Die Braut des anderen

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Hochzeit auf dem Schloss! Als strahlend schöne Braut tritt Victoria dem Duke of Killingsworth entgegen. Die Zweifel in ihrem Herzen, ob dieser leichtfertige Mann, mit dem sie eine arrangierte Ehe eingeht, wirklich der Richtige für sie ist, muss sie nun vergessen! Doch mit dem Jawort ist Robert seltsam verändert: Statt oberflächlich ist er plötzlich ernsthaft und nachdenklich. Auch dass er sie in einer leidenschaftlichen Nacht nicht in die sinnlichen Geheimnisse der Ehe einweiht, verwundert Victoria sehr. Fast scheint ihr, sie hätte einen Fremden geheiratet - den sie erst erobern muss! Sie ahnt nicht, wie recht sie mit dieser Vermutung hat …


  • Erscheinungstag 17.10.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733769345
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

London, 1852

Robert Hawthome betrachtete eingehend das Gesicht, das er seit acht langen Jahren nicht gesehen hatte.

Ein Gesicht, das er nun kaum noch erkannte. Zuletzt hatte er dort nichts weiter erblickt als das ungetrübte Antlitz eines sorgenfreien Lebens – Gesichtszüge, die keine Falten zeigten und weder Tiefe noch seinen Charakter erkennen ließen. Ein Gesicht, auf dem sich das Leben noch nicht hatte einschreiben können. Nun allerdings erzählte es eine Geschichte von unvorstellbarer Grausamkeit.

Die tiefen Falten um Mund und Augen zeugten von großem Leid – einem Leiden, das nicht unbedingt körperlicher Natur war, sondern eher von einem Aufruhr der Gefühle verursacht wurde, der ebenso tiefe Spuren hinterlassen konnte, wenn nicht gar noch tiefere. Die Zeichen leidvoller Heimsuchung waren so nun deutlich sichtbar für jeden, der es wagte, sich dem Anblick zu stellen. Ja, die körperliche und seelische Qual, die er erlitten hatte, war ganz offensichtlich ebenso wenig spurlos an ihm vorübergegangen wie der Lauf der Zeit.

Der schwarze Backenbart, dessen Haar einst so fein gewesen war wie der zarte Flaum auf dem Kopf eines Neugeborenen, wuchs nun dicht, wild und struppig. Die Haut war so bleich, dass sie ihm ein kränkliches Aussehen verlieh, aber was wollte er auch erwarten, wenn er seit Jahren nicht mehr in der Sonne gewesen war?

Diese ungesunde Blässe könnte ihm allerdings noch Probleme bereiten.

Doch je länger Robert das Gesicht vor sich betrachtete, desto mehr waren es die Augen, die ihn erschreckten. Nicht deren Farbe – ein Blau, das wie der tiefe Ton des Abendhimmels war, kurz bevor die Dämmerung in Nacht übergeht – nein, die Farbe war noch immer, wie er sie in Erinnerung hatte, aber die Augen boten nun einen abgründigen Blick in seine Seele.

In ihnen spiegelte sich der Leidensweg eines erschütternden Betruges. Auch das würde vielleicht ein gewisses Problem sein, denn nur selten gelang es einem Menschen, sein wahres Wesen zu verbergen, wie es in den Augen zum Ausdruck kam. Zumindest dann, wenn man ein ehrlicher Mensch war.

Robert wandte den Blick von seinem Spiegelbild ab und drehte sich zu dem Mann um, den er mit den seidenen Gürteln einiger Morgenmäntel, die er im Schrank gefunden hatte, ans Bett gefesselt hatte. Die Augen des Mannes waren von demselben strahlenden Blau wie die seinen, doch brannte in ihnen ein von tiefem Hass erfüllter Zorn. Robert fragte sich, warum ihm diese Gefühle nie zuvor aufgefallen waren.

Denn er hatte oft in diese Augen geblickt – während der ersten achtzehn Jahre seines Lebens. Und hätte er da nicht irgendwann einmal erkennen müssen, welch ein Ungeheuer sich in dem anderen verbarg?

„Warum, John?“, fragte er nun, und seine Stimme klang nach all den Jahren, in denen er von ihr kaum Gebrauch gemacht hatte, noch ein wenig heiser. „Warum hast du mich einsperren lassen? Was habe ich dir nur getan, um eine solch grausame Strafe zu verdienen?“

Das mit einem Monogramm bestickte Taschentuch, mit dem Robert John geknebelt hatte, ließ als Antwort nur ein wütendes, unverständliches Knurren zu, was es vielleicht ein wenig gemein machte, John überhaupt eine Frage zu stellen. Doch Robert wollte nicht riskieren, dass sein Bruder um Hilfe schrie und die Dienstboten aufweckte. Er zweifelte ohnehin daran, dass er von John eine ehrliche Antwort erhalten würde.

Aber diese Fragen hatten Robert während mehr als dreitausend Tagen keine Ruhe gelassen – Tage, in denen er in seiner Zelle auf und ab gegangen war, in seiner Hängematte gelegen und den Schreien der anderen Gefangenen gelauscht hatte, die bereits dem Wahnsinn verfallen waren, weil der allein ihnen noch Freiheit versprach.

Es war erschreckend, wie oft er selbst auch versucht gewesen war, dem Sirenenruf des Wahnsinns zu folgen. Doch dann war ihm die Flucht gelungen. Und nun war er hier – und sah sich einem Problem von Schuld und Vergeltung gegenüber, von dessen Existenz er nicht einmal geahnt hatte, bis es zu spät war. Zudem hatte er nur eine ziemlich ungenaue Vorstellung davon, wie er zurückbekommen könnte, was ihm genommen worden war.

Im Nachhinein musste er sich eingestehen, dass John schon immer ein ziemlicher Tunichtgut gewesen war, der sich über seine eigenen Scherze köstlich zu amüsieren wusste und dessen Verfehlungen ihm stets als harmlose Streiche nachgesehen wurden. Während seiner Jugend war es ihm so gelungen, sie alle hinters Licht zu führen. Robert fand es jedoch wenig tröstlich, John nicht als Einziger falsch eingeschätzt zu haben.

Er versuchte, eine gewisse Befriedigung aus den verzweifelten Versuchen seines Gefangenen zu ziehen, sich von den Fesseln zu befreien, die ihn an Händen und Füßen fest an die vier Pfosten des imposanten Bettes banden, in dem er einst geboren worden war. Doch alles, was Robert bei dem Anblick seines Bruders spürte, war eine tiefe Enttäuschung. Es war, als würde er in seine eigene Seele blicken und eine wüste, verkümmerte Ödnis vorfinden.

„Ich hatte immer geglaubt, wir wären mehr als nur Brüder. Ich dachte, wir seien Freunde. Wir haben unsere Geheimnisse miteinander geteilt. Ich hätte dir sogar mein Leben anvertraut. Mehr noch – ich würde jederzeit mein Leben für das deine …“ Robert atmete tief durch und biss die Zähne zusammen, dann wandte er sich ab, denn sein Schmerz drohte ihn zu überwältigen. Er hatte seinen Bruder geliebt – bemerkenswert war, dass er ihn noch immer auf eine seltsame Weise liebte, die sich nur mit ihrer Blutsbande erklären ließ –, und eben diese bedingungslose Liebe war der Grund, weshalb der Betrug ihm so sehr zu Herzen ging und ihn zutiefst verletzte.

Wenn er nicht einmal John vertrauen konnte, wem konnte er dann noch trauen?

Einen Moment lang empfand er Dankbarkeit dafür, dass seine Eltern nicht mehr lebten und nie erfahren würden, was geschehen war. Das Gefühl der Dankbarkeit war allerdings nur von kurzer Dauer, wie das Leben selbst, und Robert wünschte sich, dass er noch einmal zu den wundervollen Tagen seiner Jugend zurückkehren könne. Damals hatte seine einzige Sorge darin bestanden, den hohen Erwartungen seines Vaters gerecht zu werden – was ihm auch mit erstaunlicher Regelmäßigkeit gelungen war.

Wenn er sich zu lange über seine gegenwärtigen Umstände Gedanken machte, würde er bald anfangen, sich haltlos zu fühlen und sein Ziel aus den Augen zu verlieren. Es stand ganz außer Frage, dass er sich zurückholen musste, was ihm rechtens zustand – nicht allein aus persönlichen Gründen, sondern auch aus einer Verpflichtung seinen Vorfahren gegenüber. Er konnte sich nicht abwenden von dem, was sein Ehrgefühl und seine Herkunft von ihm verlangten. Es war nicht nur sein Recht, sondern auch seine Pflicht, alles wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Er schuldete es der Vergangenheit ebenso wie der Zukunft, seiner Bestimmung nachzukommen.

Erst als ihm alles genommen worden war, hatte er in sich jene ungeahnten Kräfte entdeckt, von denen er auch jetzt noch zehrte. Er konzentrierte sich daher auf das unmittelbar anstehende Problem, das es nun so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen galt.

„Hör endlich auf, so um dich zu schlagen, John. Du wirst dich dabei nur verletzen. Und aus eigener Erfahrung kann ich dir raten, deine gerechte Strafe besser nicht in geschwächtem Zustand anzutreten. Doch sei unbesorgt, denn ich werde in deinem Falle etwas mehr Gnade walten lassen, als du mir gegenüber gezeigt hast. Aber ich muss mich, meinen Besitz und meine Erben dennoch vor dir schützen.“

Bedauernd und ungläubig zugleich schüttelte Robert den Kopf. Auch nach all dieser Zeit konnte er noch immer nicht verstehen, wie es dazu hatte kommen können. „Es ist mir ein Rätsel, wie es dir gelungen ist, deinen Betrug in die Tat umzusetzen. Wie lange schon hattest du geplant, mich beiseitezuschaffen und meinen Platz einzunehmen? Die Vorbereitungen müssen sehr aufwendig gewesen sein, jedes kleinste Detail musste genau durchdacht werden. Fast bewundere ich deine Raffinesse.“

Langsam stellte Robert den Spiegel auf dem Nachttisch ab und lehnte ihn an einen Stapel Bücher, in denen sein Bruder vor dem Einschlafen wahrscheinlich gerne gelesen hatte. Beide Freuden – das Lesen von Büchern und ein friedvoller Schlaf – würden ihm schon bald auf lange Zeit versagt bleiben. Ebenso wie viele andere angenehme und vergnügliche

Dinge des Lebens.

Robert rückte den Spiegel so zurecht, dass er sein Abbild genau sehen konnte, während er in dem mit burgunderrotem Samt bezogenen Sessel Platz nahm, den er dicht neben das Bett gestellt hatte. Er fragte sich, wann genau wohl die moderne Gasbeleuchtung im Haus installiert worden war, und auf welche Veränderungen er sich noch würde gefasst machen müssen. Es war erschreckend festzustellen, dass das Leben weitergegangen war, als ob alles in bester Ordnung wäre. Und trotzdem hatte dieser Umstand auch etwas Beruhigendes.

Denn das bedeutete, dass dies jederzeit wieder geschehen könnte – das Leben würde weiter seinen Lauf nehmen, ohne dass jemand anders als die beiden Zwillingsbrüder auch nur ahnte, welch gewaltige Veränderung stattgefunden hatte.

Mit einer Schere, die er sich aus dem benachbarten Ankleidezimmer geholt hatte, schnitt er nun lange Strähnen seines verfilzten schwarzen Haars ab, bis es ihm nur noch knapp in den Nacken reichte und seine Ohren freiließ.

„Keine Läuse“, stellte er zufrieden fest und nickte anerkennend. „Vielleicht ist das der eigentliche Sinn, der hinter der Einzelverwahrung liegt. Wenn man die Gefangenen voneinander absondert, werden Krankheiten, Ungeziefer und Aufruhr im Keim erstickt. Das System hat also durchaus seine Vorteile.“

Aber auch sehr viele Nachteile, die nur wenige Menschen auf Dauer ertragen konnten. Wie es ihm selbst gelungen war, bei Verstand zu bleiben, war ihm ein Rätsel. Er wollte lieber nicht in Erwägung ziehen, dass er sich vielleicht nur etwas vormachte … dass seine Flucht nur eines von vielen Hirngespinsten war und er gleich aufwachen würde und feststellen musste, dass er noch immer der Gefangene in Gang D, dritter Stock, Zelle zehn war.

Rasch drängte er die beunruhigenden Erinnerungen beiseite und konzentrierte sich auf die Wirklichkeit vor seinen Augen. Gebannt sah er in den Spiegel und betrachtete seine kurzen Locken. Er hatte sich das Haar alles andere als perfekt geschnitten, aber das war im Moment seine geringste Sorge. Sein Kammerdiener würde das am Morgen schon in Ordnung bringen. Auch wenn sein Haar ungepflegter war als sonst, so bezweifelte Robert, dass sein Diener eine Bemerkung darüber machen würde.

Immerhin war er ein Duke, und einen Duke stellte man nicht infrage.

Als Nächstes kürzte er mit der Schere seinen Bart, nahm Rasierschale und Pinsel zur Hand und rührte mit schnellen Bewegungen einen seifigen Schaum an, den er großzügig auftrug. Der Duft weckte Erinnerungen daran, wie er von seinem Kammerdiener das erste Mal rasiert worden war und sein Vater ihm dabei voller Stolz zugesehen hatte.

„Du bist auf dem besten Wege, ein vorzüglicher junger Gentleman zu werden“, hatte sein Vater zu ihm gesagt. Robert hatte diese Einschätzung geteilt, wenngleich nicht aus vermessenem Stolz, sondern weil er in den Worten die Bestätigung dafür fand, dass seine stetigen Bemühungen, die Achtung seines Vaters zu gewinnen, nun von Erfolg gekrönt wurden.

Er konnte sich nicht daran erinnern, dass sein Vater dasselbe zu John gesagt hätte, als dieser bei seiner ersten Rasur saß. Vielleicht hatte das zu dem Problem beigetragen. John war immer nur der Zweite gewesen: der zweitgeborene Sohn, zweitrangig auch in den Augen seines Vaters und an zweiter Stelle in der Erbfolge.

Nachdenklich sah Robert zu seinem Bruder hinüber, der eigentlich nur eine Viertelstunde jünger war als er selbst und doch nicht bloß einen ganzen Tag später, sondern gleich in einem anderen Jahr geboren war, denn Robert hatte kurz vor Mitternacht des einunddreißigsten Dezembers das Licht der Welt erblickt und John am Neujahrstag. Aber nach dem Erstgeburtsrecht wogen Minuten nun einmal genauso schwer wie Jahre.

„Deinem buschigen Backenbart kann ich, ehrlich gesagt, nicht so viel abgewinnen“, meinte er nun. „Ist das ein Tribut an die neueste Mode, oder machst du noch immer nur das, was dir gefäll, und scherst dich einen Teufel um die Konventionen?“ Er beugte sich vor, sah seinem Bruder in die Augen und fügte bitter hinzu: „So, wie du dich einen Teufel um die Gesetze scherst. Aber wie sollen wir jemals die Wahrheit beweisen, wenn dein Wort gegen meines steht? Eben darin liegt mein Dilemma, und aus diesem Grund muss ich dich leider genauso ungerecht behandeln wie du mich.“

Robert kümmerte sich nicht weiter um Johns wütendes

Stöhnen, stellte die Schale mit dem Seifenschaum auf dem Nachttisch ab, nahm ein Rasiermesser und begann vorsichtig, auch den Rest seines Bartes abzunehmen, wobei er sich einen Backenbart stehen ließ, der dem seines Bruders ähnelte. Er beschloss, sich in den kommenden Tagen auf Londons Straßen umzusehen und sich den Bart dann auf eine Weise zu stutzen, die ihm besser gefiel. Am Anfang wollte er jedoch nicht allzu große Veränderungen an seinem Äußeren vornehmen, denn niemand sollte auf den Gedanken kommen, es könne mit dem Duke of Killingsworth etwas nicht stimmen. Wenngleich er ja nur wieder in Ordnung brachte, was all die Jahre zuvor nicht gestimmt hatte.

Er verspürte ein dringendes Bedürfnis nach einem warmen, herrlich nach Seife duftenden Bad, aber um sich diesen Wunsch zu erfüllen, müsste er die Diener wecken und sich von ihnen heißes Wasser nach oben bringen lassen, weshalb Robert entschied, mit diesem lang ersehnten Genuss bis zum Morgen zu warten. Heute Abend würde er sich eben so gut wie möglich mit dem Wasser waschen müssen, das er im Schlafzimmer und im Ankleideraum in den Waschschüsseln vorgefunden hatte.

„Um meine plötzliche Blässe zu erklären, könnte ich vorgeben, mich derzeit nicht besonders wohlzufühlen“, überlegte er laut. „Das muss als Erklärung genügen, bis ich Gelegenheit hatte, hinaus in die Sonne zu kommen. Du hingegen siehst ganz so aus, als würdest du dich bester Gesundheit erfreuen. Aber das wird sich bald ändern, mein Lieber.“

Nachdem Robert seine Rasur beendet hatte, legte er John das Messer an die Kehle. Er wusste selbst nicht genau, welche Reaktion er damit bei seinem Bruder eigentlich auslösen wollte … Angst, Reue, Bedauern? Doch John gebärdete sich daraufhin nur noch widerspenstiger – ganz so, als ob er derjenige sei, der betrogen worden war.

„Warum hast du mich nicht umgebracht, John? Konntest du es nicht ertragen, das Leben aus einem Gesicht weichen zu sehen, das dem deinen so sehr ähnelt? Oder bist du auf einmal sentimental geworden und hast dich daran erinnert, dass wir einst denselben Mutterleib geteilt haben? Oder was sonst hat dich davon abgehalten?“ Robert wurde plötzlich von einer tiefen Traurigkeit erfasst und nahm das Messer vom Hals seines Bruders. Wie hatte es nur so weit kommen können?

Hastig stand er auf und machte sich nun eilig an die verbleibenden Vorbereitungen. Bis zum Morgengrauen blieb nicht mehr viel Zeit, und er hatte bis dahin noch einiges zu erledigen. Als er sich heimlich ins Haus geschlichen hatte, hatte er seinen Bruder schlafend in seinem Bett vorgefunden und ihn überwältigt. Und nun würde er John dasselbe antun müssen, was dieser ihm angetan hatte.

Er wandte sich erneut zum Bett um.

„Warum hast du mich damals betäubt und mich einsperren lassen? Eine dumme Frage, ich weiß. Du hast es natürlich getan, damit der Titel des Dukes an dich fällt.“

Die Geschichte Englands wusste von einigen Männern zu erzählen, die gemordet hatten, um diejenigen aus dem Weg zu schaffen, die zwischen ihnen und der Krone standen. Sie meuchelten ihre Neffen im Kerker, ihre Brüder auf dem Schlachtfeld und ihre Väter im Schlaf. Manchen bedeutete ein Titel dabei ebenso viel wie anderen die Krone. Was machte es schließlich, mit welchen Mitteln ein Mann in der Erbfolge vorrückte, wenn nur sein Betrug nie aufgedeckt wurde …

„Aber wie, um alles in der Welt, ist dir das gelungen? Haben Vater und Mutter denn nie Verdacht geschöpft? Und was war mit den Dienstboten? Oder meinen Freunden und Bekannten? Irgendjemandem muss doch aufgefallen sein, dass du vorgegeben hast, ich zu sein. Und wie zum Teufel ist es dir gelungen zu erklären, dass nur einer von uns beiden von unserer Festnacht zurückgekehrt ist?“ Sie waren ausgegangen, um ihren achtzehnten Geburtstag zu feiern. Robert erinnerte sich noch an das Trinkgelage, an den verlockenden Duft einer Frau … und dann daran, alleine aufzuwachen – gefangen. Zuerst kam die Wut, rasch gefolgt von Verzweiflung. Bis er die Wahrheit erfuhr …

„Was für ein Glück es für dich gewesen sein muss, dass Mutter und Vater, schon bald nachdem du mich aus dem Weg geschafft hattest, beide einer Krankheit erlegen sind. Ich will nur hoffen, dass es wirklich so war und sie nicht vergiftet wurden, denn, mein lieber Bruder, wenn du für das Ende unserer Eltern verantwortlich sein solltest, so könnte ich dir das nie verzeihen. Aber wie aufmerksam von dir, mir wenigstens die Zeitungsnotiz mit der Todesanzeige zukommen zu lassen, zusammen mit deiner kurzen Mitteilung. Andernfalls hätte ich jetzt nur Zeit verschwendet, hier nach den beiden zu suchen, anstatt gleich zu dir zu kommen.“

Als eines Tages ein Briefumschlag durch die Metallstäbe in seiner Zellentür geschoben wurde, hatte Robert kaum glauben können, dass jemand ihm schrieb, denn er hatte angenommen, dass außer seinem Wärter niemand wusste, dass er hier war. Ungläubig sah er den Umschlag zu Boden segeln.

Darin fand er einen Zeitungsausschnitt aus der Times vor, der ihm das unerwartete Ableben des Duke und der Duchess of Killingsworth mitteilte. Als Todesursache wurde eine schwere Grippe genannt. Da er selbst so sehr mit seinem eigenen Schicksal haderte und sich noch immer nicht erklären konnte, wie er hierhergekommen war, hatte er die Anzeige dreimal lesen müssen, bevor er schließlich die Worte verstand und deren Bedeutung erfasste. Seltsamerweise empfand er nichts dabei – als wäre dort von Menschen die Rede, die er kaum noch kannte.

Dann hatte er den beigelegten Brief gesehen.

Ich dachte, das solltest du wissen.

Robert Hawthorne, Duke of Killingsworth

Er starrte auf die beiden Zeilen, bis sie vor seinen Augen verschwammen, und versuchte, ihren Sinn zu begreifen. Und als er allmählich verstand, hatte er das ganze Ausmaß ihrer Bedeutung dennoch nicht glauben können.

„Ich muss der Klugheit deines Plans wirklich Hochachtung zollen. Es war natürlich viel einfacher, dich verschwinden zu lassen als mich. Denn wer würde schon nach dir suchen? Schließlich bist du nicht der Erbe. Das hat dir doch schon immer zu schaffen gemacht. Du wusstest, dass dein Verschwinden keine hohen Wellen schlagen würde. Aber mich … Robert zu beseitigen, wäre viel schwieriger gewesen. Du hättest meinen Tod zweifelsfrei nachweisen müssen, bevor du meinen Platz hättest einnehmen können.“ Er schwieg einen Moment.

„Und deshalb konntest du“, fuhr er fort, „nachdem du mich aus dem Weg geschafft hattest, nicht länger John bleiben, denn das hätte deinen Plan unnötig verkompliziert, da nur mein Tod dir den Titel einbringen würde. Und wie wir ja bereits festgestellt haben, konntest du dich nicht dazu überwinden, mich umzubringen. Wofür ich dir wahrscheinlich ewig dankbar sein sollte. Du verzeihst mir hoffentlich, wenn ich dennoch nicht allzu große Dankbarkeit empfinde.“

Robert holte unter seinem Hemd die braune Schottenkappe hervor, die er während der Zeit in Pentonville und auch bei seiner waghalsigen Flucht getragen hatte. Die Kappe war so geschnitten, dass sie das Gesicht und damit auch die Identität des Gefangenen völlig verbarg und nur zwei Löcher für die Augen freiließ.

„Mittlerweile werden sie wohl bemerkt haben, dass der Gefangene D3, 10 ausgebrochen ist. Erinnerst du dich noch daran, wie wir gemeinsam mit Vater die Strafanstalt besucht haben, kurz nachdem sie erbaut worden war und noch bevor Häftlinge darin untergebracht wurden? Natürlich erinnerst du dich daran. Ist dir bereits da die Idee zu deinem perfiden Plan gekommen?“

Er deutete auf das Messingschild, das er am Hemd trug – beides würde er bald seinem Bruder überlassen. „Im Gefängnis verliert jeder seinen Namen. Und ohne einen Namen ist man ein Niemand. Ein Nichts. Nur noch eine Nummer. Der Gefangene D3, 10. Der Gefangene aus Gang D, dritter Stock, Zelle zehn. Und dieser Gefangene ist nun verschwunden.“ Erneut hielt er inne, in Gedanken an die schreckliche Zeit.

„Wird der Wärter“, überlegte Robert schließlich laut weiter, „den du bestochen hast, dir Bescheid sagen – denn ich bin mir sicher, dass du jemanden hast bestechen müssen, um deinen Plan auszuführen –, oder wird er auch die Flucht ergreifen, aus Furcht, dass seine Taten nun entdeckt werden? Aber im Grunde ist es mir gleich, was er tun wird, denn noch vor Morgengrauen wirst du dich in Pentonville wiederfinden und das hier über dem Kopf tragen.“ Er schwenkte die Kappe.

„Ich weiß, was du jetzt denkst. Sie werden merken, dass du es bist und nicht ich.“ Zum ersten Mal seit Jahren lachte er wieder – es war ein furchterregender Laut, der so gänzlich ohne Wärme oder Freude war, dass Robert sich fragte, ob dieses Lachen seinen Bruder ebenso erschaudern ließ wie ihn selbst. Konnte es sein, dass er sich doch näher am Rande des Wahnsinns befand, als er gedacht hätte?

„Das ist ja das Schöne an meinem Plan. Niemand dort wird etwas merken, weil niemand dort auch nur ahnt, wie ich aussehe. Keiner weiß, dass mein Haar heute Morgen noch länger war und ich einen dichten Bart hatte. Die Gefangenen dürfen ihre Kappe nur absetzen, wenn sie in ihrer Zelle sind – allein. Allein, immerzu allein. Wir arbeiten in unserer Zelle, wir schlafen in unserer Zelle, wir essen in unserer Zelle. Englands fortschrittliches System der Einzelverwahrung zur Besserung der Kriminellen ist die Hölle auf Erden, John!“, herrschte er seinen Bruder an. „Und bald schon wirst du Opfer dieses unmenschlichen Systems werden. Selbst wenn wir zum Ausgang in den Hof durften – mit den Kappen über unseren Köpfen, wohlgemerkt –, war es uns nicht erlaubt, miteinander zu sprechen. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, wenn man nie Gelegenheit hat, seine Gedanken mit jemandem zu teilen? Wenn man nie gemeinsam scherzen, am Leid anderer teilhaben, jemandem zulächeln oder miteinander lachen kann?“

Er hielt kurz inne, bevor er weitersprach. „Ich lasse dich nun an meiner Erfahrung teilhaben, damit sie dir zugutekommen mag. Setz die Kappe auf und halt deinen Mund. Versuche gar nicht erst, die Wärter davon überzeugen zu wollen, dass du nicht der bist, für den sie dich halten. Sie werden dir nicht zuhören. Versuche auch nicht, jemanden davon zu überzeugen, dass es sich um ein Missverständnis handelt. Niemand wird dir glauben. Die einzige Gelegenheit, deine Stimme zu erheben, ist beim täglichen Singen während der Andacht in der Kapelle. Die Männer brechen dabei in Tränen aus, weil sie nur dort andere Stimmen hören und von der eigenen lauthals Gebrauch machen dürfen.“ Robert sah auf die verhasste Kappe hinunter, die von demselben Braun war wie sein Hemd und seine Hose. Während einer der Andachten war es ihm gelungen zu flüchten. Die Sitze in der Kapelle waren durch hohe Wände voneinander abgetrennt, damit jeder Gefangene auch hier seinen eigenen Platz hatte. Eines Abends war Robert aufgefallen, dass er die Wärter nicht mehr sehen konnte, sobald er seinen Kopf zum Gebet neigte … woraus er schloss, dass sie ihn im Moment der andächtigen Versenkung gleichfalls nicht sahen. Für die Dauer des Gebetes war er für sie unsichtbar. Wochenlang hatte er geduldig diese Zeit genutzt, die Dielenbretter unter seinem Sitzplatz zu lockern. Heute war es ihm endlich gelungen, genügend Bretter abzuheben, um sich durch einen schmalen Spalt zu zwängen und unter dem Boden der Kapelle bis zum Hauptgebäude zu kriechen. Von dort war er durch einen Lüftungsschacht hinaus in die Freiheit gelangt.

Erneut wandte er seinen Blick John zu und schwenkte wieder mit der Kappe. „Du wirst sie tragen, denn wenn du es nicht tust, werden sie dich so lange prügeln, bis du sie aufsetzt. Und dann wirst du es sogar gerne tun, um deine Erniedrigung dahinter vor ihnen verbergen zu können. Wenn das geschafft ist, lassen sie dich allein, und du wirst dich immerzu fragen, wann ich endlich komme und dich heraushole. Sei unbesorgt“, versicherte er seinem Bruder, „ich werde deine Entlassung bewirken, sobald es mir gelingt zu beweisen, dass ich Robert bin und du John. Du kannst nur hoffen, dass es bald sein wird.“

Es klopfte an der Tür. Roberts Herz begann erbarmungslos zu pochen und schon fast schmerzhaft gegen seine Rippen zu schlagen, während John mit neuer Kraft versuchte, sich von seinen Fesseln zu befreien, und Hilfeschreie ausstieß, die jedoch von dem Taschentuch, mit dem er geknebelt war, gedämpft wurden. Robert zog ein Kissen unter Johns Kopf hervor und legte es seinem Bruder über das Gesicht, um seine erstickten Laute weiter abzuschwächen, danach zog er die schweren samtenen Bettvorhänge zu.

Dann ging er durch das Zimmer und sprach durch die geschlossene Tür: „Ich habe mich bereits zurückgezogen, weil ich mich nicht wohlfühle. Was gibt es denn?“ „Entschuldigen Sie die Störung, Euer Gnaden, aber ein Mr. Matthews ist soeben gekommen, und er ist ziemlich außer sich. Er besteht darauf, Sie sofort wegen einer dringenden Angelegenheit zu sprechen, die mit dem Gefängnis von Pentonville zu tun habt. Er ist äußerst hartnäckig …“ „Sagen Sie Mr. Matthews, dass ich ihn am Hintereingang treffen werde, und sorgen Sie dafür, dass sich keiner der Dienstboten in diesem Teil des Hauses aufhält.“

„Alle Dienstboten sind bereits zu Bett gegangen.“

Sehr gut, dachte Robert.

„Richten Sie Mr. Matthews meine Nachricht aus, und gehen Sie dann ebenfalls zu Bett.“

„Jawohl, Euer Gnaden.“

Robert hörte, wie die Schritte des Butlers sich langsam entfernten. Er ging zum Bett zurück, zog die Vorhänge beiseite, riss das Kissen weg und sah seinen Bruder lächelnd an. „Ich muss schon sagen, John, du hast einen äußerst treuen Verbündeten in Mr. Matthews. Was hat es dich gekostet, ihn dazu zu verpflichten, dass der Gefangene D3,10 niemals wieder freikommt?“

In dem Augenblick, da er nun auf seinen Bruder hinabsah, hätte er sein Vorhaben fast aufgegeben. Beinahe hätte er gesagt: „Lass uns über alles reden und gemeinsam eine Lösung finden. Ich bin zwar der rechtmäßige Erbe, aber ich werde mich um dich kümmern. Es stand für mich immer außer Frage, dass ich für dein Wohlergehen sorge.“

Doch dann fiel sein Blick wieder auf sein Spiegelbild, und er dachte daran, dass John ihm acht Jahre seines Lebens genommen hatte. Robert hatte nicht vor, es seinem Bruder ebenso grausam zu vergelten und ihn acht lange Jahre in der Hölle von Pentonville schmoren zu lassen.

Aber ein paar Wochen konnten sicher nicht schaden.

Einige Stunden später fuhr Robert aus dem Schlaf, orientierungslos und mit laut pochendem Herzen. Das Bett war zu weich, das Zimmer zu groß. Langsam, ganz langsam erinnerte er sich wieder an alles.

Wie er geflüchtet war.

Wie er sich im Schatten der Nacht versteckt hatte.

Wie er sich heimlich ins Haus geschlichen hatte.

Wie er John vorgefunden hatte, schlafend und arglos.

An den Wärter, der kurz nach Mitternacht gekommen war, um dem Duke mitzuteilen, dass der Gefangene D3, 10 geflüchtet war.

John mit einem kräftigen Hieb bewusstlos zu schlagen, hatte Roberts Wut ein wenig gestillt, doch nun loderte sie erneut heftig in ihm auf, und nur mit Mühe konnte er sie bezwingen. Zu lange hatte der Zorn in ihm geschwelt und ihn letzte Nacht schließlich dazu getrieben, Rache zu üben.

Robert hatte immer geglaubt, dass Rache süß sei. Doch nun stellte er überrascht fest, dass sie bitter schmeckte. Aber rasch verdrängte er seine Schuldgefühle. John hatte bekommen, was er verdiente. Es war nur gerecht, und er, Robert, sollte verdammt sein, wenn er sich nun auch noch schuldig fühlte für das, was er getan hatte. War er nicht ohnehin längst verdammt, doppelt und dreifach verdammt durch die Grausamkeit seines Bruders?

Reglos lag er da und lauschte, wie sein Atem rasch dahinflog und das Blut ihm mit jedem Herzschlag laut in den Ohren pochte. Dann hörte er den lieblichen Gesang einer Lerche draußen vor seinem Fenster. Ob er wohl davon aufgewacht war?

Er streckte seine verspannten Muskeln, atmete tief durch, sog einen Dufthauch in sich auf, der so zart und rein war, dass er einen empfindsameren Mann zu Tränen hätte rühren mögen. Aber Robert fürchtete, dass ihm jegliche Neigung zur Empfindsamkeit, die er vielleicht einmal besessen hatte, während der letzten acht Jahre genommen worden war.

Doch noch immer wusste er den Geruch frischer, sauberer Wäsche zu schätzen und das behagliche Gefühl zu genießen, auf einer weichen Federmatratze zu liegen. Heute Nacht wollte er den warmen, weichen Körper einer Frau unter sich spüren. Heute Nacht würde er sich endlich all den Freuden hingeben, die ihm durch den frevlerischen Plan seines Bruders so lange versagt geblieben waren. Was geschehen war, war nicht seine Schuld. Und doch warf das Geschehene Fragen auf, die ihm sehr zu schaffen machten.

Hatte er jemals etwas getan, um eine solch ungerechte Behandlung durch seinen Bruder zu verdienen? Robert hatte nie ein Verbrechen begangen und nie jemandem ein Leid zugefügt. In der Schule hatte er sich alle erdenkliche Mühe gegeben. Er hatte die seinem Rang angemessenen Manieren, die Regeln der Etikette und des gesellschaftlichen Protokolls erlernt. Er war gut darauf vorbereitet gewesen, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, wenn dieser einmal nicht mehr sein würde – was, wie er gedacht hatte, erst nach einem langen, erfüllten Leben der Fall wäre –, und bis dahin wäre er seinen Pflichten und seiner Verantwortung mit dem gehörigen Anstand nachgekommen, wie es sich für den Erbfolger eines Dukes gehörte.

Er war immer ein beispielhafter ältester Sohn gewesen. War es sein Bestreben, seine Eltern stolz zu machen, das

John gegen ihn aufgebracht hatte? Oder lag es schlicht daran, dass er zuerst das Licht der Welt erblickt hatte? Darauf hatte er nun wirklich keinen Einfluss nehmen können. Wenn er es genau bedachte, hatte er sogar auf einen Großteil seines Lebens keinen Einfluss gehabt. Verpflichtungen waren ihm aufgebürdet worden, und es wurde von ihm erwartet, dass er sie annahm und sich ihnen stellte, seine Pflichten ohne zu zögern anging und sich seiner Verantwortung nicht entzog.

Und doch war ihm dieses furchtbare Unrecht geschehen, und er befand sich nun in einer Situation, in der er seine Identität würde beweisen müssen, wenn er nicht für immer zu unlauteren Mitteln greifen wollte, um sicherzustellen, dass er den Titel des Dukes behielt. Er zweifelte kaum daran, dass John es wieder versuchen würde, ihm seinen rechtmäßigen Anspruch auf Titel und Besitz streitig zu machen. Aber dann wäre er zumindest vorbereitet und ließe sich nicht ein zweites Mal von seinem jüngeren Bruder aus dem Hinterhalt überraschen.

Robert streckte sich, genoss den Luxus, die seidenen Laken auf seiner Haut zu spüren, verschränkte die Arme unter dem Kopf und sah zu dem Baldachinhimmel über seinem Bett hinauf, während die ersten Strahlen der Morgendämmerung in sein Zimmer fielen. Vor dem Schlafengehen hatte er die Vorhänge um sein Bett und die vor dem Fenster nicht zugezogen. Er wollte auf nichts mehr verzichten müssen. Und er hatte schon sehr genaue Vorstellungen davon, wie er sich während seines ersten Tages und seiner ersten Nacht als Duke of Killingsworth verwöhnen wollte.

Ein dampfend heißes Bad mit Sandelholzseife. Danach sich den ganzen Körper kräftig mit angewärmten Handtüchern trocken reiben.

Frische Kleidung.

Ein herzhaftes warmes Frühstück und dabei die Times lesen.

Ein gemütlicher Spaziergang durch London.

Ein strammer Ritt zu Pferde durch den Hyde Park.

Eine Kutschfahrt.

Eine weitere Mahlzeit.

Ein weiteres Bad.

Noch mehr frische Kleidung.

Und dann eine Festnacht, um seine wiedererlangte Freiheit zu feiern.

Eine Flasche des besten Weins.

Eine Zigarre. Vielleicht eine Runde Kartenspiel.

Und dann eine Frau. Eine schöne Frau. Mit üppigen Rundungen und seidigem Haar. Endlich würde er wissen, wie es sich anfühlte, sich tief in einer Frau zu verlieren, ihre Wärme zu spüren und in ihr zur Erfüllung zu gelangen.

Heute Nacht würde er alles haben, was ihm so lange versagt geblieben war. Er würde sie wieder und wieder nehmen, bis er glückselig erschöpft und gesättigt war und sich nicht mehr rühren konnte.

Morgen Abend würde er genau dasselbe machen. Und übermorgen auch. Er würde seine Jugend nachholen, die ihm genommen worden war. Dann erst wollte er sich um seine Pflichten als Duke kümmern.

Doch zunächst musste er sich um seine Bedürfnisse als Mann kümmern.

Einen kurzen Moment lang hatte er befürchtet, dass seine Pläne scheitern könnten, als er seinen bewusstlosen Bruder nach unten zu Mr. Matthews getragen hatte, in dem er einen der grausamsten Gefängnisaufseher wiedererkannte. Der Wärter sah in ihm jedoch nur den Mann, der ihn für seine Dienste bezahlt hatte und den er für den Duke hielt. Matthews’ Angst war deutlich zu spüren, als er sich stammelnd dafür entschuldigte, dass der Gefangene entkommen konnte, und Robert fragte sich, ob es vielleicht mehr als nur bare Münze war, was den Mann zu Johns Komplizen gemacht hatte. Matthews hatte Robert bereitwillig geglaubt, als dieser ihm erklärte, dass der flüchtige Gefangene mit der Absicht hierhergekommen war, ihm etwas zuleide zu tun, und unverzüglich zurück nach Pentonville gebracht und dort sicher verwahrt werden müsse.

Als Gefangener ohne Aussicht auf Freilassung.

Erneut schlich sich ein Anflug von Schuld in seine frühmorgendliche Zufriedenheit, doch Robert verdrängte das Gefühl rasch. Auch wenn es selbstsüchtig von ihm war, so würde er sich diesen Tag nicht verderben lassen. Er hatte es verdient, sich all die Bedürfnisse zu erfüllen, die ihm so lange versagt geblieben waren: ein Trinkgelage, Frauen … endlich wollte er sich dem Vergnügen hingeben. Solange John den Mund hielt und sein Gesicht unter der Kappe verbarg, würde er in Pentonville ganz gut überleben können – so lange, bis Robert entschieden hatte, wie er am besten die wahren Umstände dessen, was geschehen war, belegen könnte.

Als sich nun die Tür zum Ankleidezimmer öffnete, stockte Robert kurz der Atem. Die nächste Probe stand ihm unmittelbar bevor. Er war immer davon ausgegangen, dass Diener ihre Herrschaften niemals wirklich ansahen, sondern stets den Blick diskret abwandten oder die Augen vor ihnen niederschlugen. Wenn diese Annahme stimmte, so konnte ihm nichts passieren. Wenn sie sich jedoch als falsch erwies … nun denn, es gab noch weitaus Schlimmeres, um das er sich sorgen musste.

Lautlos betrat der Diener das Schlafzimmer. Sein Kammerdiener – oder vielmehr der seines Bruders. Plötzlich wurde Robert bewusst, dass er ein kleines Problem hatte – er kannte den Mann nicht. Er war groß, schlank, hielt sich sehr gerade, und obwohl er noch recht jung war, bekam er bereits eine Glatze, auf der sich das Licht der Morgensonne spiegelte, die durch das Fenster in den Raum fiel.

Robert hatte erwartet, dass Edwards, der einst sein treuer Kammerdiener gewesen war, auch noch bei seinem Bruder in Diensten stünde. Aber wenn er es genau bedachte, so war es durchaus eine kluge Entscheidung von John gewesen, Edwards zu entlassen. Er hätte gewisse Veränderungen an Gesicht, Statur und Verhalten des Erbfolgers bemerken können, und selbst wenn er seine Beobachtungen für sich behalten hätte, so stellte er dennoch ein Risiko dar, das John wohl lieber nicht eingegangen war.

Und genauso gut konnte es sein, dass dieser unbekannte Kammerdiener nun an dem Duke von heute gewisse Veränderungen gegenüber dem Duke von gestern bemerkte. Vor allem natürlich die, dass der heutige Duke nicht die geringste Vorstellung davon hatte, wie sein Diener hieß.

„Guten Morgen, Euer Gnaden“, begrüßte ihn der Kammerdiener und durchquerte das Zimmer.

„Guten Morgen.“ Robert fluchte leise. Seine Worte hatten zögerlich und unsicher geklungen … ganz und gar nicht wie der Ton eines Mannes, der Autorität beanspruchte und dem man Achtung erwies – und sei es nur aufgrund seines Standes.

Der Kammerdiener blieb auf einmal in der Mitte des Zimmers stehen, als ob er bemerkt hätte, dass hier etwas grundlegend verkehrt war. Er sah zum Bett hinüber – wobei er jedoch kaum wahrzunehmen schien, wer darin lag –, dann zum Fenster, und schließlich streifte sein Blick rasch über Wände, Decke und Fußboden. Robert fragte sich, ob der Diener wohl ebenso wie er selbst das Gefühl hatte, dass der Raum sich immer enger um ihn schloss. Vielleicht hätte er, Robert, besser daran getan, überhaupt nichts zu sagen.

„Ich bin es nicht gewohnt, die Vorhänge bereits zurückgezogen zu finden“, bemerkte der Kammerdiener. „Sie scheinen diesen Tag kaum erwarten zu können.“

„Das stimmt allerdings.“ Die Wahrheit kam ihm leicht über die Lippen. Es war tatsächlich der erste Tag seit Jahren, an dem er morgens aufwachte und sich auf den bevorstehenden Tag freute und das, was in den nächsten Stunden vor ihm lag.

„Ich habe Ihr Bad vorbereitet.“ Der Diener ging zum Kleiderschrank und begann, ein paar Dinge herauszusuchen.

Robert erwog, noch ein wenig im Bett liegen zu bleiben, sich vielleicht sogar das Frühstück auf einem Tablett bringen zu lassen, aber andererseits wollte er so viel essen, dass es dazu doch eher eines Anrichtetisches bedurfte. Er streifte die Laken beiseite, und als er barfuß und nur im Nachthemd neben dem Bett stand, fühlte er sich auf einmal schutzlos ausgeliefert.

Der Kammerdiener hatte ihn noch immer keines Blickes gewürdigt, aber wenn er das erst einmal tat …

Nein, schalt sich Robert im Stillen. Er war nun der Duke. Mit geschlossenen Augen versuchte er, sich die gebieterische Stimme seines Vaters in Erinnerung zu rufen. Sein Vater hatte nie einen Zweifel daran gelassen, wer den Ton angab und das Sagen hatte – auch schon, bevor er den Titel des Dukes von seinem Vater geerbt hatte. Er war selbstsicher und überlegen gewesen. Robert musste einfach nur dessen Beispiel folgen. Er spürte, wie eine tiefe Ruhe ihn erfasste. Er könnte es schaffen. Er würde es schaffen. Und er öffnete die Augen wieder.

„Ich möchte heute Morgen einen Ausritt im Park machen“, sagte er. „Sorgen Sie dafür, dass mein Pferd bereit gemacht wird.“

Der Diener wandte sich ein wenig zur Seite und runzelte so stark die Stirn, dass sein kahler Schädel förmlich nach vorne zu rutschen schien. Robert schloss daraus, dass sein Kammerdiener ihm etwas sagen wollte, aber zögerte, es auszusprechen.

„Mann, was haben Sie denn?“, verlangte er zu wissen – ebenso ungehalten, wie sein Vater mit Bediensteten geredet hatte, die für seine Begriffe zu langsam waren.

„Bei allem Respekt, Euer Gnaden, aber ich bin mir nicht sicher, ob Ihnen heute Morgen Zeit für einen Ausritt bleibt.“

„Warum denn nicht? Gibt es einen dringenden Termin, der keinen Aufschub duldet?“

„Nur Ihre Hochzeit, Euer Gnaden.“

2. KAPITEL

Nun, wo der Moment endlich gekommen war, wünschte Victoria Lambert, dass es noch nicht so weit wäre. Eine sehr unerfreuliche Einsicht, die sich nur schlecht mit der Vorfreude vereinbaren ließ, die sie noch am Abend zuvor empfunden hatte, als sie zu Bett gegangen war. Seit Monaten wartete sie voller Ungeduld auf die Hochzeit mit dem Duke of Killingsworth, doch auf einmal stellte sie sich die Frage, ob sie der Ehe mit dem Duke ebenso freudig entgegensah. Eine in der Tat recht seltsame Anwandlung, aber so war es nun einmal.

Sie seufzte und betrachtete ihr Spiegelbild, während ihre Zofe um sie herumflatterte wie ein Schmetterling, der noch unschlüssig war, wo er sich niederlassen sollte. Mal zupfte sie hier, mal da an Victorias dunkelbraunem Haar, dann wieder rückte sie den Kranz aus Orangenblüten zurecht, an dem ein Schleier aus Honiton-Spitze befestigt war, und dabei versicherte sie ihrer Herrin unaufhörlich, wie schön sie an diesem ganz besonderen Tag doch aussähe.

Victoria konnte nicht leugnen, dass es tatsächlich ein besonderer Tag war, weshalb es ihr nur umso seltsamer erschien, dass sie plötzlich von solchen Zweifeln erfüllt war. Dass es ihr, der Tochter eines Grundbesitzers ohne Rang und Namen, gelungen war, sich den begehrtesten und bestens betitelten Junggesellen des Adels zu schnappen, hatte ihre Verlobung und bevorstehende Hochzeit zum Londoner Stadtgespräch gemacht. Es wurde darüber geredet, als hätte sie etwas Besonderes vollbracht, aber Victoria wollte beim besten Willen nicht einfallen, was sie anderes getan hatte, als den Duke anzulächeln und sich mit ihm zu unterhalten, woran er – zumindest meist – Gefallen zu finden schien.

Sie mochte Killingsworth wirklich sehr, aber was genau wusste sie eigentlich über ihn? Er war außerordentlich begabt darin, Scharaden zu spielen, war ein gewandter Tänzer und liebte es, lange spazieren zu gehen. Ach ja, und natürlich sah er zweifellos sehr gut aus. Nicht, dass sie glaubte, ein schönes Gesicht solle ein Kriterium bei der Wahl eines Ehemannes sein, aber es tat ihren Gefühlen für ihn sicherlich keinen Abbruch, dass er so angenehm anzusehen war.

Er hatte die unglaublichsten blauen Augen, und wenngleich sie nur selten fröhlich funkelten, da er ganz offensichtlich ein recht ernsthafter Mensch war, so fühlte sich Victoria doch jedes Mal als etwas Besonderes, wenn er sie mit solcher Eindringlichkeit ansah, dass sie unter seinem forschenden Blick oft errötete. Nie verriet er ihr, was er in diesen Momenten dachte, als ob seine eigenen Gedanken ihm peinlich wären, und manchmal fragte sie sich, ob er an dasselbe dachte wie sie – wie es sein würde, wenn sie sich beide endlich wirklich küssten.

Er war so schrecklich anständig und hatte sie noch nie an anderer Stelle als durch ihren Handschuh hindurch auf den Handrücken geküsst – auch dann nicht, als er um eben diese Hand angehalten hatte – aber heute Nacht … nun, heute Nacht würde er wohl durchaus mehr küssen, ohne dass Kleider seine Lippen von ihrer Haut trennten.

Bei dem Gedanken an eine solche Vertraulichkeit wurde ihr ganz warm, und Victoria fragte sich, ob vielleicht dies der eigentliche Grund ihres Unbehagens war – die Erkenntnis, dass sie schon sehr bald mit einem Mann, den sie zwar sehr mochte, aber nicht liebte, auf eine Weise vertraut werden würde, die sie schamhaft erröten ließ. Zumindest glaubte sie, ihn nicht zu lieben. Sollte Liebe denn nicht alles andere vergessen lassen?

Natürlich hatte sie jeden Tag während der letzten sechs Monate an ihre Hochzeit gedacht, aber bei ihrem Verlobten war sie in Gedanken nicht wirklich gewesen. Oder doch?

Sie hatte an Kleider gedacht und an Unterröcke, an Einladungskarten und an ihre Aussteuer. Sie war von den Hochzeitsvorbereitungen so mitgerissen worden, dass ihr keine Zeit blieb, sich Gedanken über ihre bevorstehende Ehe oder die Hochzeitsnacht zu machen. Und jetzt, wo der Moment gekommen war, auf den sie sich so lange vorbereitet hatte, fand sie es auf einmal viel zu früh, um für einen so gewaltigen Schritt bereit zu sein. Wenn sie ganz ehrlich war, so konnte sie kaum noch klar denken vor Angst.

„Victoria, hör auf, deine Stirn zu runzeln. Es zerstört völlig das Erscheinungsbild des Kleides“, ermahnte ihre Mutter sie, trat einen Schritt zurück und stemmte die Hände in die breiten Hüften, die ihr bei der Geburt ihrer beiden Töchter so gute Dienste geleistet hatten. Ein wenig breitbeinig stand sie auch da und wirkte wie ein Schiffskapitän, der keinen Widerspruch von seiner Mannschaft duldet. „Dein Vater hat eine wahrlich fürstliche Summe für deine Garderobe ausgegeben. Kleid und Schleier sind fast genau wie jene, die Königin Victoria an dem Tag trug, da sie ihren lieben Albert geheiratet hat.“

Die Bewunderung ihrer Mutter für die Königin war manchmal ein wenig befremdlich. Fast konnte man meinen, dass England nie zuvor eine Frau auf dem Thron gesehen hätte. Und jeder Ehemann bekam von ihr den Zusatz „lieber“ – außer ihrem eigenen.

„Alles ist wunderschön, Mutter, und ich weiß es zu schätzen, dass Vater solche Unkosten auf sich genommen hat, um diesen Tag unvergesslich zu machen. Es ist nur …“ Sie verstummte mitten im Satz, aber es war bereits zu spät.

„Nun sag es schon, mein Mädchen.“

Victoria versuchte, tief Luft zu holen, aber das Korsett aus Fischbein hinderte sie daran, auch nur ein Mal frei durchzuatmen. Sie stieß zwei Mal kurz die Luft aus und gestand dann: „Mir sind Bedenken gekommen.“

„Aber du hast doch so herrliche Blumen ausgesucht, und diese Bänder …“, meinte ihre siebzehnjährige Schwester Diana daraufhin, stellte sich neben sie und betrachtete sie kritisch von der Seite.

„Diana, ich spreche nicht von meiner Garderobe! Ich denke an die Hochzeit selbst, an das Ehegelübde und was es bedeutet, eine Ehefrau zu werden.“

Ihre Mutter schnaubte auf sehr undamenhafte Weise, was eher ihrer Herkunft als ihren derzeitigen Lebensumständen entsprach. „Dafür dürfte es nun ein bisschen zu spät sein, meine Liebe.“

Victoria hatte auf einen etwas erhebenderen Rat gehofft. Immerhin hatte ihre Mutter weitaus mehr Erfahrung mit Männern, der Ehe und … den ehelichen Pflichten.

„Mutter, ich war so sehr mit den Vorbereitungen für die Hochzeit beschäftigt, dass mir kaum Zeit blieb, mir über die Ehe mit dem Duke Gedanken zu machen. Und nun habe ich auf einmal die Befürchtung, dass ich ihn vielleicht gar nicht liebe.“ Dieses Eingeständnis klang selbst in ihren eigenen Ohren so furchtbar, dass sie sich beeilte, rasch hinzuzufügen: „Zumindest nicht so sehr, wie ich ihn lieben sollte.“

Mit einer entschiedenen Handbewegung schob ihre Mutter die Zofe beiseite und begann, an Victorias Kleid herumzuzupfen, als könne sie so auch die Sorgenfalten auf der Stirn ihrer Tochter glätten.

„Die Liebe wird meines Erachtens ohnehin überschätzt“, stellte sie fest. „Das Beste, was eine Frau in der Ehe erwarten kann, ist ein Gatte, der nett zu ihr ist, spendabel mit dem Handgeld und schnell, wenn er im Bett seinen ehelichen Pflichten nachkommt.“

Im Spiegel konnte Victoria sehen, wie Diana wegen der von ihrer Mutter so unerwartet geäußerten Unschicklichkeit vor Überraschung der Mund offen stand. Wie ihre Schwester, so wusste auch sie selbst, dass es sich nicht gehörte, über die Dinge, die sich im Bett zwischen einem Mann und einer Frau zutrugen, zu sprechen. Zumindest nicht so laut, dass jeder es hören konnte.

Rasch fasste Victoria sich jedoch wieder und wagte nun zu fragen, worüber sie und ihre Freundinnen sich dereinst tuschelnd unterhalten hatten. „Ich habe gedacht, der eheliche Vollzug würde die ganze Nacht dauern.“

„Um Himmels willen, nein! Wenn eine Dame Glück hat, so ist ihr Ehemann in weniger als zehn Minuten damit fertig.“

„Und wenn sie kein Glück hat?“

„Dann kann es durchaus eine recht langwierige Angelegenheit werden, die es mit Contenance zu ertragen gilt. Aber dein junger Duke scheint mir ein äußerst kraftvoller Mann zu sein. Ich bin mir sicher, dass er die Sache im Nu hinter sich bringt, weshalb du dir keine Sorgen über etwas machen musst, was nicht geschehen wird.“ Ihre Mutter begann sich mit den Händen Luft ins Gesicht zu fächeln, als ob ihr auf einmal zu warm war und sie einer Abkühlung bedurfte. „Ach herrje, ich sollte nicht über so persönliche Dinge mit euch sprechen!“

„Doch, natürlich.“ Victoria drehte sich um und sah ihre Mutter an. „Ich habe nicht die geringste Vorstellung, was auf mich zukommt. Natürlich habe ich gewisse Vermutungen, doch bin ich mir keineswegs sicher, was wirklich zwischen einem Mann und einer Frau geschieht, wenn sie in der Hochzeitsnacht zu Bett gehen.“

Ihre Mutter wedelte nun hektisch mit den Händen. „Das ist auch viel zu vertraulich, um darüber zu sprechen.“

„Oh … wunderbar. Nun graut mir erst recht davor, etwas zu erleben, wovon eine Mutter nicht einmal ihrer Tochter erzählen kann. “

Ihre Mutter wurde plötzlich still, und mit gerunzelter Stirn sah sie ihre Erstgeborene so lange an, dass es Victoria wie eine Ewigkeit schien. Schließlich streckte sie die Hand nach ihrer Tochter aus und berührte liebevoll deren Wange. Ihr Lächeln wirkte beinahe traurig. „Bald schon wirst du wissen, was es damit auf sich hat. Es ist letztlich nicht mehr als eine leidige Angelegenheit, die es geduldig zu ertragen gilt und die dich daran hindert, so früh schlafen zu können, wie du es gerne würdest.“

„Tut es weh?“

„Nur ein bisschen und das auch nur am Anfang, wenn der Körper der Frau noch lernen muss, den des Mannes zu empfangen.“

„Vielleicht sollte man in diesen Dingen beizeiten Unterricht bekommen“, ließ sich Diana vernehmen.

Mrs. Lambert seufzte schwer. „Diana …“

„Nein, Mutter, ganz im Ernst. Wo ließe sich dergleichen denn besser lernen als in einer Schule? Denn was ist, wenn der Körper der Frau einfach nicht lernen will, den des Mannes zu empfangen? Und was gilt es überhaupt zu empfangen?“

Victoria musste sich bei den drängend vorgebrachten Fragen ihrer Schwester ein Lächeln verkneifen, während ihrer Mutter das Blut heiß in die Wangen schoss. „Es ist mir äußerst unangenehm, über diese Dinge zu reden. Immerhin ist es euer Vater, mit dem ich … es ist eine sehr persönliche Angelegenheit. Aber ich bin mir sicher, dass der Duke alles zu deiner Zufriedenheit machen wird.“

„Liebt er mich denn überhaupt?“, wollte Victoria wissen und kehrte zu der Frage zurück, die sie am meisten beschäftigte.

„Ich glaube, dass du ihm viel bedeutest.“

„Aber das ist nicht Liebe.“

„Wenn er dich in sein Bett nimmt, ohne dass du ihm etwas bedeuten würdest, müsstest du bald feststellen, dass dir damit weitaus weniger gut gedient wäre.“

Victoria zweifelte nicht daran, dass sie dem Duke etwas bedeutete, aber zunehmend befürchtete sie, dass ihm vor allem das Geld und die Ländereien wichtig waren, die ihm die Heirat mit ihr einbringen würden. Ihr Vater war ein wohlhabender Grundbesitzer, der viertausend Morgen Land sein Eigen nannte, die ihm ein ganz einträgliches Einkommen bescherten – einträglich genug, um seine Älteste mit einer Mitgift auszustatten, die sie zu einer guten Partie machte und ihr erlaubte, sich in gesellschaftlichen Kreisen zu bewegen, die ihrer Familie vor Kurzem noch verschlossen gewesen waren. Und ihre Mutter hatte nicht lange gezögert, den Adel wissen zu lassen, dass ihre älteste Tochter ein beträchtliches Vermögen mit in die Ehe bringen würde.

Victoria hatte immer eine passable Partie machen wollen, aber nun argwöhnte sie, dass sie ihr Ziel zu niedrig gesteckt hatte. Passabel – das klang wenig verlockend.

Es ließ sich nicht leugnen, dass ihre Beziehung zum Duke sich sehr angenehm und erfreulich gestaltete. Es war etwas Behagliches daran – ohne die geringste Andeutung von Leidenschaft. Keine freudige Erregung, kein wunderbares Staunen. Beim Aussuchen ihres Brautkleides hatte Victoria mehr Glücksgefühle empfunden als bei der Annahme des Heiratsantrages. Die letzten paar Monate war sie sehr beschäftigt gewesen, mit Besuchen bei der Schneiderin und beim Papierhändler, bei Köchen und Floristen. Ihr war kaum Zeit geblieben, auch nur ein Mal tief Luft zu holen und nachzudenken – wobei ihr dann wohl aufgefallen wäre, dass die gespannte Vorfreude, die sie bei alldem verspürte, sich nicht auf die Aussicht erstreckte, den Rest ihres Lebens mit dem Duke zu verbringen. Und was, wenn es ein langes Leben wurde?

„Liebst du Papa?“, fragte sie ihre Mutter.

„Ich habe euren Vater recht gern. Er hat mich in all den Jahren gut behandelt, und wie ich bereits sagte, kann eine Frau sich von ihrem Gemahl gar nichts Besseres wünschen.“

„Mir scheint das nicht genug. Nun, wo ich selbst an der Schwelle zur Ehe stehe, scheint es mir einfach nicht genug zu sein!“

Bis zu diesem Augenblick war Victoria nicht bewusst gewesen, dass Zuneigung nicht gleich Liebe war. Aber was war Liebe? Ein schwer zu greifendes Gefühl, das sie bislang noch nicht wirklich erfahren hatte. Natürlich liebte sie ihre Eltern und auch ihre Schwester, aber sie wüsste nicht, dass sie jemals einen Mann geliebt hätte, zu dem sie keine familiäre Bindung hatte. Brauchte Liebe nicht Zeit, um zu wachsen und zur Reife zu gelangen? Sollte man sich nicht fragen, wie man es ertragen könnte, wenn der geliebte Mensch nicht mehr da wäre?

Ihre Mutter seufzte so schwer, als würde sie einen großen Koffer hochheben, der bis zum Rand mit Sorgen gefüllt war. „Ich denke, dass du in letzter Zeit zu vieles von Jane Austen gelesen hast. Du verwechselst die romantische Liebe in ihren dummen Romanen mit der Wirklichkeit der Liebe in der Ehe. Am besten wäre es, wenn man jungen Frauen nicht erlaubte, Bücher zu lesen, die ihnen nur gefühlsduselige Flausen in den Kopf setzen.“

„Ich muss gestehen, dass ich Mr. Darcy vergöttere“, meinte Diana und legte die Hand aufs Herz, während ein verklärter Ausdruck auf ihrem Gesicht erschien. „Welch eine zutiefst gequälte Seele …“

„Er hatte mehr Stolz, als gut für ihn war“, bemerkte ihre Mutter. „Und um nichts anderes ging es in der Geschichte.“

„Das finde ich nicht“, entgegnete Diana. „Es geht vor allem darum, dass Elizabeth sich bis über beide Ohren in ihn verliebt und er sich bis über beide Ohren in sie verliebt.“

„Unsinn. Eine Frau sucht nicht nach Liebe. Sie sucht nach einer vorteilhaften Partie, was deiner Schwester weit über meine Erwartungen hinaus gelungen ist. Ich hatte auf einen Viscount gehofft, und was macht Victoria? Sie angelt sich einen Duke! Ich hoffe, dass du ihrem Beispiel folgen wirst.“

„Ich werde niemals heiraten!“, verkündete Diana mit großer Entschiedenheit und ließ sich in einen Sessel fallen.

Ein Ausdruck maßlosen Entsetzens huschte über das Gesicht ihrer Mutter. „Rede doch nicht solchen Unsinn! Natürlich wirst du heiraten.“

„Nein, werde ich nicht. Warum soll ich mich für nur einen Mann entscheiden? Wie kann man denn jemals sicher sein, welcher derjenige ist, mit dem man den Rest seines Lebens verbringen will? Männer können doch so verschieden sein. Heute will ich vielleicht einen Mann, der voll unbeschwerter Heiterkeit ist, und morgen ist mir dann eher nach einem, der etwas nachdenklicher ist.“

„Ich denke, du solltest froh sein, wenn du überhaupt einen Mann findest, der sich mit deiner Wankelmütigkeit abgibt.“

Victoria musste sich das Lachen verkneifen, während ihre Schwester die düstere Stimmung aufzuhellen versuchte, die sie selbst mit ihren Bedenken heraufbeschworen hatte. Ihre Schwester hatte eine erfrischend unkomplizierte Lebenseinstellung, und weil ihre Mutter so leicht aus der Fassung zu bringen war, liebte Diana es, sie ein wenig an der Nase herumzuführen.

„Ach, Mama“, fuhr sie fort, „sich auf einen Mann in seinem Leben zu beschränken, ist doch genauso, als würde man zu jeder Mahlzeit dasselbe Gericht serviert bekommen, nicht wahr? Nach einer Weile schmeckt es fade, selbst wenn es am Anfang noch das Lieblingsgericht war. Irgendwann mag man es nicht mehr.“

„Du liebe Güte! Was ist nur in dich gefahren, dass du so lächerliche Dinge von dir gibst?“

„Ich kann mir einfach nicht erklären, wie eine Dame heute schon entscheiden soll, worauf sie morgen Lust hat.“

„Du redest wirklich Unsinn!“

Doch Victoria hatte mit einem Mal die Befürchtung, dass ihre Schwester das Problem sehr genau auf den Punkt gebracht hatte. Sie wollte etwas anderes als das, was für sie angerichtet worden war – aber nun stand das Mahl schon bereit, und sie konnte wohl kaum alles in die Küche zurückgehen lassen, ohne den Koch zu brüskieren …

„Und was ist“, ließ ihre Schwester nicht locker, „wenn Torie nach der Hochzeit einem Mann begegnet, den sie viel lieber mag als ihren Duke? Was soll sie dann machen?“

„Dieses Risiko nimmt man auf sich, sobald man einen Antrag angenommen hat, weshalb man sich ja auch nie vorschnell binden sollte.“

„Aber was könnte Torie dann machen?“

„Sie vergisst den anderen Mann – den, mit dem sie nicht verheiratet ist, versteht sich.“

„Bist du jemals einem Mann begegnet, von dem du wünschtest, dass du ihn und nicht Papa geheiratet hättest?“, wollte Diana wissen.

Ihre Mutter schloss kurz die Augen. „Ihr beide werdet mich noch ins Grab bringen!“ Sie öffnete die Augen wieder und bedachte ihre Töchter mit einem strengen Blick. „Wir hören jetzt sofort mit diesem Unsinn auf. Victoria heiratet einen sehr liebenswerten Gentleman.“

Victoria war nicht entgangen, dass ihre Mutter Dianas Frage nicht beantwortet hatte. War sie später tatsächlich noch einem anderen Mann begegnet? Und was würde sie selbst tun, wenn ihr etwas Ähnliches passierte? Wenn sie den Duke nicht liebte, so war es durchaus nicht unwahrscheinlich, dass sie sich in jemand anderen verlieben könnte … und das wäre ihr unerträglich, da sie niemals das Versprechen brechen wollte, das sie ihrem zukünftigen Gemahl bald geben würde. Doch das hieß, dass sie letztlich ihr Herz verraten müsste. Beide Möglichkeiten erschienen ihr weder gerecht noch erstrebenswert.

„Er ist liebenswert, weil er ein Duke ist“, bemerkte Diana spitz.

„Ich bin mit meiner Geduld gleich am Ende, Diana.“

„Würde es dich auch so sehr begeistern, dass Torie ihn heiratet, wenn er kein Duke wäre?“

„Ich weiß wirklich nicht, weshalb wir heute anfangen müssen, uns darüber Gedanken zu machen, wenn wir es vor sechs Monaten nicht getan haben, als der Duke um ihre Hand angehalten hat.“

„Weil Torie jetzt Zweifel hat, die sie damals nicht hatte.“

„Jede Braut wird am Tag ihrer Hochzeit von Zweifeln heimgesucht. Und ich wage zu behaupten, dass es dem Bräutigam genauso ergeht. Es ist für beide sehr beunruhigend, wenn der Moment wirklich gekommen ist, weil es ein sehr großer Schritt ist.“ Ihre Mutter sah Victoria fest in die Augen. „Bedeutet der Duke dir etwas?“

Tat er das? Sie mochte ihn tatsächlich recht gerne. Sie war gerne in seiner Gesellschaft, wenngleich manchmal … „Manchmal lässt er mich einfach allein“, gestand sie. „Aber natürlich tut er das, meine Liebe“, seufzte ihre Mutter. „Er lebt ja nicht bei uns im Haus. Aber von heute an wird er dich weniger häufig allein lassen.“

„Nein, ich spreche nicht davon, dass er sich nicht mit mir im selben Zimmer aufhält. Ich meine Augenblicke, in denen er direkt neben mir sitzt, aber den Eindruck macht, als sei er … verschwunden.“

„Du sprichst in Rätseln. Er kann doch nicht fort sein, wenn er da ist!“

„Ich kann es nicht besser ausdrücken, Mutter. Aber die Momente, in denen er sich völlig zurückzieht, haben sich in letzter Zeit zunehmend gehäuft, und sie beunruhigen mich sehr. Es ist, als wäre er in Gedanken versunken, die ihn weit weg von mir tragen. Dann dreht er sich auf einmal zu mir um, und in seinem Gesicht ist ein Ausdruck, als würde es ihn überraschen, mich neben sich zu finden.“

„Für mich klingt das so, als sei er nur zerstreut.“

„Zerstreut ist sicher nicht die schlechteste Beschreibung, aber ich fürchte, dass es nicht ganz so einfach ist.“

„Er ist ein Duke, Victoria! Mit vier Landsitzen, um die er sich kümmern muss, und Gott weiß wie vielen Dienstboten, Pächtern und Sorgen … Es ist doch nur verständlich, dass diese Verantwortung schwer auf ihm lastet und seine Gedanken einnimmt, weshalb er dir manchmal nicht so viel Aufmerksamkeit zu widmen scheint, wie du es dir wünschst. Dein Vater schenkt mir auch oft keine Beachtung. Darüber muss man sich keine Sorgen machen.“

„Wahrscheinlich nicht, aber dennoch …“

„Victoria, mir platzt gleich die Geduld. Dein Vater und ich haben sehr hart gearbeitet, damit du eines Tages ein besseres Leben haben wirst, als wir es hatten. Und nun sind meine Träume noch bei Weitem übertroffen worden. Sei bitte endlich glücklich!“

Und was ist mit meinen Träumen?, wollte Victoria fragen.

Doch sie fürchtete, dass sie bereits zu lange gewartet hatte, um noch allzu viel Hoffnung in ihre Träume setzen zu können. Und dabei hatte alles so romantisch begonnen, als sie glaubte, sich Hals über Kopf in den Duke verliebt zu haben, aber nun …

„Du wirst der Königin vorgestellt werden“, wechselte ihre Mutter das Thema, während sie Victorias Schleier erst ein wenig nach rechts und dann wieder nach links rückte, wo er ihr weich über die Schulter fiel. „Es wird ihrer Aufmerksamkeit nicht entgehen, dass du ihren Namen trägst, und wenn ihr euch erst einmal angefreundet habt, werde ich auch in den Palast eingeladen.“

„Mutter, ich bin eine Bürgerliche.“

„Von dem heutigen Tag an wirst du eine Duchess sein, meine Liebe. Die Königin wird dich kennenlernen wollen. Da bin ich mir sicher.“

Noch ein Traum ihrer Mutter – dass ihre Töchter einmal das Privileg genießen würden, bei Hofe vorgestellt zu werden. Victoria kam es auf einmal vor, als ob ihr ganzes Leben allein dem Zweck diente, die Träume ihrer Mutter zu leben und nicht ihre eigenen.

Sie wandte sich wieder zum Spiegel um und fragte sich, wer eigentlich die junge Dame war, die dort vor ihr stand. War das wirklich sie selbst?

Oder war sie schon immer nur das Abbild der Wünsche ihrer Mutter gewesen?

3. KAPITEL

Nur Ihre Hochzeit, Euer Gnaden.

Die Worte seines Kammerdieners hatten Robert gleichsam mit der wuchtigen Gewalt eines Rammbocks getroffen. Trotz der vielen Szenarien, die er erwogen hatte, als er immer wieder in Gedanken seine Flucht und spätere Genugtuung durchgegangen war, wollte es ihm nicht ein einziges Mal in den Sinn kommen, dass sein Bruder verheiratet sein könnte – oder zu heiraten beabsichtigte.

Aber von dem Augenblick an, da er die schicksalsschweren

Worte vernommen hatte, focht Robert einen inneren Kampf aus, während sein Kammerdiener ihn für dieses gewichtige Ereignis zurechtmachte.

Autor

Lorraine Heath
Lorraine Heath wurde in England geboren, zog jedoch als Kind mit ihren Eltern in die USA. Geblieben ist ihr eine tiefe Zuneigung zu beiden Ländern. Die Charaktere in ihren erfolgreichen Romanen werden oft als besonders lebensnah bezeichnet, was die New York Times-Bestseller-Autorin auf ihre im Psychologiestudium erworbenen Kenntnisse zurückführt. Lorraine...
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