Der Liebesschwur des Lords

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Sir Gideon! Als die zarte Callie den stolzen Reiter erblickt, fällt sie in tiefe Ohnmacht - und kommt in seinen starken Armen wieder zu sich. Leidenschaftlich küsst Gideon sie, genau wie damals, als sie sich stürmisch liebten. Aber warum ist der adlige Verführer nach neun Jahren zurückgekehrt? Gibt er sie noch nicht verloren?


  • Erscheinungstag 09.09.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733719357
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Wo befindet sich also dieses Cataret House, diese Schule, an die Sie sich erinnern würden, wenn die Hitze Sie nicht so verwirrt hätte?“, fragte Sir Gideon Laughraine, sonst auch als Mr. Frederick Peters bekannt.

Der Mann, den er gefragt hatte, kratzte sich am ergrauten Kopf und zuckte mit den Schultern, während Gideon einen Fluch unterdrückte und sich fragte, ob wohl irgendjemand sonst sich an diesem drückend heißen Nachmittag auftreiben lassen würde. Aber er konnte sich wohl keine großen Hoffnungen machen. Bei dieser Hitze hielt sich jeder vernünftige Mensch, der nicht unbedingt im Freien sein musste, in seinem Haus auf. Also suchte Gideon in seiner Westentasche nach einer Münze und hielt sie hoch, um das Gedächtnis des Mannes aufzufrischen.

„Da drüben isses“, gab der Mann schließlich mit einem Nicken zu und wies auf ein Farmhaus auf der anderen Seite des Tals, das aussah, als hätte es eine zu hohe Meinung von sich. „Wahrscheinlich werden Sie das alte Mädchen im Haus finden, aber die junge Miss ist vor einer halben Stunde den Weg nach Manydown hinuntergegangen.“

Gideon verbiss sich eine heftige Antwort und warf dem listigen alten Schelm die Münze zu, bevor er sein müdes Pferd wendete und den Schritten der jungen Miss folgte.

„Ich hätt’s auch nicht so eilig, dem alten Besen zu begegnen, Mister“, meinte der Alte und schlurfte weiter, um seinen unverhofften Geldsegen im hiesigen Wirtshaus auszugeben.

„Not kennt kein Gebot“, sagte Gideon grimmig, der sich wirklich nicht besonders auf diese Begegnung freute, doch dann vergaß er das „alte Mädchen“ und fragte sich, was das junge wohl gerade tun mochte.

Würde sie bei seinem bloßen Anblick erblassen und ein Gesicht machen, als wäre ihr der Teufel auf den Fersen, oder ihm jenes entzückende Lächeln schenken, das ihm selbst nach all diesen Jahren noch den Atem raubte, wenn er sich daran erinnerte? Wer konnte es schon sagen? Lady Virginia Winterley hatte gewiss recht: Er musste herausfinden, ob seine Frau ihn jemals wieder anlächeln würde, und zwar nicht nur, wenn er von ihr träumte.

Lieber Junge, hatte seine alte Gönnerin und Freundin den Brief begonnen, in dem sie die dritte der vier Aufgaben mitteilte, die nach ihrem Tod die jeweils folgende Jahreszeit einläuteten. Er hatte nicht geahnt, dass er zu jenen Unglücklichen gehörte, denen Lady Virginia entschlossen gewesen war, Gutes zu tun. Erst als die neue Lady Farenze ihm den Brief überreicht hatte, war ihm klar geworden, dass er in den folgenden drei Monaten ihren Wunsch erfüllen musste.

Ich bin davon überzeugt, dass Sie sehr überrascht sein werden, von der lieben Chloe zu erfahren, dass Sie der Nächste auf meiner Liste sind.

Nun, da haben Sie verdammt recht, Mylady, dachte er kopfschüttelnd. Sie hatte ihn wieder überlistet.

Sie sind der heimliche Enkel meines geliebten Virgil, und nur aus Rücksicht auf Ihren Cousin, Lord Laughraine, war es uns nicht möglich, Sie öffentlich anzuerkennen. Wenn wir es getan hätten, hätte es ihm den einzigen legalen Erben genommen, dem er Titel und Güter vermachen konnte. Und wir beide lieben und respektieren Charlie Laughraine zu sehr, um ihm oder Ihnen so etwas anzutun. Ich weiß, die wahren Umstände Ihrer Geburt müssen eine Prüfung für Sie gewesen sein, seit Sie alt genug waren, um zu begreifen, was die Klatschmäuler über die wahre Abstammung Ihres Vaters sagten. Aber für mich sind Sie ein großer Trost.

Ich werde immer froh sein, dass ich die Zeit hatte, Sie von einem ruhelosen, unglücklichen Jungen zu dem großartigen Mann aufwachsen zu sehen, der Sie heute sind. Selbst wenn ich es ohne meinen geliebten Virgil an meiner Seite tun musste. Es war ein solches Vergnügen zu sehen, wie Sie allein Ihren Weg im Leben fanden, so wie auch Virgil es getan hätte, das weiß ich, wäre er nicht mit einem Titel und einem riesigen Vermögen geboren worden.

Ich kann nicht ausdrücken, wie sehr ich meinen Mann liebte, und als ich Sie in mein Leben brachte, geschah es aus rein selbstsüchtigen Gründen, denn Sie sind ihm so ähnlich in Dingen, die weit über das rein Äußerliche hinausgehen. Zwar gibt es auch diese Ähnlichkeit zwischen Ihnen, wenn ich auch glaube, dass James ihm im Aussehen näher kommt als Sie, lieber Gideon. Sie besitzen nicht nur einen scharfen Verstand, sondern auch ein treues Herz und ein freundliches Wesen, und es war ein unbeschreibliches Vergnügen für mich, Sie in den letzten Jahren besser kennenzulernen. Virgil war es leider nicht vergönnt, so sehr er Ihren Vater bat, ihn doch seinen Enkel sehen zu lassen.

Ich glaube, Esmond hätte alles getan, um seinem leiblichen Vater wehzutun, und er tat es, indem er dem Mann seinen Enkel vorenthielt, dem er die Schuld am Unglück seines Lebens gab.

Gideon lenkte seine Gedanken schnell in eine andere Richtung. Wegen Virgil oder Esmond konnte er nichts mehr unternehmen, stattdessen wollte er sich lieber Gedanken um seine Frau machen. Callie hatte sich weit vom Haus ihrer Tante entfernt an diesem verteufelt heißen Tag. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, als er daran dachte, was sie wohl zu seinem treuen Herzen und der Freundlichkeit zu sagen hätte, die Lady Virginia so sehr in ihrem Brief lobte. Wohl nichts Schmeichelhaftes, da war er sicher. Wieder fragte er sich, was so wichtig sein konnte, dass Callie an diesem drückend heißen Nachmittag das Haus verließ. Traf sie sich mit einem Liebhaber? Ein schmerzhafter Stich der Eifersucht durchzuckte ihn.

Nach ihrem letzten eisigen Brief, in dem sie ihm befohlen hatte, sich nie wieder mit ihr in Verbindung zu setzen, und nach neun Jahren des Schweigens würde sie ihn gewiss nicht willkommen heißen. Aber Lady Virginia hatte recht, zum Kuckuck mit ihr. Er überprüfte die Tasche seines Mantels, der quer über seinem Sattelknauf lag, und hörte das beruhigende Rascheln des Papiers. Ein ungewöhnlicher Anwalt wie er brauchte oft einen sicheren Ort für wichtige Briefe, aber dieser Brief war ein zweifelhafter Segen, und sein Inhalt ging ihm einfach nicht aus dem Sinn.

Ich weiß, von Ihnen verlange ich mehr als von meinem lieben Luke oder von Tom Banburgh, meinem geliebten Patensohn. Übrigens hoffe ich, Sie haben beide in den vergangenen sechs Monaten als wahre Verwandte und treue Freunde kennengelernt, denn Sie mussten viel zu lange ohne sie leben.

Nun, Ihre Aufgabe ist es, Ihre Frau zu finden, mein lieber Junge, und sie nach ihrem Herzenswunsch zu fragen. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob sie Ihnen zuhören oder großzügig genug sein wird, Ihnen zu antworten, aber Sie müssen herausbekommen, ob es noch eine Hoffnung gibt für Ihre Ehe, oder ob Sie ihr ein würdiges Ende machen müssen. Wenn Sie so weitermachen wie bisher, werden Sie für den Rest Ihres Lebens ein gequälter, einsamer Mann sein, und ich wünsche mir so sehr, Sie mögen glücklich werden.

Ich hatte das unvorstellbare Glück, den Mann zu finden, den ich von ganzem Herzen lieben konnte und mit dem ich sogar so viele Jahre zusammen verbringen durfte. Aber Sie beide lernten sich kennen und verloren einander, noch bevor Sie richtig aus dem Schulzimmer heraus waren.

Suchen Sie das arme Mädchen auf, Gideon, und bringen Sie in Erfahrung, ob Sie zusammen leben können. Wenn nicht, dann willigen Sie in eine Trennung ein. Ich persönlich bin der Meinung, zwei so dickköpfige, eigenwillige Menschen sind wie geschaffen füreinander.

Was Sie mit Raigne und dem großartigen Erbe zu tun gedenken, das Ihnen als letztem Laughraine zusteht, überlasse ich ganz Ihnen. Charles Laughraine war niemals auch nur im Geringsten wie Ihr angeblicher Großvater und auch nicht wie sein Onkel. Ich hielt Sir Wendover Laughraine für einen der gefühllosesten, herzlosesten Männer, denen ich je begegnet bin, aber sein Neffe ist ein ganz anderer Mensch. Da Sie ihn Ihren Onkel Charles nannten, seit Sie sprechen konnten, muss ich davon ausgehen, dass Sie wissen, wie glücklich er darüber ist, Sie zu seiner Familie zählen zu dürfen – wie die wahren Umstände auch sein mögen.

Zweifellos wird Ihre Frau ihren eigenen Weg gehen, aber da wir beide wissen, dass sie Lord Laughraines leibliche Enkelin ist, schuldet sie wenigstens ihm eine Erklärung, auch wenn sie vielleicht nicht bereit sein wird, Sie anzuhören. Die Zukunft eines so großen Anwesens und all jener, die davon abhängig sind, muss entschieden werden, bevor noch sehr viel mehr Jahre ins Land ziehen. Ich wünschte, es könnte anders sein, und glauben Sie mir, Virgil wäre entzückt gewesen, Sie offen als seinen Enkel anzuerkennen, obwohl Ihr Vater jeden Bezug zu seiner eigenen illegitimen Geburt verabscheute und nichts davon hören wollte.

Charlie Laughraine ist nun fast so alt wie ich in diesem Moment, und die Zeit wird Sie drei Dummköpfe noch einholen, wenn Sie nicht aufpassen. Jetzt möchte ich Sie nur noch warnen, niemals unbesehen zu glauben, was jene Tante Ihrer Frau von sich gibt. Überprüfen Sie, warum Ihre junge Liebe so ein tragisches Ende fand.

Schütteln Sie nicht wieder den Kopf über mich, Gideon Laughraine, denn ich weiß, wie sehr Sie sich nach der Liebe Ihres Lebens sehnen, und das seit Sie sie vor zehn Jahren verloren. Gestehen Sie es sich ein, mein Junge. Danach brauchen Sie nur herauszufinden, ob Ihre Frau dieselbe Sehnsucht mit Ihnen teilt, und etwas dagegen zu unternehmen.

Gideon wünschte fast, er könnte den Brief seiner alten Freundin vergessen und nach London zurückreiten, so schnell sein Pferd ihn tragen konnte. Er würde sein recht angenehmes Leben fortführen, das er sich ohne seine Frau und die Familie, die sie hätten haben können, dort geschaffen hatte. Was für ein Narr war er doch gewesen, Lady Virginias Bitte nachzukommen und den anderen drei Opfern während dieses „Jahres des Staunens“, wie sie es genannt hatte, mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

Wie hatte er glauben können, er könnte unberührt bleiben, selbst ohne diesen letzten völlig unerwarteten Paukenschlag? Nein, korrigierte er sich schließlich, es waren keine Opfer. Die ersten beiden Aufgaben hatten Luke Winterley und Tom Banburgh zu den stolzen Gatten ihrer zwei geliebten neuen Frauen verwandelt. Also hatte Lady Virginia bereits zwei Triumphe für sich zu vermerken. So wie er allerdings sich und James Winterley kannte, standen ihr zwei große Enttäuschungen bevor – falls sie von dort oben alles verfolgen konnte. Hätte sie doch nur ihre Energie auf zwei Männer verwandt, die ihrer Aufmerksamkeit würdig gewesen wären, und hätte ihn selbst und Winterley auf ihre Weise zum Teufel gehen lassen.

Als sie an diesem Nachmittag resolut aus dem Haus gegangen war, hatte Callie die Absicht gehabt, so schnell wie möglich nach Manydown zu gehen, um rechtzeitig zurückzukommen, bevor irgendjemand ihre Abwesenheit bemerkte. Aber diese feuchte Hitze überwältigte sie. Sie setzte ihren Weg, wenn auch langsamer, fort, obwohl sie sich insgeheim sagte, dass sie ihren Traum für heute aufgeben und nach Cataret House zurückkehren sollte. Die traurige Wahrheit war jedoch, dass sie keinen weiteren Nachmittag in untätiger Langeweile ertragen konnte, jetzt da ihre Schüler für den Sommer zu ihren Familien oder ihren Freunden gereist waren. Nach einer Woche in dieser Hitze und gezwungen, ständig nach der Pfeife ihrer Tante tanzen zu müssen – schließlich konnte sie sich nicht mit anderen Aufgaben herausreden –, hatte Callie das Gefühl, sie müsse das Haus sofort verlassen, wenn sie sich nicht sehr heftig mit ihrer Tante streiten wollte.

Es war nicht richtig von ihr, sich wie eine Gefangene vorzukommen, sobald die Schule sie nicht von solchen Gedanken ablenkte. Tante Seraphina hatte schon recht gehabt: Sie beide hatten vor neun Jahren ein neues Leben beginnen müssen. Fast gleichzeitig waren sie von zwei sehr unterschiedlichen Ehemännern enttäuscht und im Stich gelassen worden. Warum sollten sie also nicht ihre begrenzten Mittel zusammenlegen und ein Haus mieten, das groß genug war, um auch als Schule zu dienen? Damals war ihr die Idee so wunderbar vorgekommen. Sie konnten von ihren bescheidenen Einnahmen leben, und Callie konnte fünfzehn jungen Mädchen von unterschiedlichen Talenten und guter Herkunft helfen, etwas über die Welt zu lernen – oder zumindest so viel Wissen zu vermitteln, wie jungen Damen erlaubt war. Ihr Leben war damals leer und hoffnungslos gewesen, und Tante Seraphinas Idee ein Geniestreich. Aber jetzt flüsterte ihr eine innere Stimme zu: Ist das alles?

Nein, Callie wollte nicht darauf hören. Sie hatte die Gefühlsturbulenzen einer großen Liebe erlebt, die sich am Ende jedoch lediglich als ein großer Fehler erwiesen hatte, denn sie hatte jedem wehgetan, der ihr etwas bedeutete. Die Schule brachte genügend ein, und ihre Schülerinnen waren glücklich. Wenn zukünftige Ehefrauen und Mütter ein wenig klüger wurden, weil sie von ihr unterrichtet worden waren, dann würde die Welt sich vielleicht irgendwann ändern und in einer Frau mehr sehen als das willenlose Eigentum ihrer Männer, Väter oder Brüder. Hier konnte sie sich nützlich machen und war allgemein als die altjüngferliche Miss Sommers bekannt, und die meiste Zeit reichte es ihr auch. Vor neun Jahren war es ihr unmöglich gewesen, den Misserfolg ihrer Ehe mit sich herumzutragen wie einen Beweis für ihre Dummheit. Also rief sie sich jetzt resolut in Erinnerung, warum sie ihre Jugendnarrheit vergessen wollte, und musste selbst bei dieser Hitze schaudern.

Meistens brachte es ihr ja auch Spaß, den Töchtern anderer Leute etwas beizubringen, und zusätzlich zu dem klassischen Kanon, den Callie unterrichtete, kamen noch ein Tanzlehrer und eine Musiklehrerin in die Schule. Callie selbst hatte den Unterricht des verstorbenen Reverend Sommers mit sehr viel größerer Begeisterung verfolgt als seine eigenen Töchter. Während der Sommermonate fiel es ihr einfach nur schwer, etwas mit sich anzufangen, und so musste sie sehr viel öfter Gedanken an längst vergangene Zeiten voller Leidenschaft und Kummer verdrängen, und das gelang ihr nur, wenn sie sich irgendwie beschäftigte.

Aber auch der Spaziergang in der brütenden Sonne schien sie nicht genügend zu zerstreuen – höchste Zeit also, sich in ihre Tagträume zu flüchten. So schaffte sie es wenigstens, Tante Seraphinas ärgste Standpauken zu ignorieren. Das war schon so gewesen, als sie noch ein kleines Mädchen war. Die Hoffnung, ihr Leben zu verändern, hatte sie zu dem Versuch getrieben, mit ihrem Schreiben mehr zu erreichen, als sie sich vorzustellen gewagt hatte, als sie das erste Mal zur Feder griff.

Nur war es gewiss besser, nicht darüber nachzudenken, welche Antwort am Postamt auf sie wartete – Callies letzte Korrespondenz mit einem möglichen Verleger. Irgendwie musste sie sich aus diesem fürchterlichen Hin und Her zwischen Hoffnung und Furcht befreien.

Seufzend schob sie ihren uralten Strohhut zurecht. Wenigstens konnte Tante Seraphina ihr nicht vorwerfen, sie würde sich ihren Teint in der Sonne zerstören. Doch Callie träumte von exotischen Orten, seidigen Kleidern und herrlichen, kühlen Palästen. Es würde sich so sinnlich und wundervoll sündig anfühlen, barfuß über einen glatten Marmorboden zu gehen. Einen Moment lang spürte sie fast den kühlen Stein unter ihren Füßen, doch gleich danach wurde ihr bewusst, wie heiß und verschwitzt sie sich wirklich fühlte.

Es war fast neun Jahre her, seit Großvater Sommers sich bei Tante Seraphinas ungeliebtem Mann angesteckt hatte und an einem Fieber gestorben war. Als Reverend Sommers seinem wertlosen Schwiegersohn ins Grab gefolgt war, hatte sie nichts mehr in King’s Raigne gehalten. Das Dorf zu verlassen, in dem sie aufgewachsen war, bedeutete damals, dass Callie wieder sie selbst sein konnte. Es war ein recht gewöhnlicher Name, und da niemand nach ihr suchen würde, nannte sie sich einfach wieder Miss Sommers, unvermählt, und Tante Seraphina wurde Mrs. Grisham mit einem erfundenen Ehemann, um den sie trauern konnte, wann immer die Nachbarn zu einem Plausch vorbeikamen. Sie befanden sich weniger als zwanzig Meilen von Raigne entfernt, und doch war es, als wären sie eine ganze Welt von dem berühmten, großartigen Herrenhaus und dessen umliegenden Dörfern entfernt.

Besser, sie dachte nicht an ihr altes Leben, denn selbst nach neun Jahren fürchtete sie den Schmerz und Kummer, die die Erinnerung in ihr wecken würde. Was hatte sie eben noch überlegt? Ach ja, dass sie ohne Strümpfe unterwegs war – teilweise aus Sparsamkeit, teilweise weil es einfach zu heiß war, um welche anzuziehen. Vielleicht gab es hinter der Fassade der Schulmeisterin doch noch immer die alte impulsive Callie, also konzentrierte sie sich aufs Gehen und ihre Suche, aber es war zu heiß und der Weg zu vertraut, als dass sie sich wirklich davon ablenken lassen könnte.

In jedem Fall war es unmöglich, sich kühn und sinnlich zu fühlen oder sich gar nach einem aufregenden Liebhaber zu sehnen, wenn einen das Gewicht von Chemise, Korsett, Unterkleidern und dem strengen, respektablen Leinenkleid belastete. Und trotzdem konnte sie das Bild des ersehnten Liebhabers nicht ganz aus ihren Gedanken vertreiben. Nach neun Jahren war er außerdem gewiss nicht mehr der Mann, in den sie sich damals verliebt hatte. Sollte ihr Mann jetzt plötzlich vor ihr stehen, würde sie ihn wahrscheinlich gar nicht wiedererkennen. Der Gedanke an die schmerzhaften Auseinandersetzungen und das böse Schweigen, bevor sie sich trennten, veranlasste sie dazu, sich in dem Leben einer imaginären Callie zu verlieren, die sich nach einem ganz anderen Geliebten sehnte als ihr wahres Ich. Wo hatte sie da noch aufgehört?

Ah ja, sie verzehrte sich nach ihm, obwohl sie lediglich einige Stunden von ihm getrennt war. Diener fächelten ihnen kühle Luft zu in jenem Marmorpalast unter der erbarmungslosen Sonne. Sie selbst entfernte sich von den Hofdamen, die den brütend heißen Nachmittag mit Klatsch und Tratsch vertrödelten, während sie darauf warteten, dass die Welt sich wieder in Bewegung setzte. Der Duft exotischer Blumen und seltener Gewürze erfüllte die Nachtluft, und der wilde Rhythmus der Musik drängte die Menschen zum Tanzen und versprach ihnen Aufregung und Leidenschaft und Verlangen. Am folgenden Tag würden selbstverständlich alle erschöpft sein und den gesamten Nachmittag durchschlafen, damit sie am Abend wieder tanzen könnten. Doch es würde wunde Füße und das Warten auf die Nacht wert sein, um sich dann wieder wundervoll lebendig zu fühlen in den Armen des Geliebten.

Natürlich wusste Callie, dass sie in Wirklichkeit kein so skandalöses Leben führen konnte, wenn sie nicht von der Gesellschaft ausgeschlossen werden wollte. Ihre Tagträume würden Tagträume bleiben müssen. Sie seufzte und spürte wieder, wie verschwitzt und schmutzig sie war. Was würde die lebhafte siebzehnjährige Callie Sommers jetzt von ihrem älteren, klügeren Ich halten? Wohl nicht sehr viel, sagte sie sich bedrückt und wünschte, sie könnte zurückgehen und den allzu unbedachten Dummkopf von damals warnen, nicht so viel zu träumen, nicht so leidenschaftlich zu sein.

Achselzuckend verdrängte sie ihre Erinnerungen, die sich nicht ändern ließen, so sehr sie es auch wünschte, und sie unterdrückte den Wunsch, ihren Strohhut in das nächste Gebüsch zu werfen und sich weniger von ihrem Dasein als eingefleischte Junggesellin erstickt zu fühlen. Stattdessen löste sie nur die fadenscheinigen Bänder und vernahm ein schwaches Lüftchen auf ihrer feuchten Haut. Sehnsüchtig stellte sie sich vor, sie könnte mit nackten Füßen in einen kühlen, nach Rosen duftenden See schreiten. Ihre imaginäre Callie spürte, wie sie von herrlicher Kühle und eindrucksvollem Luxus umgeben wurde, und wusste, dass sie von dem Herrn dieser Pracht mehr geliebt und geschätzt wurde als alle Reichtümer.

Doch das war die gefährlichste Fantasie, der sie sich hingeben konnte. Callie schüttelte den Kopf, um die Fantasie zu verscheuchen. Sie durfte nicht den Kopf verlieren, wenn sie ihre Post abholen und wieder zu Hause sein wollte, bevor man sie vermisste. Also keine Tagträume mehr, bis sie auf ihrem Zimmer war und in Ruhe an ihrem nächsten Buch arbeiten konnte. Heute war selbst ihre Tante der Hitze erlegen, und Callie hatte dieses eine Mal die Freiheit gehabt, zu tun und zu lassen, was sie wollte. Also hatte sie die Gelegenheit genutzt, um herauszufinden, ob der Roman, an dem sie heimlich so hart gearbeitet hatte, veröffentlicht werden würde. Es lohnte sich somit, sich in der Hitze auf den Weg zu machen, um zu erfahren, ob Mr. Redell bereit sein würde, ihr Buch herauszugeben.

Trotz der Hitze brachte sie es fertig, aufgeregt bei der Vorstellung zu hüpfen, er könnte von ihrem Werk angetan sein. Er hatte ihr selbstverständlich Änderungen und Verbesserungen vorgeschlagen, aber sie immerhin auch nicht glattweg abgelehnt. Vielleicht würde sie genug verdienen können, um sich eines Tages ein kleines Cottage zu mieten, die Gesellschaft einiger Freunde zu genießen, sich die Finger mit Tinte zu beschmutzen, wann immer ihr danach war, und einen kleinen Garten zu haben, der sie mit Gemüse und Obst versorgen würde. Es war eine so verwegene Vorstellung, dass sie nicht das Pferd hörte, das sich ihr von hinten näherte, bis es so dicht gekommen war, dass es vor ihrem bescheidenen Strohhut scheute.

Sein Reiter schalt sein Pferd einen dämlichen Esel und schickte ihn zum Henker, womit er Callie unsanft aus ihrem Tagtraum riss. Zutiefst entsetzt über diese ganz bestimmte Männerstimme, erstarrte sie. Nein, sie würde sich nicht umdrehen, obwohl er sich gerade bei ihr entschuldigte. Sie musste sich irren. Sie musste einfach. Gideon war Meilen von hier entfernt, sehr wahrscheinlich in London, und dieser Mann war ein Fremder. Und so wandte sie sich zögernd um, um sich zu beruhigen, dass sie sich das Schlimmste nur eingebildet hatte. Doch wieder irrte sie sich.

„Zum Teufel“, brachte sie tonlos hervor.

Sie spürte regelrecht, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, der Kopf fühlte sich plötzlich seltsam leicht an, und dann klopfte ihr Herz so laut weiter, dass sie glaubte, Gideon müsste es hören. Ein kalter Schauder überlief sie – ausgerechnet am heißesten Sommertag in diesem Jahr.

„Wie zimperlich von mir“, sagte sie schwach, aber weder Willenskraft noch Stolz konnten verhindern, dass sie zu wanken begann. Gideon. Es war wirklich Gideon.

Nach all den Jahren, in denen sie sich jede Nacht nach ihm gesehnt hatte – so viel unnützes Verlangen –, nur um sich dann zu wünschen, sie wäre ihm nie begegnet, nach all diesen Jahren war er wieder da. Es war mehr, als sie ertragen konnte. Callie fiel in Ohnmacht und ließ sich von einer barmherzigen Dunkelheit umhüllen, in der sie ihn nicht sehen musste.

2. KAPITEL

Gideon bemühte sich, sein erschöpftes Pferd zu beruhigen. Die Frau, die er auf Lady Virginias Befehl hin aufsuchen sollte, um sich mit ihr zu versöhnen, war bei seinem Anblick prompt in Ohnmacht gefallen und hatte sein verflixtes Pferd in noch größere Angst versetzt, als sie zu Boden sank. Während er versuchte, seinen aufgeregten Hengst zu zügeln, klopfte sein Herz vor Angst, so dicht neben ihrem eigenwilligen Kopf schlugen die harten Hufe auf.

„Und ich fürchtete, ich würde dich nicht finden können“, stieß er zwischen leisen Flüchen hervor und brachte endlich das erschrockene Tier zum Stehen.

Niemand konnte der Calliope Sommers, die er gekannt hatte, vorwerfen, dass sie leicht die Fassung verlor. Gideon wurde das Herz schwer. Er musste ein weit größerer Schurke sein, als er geglaubt hatte, wenn seine Frau schon in Ohnmacht fiel, wenn sie ihn nur sah – und das neun Jahre, seit sie sich das letzte Mal begegnet waren. Welche Hoffnung bestand also noch für ihn und seine schwarze Seele?

„Auch Ihnen einen schönen Tag, Lady Laughraine“, meinte er trocken und fragte sich, was seine vornehmen Klienten von der wahren Identität ihres „Mr. Frederick Peters“ halten würden.

Jetzt war es zu spät, wieder fortzureiten und Callie die Begegnung mit ihrem ärgsten Albtraum zu ersparen, also besänftigte er sein Pferd und vermied es, seine Frau anzusehen, bevor sein Atem sich ebenfalls so gut wie möglich beruhigt hatte. Die bittere Gewissheit, dass sie ihm einst geschrieben hatte, er solle sie nie wieder behelligen, so lange er lebte, ließ ihn zusammenzucken, als hätte sie die harten Worte gerade erst zu Papier gebracht. Sie hatte seitdem keinen einzigen seiner Briefe beantwortet, also glaubte sie noch immer, dass er der Grund für all ihr Leid war. Dennoch konnte er nicht einfach weiterreiten und sie hier schutzlos liegen lassen, wo jeder Dummkopf über sie stolpern könnte.

Gideon sprang vom Pferd und hockte sich neben seine Frau. Sein Herz klopfte noch immer wild, tiefe Furcht um ihre Verfassung schnürte ihm die Kehle zu – deutliche Zeichen, dass sie ihm noch immer alles bedeutete. Er bemerkte besorgt die Schatten unter ihren Augen, und dann ruhte sein Blick auf ihren dunklen Wimpern und er erinnerte sich, wie oft er sie an seinen Wangen gespürt hatte, wenn Callie nach einer Liebesnacht ermattet die Lider gesenkt hatte. Nein, daran durfte er nicht denken, wenn er bei Verstand bleiben wollte. Ihr Gesicht war weicher, runder geworden, nicht zu vergleichen mit dem dünnen Mädchengesicht von damals. Seine verspielte Callie war erwachsen geworden, und er war nicht hier gewesen, um es mitzuerleben.

Die alte Callie war lebhaft und entzückend gewesen mit ihrem schimmernden dunklen Haar, das sich aus jeder Frisur befreite, mit der sie es zu zähmen versucht hatte. Ihre dunkelbraunen Augen waren voller Energie und blitzten meist voller Schalk oder Leidenschaft, während sie ihn drängte, mit ihr mitzuhalten. Als hätte er eine Ermunterung nötig gehabt. Er hatte sie wirklich sehr geliebt. Selbst jetzt konnte es keine Frau mit ihr aufnehmen. Gideon hatte wahre Schönheiten kennengelernt, und einige von ihnen waren zu guten Freunden geworden, aber sie konnten der Callie, in die er sich einst verliebt hatte, nicht das Wasser reichen. Seine junge Geliebte war ebenso lebendig und abenteuerlich gewesen wie lieblich, und es versetzte ihm einen schmerzhaften Stich zu sehen, wie wenig davon in dieser allem Anschein nach so respektablen Frau, die vor ihm auf der Erde lag, noch zu sehen war.

Er suchte atemlos nach einem Anzeichen, dass sie wieder zu Bewusstsein kommen würde. Oder redete er sich das nur ein, um sie ausgiebig anstarren zu können? Ihre üppigen Rundungen wurden noch betont von der winzigen Taille, die er umfasst hatte, wann immer er ihr bei ihren heimlichen Begegnungen vom ruhigen Grauen seines Großvaters heruntergeholfen hatte. In seinen Jahren als Büroschreiber hatte er sich sehr abmühen müssen, um ihr eine gewisse Summe Geldes schicken zu können, erst später als eher ungewöhnlicher Anwalt hatte er diese Summe erheblich erhöhen können. Allerdings fragte er sich, was sie damit angefangen hatte, denn für Kleidung hatte sie das Geld ganz offensichtlich nicht ausgegeben.

Ihr Kleid war so oft gewaschen worden, dass das weiße Baumwollunterkleid etwas fadenscheinig war und das schlichte Blumenmuster verblasst. Und er bezweifelte, dass es selbst dann besonders modisch gewesen war, als Callie angefangen hatte, es zu tragen. Das Erschrecken über ihre plötzliche Ohnmacht ließ ihn vielleicht über eher unwichtige Dinge nachgrübeln, aber er war dennoch entschlossen, diesem Rätsel auf den Grund zu gehen, sobald ihr Zustand es zuließ. Allerdings war es auch wirklich sehr heiß, also hatte sie vielleicht auf ihrem Spaziergang in dieser Hitze einfach keines ihrer guten Kleider anziehen wollen.

„Was zum Henker geht hier vor, Callie?“, flüsterte er, band sein Pferd an einen Baum und blickte seiner Frau stirnrunzelnd in das blasse Gesicht.

Sie sah herzzerreißend verletzlich aus, so wie sie im Staub lag. Das Heben und Senken ihrer Brust zeigte ihm, dass sie ruhig atmete, aber sie war schon viel zu lange bewusstlos. Am liebsten hätte er sie hochgehoben und vor jeder Bedrohung beschützt, die das Leben ihr bringen würde – selbst wenn sie sich wahrscheinlich keine üblere als ihn selbst vorstellen konnte. Sie hasste ihn ja sogar so sehr, dass sie ohnmächtig wurde, um ihm nicht begegnen zu müssen.

Er stellte sich so vor sie, dass er sie vor den Sonnenstrahlen schützte, und betrachtete ihr schmerzlich vertrautes, herzförmiges Gesicht, bevor er den Blick abwandte. Er würde es nicht ertragen, wenn sie erwachte und ihn voller Abscheu ansah, sobald ihr klar wurde, dass er nicht nur ein böser Traum war. Seine Frau lag bewusstlos zu seinen Füßen, und selbst jetzt begehrte er sie mit jeder Faser seines Körpers wie ein grüner Junge. Scham erfüllte ihn. Aber er fühlte sich auch zum ersten Mal, seit er sie verlassen hatte, wieder wundervoll lebendig, wenn seine Verzweiflung auch von Moment zu Moment zunahm. Jetzt lächelte sie in ihrem Traum, in einer Welt, in der sie Ruhe vor ihm hatte. Er unterdrückte den Wunsch, gereizt zu knurren, und brütete stattdessen über eine Vergangenheit nach, die sich nun einmal nicht ändern ließ.

Callie schwebte auf einer dicken Wolke aus Federn, während Engel ihr ins Ohr flüsterten. Einen Augenblick lang glaubte sie tatsächlich, Gideon sei ihretwegen zurückgekommen, also war es nur verständlich, dass sie Engel hörte. Aber warum klang der eine von ihnen so verärgert? Und trugen Engel lange Stöcke aus Ebenholz und hatten schneeweißes Haar und durchdringende dunkelbraune Augen? Ihr mürrischer Engel runzelte die Stirn und meinte, dass es nicht verwunderlich sei, dass er verstimmt sei, da er sich um zwei Narren wie sie und Gideon kümmern musste, während er sehr viel wichtigere Dinge zu tun habe.

Sich wie ein zimperlicher Schwachkopf zu benehmen hat noch nie Probleme aus der Welt geschafft, junge Dame. Vierzehn Tage von Gideons drei Monaten hat er bereits mit seinem dummen Zaudern verplempert. Man soll schlafende Hunde nicht wecken – Mumpitz! Was denkt der Junge sich nur dabei? Es hat keinen Sinn, so etwas zu tun, wenn sie dabei sind, ihr Leben zu verschlafen. Wach also sofort auf, mein Kind. Du bist nicht mehr glücklich gewesen, seit du ihn weggeschickt hast, also steh auf und stell dich ihm!

Womit die Erscheinung ihre strenge Standpauke beendete, und Callie sah ein, dass es wirklich besser sei, jetzt aus ihrer Ohnmacht zu erwachen.

Ihre Wolke verpuffte, und fast sofort spürte Callie den viel zu harten Boden unter ihrem Rücken. „Geh weg“, brachte sie krächzend hervor. Sie lag ja vielleicht auf einem staubigen Weg und träumte von unmöglichen Dingen, aber noch wollte sie der Wirklichkeit nicht die Stirn bieten.

„Ich wünschte, ich könnte“, antwortete Gideon, und der vertraute Klang seiner Stimme ließ Callies Herz schneller schlagen.

Schließlich gab sie sich einen Ruck und öffnete die Augen, um nicht zu lange über das Bedauern in seiner Stimme nachdenken zu müssen.

„Was tust du hier?“, fragte sie und schüttelte verständnislos den Kopf. Dunkle Flecken tanzten ihr vor den Augen wie eine Warnung, dass man über gewisse Überraschungen nicht so schnell hinwegkam. Also legte sie sich behutsam wieder hin, bis sie verschwanden.

„Direkt wie immer“, sagte ihr Gatte müde.

Sie sah zu ihm auf und entdeckte Sorge und Enttäuschung in seinen graugrünen Augen, traute sich aber noch immer nicht aufzustehen. Vielleicht würde sie in einem Moment oder zwei den Mut und die Gelassenheit aufbringen können – oder vielleicht auch niemals, fügte eine skeptische innere Stimme hinzu. Callie war nicht sicher, ob es ihre war oder die des strengen Engels, von dem sie gerade geträumt hatte.

„Wenn du es zulässt, von mir getragen zu werden, könntest du im Schatten besser zu dir kommen.“

„Dann mach schnell“, befahl sie ihm und winkte herrisch mit der staubigen Hand wie eine besiegte Königin.

„Euer Wunsch ist mir Befehl, Euer Hoheit“, scherzte er und hob sie hoch, als würde sie nicht mehr wiegen als eine Feder.

Callie wusste, dass sie alles andere als leicht war, und spürte seine Kraft, als er sie von der Erde hob, ohne auch nur zu ächzen vor Anstrengung. Und war es richtig von ihr, seine kühle Gelassenheit beleidigend zu finden? Der Gideon, an den sie sich erinnerte, war wie ein offenes Buch für sie gewesen, dieser Mann war ihr ein Rätsel. Dennoch reagierte ihr Körper auf seinen, als würde er ihn wiedererkennen, aber sie durfte auf keinen Fall zulassen, dass Callie, die Geliebte, die Frau, voller Sehnsucht und Verlangen in ihr erwachte. Entsetzt wand sie sich in seinen Armen, sodass er sie verärgert aufforderte, stillzuhalten, wenn sie nicht wollte, dass er sie fallen ließ.

Früher einmal war er ihre Sonne gewesen, der Grund für sie, morgens aufzustehen und abends ins Bett zu gehen – wobei sie sich nicht immer viel Zeit nahmen, auch zu schlafen. Aber gewiss war sie doch klug genug, sich nicht ein zweites Mal in ihn zu verlieben, oder? Doch, natürlich. Sobald sie wieder auf eigenen Beinen stehen konnte, würde sie ihren Weg fortsetzen und ihm beweisen, dass er ihr nicht mehr das Geringste bedeutete.

„Stell mich wieder hin, Gideon“, verlangte sie mit einer atemlosen Stimme, die sie kaum wiedererkannte.

„Du wirst nur stürzen, wenn ich es tue.“

„Unsinn. Es geht mir sehr gut.“

„Nein.“

„Ich wünschte, du würdest mich allein gehen lassen. Ich bin kein Kind“, beschwerte sie sich, obwohl sie zugeben musste, dass sie in diesem Moment wie ein sogar besonders launisches Kind klang.

„Dann hör auf, dich wie eins zu benehmen“, erwiderte er geistesabwesend, als hätte er wichtigere Dinge zu tun, als dafür zu sorgen, dass seine lästige Frau nicht mehr den Weg für andere Reiter versperrte.

„Mir ist schlecht“, sagte sie plötzlich und fragte sich gleichzeitig, was nur in sie gefahren war. Aber die Antwort kannte sie natürlich. Gideon war gelassen und ruhig, während sie das Gefühl hatte, ihre Welt sei auf den Kopf gestellt worden.

„Dann werde ich dich ganz gewiss nicht herunterlassen.“

„Ich habe gelogen“, gab sie errötend zu. „Ich dachte, ein so tadelloser Gentleman wie du würde nicht wollen, dass ich seine feine Seidenweste ruiniere, und mich absetzen.“

„Du kannst es wirklich nicht erwarten, mich loszuwerden, was, Callie?“, sagte er mit einem Zucken um seine Lippen, das man mit sehr viel Fantasie für ein Lächeln halten könnte.

„Ebenso wie du es kaum erwarten kannst, wieder davonzureiten und mich für weitere neun Jahre zu vergessen“, konterte sie giftig, bevor sie sich zurückhalten konnte.

„Du tust mir unrecht, Calliope. Wie könnte ich dich je vergessen?“

Seine Worte kamen ihr wie Spott vor. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, doch der Gedanke, er könnte ihre Spuren auf ihren schmutzigen Wangen sehen, ließ sie zusammenzucken. Sie blinzelte und starrte in den kleinen Wald, auf den er sie zutrug, bis sie sich wieder fest im Griff hatte. Eigentlich sollte sie ihn ebenso leicht vergessen können wie er sie, nur leider war sie nie einem Mann begegnet, der dieselben Gefühle in ihr geweckt hätte wie er.

„Ich kann gehen, weißt du“, erklärte sie gereizt.

„Natürlich kannst du das“, entgegnete er mit einem Lachen in den grauen Augen, deren grüne Sprenkel nur eine Geliebte kennen konnte.

Bei dem Gedanken, wie eng ihre Beziehung einst gewesen war, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Jetzt da er fast wieder vertraut aussah und klang, musste sie an Zeiten denken, in denen sie zufrieden gewesen waren, einfach nebeneinander zu liegen und sich tief in die Augen zu blicken. Allerdings nur bis die Leidenschaft sie übermannt hatte, und sie gemeinsam einen Gipfel der Lust erreichten, der Callie selbst jetzt nach so langer Zeit erschauern ließ.

„Ich möchte, dass du mich sofort herunterlässt“, sagte sie entschieden.

„Ein guter Ehemann bin ich ja vielleicht nicht, aber ich werde nicht zusehen, wie meine Frau in dieser Hitze halb ohnmächtig durch die Gegend torkelt.“

„Unsinn, ich werde sehr gut mit der Sonne fertig.“

„Ja, gewiss“, meinte er nachsichtig.

Wieder glaubte sie, ihn lächeln zu hören. „Der Schreck, dich wiederzusehen, hat meine Ohnmacht verursacht, aber es ginge mir wunderbar, wenn du mich nicht so überrumpelt hättest“, behauptete sie mit finsterer Miene, die allerdings keinerlei Wirkung auf diesen unzivilisierten Menschen zu haben schien.

„Du warst also so entzückt über meinen Anblick, dass du das Bewusstsein verloren hast?“

„Das war kein Entzücken“, fuhr sie ihn an.

„Ich weiß.“

„Und was zum Teufel tust du hier, Gideon?“

„Das klingt schon eher nach der offenherzigen Callie Sommers, die ich kenne. Einen Moment glaubte ich, ich hätte eine andere mit dir verwechselt.“

„Ich bin auch eine andere“, erwiderte sie rau.

„Du fühlst dich aber genau wie sie an“, neckte er sie und rückte sie leicht zurecht, als sie schließlich den kleinen Wald erreichten.

„Nun, ich bin es aber nicht“, meinte sie böse. Und sie war es auch nicht, seit Gideon ihr seinen Ring auf den Finger gesteckt und der Schmied in Gretna Green sie zu Mann und Frau erklärt hatte.

„Du bist Callie Laughraine“, sagte er tonlos.

„Ich habe lange Zeit damit zugebracht, sie zu vergessen, und bin sehr gut ohne Mann zurechtgekommen, der mir nur sagen würde, was ich tun und was ich lassen soll.“

„Als ob ich dich je dazu habe zwingen können, irgendetwas zu tun. Du warst immer selbstständig, und selbst als junger Grünschnabel wollte ich dich auch nie anders haben, Calliope.“

„Ich verstehe einfach nicht, warum meine Mutter mir diesen lächerlichen Namen geben musste“, brummte sie, um zu vergessen, wie sehr er sie geliebt hatte, als sie nach Gretna Green durchgebrannt waren. Es tat so weh, an die Vergangenheit zu denken und sich zu fragen, ob sie gemeinsam ein glückliches Leben gehabt hätten, wenn das Schicksal nicht so grausam mit ihnen gewesen wäre. „Sie hätte mir lieber einen Mühlstein um den Hals binden sollen als mir den Namen einer der neun Musen zu geben.“

„Was für ein Glück also, dass du eine schöne Stimme und eine Vorliebe für die Dichtung hast, genau wie deine Namensvetterin, nicht wahr? Vielleicht mochte deine Mutter den Namen einfach. Genau wie ich.“

„Wie sehr du mich aber damit aufgezogen hast, als du ein abscheulicher, kleiner Junge warst.“ Sie war auf der Hut. Auf keinen Fall durfte sie sich von seinem Geplauder einlullen lassen. Sie musste daran denken, dass sie nie Freunde sein konnten. Dann würde es nicht so sehr wehtun, wenn er schließlich wieder ging, um sich seinem Anwaltsberuf zu widmen.

„Du kannst mich dort drüben herunterlassen“, meinte sie gebieterisch und wies auf einen Baumstumpf.

„Ich werde Euch in den Bach fallen lassen, Euer Majestät, wenn Ihr nicht vorsichtig seid“, antwortete er grimmig.

Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu, als er sie absetzte, als wäre sie aus Porzellan, sich spöttisch vor ihr verbeugte und einen Schritt zurücktrat. „Und jetzt geh“, sagte sie unfreundlich.

„Ich würde nicht einmal deine Tante mitten im Nirgendwo stehen lassen, krank und jedem Schurken hilflos ausgeliefert, der zufällig vorbeikäme, und die habe ich nie gemocht. Wie kannst du also denken, ich könnte dich allein lassen, Callie?“

„Ich bin nicht meine Tante“, verteidigte sie sich unbewusst.

„Wofür ich meinem Herrgott täglich danke, meine Liebe.“

„Nenn mich nicht deine Liebe und lästere nicht.“

Autor

Elizabeth Beacon
Das ganze Leben lang war Elizabeth Beacon auf der Suche nach einer Tätigkeit, in der sie ihre Leidenschaft für Geschichte und Romane vereinbaren konnte. Letztendlich wurde sie fündig. Doch zunächst entwickelte sie eine verbotenen Liebe zu Georgette Heyer`s wundervollen Regency Liebesromanen, welche sie während der naturwissenschaftlichen Schulstunden heimlich las. Dies...
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