie abzuschütteln. Doch das gelang ihr nicht. Irgendwie hatte sie die Kontrolle verloren, und obwohl sie spürte, dass sie drauf und dran war zusammenzubrechen, konnte sie nichts dagegen tun. Das machte ihr Angst.

Irgendwo draußen heulte eine Sirene auf. Das Geräusch wurde lauter, klang verzweifelt, wie ein Schrei. Ein paar Hunde fielen heulend ein. Automatisch drehte Jenny sich um, um durch die Schwingtüren zu dem Fenster im noch dunklen Café zu schauen. Das Städtchen Avalon, New York, war klein genug, dass der Klang von Sirenen mitten in der Nacht noch Aufmerksamkeit erregte. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte sie dieses Geräusch das letzte Mal gehört, als sie den Rettungswagen gerufen hatte.

Sie hatten sie nicht mit ihrer Großmutter zusammen ins Krankenhaus fahren lassen. Sie hatte mit ihrem eigenen Auto zum Benedictine Hospital in Kingston hinterherfahren müssen. Dort angekommen, hatte sie ihre Großmutter angefleht, ihre Anordnung auf Verzicht zur Wiederbelebung rückgängig zu machen, die sie nach ihrem ersten Schlaganfall unterschrieben hatte. Aber Granny hatte davon nichts hören wollen. Jenny war nichts anderes übrig geblieben, als sich von ihrer geliebten Großmutter zu verabschieden, deren Lebenskraft immer weiter schwand.

Sie spürte, dass eine neue Panikattacke dabei war, sich ihren Weg an die Oberfläche zu bahnen. Also behielt sie den stetigen Knetrhythmus bei, den ihre Großmutter ihr beigebracht hatte, und bearbeitete den Teig mit ruhiger Selbstsicherheit. Jeder, der ihr zuschaute, würde eine kompetente Bäckerin sehen; sie wusste, dass sie sich äußerlich nicht verändert hatte. Der sich in ihrem Inneren ansammelnde Druck war außen nicht sichtbar.

„Ich gehe mal kurz raus, um frische Luft zu schnappen“, sagte sie zu Laura.

„Ich habe gerade Sirenen gehört. Vielleicht taucht Loverboy ja auf.“

Loverboy war Lauras Spitzname für Rourke McKnight, den Polizeichef von Avalon. Seine Vorliebe für Frauen mit Modelmaßen war in einer so kleinen Stadt nicht unbemerkt geblieben. Jenny hingegen vermied es, ihn überhaupt irgendwie zu nennen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie und Rourke füreinander keine Fremden gewesen waren. Ganz im Gegenteil, sie hatten sich mit glühender Intimität gekannt, aber das war lange her. Seit Jahren hatten sie freiwillig kein Wort mehr miteinander gewechselt. Rourke kam jeden Morgen auf einen Kaffee in die Bäckerei, aber da Jenny oben in ihrem Büro arbeitete, kreuzten sich ihre Wege nie. Und sie beide arbeiteten hart daran, dass das auch außerhalb der Bäckerei so blieb.

Ihm aus dem Weg zu gehen bedeutete, dass sie sich an seine Gewohnheiten erinnern musste. Während der Woche hatte er ganz normale Bürozeiten, aber dank eines schmalen Budgets musste er sich mit einem unterdurchschnittlichen Gehalt zufriedengeben und mit einer Mannschaft, die selbst für Kleinstadtverhältnisse zu klein war. Also nahm er oft eine Extraschicht am Wochenende an und fuhr Streife wie jeder andere Polizist auch. Manchmal fuhr er sogar den Schneepflug für die Stadt. Jenny tat so, als wüsste sie nichts davon, als interessierte sie das Leben von Rourke McKnight nicht im Geringsten, und er erwiderte diesen Gefallen, indem er sie komplett ignorierte. Zur Beerdigung ihrer Großmutter hatte er allerdings Blumen geschickt. Die Nachricht auf der Karte war in ihrer Einsilbigkeit typisch für ihn: „Es tut mir leid.“ Der Strauß dazu war so groß gewesen wie ein VW Käfer.

Als sie ihren Parka anzog und durch die Hintertür nach draußen schlüpfte, merkte Jenny schon die inzwischen so vertrauten Anzeichen eines neuen Panikanfalls. Das fürchterliche Kribbeln der Kopfhaut, eine unsichtbare Armee von Ameisen, die ihre Wirbelsäule hochkletterte. Ihre Brust verengte sich und ihre Kehle schien sich zu verschließen. Trotz der eiskalten Temperaturen brach ihr der Schweiß aus. Dann begann das gespenstische Pulsieren am Rande ihres Sichtfelds.

Sie trat in die kleine Gasse hinter der Bäckerei und atmete tief ein. Als sie den beißenden Geschmack von Zigarettenrauch auf der Zunge spürte, stieß sie die Luft sofort wieder aus.

„Meine Güte, Zach“, sagte sie zu dem an der Hauswand lehnenden Teenager. „Die Dinger werden dich noch mal umbringen.“

„Nö“, sagte er und schnippte die Asche in den Mülleimer. „Bevor das passiert, höre ich auf.“

„Aha.“ Sie räusperte sich. „Das sagen sie alle.“ Sie hasste es, wenn Kinder rauchten. Sicher, ihr Großvater hatte auch geraucht. Selbstgedrehte. Aber zu seiner Zeit hatte man auch noch nichts von den Gefahren des Rauchens gewusst. Heutzutage galt diese Entschuldigung nicht mehr. Sie nahm eine Handvoll Schnee und warf sie auf die Zigarette, um die Glut zu löschen.

„Hey“, sagte er.

„Du bist ein kluger Junge, Zach. Ich hab gehört, dass du ein hervorragender Schüler bist. Wie kann es also sein, dass du so dumm bist, was das Rauchen angeht?“

Er zuckte die Schultern und hatte wenigstens den Anstand, ein bisschen verlegen auszusehen. „Frag meinen Dad. Ich bin in vielen Dingen dumm. Er will, dass ich das nächste Jahr oben an der Rennbahn in Saratoga arbeite, um mir das Geld fürs College selber zu verdienen.“

Matthew Alger war Verwaltungsbeamter der Stadt, und anhand der winzigen Trinkgelder, die er im Coffeeshop der Bäckerei gab, wusste Jenny, dass er auch privat sein Geld sehr zusammenhielt. Das galt offenbar auch in Bezug auf seinen Sohn. Jenny war ohne Vater aufgewachsen und hatte sich öfter, als sie zählen konnte, einen gewünscht. Doch Matthew Alger war der lebende Beweis dafür, dass diese von ihr so lang ersehnte Beziehung manchmal auch überbewertet wurde.

„Ich habe gehört, mit dem Rauchen aufzuhören spart dem durchschnittlichen Raucher fünf Dollar am Tag.“ Sie fragte sich, ob ihre Stimme in seinen Ohren seltsam klang, ob er hören konnte, mit welcher Mühe sie jedes Wort an der Enge ihrer Kehle vorbeipressen musste.

„Ja, das hab ich auch gehört.“ Er schnippte die feuchte Zigarette in den Mülleimer. „Mach dir keine Sorgen“, sagte er, bevor sie ihn schelten konnte. „Ich wasche meine Hände, bevor ich mich wieder an die Arbeit mache.“

Er schien jedoch keine Eile zu haben, wieder hineinzugehen. Sie überlegte, ob er mit ihr reden wollte. „Will dein Dad, dass du ein ganzes Jahr arbeitest, bevor du aufs College gehst?“

„Er will, dass ich arbeite, Punkt. Er erzählt mir immer wieder, wie er sich ganz alleine durchs College gebracht hat, ohne Hilfe von seiner Familie und so.“ In seinen Worten klang keine Bewunderung mit.

Was wohl mit Zachs Mutter war? Sie hatte schon vor längerer Zeit wieder geheiratet und war nach Seattle gezogen. Zach sprach nie über sie. „Was willst du denn, Zach?“, fragte Jenny.

Er sah überrascht aus, als wäre er das schon lange nicht mehr gefragt worden. „Ich will irgendwo weit weg aufs College gehen“, sagte er. „Irgendwo anders leben.“

Das konnte Jenny nachempfinden. In seinem Alter war sie auch davon überzeugt gewesen, dass irgendwo weit weg ein aufregendes Leben auf sie wartete. Sie hatte es allerdings nie aus der Tür hinaus geschafft. „Dann solltest du das tun“, sagte sie mitfühlend.

Er zuckte die Schultern. „Ich schätze, ich werde es versuchen. Jetzt muss ich aber zurück an die Arbeit.“

Er ging hinein. Jenny blieb noch draußen stehen und blies falsche Rauchringe in die kalte Luft. Auch wenn die Unterhaltung sie kurzfristig abgelenkt hatte, hatte das nicht gereicht, die drohende Panik zu verscheuchen. Jetzt war sie allein mit dem Gefühl; es schrie in ihrem Inneren wie Sirenen in der Stille der Nacht. Und wie die Sirenen wurde auch das Gefühl immer stärker und lauter. Der Sternenhimmel schien immer näher zu kommen und sie mit seinem Gewicht nach unten zu drücken.

Ich gebe auf, dachte sie und schob ihre Hände in die Taschen ihrer Bäckerhose. Ihre Finger schlossen sich um das Plastikfläschchen mit den Tabletten. Die Tablette war nicht sonderlich groß. Sie schluckte sie ohne Wasser und wusste, dass die Wirkung nicht lange auf sich warten lassen würde. Es ist schon erstaunlich, dachte sie, dass so eine kleine Pille das furchterregende Schlagen meines Herzens in meinem Brustkorb beruhigen und das panische Zischen in meinem Kopf herunterkühlen kann.

„Nehmen Sie die Tabletten nur, wenn es gar nicht anders geht“, hatte der Arzt sie gewarnt. „Dieses Medikament kann sehr schnell abhängig machen, und der Entzug davon ist extrem unangenehm.“

Trotz der Warnung fühlte sie sich bereits ruhiger, als sie das Fläschchen wieder wegsteckte. Sie strich mit der Hand ihre Hosentasche glatt.

Ihre Gedanken kehrten zu Zach zurück, während sie ihren Blick über die vertraute Nachbarschaft mit ihren historischen Backsteinhäusern, in denen sich Büros, Geschäfte und Restaurants befanden, gleiten ließ. Wenn jemand ihr vor Jahren gesagt hätte, dass sie in ihrem jetzigen Alter immer noch in Avalon sein und in der Bäckerei arbeiten würde, hätte sie ihn ausgelacht. Sie hatte große Pläne gehabt. Sie würde die kleine, ruhige Oase verlassen, in der sie aufgewachsen war. Ihr Ziel waren die große Stadt, eine gute Ausbildung, eine Karriere gewesen.

Es war vermutlich nicht fair, Zach in ein kleines gemeines Geheimnis einzuweihen: Das Leben hatte so seine Art, einem einen Strich durch die ausgefeiltesten Pläne zu machen. Im Alter von achtzehn Jahren hatte Jenny die fürchterlichen Unzulänglichkeiten des Gesundheitssystems kennengelernt, unter denen vor allem die Selbstständigen zu leiden hatten. Mit einundzwanzig wusste sie, was man tun musste, um Privatinsolvenz anzumelden. Es war ihr gerade eben so gelungen, das Haus in der Maple Street zu behalten. Es war keine Frage, dass sie ihre Granny nicht alleine lassen würde, verwitwet und körperlich eingeschränkt nach einem schweren Schlaganfall.

Die Wirkung der Tablette setzte ein und bedeckte die scharfen Kanten ihrer Nerven wie eine Schneedecke, die sich über eine zerklüftete Landschaft legte. Sie atmete tief ein und ganz langsam wieder aus, schaute der Atemwolke hinterher, bis sie verschwunden war.

Der Himmel im Norden, in Richtung Maple Street, schien in einem unnatürlichen Licht zu flackern und zu glühen. Sie blinzelte. Vielleicht handelte es sich nur um einen komischen Nebeneffekt der Panikattacke. Daran sollte sie sich inzwischen eigentlich gewöhnt haben.

2. KAPITEL

Als aus dem Funkgerät in Rourke McKnights Streifenwagen ein dringender Alarmton ertönte und er den Aufruf „Alle verfügbaren Einheiten zur 472 Maple Street“ hörte, wäre sein Herz beinahe stehen geblieben.

Das war Jennys Haus.

Er war am anderen Ende der Stadt gewesen, aber sobald er den Aufruf hörte, hatte er sein Funkgerät gegriffen, seinen Standort und seine vermutliche Ankunftszeit am Einsatzort durchgegeben und das Gaspedal durchgetreten. Die Reifen wirbelten Sand und Schnee auf, als er mit schlingerndem Heck auf der Straße wendete und in Richtung Maple Street raste. Parallel rief er in der Vermittlung an. „Ich bin auf dem Weg. Ich lass dich wissen, wenn ich Code elf bin.“ Seine Stimme klang seltsam flach, wenn man die Gefühle bedachte, die durch seinen Körper rasten.

Es war das allgemeine Signal ausgeschickt worden, dass das Gebäude – Gott, Jennys Haus – bereits „im Vollbrand“ stand. Jenny war bisher jedoch noch nicht gesichtet worden.

Als er endlich das Haus an der Maple Street erreichte, war das gesamte Gebäude in grelle Feuerbänder gehüllt, und Flammen schlugen aus jedem Fenster und leckten an den Regenrinnen.

Er brachte den Wagen zum Stehen, wobei er einen Scheinwerfer in einer Schneewehe versenkte, und stieg aus, ohne die Tür hinter sich zuzumachen. Schnell verschaffte er sich einen Überblick über die Lage. Die Feuerwehrmänner, ihre Wagen und ihre Ausrüstung waren in das orangerote flackernde Licht getaucht. Mit zwei Schläuchen versuchten sie, des Feuers Herr zu werden. Weitere Männer bemühten sich, einen Hydranten aus dem Schnee freizugraben. Die Szene war erstaunlich ruhig und überhaupt nicht chaotisch. Allerdings war die Flammenwand undurchdringlich, und die Feuerwehrleute konnten es nicht einmal in voller Ausrüstung wagen, das Haus zu betreten.

„Wo ist sie?“, wollte Rourke von einem Feuerwehrmann wissen, der über sein an der Schulter befestigtes Funkgerät Nachrichten an die Zentrale übermittelte. „Wo zum Teufel ist sie?“

„Wir haben die Bewohnerin nicht gefunden“, erwiderte der und schaute zu dem in der Einfahrt stehenden Krankenwagen. „Wir denken, dass sie nicht da ist. Allerdings steht ihr Auto in der Garage.“

Rourke ging auf das brennende Haus zu und rief Jennys Namen. Das Gebäude brannte wie Zunder. Ein Fenster barst, und heißes Glas regnete auf ihn herab. Automatisch hob er seine Hand, um seine Augen zu schützen. „Jenny!“, rief er erneut.

Innerhalb einer Sekunde fielen all die Jahre des Schweigens von ihm ab, und Bedauern setzte ein. Als könnte er irgendetwas richten, indem er ihr aus dem Weg ging. Ich bin ein Idiot, dachte er. Und dann feilschte er – wer oder was auch immer zuhören mochte: Lass sie nicht dort drin gewesen sein. Bitte, lass sie unversehrt sein, und ich werde für immer auf sie aufpassen und dich nie wieder um etwas bitten.

Er musste hineingehen. Die vordere Treppe war weg. Er rannte zur Hintertür, rutschte auf dem Schnee aus, fing sich gerade noch. Jemand rief ihm etwas hinterher, aber er lief weiter. Die Rückseite des Hauses stand ebenfalls in Flammen, aber die Tür war weg, von der Axt eines Feuerwehrmannes herausgehackt. Mehr Rufe, mehr Männer in voller Montur, die auf ihn zuliefen, mit den Armen winkten. Mist, dachte Rourke. Es war dumm, aber es war nicht das Dümmste, was er je getan hatte – lange nicht. Er zog seinen Mantel über Nase und Mund und lief ins Haus.

Er war so oft in dieser Küche gewesen, doch jetzt war sie nur ein gelber Wirbel, in dem er nichts erkannte. Und es gab keine Luft zum Atmen. Er spürte, wie das Feuer ihm die Luft aus den Lungen saugte. Er versuchte, nach Jenny zu rufen, doch es kam kein Ton heraus. Der Linoleumfußboden schlug Blasen und schmolz unter seinen Füßen. Die Tür, die zu der Treppe nach oben führte, war ein flammendes Rechteck, aber er lief trotzdem geradewegs darauf zu.

Eine starke Hand zerrte ihn an der Schulter zurück. Rourke versuchte, sich dagegen zu wehren, aber eine Sekunde später fiel etwas – vermutlich das Treppengeländer – von oben herunter und ließ Flammen und Putz auf ihn herabregnen. Der Feuerwehrmann schubste ihn aus der Hintertür. „Was zum Teufel tun Sie hier?“, schrie er. „Chief, Sie müssen sich fernhalten, das Haus ist nicht sicher.“

Rourkes Kehle brannte, als er nach Luft schnappte. Er hustete. „Mir egal. Wenn ihr niemanden reinschickt, gehe ich selber.“

Der Feuerwehrmann – ein Deputy Chief, den Rourke vage kannte – stellte sich ihm in den Weg. „Das kann ich nicht zulassen.“

Wut stieg in ihm auf. Er wusste, dass sie unvernünftig war, aber er konnte nichts gegen sie tun. Ehe er sich versah, holte Rourke aus und schob den Mann aus dem Weg. „Treten Sie beiseite“, bellte er.

Der Feuerwehrmann sagte nichts, sondern trat nur mit erhobenen Händen einen Schritt zurück. Durch seinen durchsichtigen Gesichtsschild schaute er Rourke mit ernstem Ausdruck an. „Hören Sie, wir stehen doch beide auf der gleichen Seite. Sie haben gesehen, wie es darin aussieht. Das würden Sie keine dreißig Sekunden durchhalten. Wir glauben nicht, dass die Bewohnerin zu Hause ist, wirklich. Wenn Sie hier wäre, hätten wir sie herausgeholt.“

Rourke löste seine zu Fäusten geballten Hände. Verdammt. Er hatte kurz davor gestanden, den Mann niederzuschlagen. Was hatte er sich nur dabei gedacht?

Er hatte gar nicht gedacht, das war sein Problem. War es schon immer gewesen. Er musste herausfinden, wo Jenny war. Die verschiedensten Möglichkeiten schossen ihm durch den Kopf. Vielleicht war sie bei ihrer besten Freundin Nina. Aber um diese Uhrzeit? Oder bei Olivia Bellamy? Nein. Auch wenn sie verwandt waren, standen die beiden Frauen sich nicht nahe. Mist, traf sie sich etwa mit irgendeinem Kerl, von dem Rourke nichts wusste?

Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. „Verdammt“, sagte er und rannte zu seinem Auto.

Jenny stand immer noch hinter der Bäckerei und wartete auf die Morgendämmerung, als ein blauweißer Blitz die Nacht erhellte. Das grelle Licht war mitten im Winter seltsam fehl am Platz. Dann hörte sie das kurze Aufheulen einer Sirene und merkte, dass es sich um Blaulichter handelte. Die Fahrzeuge klangen nah, als wären sie nur eine Straße weiter. Geschäftige Nacht, dachte sie und kehrte in die Bäckerei zurück. Sie ging durch die Backstube, wo Zach gerade den Teig aus der Garkammer schob.

Sie wollte sich wieder an die Arbeit machen, als sie ein stürmisches Klopfen an der Vordertür hörte. „Ich sehe mal nach, wer das ist“, rief sie Laura und Zach zu und ging durch das Café, das um diese Uhrzeit nur schwach von dem Neonschild einer Kaffeetasse, aus der verschnörkelte Rauchschwaden aufstiegen, beleuchtet wurde.

Das Blaulicht eines Streifenwagens durchschnitt die Dunkelheit des leeren Cafés. Jenny beeilte sich, die Tür aufzuschließen. Das Glöckchen über der Eingangstür klingelte, dann stürmte auch schon Rourke McKnight herein. Sein langer Mantel wehte hinter ihm her.

Avalons Polizeichef sah auch aus wie einer. Sein kantiges Gesicht war frisch rasiert, seine Schultern breit und kräftig. Auch wenn er blonde Haare und blaue Augen hatte, bewahrte ihn eine sichelförmige Narbe auf einem Wangenknochen davor, zu schön zu sein.

„Ich habe das dumpfe Gefühl, dass du nicht wegen einer Tasse Kaffee hierhergekommen bist“, sagte Jenny. Das waren vermutlich die ersten Worte, die sie seit Jahren zu ihm gesagt hatte.

Er schenkte ihr einen glühenden Blick, der sie sich fragen ließ, wie es wohl war, seine Freundin zu sein, ein Mitglied der scheinbar endlosen Parade langbeiniger Frauen, die in serieller Monogamie durch sein Leben marschierten. Genau, dachte sie, warum sollte ich wohl Lust haben, eine dieser Frauen zu sein?

Ohne auf sie einzugehen, packte Rourke Jenny bei den Oberarmen. „Jenny. Du bist hier.“ Seine Stimme klang rau, drängend.

Okay, das war interessant. Rourke McKnight, der sie packte und in seine Arme zog. Was zum Teufel hatte sie getan, um das zu verdienen? Vielleicht hätte sie das schon früher tun sollen.

„Ich konnte nicht schlafen“, sagte sie und schaute auf seine Hände auf ihren Armen. Sie und Rourke berührten sich nicht. Nicht seit … seit sie sich nicht mehr berührten.

Er schien ihre Gedanken zu lesen und ließ sie los. Mit einer Kopfbewegung zeigte er zur Tür. „Wir haben einen Vorfall an deinem Haus. Ich fahr dich schnell rüber.“

Obwohl die Tablette der Realität die schärfsten Kanten genommen hatte, verspürte sie eine tiefe, instinktive Unruhe. „Was für einen Vorfall?“

„Dein Haus steht in Flammen“, sagte Rourke einfach.

Jennys Lippen formten ein O, aber sie gab keinen Laut von sich. Was sollte man auch sagen, wenn man mit so einer Aussage konfrontiert wurde?

„Geh“, sagte Laura und drückte ihr ihren Parka und ihre Stiefel in die Hand. „Ruf mich später an.“

Die unscharfen Kanten veränderten sich nicht, als Jenny in den Streifenwagen stieg, den Rourke am Wochenende fuhr. Sogar die wirbelnden Lichter, die ellipsenförmig über die Straße flogen, ließen sie nicht zusammenzucken. Dennoch war sie höchst aufmerksam. Die Wunder der modernen Chemie, dachte sie.

„Was ist passiert?“, fragte sie.

„Mrs Samuelson hat den Notruf gewählt.“

Irma Samuelson wohnte schon seit Jahren neben den Majeskys. „Das ist unmöglich“, sagte Jenny. „Ich … wie kann mein Haus brennen?“

„Anschnallen“, sagte er, und in dem Moment, wo ihr Sitzgurt einrastete, fuhr er los.

„Bist du sicher, dass das kein Missverständnis ist?“, fragte sie. „Vielleicht ist es das Haus von jemand anderem.“

„Ich bin mir sicher. Ich war da. Gott, ich dachte … Gott, verdammt …“

Zitterte seine Stimme etwa? „Oh nein“, sagte sie. „Rourke, du hast gedacht, ich wäre noch im Haus?“

„Das ist um diese Uhrzeit keine ungewöhnliche Annahme.“

Deshalb hatte er sie also gepackt. Aus reiner Erleichterung, schlicht und einfach. Als sie in Richtung Maple Street rasten, stieg ihr ein seltsamer Geruch in die Nase. „Es riecht hier drinnen nach Rauch.“

„Du kannst gerne das Fenster aufmachen, wenn dir das nicht zu kalt ist.“

„Wo kommt der Geruch her? Oh, Gott. Du bist im Haus gewesen, oder?“ Sie sah es förmlich vor sich, wie er sich an den Feuerwehrmännern vorbeidrängte und in das brennende Haus stürmte. „Du bist reingegangen, um mich zu suchen.“

Er antwortete nicht. Das musste er auch nicht. Rourke McKnight rettete ständig Leute. Das war wie ein innerer Zwang bei ihm.

„Hast du den Herd angelassen?“, fragte er. „Oder irgendein anderes Gerät?“

„Natürlich nicht“, gab sie aufgebracht zurück. Die Fragen machten ihr Angst. Denn es war gut möglich, dass sie unvorsichtig gewesen war. Sie lebte jetzt alleine, und vielleicht wurde sie langsam seltsam. Manchmal wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie zu einem Leben als einsame, von der Gesellschaft Ausgestoßene verurteilt war, die niemanden hatte, der die Kaffeemaschine abstellte, wenn sie es vergaß. Sie könnte gut und gerne wie die Katzenfrau enden, über die sie und ihre Freundinnen sich früher immer Geschichten ausgedacht hatten – allein, exzentrisch, mit nichts als einem muffigen Haus voller Katzen zur Gesellschaft.

„… hörst mir gar nicht zu, oder?“ Rourkes Stimme durchbrach ihre Gedanken.

„Was?“, fragte sie und gab sich einen mentalen Klaps.

„Geht es dir gut?“

„Du hast mir gerade erzählt, dass mein Haus in Flammen steht. Ich glaube nicht, dass es mir im Moment sonderlich gut gehen sollte.“

„Ich meine …“

„Ich weiß, was du meinst. Wirke ich auf dich irgendwie panisch?“

Er warf ihr einen Blick zu. „Ganz im Gegenteil. Unter den gegebenen Umständen wirkst du sehr gefasst. Aber wir sind ja auch noch nicht da. Du weißt, was es heißt, wenn die Feuerwehr sagt, das Haus steht im Vollbrand?“, fragte er.

„Nein, ich …“ Der Rest des Satzes blieb ihr im Hals stecken, weil sie in dem Moment um die Ecke bogen und sie einen Blick auf ihre Straße werfen konnte. Ihr Herz raste. „Mein Gott.“

Die Straße war an beiden Enden gesperrt worden. Wo sie auch hinschaute, sah sie Feuerwehrautos, Rettungswagen, Ausrüstung und Feuerwehrmänner. Auf Stativen stehende Scheinwerfer erhellten die Szenerie. Nachbarn hatten sich ihre Wintermäntel über die Schlafanzüge geworfen und standen in kleinen Grüppchen in ihren Vorgärten oder auf ihren Veranden, die Köpfe gen Himmel gereckt, die Münder vor Staunen offen stehend, als würden sie ein Feuerwerk zum Vierten Juli bestaunen. Außer dass niemand lächelte und Oh und Ah sagte.

Feuerwehrmänner in voller Montur umringten das Haus, bekämpften die Flammen, die das zweistöckige Haus vollkommen vereinnahmt hatten. Rourke parkte den Wagen, und sie stiegen aus. Eine Reihe Fenster im Obergeschoss war herausgeplatzt, als wenn jemand eines nach dem anderen herausgeschossen hätte.

Diese Fenster verliefen am oberen Flur, in dem die ganzen Familienfotos gehangen hatten: ein altes Hochzeitsfoto von ihren Großeltern, ein paar Bilder von Jennys Mutter Mariska, für immer dreiundzwanzig und wunderschön, eingefroren in dem Alter, in dem sie fortgegangen war. Außerdem hatte es eine ganze Reihe Schulporträts von Jenny gegeben, die über die Jahre gemacht worden waren.

Als kleines Mädchen war sie den Flur so lange auf und ab gelaufen, bis ihre Großmutter sie bat, etwas ruhiger zu sein.

Sie hatte es geliebt, sich Geschichten über die Menschen auf den Bildern auszudenken. Ihre Großeltern, die so ernst in die Kamera schauten, wie es typisch für Immigranten war, die gerade von Ellis Island gekommen waren, wurden Broadway-Stars. Ihre Mutter, deren große Augen ein köstliches Geheimnis zu verbergen schienen, war eine Agentin der Regierung, die die Welt beschützte. Sie hielt sich so tief im Untergrund versteckt, dass sie nicht einmal ihrer Familie sagen konnte, wo sie war.

Irgendjemand – ein Feuerwehrmann – forderte alle auf zurückzutreten und in sicherer Entfernung zu bleiben. Andere Feuerwehrmänner rannten die Auffahrt hinauf und trugen dabei gemeinsam einen dicken Schlauch auf ihren Schultern. Auf der ausgefahrenen Leiter eines Feuerwehrwagens stand ein weiterer Feuerwehrmann und versuchte, die Flammen auf dem Dach zu bekämpfen.

„Jenny, dank dem Herrn“, sagte Mrs Samuelson und eilte auf sie zu. Sie trug einen langen Kamelhaarmantel und Schneestiefel, bei denen sie sich nicht die Mühe gemacht hatte, sie zuzumachen. In ihren Armen hielt sie Nutley, ihren zitternden Yorkshireterrier. „Als ich das Feuer bemerkte, hatte ich zuerst Angst, dass du noch im Haus bist.“

„Ich war in der Bäckerei“, erklärte Jenny.

„Mrs Samuelson, hat schon jemand Ihre Aussage aufgenommen?“, fragte Rourke.

„Warum, ja, aber ich …“

„Entschuldigen Sie uns, Ma’am.“ Rourke nahm Jennys Hand und führte sie an der Absperrung vorbei zu einem der Feuerwehrwagen. Ein älterer Mann sprach Anweisungen in ein Funkgerät, und ein anderer wiederholte sie durch ein Megaphon.

„Chief, das hier ist Jenny Majesky“, sagte Rourke. Er hielt ihre Hand weiter fest.

„Miss, das mit Ihrem Haus tut mir leid“, sagte der Chief. „Wir waren acht Minuten, nachdem der Notruf kam, hier, aber das Feuer muss schon lange vor dem Anruf ausgebrochen sein. Diese älteren Häuser … sie neigen dazu, sehr schnell zu brennen. Wir tun unser Bestes.“

„Ich … äh … ich … ich danke Ihnen.“ Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte, wo ihr Haus gerade in Flammen aufging.

„Ihre Nachbarn sagen, dass Sie keine Haustiere hatten.“

„Das stimmt.“ Nur Grannys afrikanische Veilchen und Kräuter im Blumenfenster. Nur meine ganze Welt und alles, was ich besitze, dachte Jenny. Trotz ihrer warmen Kleidung und der röhrenden Flammen fror sie in der kalten Winternacht. Es war erstaunlich, wie stark, wie unkontrolliert sie zitterte.

Irgendetwas Warmes und Schweres legte sich um ihre Schultern. Sie brauchte einen Moment, bevor sie merkte, dass es sich um eine Erste-Hilfe-Decke handelte. Und um Rourke McKnights Arme. Er stand hinter ihr und zog sie an sich. Ihr Rücken drückte sich an seine Brust, seine Arme umschlossen sie von hinten, als wenn er sie vor weiterem Schaden beschützen wollte.

Mit einem seltsamen Gefühl der Kapitulation lehnte sie sich gegen ihn, als wäre ihr eigenes Gewicht zu viel für sie. Sie schloss kurz die Augen, versteckte sich vor dem grellen Schein der Flammen und dem Geruch nach Rauch. Sie spürte die Wärme des Feuers auf ihrem Gesicht. Aber von dem beißenden Geruch wurde ihr übel, und vor ihrem inneren Auge sah sie alles, was in ihrem Haus den Flammen neue Nahrung gab. Sie öffnete die Augen und schaute wieder hin.

„Es ist völlig zerstört“, sagte sie. Sie drehte den Kopf und sah Rourke an. „Alles ist weg.“

Ein Mann mit einem Fotoapparat, vermutlich von irgendeiner Zeitung, stand auf der Ladefläche seines Trucks und richtete sein langes Objektiv auf die Szene.

Rourkes Arme schlossen sich fester um sie. „Es tut mir leid, Jenny. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass du falschliegst.“

„Wie geht es jetzt weiter?“

„Als Nächstes wird eine Untersuchung erfolgen, um die Ursache des Brandes zu bestimmen“, erklärte er. „Dann kommen die Gespräche mit der Versicherung, Aufstellung des Eigentums und so weiter.“

„Ich meine jetzt, in den nächsten zwanzig Minuten. Der nächsten Stunde. Irgendwann wird das Feuer ausgehen, aber dann? Gehe ich zurück zur Bäckerei und schlafe unter meinem Tisch?“

Er senkte den Kopf. Sein Mund war direkt an ihrem Ohr, sodass sie ihn auch über den Lärm hören konnte, und sein Körper umfing sie beschützend. „Mach dir darüber keine Gedanken“, sagte er. „Ich kümmere mich um dich.“

Sie glaubte ihm. Dazu hatte sie auch allen Grund. Sie kannte Rourke McKnight mehr als ihr halbes Leben lang. Trotz ihrer schwierigen gemeinsamen Vergangenheit, trotz der Schuldgefühle und der Herzschmerzen, die sie einander zugefügt hatten, trotz der tiefen Kluft, die sich zwischen ihnen auftat, hatte sie immer gewusst, dass sie sich auf ihn verlassen konnte.

3. KAPITEL

Jenny riss die Augen auf, als sie aus einem tiefen, erschöpften Schlaf aufwachte. Ihr Herz klopfte, ihre Lungen schrien nach Luft, und ihr mentaler Zustand war verwirrt, um es milde auszudrücken. Ihr Kopf war erfüllt von einem düsteren Traum, in dem der Lektor eines Buchverlages den großen Spiralmixer der Bäckerei mit den Seiten von Jennys Geschichte fütterte.

Sie lag flach auf dem Rücken, Arme und Beine von sich gestreckt, als wäre das Bett ein Floß und sie die Überlebende eines Schiffsunglücks. Sie starrte wie blind an die Decke und auf die unbekannte Lampe. Dann drückte sie sich vorsichtig in eine sitzende Position.

Sie trug ein grau gestreiftes, viel zu großes Yankee-T-Shirt, das ihr ständig von der Schulter rutschte. Dazu ein Paar dicke Tennissocken, die ebenfalls zu groß waren. Und – sie hob den Saum des T-Shirts, um nachzugucken – eine Boxershorts, die eindeutig einem Mann gehörte.

Sie saß tatsächlich mitten in Rourke McKnights gigantischem Doppelbett, das mit erstaunlich luxuriösen Laken bedeckt war. Sie schaute auf dem Schild des Kopfkissenbezuges nach – Fadenzahl 600. Wer hätte das gedacht, dachte sie. Der Mann war ein Genussmensch.

Es ertönte ein leichtes Klopfen an der Tür, dann trat er ein, ohne auf ihre Aufforderung zu warten. Er trug in jeder Hand einen Kaffeebecher und hatte sich die Morgenzeitung unter den Arm geklemmt. Er trug ausgeblichene Levi’s und ein enges T-Shirt mit der Aufschrift NYPD. Drei verwahrlost aussehende Hunde wuselten um seine Beine herum.

„Wir haben es auf die Titelseite geschafft“, sagte er und stellte die Kaffeebecher auf den Nachttisch. Dann schlug er den Avalon Troubadour auf. Sie sah nicht hin. Zumindest anfangs nicht. Sie war immer noch verwirrt und in dem Traum gefangen und fragte sich, was sie so schnell hatte aufwachen lassen. „Wie spät ist es?“

„Kurz nach sieben. Ich habe versucht, leise zu sein und dich schlafen zu lassen.“

„Ich bin überrascht, dass ich überhaupt geschlafen habe.“

„Ich nicht. Das war ein ganz schön langer Tag gestern.“

Das war mal eine Untertreibung. Sie hatte den halben Tag an ihrem Grundstück herumgelungert und zugesehen, wie die Feuerwehrmänner das Feuer so lange bekämpften, bis nirgendwo mehr das kleinste Glühen zu sehen war. Unter dem schweren grauen Winterhimmel hatte sie gesehen, wie sich das ihr so vertraute zweistöckige Haus zu einem Haufen aus geschwärztem Holz, geplatzten Leitungen und bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Objekten verwandelt hatte. Allein der gemauerte Kamin erhob sich inmitten all der Trümmer wie ein Denkmal. Jemand hatte ihr erklärt, dass, nachdem die Ermittlungen zur Brandursache abgeschlossen waren und der Gutachter der Versicherung sich ein Bild gemacht hätte, eine Bergungsfirma die Überreste durchgehen und retten würde, was zu retten war. Dann würden die Trümmer entfernt und beseitigt. Ihr wurde ein Stapel Formulare in die Hand gedrückt, in die sie den Wert aller Sachen eintragen sollte, die sie verloren hatte. Sie hatte die Formulare noch nicht angerührt. Wussten sie denn nicht, dass ihre größten Verluste nicht in Dollar zu bemessen waren?

Sie hatte einfach nur mit Rourke dagestanden, zu überwältigt, um zu sprechen oder irgendwelche Pläne zu machen. Sie hatte ihre zittrige Unterschrift auf irgendwelche Dokumente gesetzt. Am Nachmittag hatte Rourke dann erklärt, dass er sie nach Hause bringen würde. Sie hatte nicht einmal die Kraft besessen, ihm zu widersprechen. Er hatte ihr eine Hühnersuppe aus der Dose aufgewärmt, dazu gab es ein paar Salzcracker. Dann hatte er ihr das Schlafzimmer gezeigt und ihr gesagt, dass sie sich ausruhen müsse. Diesem Befehl hatte sie sich nur zu gerne ergeben. Total erschöpft war sie sofort in einen tiefen Schlaf gefallen.

Jetzt stand er an ihrem Bett, sein Profil wurde vom schwachen Morgenlicht erleuchtet, das sich durch die luftigen weißen Vorhänge kämpfte. Er hatte sich noch nicht rasiert, und goldene Stoppeln milderten die harten Linien seines Kinns. Das T-Shirt, ganz dünn und ausgeblichen von Jahren des Tragens und Waschens, schmiegte sich an seinen muskulösen Oberkörper.

Die Hunde ließen sich in einem Haufen auf dem Boden nieder. Irgendetwas an dieser ganzen Situation kam ihr vollkommen irreal vor. Sie war in Rourkes Bett. In seinem Schlafzimmer. Er brachte ihr Kaffee. Las gemeinsam mit ihr die Zeitung. Was stimmte an diesem Bild nicht?

Ah, ja, erinnerte sie sich. Sie hatten nicht zusammen geschlafen.

Der Gedanke erschien ihr belanglos angesichts dessen, was passiert war. Granny war tot und ihr Haus abgebrannt. Mit Rourke McKnight zu schlafen sollte gerade nicht ganz oben auf ihrer Prioritätenliste stehen. Trotzdem schien es nicht ganz fair, dass sie in diesem Bett nichts außer einem fürchterlichen Traum zustande gebracht hatte.

„Lass mal sehen.“ Sie streckte die Hand nach der Zeitung aus und rutschte ein Stück näher an ihn heran. Das taten nur Pärchen, gemeinsam im Bett sitzen, Kaffee trinken und die Zeitung lesen. Dann sah sie das Bild. Es war ein großes Farbfoto, was beinahe den gesamten Platz über dem Falz einnahm. „Oh, Gott. Wir sehen aus wie …“

Wie ein Pärchen. Der Gedanke ließ sie nicht los. Der Fotograf hatte sie in einer, wie es schien, zärtlichen Umarmung erwischt. Rourkes Arme umfingen sie von hinten, und sein Mund war nah an ihrem Ohr, als er sich zu ihr hinunterbeugte, um ihr etwas zuzuflüstern. Das Feuer bot einen dramatischen Hintergrund. Man konnte anhand des Bildes nicht sehen, dass sie vor Kälte mit den Zähnen klapperte und dass er ihr nicht süße Nichtigkeiten ins Ohr flüsterte, sondern ihr erklärte, dass sie von jetzt auf gleich obdachlos war.

Sie sagte nichts und hoffte, dass sie sich die Romantik des Fotos nur einbildete. Nach einem weiteren Schluck Kaffee überflog sie den Artikel. „Defekte Verkabelungen?“, sagte sie. „Woher wissen die, dass es sich um einen Defekt in der Verkabelung handelt?“

„Das ist bisher reine Spekulation. Nach der Untersuchung wissen wir mehr.“

„Und warum ist dieser Kaffee so unglaublich gut?“, wollte sie wissen. „Er ist perfekt.“

„Hast du ein Problem damit?“

„Ich hatte keine Ahnung, dass du so guten Kaffee machen kannst.“ Genussvoll nahm sie einen weiteren Schluck.

„Ich bin ein Mann mit vielen Talenten. Manche Menschen haben einfach ein Händchen für Kaffee“, fügte er in gespielt ernstem Ton hinzu. „Man nennt sie auch die Kaffeeflüsterer.“

„Und woher weißt du, dass ich meinen mit genau so viel Milch mag?“

„Vielleicht habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, alles über dich zu wissen. Von der Art, wie du deinen Kaffee magst, über die Anzahl der Handtücher, die du nach dem Duschen brauchst, bis zu deinem Lieblingsradiosender.“ Er stützte die Ellbogen auf die Knie und umfasste seinen Becher mit beiden Händen.

„Haha, guter Witz, McKnight.“

„Ich dachte mir, dass er dir gefallen würde.“ Er trank seinen Kaffee aus.

Sie zog ihre Knie an und zog das übergroße T-Shirt darüber. „Es ist zwar ein sehr oberflächlicher Spruch, aber dennoch stimmt es, dass eine gute Tasse Kaffee die schlimmste Situation weniger schlimm machen kann.“ Mit geschlossenen Augen trank sie noch einen Schluck, behielt ihn genüsslich im Mund und versuchte, ganz im Hier und Jetzt zu sein. Nach allem, was passiert war, war das der einzig sichere Ort. Hier. Mit Rourke. In seinem Bett.

„Was ist so lustig?“, fragte er.

Sie öffnete die Augen. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass sie gelacht hatte. „Ich habe mich immer gefragt, wie es wohl wäre, die Nacht in deinem Bett zu verbringen.“

„Und wie war’s?“

„Tja …“ Sie stellte ihren Becher auf dem Nachttisch ab. „Die Laken passen nicht zu den Kopfkissenbezügen, aber die Fadenzahl ist bemerkenswert. Und sie sind sauber. Nicht nur sauber wie gerade gewaschen, sondern sauber, als wenn du deine Bettwäsche öfter als nur alle paar Wochen wechselst. Vier Kissen und eine tolle Matratze. Was kann man mehr verlangen?“

„Danke.“

„Ich bin mir nicht sicher, dass das ein Kompliment war“, warnte sie ihn.

„Du magst mein Bett, die Laken sind sauber, die Matratze bequem. Wieso sollte das kein Kompliment sein?“

„Weil ich nicht umhin kann zu überlegen, was das über dich aussagt. Vielleicht sagt es, dass du ein wundervoller Mensch bist, dem guter Schlaf sehr wichtig ist. Vielleicht sagt es aber auch, dass du so daran gewöhnt bist, Frauen mit hierherzunehmen, dass du deinem Bett besondere Aufmerksamkeit widmest.“

„Und, was davon ist es?“

„Ich bin mir nicht sicher. Ich muss noch ein wenig darüber nachdenken.“ Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Es gab vieles, was sie hätte sagen können, aber sie entschied sich, es nicht zu tun. Nicht in die Vergangenheit zu gehen. Ihnen nicht in Erinnerung zu rufen, was sie einander einmal bedeutet hatten. „Ich wünschte nur, ich könnte den Rest meines Lebens hierbleiben“, seufzte sie mit einem gezwungen leichten Unterton.

„Lass dich von mir nicht davon abhalten.“

Sie öffnete die Augen und stützte sich auf ihre Ellbogen.

„Ich muss das einfach fragen, und ich meine es ernst: Wem bin ich auf die Füße getreten? Hab ich irgendwie das kosmische Gleichgewicht des Universums gestört? Passiert mir deshalb dieser ganze Scheiß?“

„Vielleicht“, sagte er.

Sie warf ein Kissen nach ihm. „Du bist ja eine große Hilfe.“

Er warf es zurück. „Willst du erst duschen oder soll ich?“

„Geh ruhig. Ich sitze hier noch ein bisschen, trinke meinen Kaffee und denke über mein fabelhaftes Leben nach.“ Sie schaute auf den Boden. „Wie heißen die Hunde?“

„Rufus, Stella und Bob.“ Er zeigte auf jeden einzelnen, als er die Namen nannte und erklärte, dass er sie alle gerettet hatte. „Der Kater heißt Clarence.“

Gerettet. Natürlich, dachte sie.

„Sie sind ganz lieb“, fügte er hinzu.

„Ich auch.“ Sie kraulte Rufus hinterm Ohr. Er war ein Malamute-Mischling mit dickem Fell und eisblauen Augen.

„Gut zu wissen.“ Rourke stand auf. „Wenn du Hunger hast, bedien dich in der Küche. Und auch wenn du keinen hast, solltest du was essen. Vor uns liegt ein langer Tag.“ Er ging aus dem Zimmer über den Flur, und einen Augenblick später hörte sie das Radio, gefolgt vom Plätschern fließenden Wassers.

Jenny schaute auf die Uhr. Es war noch zu früh, um Nina anzurufen. Dann fiel ihr ein, dass Nina in Albany auf irgendeiner Bürgermeistertagung war. Jenny stand auf und trat ans Fenster. Ihre Beine fühlten sich schwer an, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen. Was seltsam war, weil sie gestern nichts getan hatte, außer in einem gewissen Schockzustand herumzustehen und zuzusehen, wie ihr Haus abbrannte.

Die Welt da draußen sah bemerkenswert unverändert aus. Ihr Leben zerbrach in tausend Scherben, doch die Stadt Avalon schlief tief und friedlich. Der Himmel war eine dicke, undurchdringliche Decke aus winterlichem Weiß. Kahle Bäume säumten die Straße, und die in der Ferne liegenden Berge trugen dichte Mäntel aus Schnee. Aus dem Fenster von Rourkes Haus konnte sie beobachten, wie die kleine Stadt zum Leben erwachte. Ein paar schneebedeckte Autos wagten sich nach den gestrigen Schneefällen wieder auf die Straße. Avalon war ein Städtchen mit altmodischem, unangestrengtem Charme. Die Kopfsteinpflasterstraßen und gut erhaltenen historischen Gebäude der Altstadt drängten sich um einen öffentlichen Park, dessen schneebedeckte Grünflächen und Spielfelder bis zum Ufer des Schuyler River reichten, der auf beruhigende Weise über die glitzernden eisbedeckten Steine rauschte und dabei Eiszapfen hinterließ.

Gestresste Großstädter träumten davon, in eine Stadt wie diese zu kommen, um sich ein wenig zu entspannen. Manche kauften sich sogar einen halben oder einen Hektar Grund und setzten sich hier zur Ruhe. Im Sommer und während der Zeit im Herbst, wenn die Laubbäume ihr prächtiges Farbenspiel zeigten, drängten sich aus Deutschland importierte SUVs, protzige Hummer und spätpubertäre Sportwagen auf den Straßen, die einst nur Traktoren und die eine oder andere Pferdekutsche gekannt hatten.

Es gab hier immer noch unberührte Ecken, wo die Wildnis so dicht war wie vor Hunderten von Jahren. Wälder und Seen und Flüsse, die versteckt in den endlos erscheinenden Bergen lagen. Von der Spitze des Watch Hill – auf dem jetzt ein Mobilfunkmast stand – hatte man das Gefühl, direkt in den Wald zu schauen, in dem Natty Bumppo aus „Der letzte Mohikaner“ gejagt hatte. Jenny fand es immer wieder erstaunlich, dass sie sich nur wenige Autostunden von New York City entfernt befanden.

Sie drehte dem Fenster den Rücken zu und schaute sich in dem Schlafzimmer um. Keine persönlichen Dinge, keine Fotos oder Andenken, kein Hinweis darauf, dass er ein Leben, eine Vergangenheit oder, Gott behüte, eine Familie hatte. Auch wenn sie Rourke McKnight kannte, seitdem sie Kinder gewesen waren, zog sich ein Riss durch ihr Leben, der mehrere Jahre umspannte. Sie war noch nie zuvor in seinem Schlafzimmer gewesen. Er hatte sie nie eingeladen, und selbst wenn, hätte sie die Einladung nicht angenommen. Nicht unter normalen Umständen. Sie und Rourke waren einfach nicht so. Er war kompliziert. Ihre gemeinsame Geschichte war noch komplizierter. Sie passten nicht zusammen. Zumindest nicht auf lange Sicht.

Denn Fakt war, dass Rourke nicht nur Jenny, sondern vielen Menschen ein Rätsel war. Es war schwer, hinter dem wie gemeißelt aussehenden Kinn und den durchdringenden Augen den Mann zu sehen, der dahintersteckte. Er war eine vielschichtige Persönlichkeit, auch wenn Jenny annahm, dass dies nur wenigen Menschen bewusst war. Er faszinierte die Menschen, so viel stand fest. Diejenigen, die mit der Kommunalpolitik vertraut waren, wussten, dass er der Sohn von Senator Drayton McKnight war, der die letzten dreißig Jahre einen der reichsten Bezirke des Staates repräsentiert hatte. Und diese Leute fragten sich natürlich, warum ein Mann, der in so eine Familie hineingeboren war, ein Mann, der jedes Leben haben konnte, das er wollte, in einer kleinen Stadt in den Catskills gestrandet war und wie jeder andere auch für seinen Lebensunterhalt arbeitete.

Jenny wusste, dass sie mit ein Grund dafür war, wieso er sich hier niedergelassen hatte, auch wenn er es nicht zugeben würde. Sie war mit seinem besten Freund Joey Santini verlobt gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, wo jeder von ihnen von dem Leben in einer Kleinstadt geträumt hatte, von Freundschaft, die ein Leben lang hielt, und Loyalität, die niemals verraten wurde. Waren sie wirklich so naiv gewesen?

Weder Rourke noch Jenny sprachen je über das, was passiert war. Jeder arbeitete hart daran, so zu tun, als sei es am besten, diese Dinge dort zu lassen, wo sie passiert waren: in der Vergangenheit.

Aber natürlich hatte keiner von ihnen vergessen können. Die merkwürdige Spannung zwischen ihnen, das bemühte Meiden des anderen waren dafür Beweis genug. Jenny war sicher, selbst wenn sie hundert Jahre alt würde, würde sie es niemals vergessen. Es gab nicht vieles, dessen sie sich sicher war, aber das war eines davon. Sie würde sich immer an die Nacht mit Rourke erinnern, aber sie würde ihn niemals verstehen.

Die Dusche wurde abgestellt, und ein paar Minuten später kam er mit einem Handtuch um die Hüften in sein Schlafzimmer. Die feuchten Haare fielen ihm in die Stirn. Er sah wirklich unglaublich gut aus. Gut über eins achtzig groß, mit breiten Schultern und schmalen Hüften. Er hatte ein Gesicht, das Frauen die Telefonnummern ihrer Freunde vergessen ließ. Jennys beste Freundin, Nina Romano, sagte immer, er wäre viel zu gut aussehend, um nur ein Kleinstadtpolizist zu sein. Mit dem kantigen Kinn, den glimmenden blauen Augen und der oh so eindrucksvollen Narbe auf seinem rechten Wangenknochen gehörte er auf Plakate, um Werbung für teure Spirituosen oder Autos, die sich keiner leisten konnte, zu machen. Jenny verspürte mit einem Mal eine solch pure Lust, dass sie lachen musste.

„Du findest das lustig?“, fragte er und streckte die Arme seitlich aus.

„Tut mir leid“, sagte sie, aber sie konnte sich nicht beruhigen. Ihre Situation war so unglaublich entsetzlich, dass sie sich nur mit Lachen davon abhalten konnte, in Tränen auszubrechen.

„Du solltest wissen, dass dieses Bett dafür bekannt ist, Frauen die Tränen in die Augen zu treiben.“

„Ich hätte den Tag auch überstanden, ohne das erfahren zu haben.“ Sie wischte sich die Lachtränen aus den Augen und musterte ihn dann genauer. Sie kannte keinen Mann, der so viele Gegensätze in sich vereinte. Er sah aus wie ein griechischer Gott, schien aber überhaupt nicht eitel zu sein. Er kam aus einer der reichsten Familien des Staates und lebte dennoch wie ein ganz normaler Arbeiter. Er tat so, als kümmerte ihn nichts und niemand, und doch verbrachte er seine gesamte Zeit im Dienst der Gemeinde. Er fand neue Zuhause für Straßenhunde und streunende Katzen. Er brachte verletzte Vögel zur Wildtierrettungsstation. Wenn etwas oder jemand verwundet oder schwach war, war er da, einfach so. Und zwar schon seit Jahren. Er hatte viele Leben gelebt, vom verwöhnten Upper-East-Side-Sprössling über den mittellosen Studenten zum Staatsbediensteten, und dabei immer wieder Entscheidungen getroffen, die für jemanden mit seinem Hintergrund mehr als unorthodox waren.

Er verbarg so viel von sich. Sie vermutete, es hatte mit Joey zu tun und mit dem, was ihm passiert war. Was mit ihnen allen dreien passiert war.

„… starrst du mich so an?“, fragte Rourke.

Erst jetzt bemerkte sie, dass sie total in Gedanken versunken gewesen war. „Tut mir leid“, sagte sie. „Es ist ganz schön lange her, dass wir miteinander geredet haben. Ich habe gerade an deine Geschichte gedacht.“

Er sah sie verwundert an. „Meine Geschichte?“

„Jeder hat eine. Eine Geschichte. Eine Reihe von Ereignissen, die einen an den Ort gebracht haben, wo man sich jetzt befindet.“

Langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. „Ich mag Recht und Ordnung, und ich kann gut mit Waffen umgehen“, sagte er. „Das ist meine Geschichte, und bei der bleibe ich.“

„Sogar, dass du Witze machst, um die echte Geschichte zu verbergen, finde ich interessant.“

„Wenn du das interessant findest, solltest du Romanautorin werden.“

Aha. Er tat so, als wäre er nicht interessant. „Du bist eine gute Ablenkung“, sagte sie.

„Wie kommt’s?“

„Mein ganzes Leben hat sich in Rauch aufgelöst, und ich denke über dich nach.“

Das schien ihn etwas nervös zu machen. „Was ist mit mir?“

„Ach, ich habe mich nur gefragt …“

„Nicht“, unterbrach er sie. „Denk nicht über mich oder meine Geschichte nach.“

Wie könnte ich nicht? fragte sie sich. Es ist unsere Geschichte. Und das Feuer hatte irgendetwas zwischen ihnen geändert. Lange waren sie einander aus dem Weg gegangen und nun … hier gelandet. Was auch immer dieses „Hier“ war. Wurde er von seinem Beschützerdrang zu ihr hingezogen, oder gab es eine tiefere Motivation? Könnte das Feuer ein Katalysator gewesen sein, der sie beide dazu brachte, sich Themen zu stellen, die sie bisher vermieden hatten? Vielleicht würde sie jetzt endlich über das sprechen können, was passiert war.

Aber nicht jetzt, dachte Jenny. Das wäre nach allem, was in den letzten vierundzwanzig Stunden passiert war, zu viel. Für den Moment war es einfacher, sich unbedeutenden Flirtereien hinzugeben und das echte Thema weiträumig zu umgehen. Über die Jahre war sie darin sehr gut geworden.

„Ich springe besser schnell unter die Dusche“, sagte sie. „Wo sind meine Sachen?“

„In der Waschmaschine. Sie sind also nicht trocken.“

„Du hast meine Sachen gewaschen?“

„Was, hätte ich sie lieber in die Reinigung bringen sollen?“

Sie sagte nichts. Sie wusste, dass alles nach Rauch gerochen hatte und sie ihm dankbar sein sollte. Dennoch traf die Erkenntnis, dass sie genau einen Satz Klamotten hatte, sie wie ein Faustschlag in den Magen.

Er zog die unterste Schublade seiner Kommode auf und holte ein dickes, in das Papier einer Reinigung eingewickeltes Paket heraus. „Hier drin liegt eine ganze Menge Kram. Bestimmt ist was dabei, was dir passt. Bedien dich einfach.“

Neugierig riss sie das Papier auf und schaute sich den Inhalt an. Sie holte jedes einzelne Stück hervor und hielt es hoch. Es gab ein Babydoll, einen Push-up-BH, eine ganze Sammlung unglaublich winziger Damenunterwäsche. Außerdem fand sie eine Designerjeans, kurze Hosen und Strickpullover mit tiefen Ausschnitten.

Sie richtete sich auf und sah ihn an. „Was sind das, Jagdtrophäen? Sexsouvenirs? Sachen, die von Frauen hiergelassen wurden, die dich verlassen haben?“

„Was denn?“, fragte er, doch der verlegene Ausdruck auf seinem Gesicht verriet ihr, dass er genau wusste, wovon sie sprach. „Ich habe sie alle reinigen lassen.“

„Und das macht alles wieder gut?“

„Komm schon, ich lebe nicht wie ein Mönch.“

„Das sehe ich.“ Sie nahm einen String mit Daumen und Zeigefinger auf und hielt ihn auf Armeslänge von sich. „Würdest du so etwas tragen?“

„Jetzt wird es ein bisschen pervers, finde ich.“

„Ich behalte die Boxershorts“, verkündete sie. Auf dem Weg zum Badezimmer blieb sie vor ihm stehen, ihr Gesicht nur wenige Zentimeter vor seiner nackten Brust. Er roch frisch nach Duschgel. „Ich mach mich jetzt besser fertig. Wie du schon sagtest, es wird ein langer Tag.“

Sie ging ins Badezimmer. Das Radio war auf ihren Lieblingssender eingestellt. Auf dem Waschbecken lagen drei saubere, sorgfältig zusammengelegte Handtücher – genau die Anzahl, die sie am liebsten hatte, und genau in den Größen, die sie bevorzugte; ein Badehandtuch und zwei normale Handtücher.

Sicher, es war schmeichelhaft, sich vorzustellen, dass er sich von ihr angezogen fühlte. Aber das lag alles in der Vergangenheit. Er hatte in den letzten Jahren keine zwölf Wörter zu ihr gesagt. Bis heute hatte er kaum Notiz von ihr genommen. Erst jetzt wieder, als sie am verletzlichsten war – trauernd, obdachlos, ohne einen Ort, an den sie gehen, und ohne einen Menschen, an den sie sich wenden konnte. Er hatte sie erst wieder wahrgenommen, als sie gerettet werden musste. Interessant.

Jenny musste sich rücklings aufs Bett legen und den Bauch einziehen, um den Reißverschluss der geliehenen Jeans über den Boxershorts schließen zu können. Dem Label im Bündchen nach hatte die Hose ihre Größe. Sehr wahrscheinlich hatte sie einer Frau namens Bambi oder Fanny gehört, der Sorte Mädchen, die es mochte, Klamotten zu tragen, die aussahen wie mit der Airbrush-Pistole aufgemalt.

Der BH passte erstaunlich gut, auch wenn der Push-up-Stil nicht ganz ihr Geschmack war. Sie zog ein Sweatshirt mit V-Ausschnitt an, das ebenfalls sehr eng saß. Es war weiß mit roten Bündchen und einem Harvardemblem direkt auf ihrer linken Brust. Veritas. So nah würde sie einem Harvardstudium sehr wahrscheinlich nie wieder kommen.

Ihre viel zu großen Socken schlappten auf dem Weg in die Küche über das Linoleum. Als Rourke sie ansah, bemerkte sie für einen ganz kurzen, flüchtigen Augenblick einen Ausdruck auf seinem Gesicht, den sie nie zuvor gesehen hatte – eine starke, hilflose Lust. Meine Güte, dachte sie, und dafür muss man nicht mehr tun, als sich wie ein Victoria’s-Secret-Model anzuziehen.

„Ho Ho?“, rief er.

„Hey, diese Klamotten kommen aus deinem Schrank, vergiss das nicht“, erwiderte sie.

Er schaute sie finster an. „Nein, ich meine Ho Ho.“ Er hielt eine Packung zweifelhaft aussehender Kekse hoch.

Sie schüttelte den Kopf. „Du magst zwar ein Kaffeeflüsterer sein, aber das“, sie zeigte auf die Ho-Ho-Packung, „geht gar nicht.“

Er trug inzwischen seine Arbeitskleidung und sah so frisch aus wie ein Pfadfinder. Kein Wunder, er war ja auch der jüngste Polizeichef in Ulster County. Normalerweise bedurfte es jahrelanger Erfahrung und klugen Taktierens, um den Chefstatus zu erreichen, aber in Avalon hatte es genügt, ein unglaublich niedriges Gehalt zu akzeptieren. Trotzdem nahm er seinen Job ernst, und er hatte sich den Respekt der Gemeinde verdient.

Sie nahm sich eine Orange und setzte sich an den Küchentresen. „Du arbeitest auch sonntags?“

„Ich arbeite jeden Sonntag.“

Das wusste sie, wollte es aber nicht zugeben. „Was nun, Chief?“, fragte sie.

„Du triffst dich an deinem Haus mit dem Brandermittler. Wenn du Glück hast, stellen sie die Ursache des Feuers fest.“

„Glück.“ Sie grub ihren Daumennagel in die Orange und zog die Schale ab. „Wie kommt’s, dass ich mich gar nicht so wirklich glücklich fühle?“

„Okay, schlechte Wortwahl. Was ich sagen wollte, je schneller die Untersuchungen abgeschlossen sind, desto schneller kann das Bergungsteam mit der Arbeit beginnen.“

„Bergungsteam. Das klingt alles so surreal.“ Ihr Magen zog sich mit einem Mal nervös zusammen, und sie erinnerte sich an etwas. „Du hast gesagt, dass du meine Sachen gewaschen hast?“

„Ja. Ich glaube, die Maschine ist gerade fertig geworden.“

„Oh Gott.“ Sie sprang auf, rannte in die kleine Waschküche neben der Küche und öffnete die Maschine.

„Was ist los?“ Er war ihr gefolgt und schaute sie nun neugierig an.

Sie riss die Bäckerhose raus, die sie angehabt hatte, wühlte mit der Hand in den Hosentaschen und holte schließlich die kleine braune Plastikflasche heraus. Das Label war noch ganz, aber die Flasche war komplett mit milchigem Wasser gefüllt. Sie reichte sie Rourke.

Er nahm das Fläschchen und warf einen Blick auf das Etikett. „Sieht so aus, als hätten sich alle Tabletten aufgelöst.“

„Du hast nun die ruhigste, abgeklärteste Waschmaschine in ganz Avalon.“

„Ich wusste nicht, dass du Tabletten nimmst.“

„Was, hast du gedacht, ich würde Grannys Tod ohne Hilfe meistern?“

„Äh, ja.“

„Warum glaubst du, dass ich das schaffen würde?“

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