Die Sehnsucht des Gouverneurs

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„Die jungen Damen auf dem Brautschiff wollen heiraten, nicht rumhuren.“ Erbost weist Jocelyn den arroganten Sir Robert Kerr, Gouverneur von Halifax, zurecht. Aber je länger ihre Schützlinge an Land nach Ehemännern suchen, desto neugieriger fragt Jocelyn sich: Warum hat der attraktive Robert eigentlich keine Gattin?


  • Erscheinungstag 01.05.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751506731
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Halifax, Neuschottland, Mai 1818

Sir Robert Kerr war gerade damit beschäftigt, den Vierteljahresbericht für das Ministerium zu verfassen, als es laut an der Tür seines Arbeitszimmers klopfte.

„Kommen Sie herein, Duckworth.“ Der Gouverneur warf seinem Sekretär einen finsteren Blick zu. „Habe ich nicht ausdrücklich Anweisung gegeben, dass …“

„Sie nicht gestört werden wollen, Eure Exzellenz?“, beendete der junge Duckworth den Satz, was in heiklen Situationen eine ärgerliche Angewohnheit von ihm war.

Doch für heute waren keine besonderen Schwierigkeiten zu erwarten – jedenfalls, sofern der Gouverneur nicht etwas Wichtiges übersehen hatte. Doch das jungenhafte Gesicht seines Sekretärs hatte eine rote Färbung angenommen, und seine Stimme klang atemlos. „Genau diese Anweisung haben Sie gegeben, Sir, außer für den Fall, dass sich eine größere Katastrophe anbahnt.“

Der Gouverneur lächelte gequält und legte die Schreibfeder beiseite. Das mit der „größeren Katastrophe“ hatte er scherzhaft gemeint, doch sein Humor war noch nie recht verstanden worden.

Als Sir Robert sich vom Stuhl erhob, verspürte er einen stechenden Schmerz im Nacken. Er rieb über den angespannten Muskel. Wie viele Stunden hatte er jetzt schon wegen des verdammten Berichts über dem Schreibtisch gebeugt verbracht? Vielleicht würde ihm ein wenig Bewegung guttun.

„Verraten Sie mir, mit welcher schrecklichen Katastrophe unsere schöne Kolonie heute fertigwerden muss?“ Er folgte dem Sekretär hinaus in das Vestibül. „Brennt die Brauerei? Werden wir von einer ausländischen Flotte überfallen? Ist der Bischof ausgerutscht und ins Hafenbecken gestürzt?“

„Nichts dergleichen, Eure Exzellenz.“ Erneut schien Duckworth die Ironie in den Worten des Gouverneurs entgangen zu sein. Er reichte Sir Robert dessen Hut. „Sie sollten besser mitkommen und es sich selbst ansehen, Sir.“

Kaum hatte Duckworth diesen Vorschlag unterbreitet, drehte er sich bereits um und eilte aus der Eingangstür des Government House. Sir Robert blieb wenig anderes übrig, als ihm nachzugehen, wenn er seine Neugier befriedigen wollte. Leise murrend setzte der Gouverneur seinen altmodischen Dreispitz auf. Warum war Duckworth derart aufgeregt? Und weshalb sprach er so verlegen und rätselhaft darüber?

Die beiden Wachtposten, die den Haupteingang des Government House bewachten, tuschelten miteinander, als der Gouverneur nach draußen trat. Als sie ihn auf der Treppe erblickten, nahmen sie sofort Haltung an.

„Einer von Ihnen bleibt hier, der andere kommt mit mir.“ Sir Robert winkte den größeren der beiden Männer zu sich. „Möglicherweise brauche ich Ihre Unterstützung.“

„Jawohl, Sir!“, erwiderten die Wachen wie aus einem Mund.

Sir Robert sah den Eifer im Blick seines Begleiters aufblitzen und erkannte eine Spur von Enttäuschung bei dem Soldaten, dem er befohlen hatte, zurückzubleiben. Er an ihrer Stelle hätte genau entgegengesetzt reagiert. Seine Karriere in der Armee hatte ihn gelehrt, vorsichtig zu sein, wenn man nicht genau wusste, was auf einen zukam.

Als er die Hollis Street in nördlicher Richtung entlangging, schmerzte die alte Fußverletzung, die er in der Schlacht bei Vitoria erlitten hatte, wie es häufig bei feuchtem Wetter der Fall war. Er schenkte dem unangenehmen Pochen keine weitere Beachtung und zog angesichts des stürmischen Frühlingswindes den Hut tiefer in die Stirn. Er konnte sein Tempo nicht verringern, ohne Gefahr zu laufen, Duckworth aus dem Blick zu verlieren, der gerade um die Ecke in die Salter Street einbog. Von dort ging es direkt bergab zur Werft von Powers. Was für ein Problem hatte die morgendliche Flut angespült?

Offenbar war Sir Robert nicht der einzige Einwohner von Halifax, der sich darüber Klarheit verschaffen wollte. Beinahe so viel Schaulustige hatten sich am Kai der Werft eingefunden wie im letzten Jahr, um ihn bei seiner Ankunft in der Kolonie willkommen zu heißen.

„Aus dem Weg!“ Angriffslustig bemühte sich der Wachsoldat, den er vom Government House mitgebracht hatte, sich und ihm einen Weg durch die Menge zu bahnen. Entweder gefiel es dem jungen Soldaten einfach, Zivilisten herumzukommandiere oder er wollte selbst einen guten Blick auf die Geschehnisse erstreiten. „Machen Sie Platz für Seine Exzellenz Gouverneur Kerr!“

Sir Robert stellte sich auf das Schlimmste ein, als er den Kai hinunterschritt. Er schaute auf den Hafen von Halifax und sah … absolut nichts Ungewöhnliches.

Ein kleines Schiff hatte am Kai angelegt, die Segel waren zusammengerollt, und es schaukelte sanft auf den Wellen. Die Hestia segelte unter britischer Flagge, wie er alsbald ebenso aufatmend wie überrascht feststellte. Das bedeutete, dass es sich weder um ein Piratenschiff noch um ein fremdländisches Schiff handelte.

Nein, es sah genauso aus wie Hunderte andere Schiffe, die hier im Laufe des Jahres anlegten und Fracht entluden oder Passagiere beförderten. Was hatte so viele ehrliche Bürger von Halifax dazu veranlasst, sich vor der Werft von Powers zu versammeln, um einem ganz gewöhnlichen Schiff beim Löschen der Ladung zuzusehen?

Ein helles Flattern sprang dem Gouverneur ins Auge. Jemand stand auf dem Schiffsdeck und winkte mit einem Taschentuch. Sir Robert nahm das Deck genauer in Augenschein. Eine große Anzahl junger Frauen stand dicht gedrängt an der Reling und blickte erwartungsvoll auf die Menge am Kai. Die leuchtenden Farben ihrer Hüte und Tücher bildeten einen festlichen Kontrast zu den nüchternen Braun- und Grautönen des Schiffsrumpfes.

„Was zum Teufel …?“, flüsterte er.

Doch es war, als ob der Wind … oder irgendetwas anderes … ihm diese Worte wieder zurück in den Mund wehte.

Eine Frau balancierte über die Gangway. Einer der Männer von der Schiffsbesatzung bot ihr Hilfe an, doch sie schüttelte seinen Arm ab und setzte den Weg allein fort, obgleich das Schiff bedrohlich schwankte. Der Wind bauschte ihr buttergelbes Kleid und gab den Blick auf ein Paar wohlgeformte Fesseln frei.

Sie setzte mit der eleganten Anmut einer Tänzerin einen Fuß vor den anderen, und dennoch wirkten ihre Bewegungen so stramm und entschlossen, als ob sie ein General wäre, der seine Truppen inspiziert. Dieser Widerspruch verunsicherte Sir Robert ebenso wie die gesamte Situation.

Sobald die Dame den Kai erreicht hatte, warf sie einen Blick auf die Menschenmenge und lächelte. Just in diesem Moment fiel ein vereinzelter Sonnenstrahl durch die dahinjagenden Wolken, brachte das aufgewühlte Wasser des Hafens von Halifax zum Funkeln und ließ die Frau in dem gelben Kleid erstrahlen.

Das Gemurmel der Menge verstummte.

„Wie entzückend!“, sagte die Frau, als schien sie laut auszusprechen, was Sir Robert gerade über sie gedacht hatte. „Sie haben eigens ein Begrüßungskomitee für uns arrangiert, um uns zu empfangen!“

Bevor jemand sie eines Besseren belehren konnte, ergriff sie erneut das Wort. „Gewiss sind Sie alle sehr erleichtert, dass wir endlich angekommen sind. Ich hoffe, Sie haben sich nicht zu große Sorgen gemacht, dass wir Schiffbruch erlitten hätten. Auch wenn ich gestehen muss, dass es während unserer Reise Situationen gab, in denen ich ein solches Unglück ernsthaft befürchtet habe.“

Sir Robert überlegte, ob er sich zwicken sollte. Die vergangene halbe Stunde besaß die verwirrenden Eigenschaften eines Traums. Vielleicht war er beim Verfassen des Berichts an seinem Schreibtisch eingeschlafen und träumte dies alles nur.

Er starrte die Frau vor sich an und lauschte ihrer bezaubernden Stimme. Es tat ihm leid, aufwachen und zurück an die Arbeit zu müssen. Gewiss konnte es nichts schaden, noch ein paar Augenblicke in diesem Traum zu verweilen, der plötzlich so angenehm geworden war.

Um die Frau genauer zu betrachten, trat er einen Schritt vor. „Ich fürchte, hier muss ein Irrtum vorliegen, Madam.“

Er beugte sich vor, um ihr die Hand zu geben und war erstaunt, wie tief er sich bücken musste. Aus der Entfernung hatte ihre majestätische Haltung sie viel größer erscheinen lassen. Jetzt, da er sich auf sie zubeugte, wurde ihm bewusst, was für eine kleine und zarte Person sie war. Unsinnigerweise verspürte er den Drang, sie zu beschützen, obgleich er gar nichts über sie wusste – nicht einmal ihren Namen.

„Was für eine Art von Irrtum?“, fragte die Dame. „Wurden wir etwa nicht erwartet?“ Sie sah ihn fest an.

Sir Robert wurde das Krawattentuch am Hals zu eng, und ein kurzer Schwindel erfasste ihn, der ihn fast ins Schwanken brachte. Was zum Teufel war in ihn gefahren?

Er hatte noch nie in seinem Leben auf die Augenfarbe einer Frau geachtet. Jetzt konnte er nicht anders, als davon Notiz zu nehmen. Ihre Augen waren von einem hellen, lebhaften Braun mit goldenen und silbernen Einsprengseln, die an die Sprenkel einer Forelle erinnerten. Sie sah ihn verwundert, aber auch ein wenig belustigt an. Oder vielleicht erwiderte sie mit ihrem Blick auch nur die neugierige Faszination, die sich seiner bemächtigt hatte.

Aber das war Unfug! Er war nie ein Mann gewesen, den Frauen in dieser Weise betrachteten. Die wenigen Damen, die seine Wege kreuzten, machten sich selten die Mühe, überhaupt aufzusehen. Doch Sir Robert war das lieber so gewesen, bis er in diese Augen gestarrt hatte …

„Ich muss gestehen, dass ich keine Ahnung habe, wer Sie sind oder weshalb Sie in meine Kolonie gekommen sind, Madam?“ Allerdings wollte er es herausfinden – vor allem, wer sie war.

„Es muss etwas mit dem Brief passiert sein“, sagte sie bestürzt und blickte sich zum Schiff um. „Wahrscheinlich hätten wir eine Antwort abwarten müssen, bevor wir lossegelten, aber die Zeit lief uns davon. Überdies war ich mir sicher, dass uns die Gentlemen von Neuschottland mit offenen Armen begrüßen würden. Und das haben sie ja auch getan – sehr zu meiner Freude.“

Mit diesen Worten kehrte das strahlende Lächeln in ihr Gesicht zurück, bei dessen Anblick es Sir Robert ganz heiß wurde.

„Ich bin Mrs Finch.“ Sie knickste anmutig. „Mrs Jocelyn Finch.“

Dass sie verheiratet war, versetzte Sir Robert einen Stoß in die Magengegend, als wäre sein Magen ein Frachtraum, der von einer verirrten Kanonenkugel zerschmettert wurde und sich rasch mit Wasser füllte.

Mrs Finch hob die Stimme, um das Gemurmel der Menge zu übertönen. „Es ist mir eine große Ehre, den Männern dieser schönen Kolonie eine Schiffsladung bezaubernder junger Damen zu bringen, die ihre Einsamkeit lindern werden!“

Das Gemurmel schwoll zu einem lauten Raunen an, wie eine mächtige Welle, bevor sie gegen die Felsen schmettert.

Einen Moment lang stand der Gouverneur reglos und stumm da – völlig fassungslos über Mrs Finchs empörende Erklärung. Wenn sie ihm einen Nachttopf über den Kopf gestülpt hätte, Sir Robert hätte sich nicht beschmutzter und beleidigter fühlen können.

Seit er das Amt in der Kolonie angetreten hatte, hatte er unermüdlich gegen das Übel der Prostitution angekämpft, das in Garnisonsstädten wie Halifax zügellos wucherte. Dabei waren seine Bemühungen auf wenig Unterstützung gestoßen. Jeder, vom Admiral bis hin zum Ministerium in London, schien das verachtenswerte Gewerbe als ein notwendiges Übel zur Aufmunterung der Soldaten und diensttuenden Matrosen in den Kolonien zu betrachten. Selbst der Bischof hielt sich mit einer scharfen Verurteilung der Bordelle in der Barrack Street zurück.

Doch diese leichtfertige Billigung eines Gewerbes, das Erkrankungen, Unordnung und sittlichen Zerfall begünstigte, fand Sir Robert unerträglich. Wenn ihm das den Ruf eines „verklemmten Verfechters der Prüderie“ eintrug, wie ihn einige seiner Gegner hinter seinem Rücken nannten, schämte er sich nicht. Bisher hatte er die Versuche der Gegner, seine Autorität zu untergraben, weitgehend ignoriert. Doch dieser schamlosen Invasion einer ganzen Schiffsladung von Freudenmädchen, die direkt unter seiner Nase in die Stadt stolzieren wollten, würde er beherzt entgegentreten!

Beabsichtigte diese wohlgestaltete Mrs Finch etwa ihn zu bezirzen, um seine Komplizenschaft zu erwirken? Sir Robert war außer sich.

„Madam“, sagte er und zitterte geradezu bei dem Versuch, seine Entrüstung zu verbergen. „Die Männer meiner Kolonie sind in ihrer Einsamkeit besser dran, als wenn sie an Krankheiten dahinsiechen müssten, die sie durch die Begegnungen mit Ihren Damen erleiden werden.“

Es verlieh ihm eine gewisse Befriedigung, als er sah, wie sich ihr hübsches Gesicht versteinerte. Zweifellos hatte die kleine Verführerin schon geglaubt, er sei ihrem Charme erlegen. Stattdessen hatte sie ihm nur weiteren Anlass gegeben, auf Abstand zum schönen Geschlecht zu gehen.

„Ich schlage vor, dass Sie auf Ihr Schiff zurückkehren!“, erklärte Sir Robert mit gebieterischem Tonfall und zeigte mit dem rechten Zeigefinger auf die Hestia. „Und dann setzen Sie die Segel, um mit Ihrer Fracht sittenloser Dirnen eine andere einsame Kolonie anzusteuern, wo dieses Laster geduldet wird. Sie und die anderen Damen sind in Neuschottland nicht willkommen!“

Die Benommenheit wich aus Jocelyn Finchs lieblichen Zügen, und sie starrte ihn mit äußerster Empörung an. Unglücklicherweise beeinträchtigte das ihre Schönheit nicht im Geringsten.

Sir Robert wünschte, es hätte sich anders verhalten.

„Wie können Sie es wagen?“ Mrs Finch zog sich den linken Handschuh von den zarten Fingern.

Bevor Sir Robert ahnte, was sie vorhatte, erhob sie sich auf die Zehenspitzen und schlug ihm mit dem Handschuh über die linke Wange. Obgleich es sich nur um einen kleinen Fetzen weichen Ziegenleders handelte, fühlte es sich an, als ob der Teufel ihm eine Ohrfeige verpasst hätte.

„Ich fordere Genugtuung für diese niederträchtige Beleidigung, Sir!“, schrie sie. „Wie können Sie es wagen, meinen Ruf und die Ehre meiner Schützlinge mit Ihren ekelhaften Anschuldigungen zu besudeln? Was gibt Ihnen das Recht, uns aus dieser Kolonie fortzuschicken?“

Bevor Sir Robert sich wieder ausreichend für eine Antwort hätte sammeln können, stellte sie noch eine letzte Frage, die ihn erneut verstummen ließ. „Und seit wann wird der heilige Bund der Ehe in Neuschottland als Laster betrachtet?“

Ihre Worte erschütterten Sir Robert noch heftiger, als es ihr Schlag mit dem winzigen Handschuh vermocht hatte. „Ehe?“

Mrs Finch nickte ebenso herausfordernd wie triumphierend.

„E-h-e.“ Sie wiederholte das Wort, indem sie die beiden Silben mit provokantem Genuss über ihre sinnlichen Lippen blies. „Vielleicht haben Sie schon einmal davon gehört? Ein Mann und eine Frau leben zusammen im heiligen Stand der Ehe und haben sich gegenseitig lebenslange Treue geschworen?“

Oh, er wusste nur zu gut, was mit Ehe gemeint war. Schließlich hatte er sich darin geübt, einem solchen Bund aus dem Weg zu gehen, seit er das heiratsfähige Alter erreicht hatte. Die Ehe hielt einen Mann nur von seinen Pflichten ab und belastete ihn mit unsinnigen Aufgaben. Sir Robert redete sich ein, Mister Finch nicht um die Ablenkung zu beneiden, die seine Ehefrau darstellte.

Jocelyn genoss die Fassungslosigkeit des grässlichen Mannes, der vor ihr stand. Wenn sie nur daran dachte, dass sie sich bei seinem Anblick gefragt hatte, ob ihr Herz tatsächlich zusammen mit ihrem geliebten Ned auf dem Schlachtfeld gestorben war! Das attraktive Äußere des dunkelhaarigen Mannes und seine vornehme Haltung hatten unweigerlich dazu geführt, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Die zurückhaltende und höfliche Art, mit der er ihr zunächst begegnet war, hatte in ihr sogar etwas zum Leben erweckt, das lange brachgelegen hatte.

Doch dieser erste besonders vorteilhafte Eindruck, den sie von ihm gewonnen hatte, machte sein anschließendes Verhalten nur um so schlimmer. Stolz und beschwingt hatte sie ihre Mission in der Kolonie verkündet, in der törichten Annahme, er würde darauf mit einem freundlichen Lächeln antworten.

Stattdessen hatte er sie angestarrt, als ob sie Dreck wäre, den er unbedingt von seinen tadellos polierten Stiefeln kratzen müsste. Kein Mann hatte sie je mit einer solchen Verachtung angeblickt! Nicht einmal ihr Vater an jenem Tag, als er sie ohne jeden Penny verstoßen hatte, weil sie eine Ehe eingegangen war, die nicht seinen Wünschen entsprach.

Vermutlich vor der halben männlichen Einwohnerschaft dieser Stadt hatte dieser Fremde sie nun als Kupplerin und Dirne beschimpft! Wenn sie daran dachte, welche enormen Anstrengungen sie während der Reise unternommen hatte, um Vita Sykes’ Tugend zu schützen, hätte Jocelyn bei dieser lächerlichen Anschuldigung beinahe laut aufgelacht. Doch dafür war sie viel zu gekränkt und wütend!

Ohne zu zögern, zog sie den Handschuh von den Fingern. Da ihr kein Mann zur Seite stand, der den Ehrabschneider für eine solche Beleidigung zum Duell herausforderte, musste sie ihre Ehre selbst verteidigen – und noch wichtiger, die ihrer Schützlinge.

In diesem Moment hätte sie am liebsten eine Kugel durch diesen …

Wer war dieser Mann überhaupt? Es kam ihr ungehörig vor, dass er in derartig kurzer Zeit so heftige Gefühle in ihr hervorrief, ohne dass er sich auch nur die Mühe gemacht hätte, sich vorzustellen.

Während er überrascht durch ihren Gegenangriff wie gelähmt dastand, nutzte Jocelyn die Gelegenheit, ihrer Empörung Luft zu machen. „Was gibt Ihnen überhaupt das Recht, hier zu verkünden, unser Schiff sei in Neuschottland nicht willkommen?“

Bevor er etwas erwidern konnte, löste sich ein ängstlich aussehender junger Mann aus der Menge am Kai. „Verzeihen Sie, Madam.“ Er verbeugte sich. „Dieser Gentleman ist Seine Exzellenz Gouverneur Sir Robert Kerr. Er besitzt in der Tat die Autorität, Ihr Schiff aus dem Hafen von Halifax zu verweisen.“

Der Gouverneur? Jocelyn starrte Sir Robert Kerr erschrocken an. Sie hatte gerade den Gouverneur von Neuschottland zum Duell herausgefordert. Konnte ihre Mission in der Kolonie noch unglücklicher beginnen?

2. KAPITEL

Sir Roberts Traum entwickelte sich immer schneller zu einem Albtraum!

Er hatte Mrs Finch und die jungen Frauen in ihrer Obhut in aller Öffentlichkeit mit der schlimmsten Beleidigung bedacht, die ein Mann bezüglich der weiblichen Ehre machen konnte. Sie hatte ihm daraufhin mit dem Handschuh ins Gesicht geschlagen und ihn vor der halben Stadt zum Duell herausgefordert. Das üble Gerede würde sich über ganz Halifax ausbreiten, bevor die Turmglocke von St. Paul’s auf dem Hügel zur nächsten Stunde schlug!

Zweifellos würde es an diesem Nachmittag bei den örtlichen Teekränzchen kein anderes Gesprächsthema geben. Sir Robert hatte bereits vor Augen, wie seine Gegner gierig die Details auskosteten, als ob es sich um kleine Tortenstücke handelte, die mit Häme und Bösartigkeit gefüllt waren.

Und noch schlimmer als das Gaffen und Kichern der Menge hinter ihm war Mrs Finchs Blick, in dem ebenso viel Bestürzung wie Verachtung lag. Eine Kälte erfasste ihn, wie es selbst in der heftigsten Schlacht nie der Fall gewesen war.

War es dumm von ihm gewesen, diesen Posten zu übernehmen? Dass der Duke of Wellington ihn persönlich für das Gouverneursamt empfohlen hatte, hatte ihn gerührt und ihm geschmeichelt. Er wollte seine Sache vorbildlich machen, um das Vertrauen des Dukes in ihn zu rechtfertigen. Überdies wollte er die Fraktionen im Londoner Parlament zum Schweigen bringen, die sich über die Anzahl von „Wellingtons Waterloo-Kriegern“ beschwerten, denen angeblich traumhafte Kolonialposten zugeschoben wurden, ohne dass sie den Aufgaben gewachsen wären.

Doch er war ein Mann des Militärs und kein Diplomat.

Glücklicherweise kam ihm der junge Duckworth zu Hilfe. „Gewiss sind einige Erklärungen angebracht, Mrs Finch, doch dies scheint nicht der geeignete Ort zu sein, um darüber zu reden. Meinen Sie nicht auch, Eure Exzellenz?“

Das war genau der Hinweis, auf den Sir Robert gewartet hatte. „Nein, in der Tat nicht“, sagte er unfreundlich. „Diese Angelegenheit sollte nicht an einem öffentlichen Kai besprochen werden.“

Er wandte sich an den Wachsoldaten, den er vom Government House mitgebracht hatte. „Sorgen Sie umgehend dafür, dass die Menge sich auflöst. Bestimmt haben einige der Männer andere Pflichten, denen sie nachkommen sollten.“

Wie sehr sich Sir Robert wünschte, er hätte diesen Befehl bereits unmittelbar nach seiner Ankunft erteilt!

Während der Soldat eifrig in die Menge brüllte, um die murrenden Schaulustigen ihrer Wege zu schicken, wandte sich Sir Robert an Mrs Finch. „Sie sollten mir besser ins Government House folgen, Madam. Dort können wir die Sache in Ruhe überprüfen.“

Seine Einladung ließ er wie einen Befehl klingen, worin er die nötige Übung hatte.

Mrs Finch drehte sich zum Schiff um. „Darf ich die Mädchen mitnehmen? Nach den Strapazen der Reise sehnen sich die armen Geschöpfe danach, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren.“

Sir Robert durfte sich auf keinen Fall von seinem Mitleid beeinflussen lassen. „Ich fürchte, das wird nicht möglich sein.“

Wenn er die Frauenschar von Bord ließ, bevor er entschieden hatte, wie mit der Situation umzugehen war, ließ sich das Unheil, das die weibliche Invasion anrichten konnte, vermutlich nicht mehr aufhalten. „Bevor die Angelegenheit nicht geklärt ist, dürfen weder die jungen Damen noch die Mannschaft das Schiff verlassen.“

„Sie sollen also dort festgehalten werden?“ Jocelyn Finch blickte ihn erbost an und zog beleidigt die dünnen dunklen Brauen zusammen. „Als ob sie ein Haufen von Verbrechern wären? Nie zuvor ist mir eine solch verachtenswürdige Verletzung der Gastfreundschaft zu Ohren gekommen!“

„Ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie und die anderen jungen Damen keinesfalls Gäste dieser Kolonie sind“, warnte Sir Robert sie in einem Tonfall, mit dem er Untergebene in die Schranken zu weisen pflegte, die seine Befehle infrage stellten. „Sie sind unangekündigt und uneingeladen hierhergekommen. Bezüglich Ihrer Absichten habe ich nichts als Ihr Wort.“

Möglicherweise waren Mrs Finchs Absichten lauterer, als er irrtümlich angenommen hatte. Doch das bedeutete noch lange nicht, dass er sie guthieß.

Allerdings hatte er es eilig, ihren empörten Blicken zu entkommen, weshalb er sein Augenmerk kurzerhand auf den jungen Soldaten richtete, dem es mustergültig gelungen war, die Menge am Kai zu vertreiben. „Gut gemacht, Korporal. Und jetzt möchte ich, dass Sie dieses Schiff bewachen. Sorgen Sie dafür, dass niemand an Land geht, bis Sie von mir anderweitige Anweisungen erhalten. Haben Sie das verstanden?“

Der Korporal salutierte ohne zu zögern. „Jawohl, Sir!“

Durch die Respektbezeugung des Soldaten bestärkt wandte sich Sir Robert wieder mit einer gewissen Herablassung der Besucherin zu.

„Zum Government House geht es da entlang.“ Er deutete mit dem Kopf zur Salter Street und schritt forsch voran, bevor er bemerkte, dass Mrs Finch ihm nicht folgte.

Was war nun wieder los?

Er blickte zurück und sah, dass sie noch immer an derselben Stelle stand. „Kommen Sie?“

„Sie meinen, ob ich den Weg zu Fuß gehe?“ Sie ließ den Blick über die vergitterten Lagerhäuser aus braunem Stein wandern, welche die Kais flankierten.

„Es ist nicht weit.“ Ungeduldig winkte er sie zu sich. „Wir sind zehn Mal schneller dort, als wenn wir auf eine Kutsche warten würden.“

Der junge Duckworth, der bei Mrs Finch stehen geblieben war, nickte zustimmend. „Das Government House befindet sich gleich um die Ecke den Hügel hinauf, Madam.“

Die Dame beachtete ihn gar nicht, sondern starrte nur ungläubig den steilen Abhang hoch, der zur Salter Street führte.

„Wollen Sie mir nicht wenigstens Ihren Arm reichen?“, rief sie dem Gouverneur in einem Tonfall zu, der frostiger war als der nordatlantische Winter. „Oder steht mir selbst eine so kleine höfliche Geste in Ihren Augen nicht zu?“

Wenige Dinge stimmten Sir Robert Kerr so übellaunig wie die Unterstellung, er komme seinen Verpflichtungen nicht nach.

Er stapfte zu ihr zurück und murmelte missmutig: „Es handelt sich nicht um einen offiziellen Besuch! Außerdem bin ich nicht davon ausgegangen, dass Sie meinen Arm ergriffen hätten, wenn ich ihn Ihnen angeboten hätte.“

In steifem Winkel streckte er den linken Arm aus, um deutlich zu machen, dass es ihm kein Vergnügen bereitete, ihr diese Ehre zu erweisen. Und wahrscheinlich auch, um sich selbst in seiner ablehnenden Haltung zu bekräftigen …

„Eure Exzellenz?“ Duckworth hastete an seine andere Seite. „Soll ich das Küchenpersonal benachrichtigen, dass Sie einen Gast zum Tee haben?“

Über Mrs Finchs Kopf hinweg warf der Gouverneur dem Sekretär einen strengen Blick zu. Er hätte es bevorzugt, seinen Tee ohne Zinnober in seinem Arbeitszimmer zu trinken und nebenher Berichte zu lesen und Papiere zu unterzeichnen. Jetzt sah er sich genötigt, wegen dieser lästigen Frau den Gastgeber zu spielen.

„Madam, möchten Sie bei einem Tee über Ihre Lage sprechen?“ Er versuchte, den warmen Druck ihrer Hand auf seinem Arm zu ignorieren.

„Oh, dafür wäre ich sehr dankbar“, erwiderte sie erfreut. „Als unser Schiff durch den Sturm vom Kurs abkam, gingen eine Menge Vorräte verlustig. Seit zwei Wochen haben wir uns alle mit knappen Rationen abfinden müssen.“

Bevor der Gouverneur wusste, was er darauf entgegnen sollte, meldete sich sein Sekretär zu Wort. „Dann werde ich vorauseilen und Miz Ada verständigen, Sir.“

Schon war Duckworth losgelaufen, sodass Sir Robert mit Mrs Finch allein zurückblieb. Er war es nicht gewohnt, sich mit Frauen zu unterhalten, und mied solche Situationen nach Möglichkeit wie der Teufel das Weihwasser. Jetzt hatte er keine Wahl.

Bevor er sich ein paar der üblichen Gesprächsfloskeln in Erinnerung gerufen hatte, ergriff Mrs Finch das Wort – oder genau genommen, stieß sie keuchend die folgenden Worte aus: „Verzeihen Sie, Sir. Aber würden Sie bitte … freundlicherweise … langsamer gehen!“

Ein kurzer Seitenblick bestätigte ihm, dass die Dame bei seinem flotten Paradeschritt kaum mithalten konnte. Ihr Gesicht war hochrot angelaufen und ihre Brüste, auf deren wohlgeformte Rundungen er eine weit bessere Sicht hatte, als ihm lieb war, hoben und senkten sich in beunruhigender Weise. Was, wenn sie plötzlich ohnmächtig wurde und in seine Arme fiel oder dergleichen Unsinn geschah?

Zu seinem Entsetzen empfand er die Aussicht, die Frau eines anderen in den Armen zu halten, als ausgesprochen erregend. Er verlangsamte seine Schritte. Wo war dieser Mr Finch überhaupt?

„Befindet sich Ihr Gatte noch auf dem Schiff?“, erkundigte er sich. „Ich habe nichts dagegen, wenn er uns begleitet.“ Vielleicht würden sie dann die ganze Angelegenheit in Ruhe unter Männern klären können.

Mrs Finchs Miene ließ keinen Zweifel daran, dass er die schlimmste und unverschämteste Frage gestellt hatte, die sich ein Mann ausdenken konnte.

Inzwischen war Jocelyn länger Witwe, als sie Ehefrau gewesen war. Die Zeit hatte sie gelehrt, über ihren verstorbenen Mann zu sprechen, ohne sich den großen Schmerz anmerken zu lassen. Warum traten ihr also ausgerechnet bei der unerwarteten Frage des Gouverneurs Tränen in die Augen?

Möglicherweise lag es daran, dass er ohne echtes Interesse annahm, dass Ned am Leben war. Oder vielleicht auch daran, dass sie sich im ersten Augenblick zu Sir Robert Kerr hingezogen gefühlt hatte und sich einen Moment lang vorgekommen war, als ob sie dem Andenken ihres Mannes untreu geworden wäre.

„Mein Mann ist nun beinahe drei Jahre tot, Sir“, antwortete sie mit fester Stimme.

Er wurde noch langsamer und bog mit ihr in die weite Straße ein, die parallel zum Hafen verlief. „Waterloo? Wir haben an diesem Tag zu viele gute Männer verloren.“

Jocelyn spürte, dass er wie jemand sprach, der damals selbst zugegen gewesen war. „Ned fiel einen Tag davor an der …“

„… großen Wegkreuzung.“ Sir Robert seufzte traurig und ein wenig verbittert. „Mein aufrichtiges Beileid, Mrs Finch.“

Das hatte der Kommandeur ihres Mannes auch geschrieben, als er sie über Neds Tod in Kenntnis gesetzt hatte. Dafür und für das lächerliche Witwengeld konnte sie sich nicht viel kaufen!

Der Gouverneur hat es gut gemeint, ermahnte sich Jocelyn. Außerdem war es ratsam, seine Sympathie zu gewinnen. Allerdings konnte sie ihm die feindseligen Unterstellungen nicht einfach durchgehen lassen, mit denen er ihr entgegengetreten war.

„Hier entlang.“ Er geleitete sie von der Straße zu einer breiten Auffahrt, über die man leicht ansteigend zu einem repräsentativen Gebäude gelangte.

Nach Jocelyns Geschmack zerstörten die hölzernen Wachhäuschen zu beiden Seiten der geschwungenen Eingangstreppe die klassischen Proportionen des großen Hauses. Nichtsdestotrotz wirkte es wie ein Ort, an dem man einen köstlichen Tee mit reichlich Gebäck und Kuchen erwarten konnte.

Der höfliche junge Mann, der ihnen vorausgeeilt war, öffnete die Eingangstür, als der Gouverneur sie die Stufen hochführte. „Es ist alles vorbereitet, Sir Robert. Der Tee wird in Kürze im Gesellschaftszimmer serviert.“

Der arme Mann klang noch immer ganz atemlos, obgleich Jocelyn zugeben musste, dass die Entfernung vom Kai bis hierher tatsächlich nicht den Aufwand gerechtfertigt hätte, eine Kutsche zu rufen.

„Ich danke Ihnen, Duckworth.“ Der Gouverneur reichte dem jungen Mann seinen Hut. „Wie immer ist Ihre Hilfe auch heute Nachmittag von unschätzbarem Wert.“

Er wies auf eine Türöffnung, die von der linken Seite des Vestibüls abging. „Darf ich Sie bitten, mir zu folgen, Madam. Das Gesellschaftszimmer befindet sich direkt hinter dem Empfangszimmer.“

Jocelyn blickte sich um, während sie ein helles und hübsch eingerichtetes Zimmer durchquerte, in dem zwei mit blauem Satin überzogene Sofas, vier kleine Mahagonitische und mehr als zwei Dutzend Stühle standen, ohne dass der Raum im Mindesten überfüllt wirkte. Erwartete Seine Exzellenz etwa, dass eine solche Umgebung sie beeindruckte?

Wenn er nur wüsste! Verglichen mit den herrschaftlichen Häusern, in denen sie gelebt hatte oder zu Gast gewesen war, stellte das Government House eine recht bescheidene Umgebung dar. Auch das stattliche Gesellschaftszimmer mit seinem kostbaren Brüsseler Teppich und dem eleganten Kronleuchter konnte die Tochter eines Marquess nicht einschüchtern.

Jocelyn setzte sich auf einen der mit Brokat bezogenen Sessel, die rund um den Teetisch angeordnet waren. Sie rief sich in Erinnerung, was für sie auf dem Spiel stand, und bemühte sich, Gouverneur Kerr mit dem größtmöglichen Charme zu begegnen.

„Was für eine elegante Residenz Sie haben, Sir! Sie sieht ausgesprochen modern aus. Haben Sie den Bau veranlasst?“

„Ich?“ Der Gouverneur schien ihre Frage geradezu als Affront zu empfinden. „Nein. Dafür müssen Sie sich bei Sir John Wentworth und seiner Gattin bedanken. Ich wäre mit einer bescheideneren Unterbringung zufrieden gewesen. In der Tat hätte ich ihr den Vorzug gegeben. Dies ist eher eine Residenz für Gouverneure, die Festivitäten den Vorrang vor Arbeit geben.“

Was für ein unglaublich verdrießlicher Kerl! Noch immer hatte er nicht Platz genommen, sondern war mit hinter dem Rücken verschränkten Händen vor einem der großen Fenster stehen geblieben, die an den weißen Marmorkamin angrenzten.

„Gewiss gehören bestimmte Empfänge und Festivitäten auch mit zur Arbeit eines Gouverneurs.“ Sie zwang sich zu lächeln und freundlich zu bleiben, obgleich er keinerlei Entgegenkommen zeigte.

Er schwieg, aber sie merkte, dass es ihm bei ihren Worten kalt über den Rücken lief.

Just in diesem Moment trat ein junger Lakai ein, der ein Tablett auf dem Teetisch abstellte. Der Gouverneur dankte ihm, ohne jedoch Anstalten zu machen, sich hinzusetzen. Selbst nachdem der Lakai das Zimmer verlassen hatte, verharrte Sir Robert mit angespannter Miene neben dem Kamin. Jocelyn hätte ihn am liebsten aufgefordert, endlich am Tisch Platz zu nehmen, wusste jedoch, dass es ihr nicht zustand.

„Soll ich uns Tee einschenken?“, fragte sie ihn schließlich, da sie ungeduldig darauf wartete, mit der Unterredung zu beginnen. Je schneller sie dieses furchtbare Missverständnis aufklärte, desto eher konnte sie die armen Mädchen von diesem elenden Schiff holen.

„Ja, wenn Sie so freundlich wären.“ Sir Robert nickte kurz, rührte sich aber nicht vom Fleck.

Jocelyn schenkte großzügig dampfenden bernsteinfarbenen Tee in zwei Tassen ein. Wie gut es sich anfühlte, wieder so feines Porzellan und Silberbesteck in Händen zu halten.

Sie nahm die Zuckerzange zur Hand. „Wie viele Stücke möchten Sie, Sir?“

„Kein Zucker, danke“, erwiderte Sir Robert ablehnend, trat aber immerhin näher an den Teetisch heran.

„Sahne?“ Jocelyn hielt fragend das kleine Kännchen in die Höhe. Wie sehr sie sich auf den Geschmack von Sahne im Tee freute!

Mit entschiedenem Kopfschütteln ließ der Gouverneur sich in den Sessel sinken, der am weitesten von ihr entfernt war, und griff nach seiner Tasse. „Ich bevorzuge den Tee ganz pur.“

„Wirklich?“ Jocelyn ließ drei große Zuckerstücke in ihre Tasse gleiten und fügte einen reichlichen Schluck dickflüssige Sahne hinzu. „Für mich kann er gar nicht süß und kräftig genug schmecken – insbesondere nach den Entbehrungen unserer Reise.“

Der Gouverneur gab einen Kehllaut von sich, der sich missbilligend anhörte … Doch vielleicht hatte er sich nur räuspern wollen.

Er hob einen Silberdeckel von einem Teller. Jocelyn lief vor Vorfreude das Wasser im Mund zusammen.

„Brot und Butter, Mrs Finch?“

Brot und Butter? War dies die Gastfreundschaft von Neuschottland? Am liebsten hätte Jocelyn den Teller über dem Kopf ihres Gastgebers entleert.

Offenbar hatte er ihre Enttäuschung bemerkt. „Ich habe nur selten Gäste zum Tee und praktisch nie so unerwartet. Diese bescheidene Kost reicht mir allein vollkommen aus.“

Jocelyn schämte sich für ihre Undankbarkeit. Dennoch hätte sie sich schrecklich gefreut, wenn man ihr ein Stück Walnusskuchen oder Johannisbeertarte angeboten hätte.

Sir Robert deckte den zweiten Teller auf. „Vielleicht möchten Sie lieber einen Muffin?“

Er wies auf zwei kleine Porzellantöpfchen, die am oberen Rand des Tabletts standen. „Sie schmecken sehr gut, wenn man etwas Apfelbutter oder Blaubeermarmelade darauf streicht.“

„Blaubeeren?“

Der Gouverneur nickte. „Sie wachsen hier im Überfluss an ganz niedrigen Büschen. Allerdings sind sie eher violett als blau, insbesondere nach dem Kochen.“

Er reichte ihr eine Serviette. „Die Beeren verursachen die übelsten Flecken, die man sich vorstellen kann, aber sie schmecken ausgesprochen gut.“

Die unbeholfenen Versuche des Gouverneurs, sich gastfreundlich zu geben, besaßen etwas Anrührendes. Jocelyns Feindseligkeit schwand, und sie nahm sich einen Muffin und bestrich ihn mit Marmelade.

Nach dem ranzigen Stew, das sie in den letzten zwei Wochen an Bord hatte essen müssen, schmeckte das süße Gebäck geradezu himmlisch. „Oh, das ist köstlich!“, lobte sie und biss ein großes Stück ab – ein zu großes, wie ihr klar wurde, als ihre Wangen sich weiteten.

Der Gouverneur nutzte diesen Moment, in dem sie unmöglich etwas erwidern konnte, um das Wort zu ergreifen. „Dann sollten wir jetzt über die eigentliche Angelegenheit reden, nicht wahr?“

Jocelyn konnte nur nicken und hoffte, dass sie nicht husten musste.

Der Gouverneur stärkte sich mit einem Schluck Tee. „Unsere Unterhaltung am Kai hat mich ziemlich … ratlos gemacht. Sie erwähnten einen Brief, doch ich habe keine Nachricht erhalten. Würden Sie bitte so gut sein, mir zu erläutern, weshalb Sie nach Halifax kamen und in wessen Auftrag?“

Jocelyn würgte den Bissen hinunter und entschied sich, die letzte Frage zuerst zu beantworten. „Ich wurde von Mrs Dorothea Beamish beauftragt. Ist der Name Ihnen ein Begriff?“

Die kalten blauen Augen des Gouverneurs funkelten bestätigend. Mrs Beamishs gewaltiger Reichtum und ihre energische Persönlichkeit verhalfen ihr zu großer Bekanntheit.

„Ich habe ein zweites Empfehlungsschreiben von ihr“, fügte Jocelyn eilig hinzu. „Ach! Ich habe es bei dem ganzen Durcheinander auf dem Schiff vergessen. Ich würde es Ihnen gern bei nächster Gelegenheit zeigen.“

Trotz der Erwähnung des Namens ihrer Geldgeberin schien Sir Robert nicht auf ein weiteres Zusammentreffen mit Jocelyn erpicht zu sein. „Und was hat sich Mrs Beamish dabei gedacht, eine Schiffsladung junger Frauen in meine Kolonie zu entsenden?“

„Möglicherweise haben Sie bereits von Mrs Beamishs Hilfsmaßnahmen gehört, die verhindern sollen, dass junge Frauen, die mittellos und ohne Unterstützung dastehen, in ein lasterhaftes Leben absinken?“

Der Gouverneur nickte. „Ja, eine lobenswerte Tätigkeit.“ Und mehr zu sich selbst als zu Jocelyn murmelte er: „Jemand wie Mrs Beamish würde dieser verdorbenen Stadt guttun.“

Endlich ein ermutigender Satz! „Es freut mich zu hören, dass Sie unsere Ziele gutheißen, Eure Exzellenz! Mrs Beamish hat in England eine ganze Reihe nützlicher Einrichtungen geschaffen, die sich dieser unglücklichen jungen Frauen annehmen. Doch angesichts der herrschenden Not gerät sie selbst mit ihrem Vermögen an ihre Grenzen.“

Da das Thema Jocelyn besonders am Herzen lag, redete sie sich rasch warm. „Vielleicht können Sie sich nicht ganz vorstellen, wie viele junge Frauen durch den letzten Krieg ihrer Männer, Verlobten und Väter beraubt wurden, die sonst für sie gesorgt hätten.“

Der Gouverneur furchte die Stirn. Offensichtlich hatte er noch keinen Gedanken an die Notlage verschwendet, in der sich viele Frauen seines Landes befanden, die noch immer einen hohen Preis für den Sieg über Napoleon zahlten.

„Mrs Beamish fiel auf, dass es einerseits einen Mangel an geeigneten Männern in England gibt und andererseits einen ebensolchen Mangel an heiratswürdigen Frauen in den Kolonien. Aus diesem Grund hat sie ein Brautschiff für Neuschottland finanziert. In meiner Verantwortung liegt es, diese jungen Frauen zu beaufsichtigen und für sie geeignete Ehemänner zu finden, bevor ich im Herbst nach London zurückkehre. Sofern die Unternehmung von Erfolg gekrönt ist, könnte ich im nächsten Frühling weitere Bräute in die Kolonie bringen. Möglicherweise wird das Ganze auch zum Vorbild für andere britische Ländereien in Übersee.“

Sie holte kurz Luft und sah den Gouverneur, der ihr mit ernster Miene gelauscht hatte, erwartungsvoll an.

Doch statt das Wort zu ergreifen, trank er seinen Tee aus und stellte noch immer stirnrunzelnd die leere Tasse auf dem Tablett ab. Sein Zögern beunruhigte Jocelyn. Auch wenn der Beginn ihrer Bekanntschaft ungünstig verlaufen war, musste er doch einsehen, welche Vorteile beide Seiten aus der Unternehmung zogen.

Endlich brach der Gouverneur sein Schweigen. „Dann haben Sie also die Absicht, den Sommer damit zu verbringen, diese jungen Frauen mit Männern meiner Kolonie zu verheiraten?“

„Ja, in der Tat, Sir. Auf diese Weise erhalten die Junggesellen von Neuschottland Gefährtinnen und echte Hilfen, während meinen Schützlingen zugleich die Möglichkeit gegeben wird, ein gutes und nützliches Leben zu führen.“ Wie dumm musste man sein, wenn man ein solches Vorhaben nicht guthieß?

Der Gouverneur dachte eine Weile über ihre Worte nach, bevor er sich plötzlich erhob und wieder zu dem marmornen Kamin ging.

Er gleicht selbst diesem feinen Kamin, dachte Jocelyn. Äußerlich attraktiv, aber hart und kalt, wenn man ihn berührte. Doch anders als den Kamin konnte ihn vermutlich nichts erwärmen.

Daher war es zwar höchst enttäuschend, aber auch nicht weiter überraschend, als er ihr folgende Antwort gab: „Die Absichten, die hinter Ihrer Idee stecken, mögen gut gemeint sein, Madam. In der Realität wird sie jedoch genau das Gegenteil bewirken. Diese Kolonie soll nicht den frivolen Charakter eines Heiratsmarktes annehmen. Die Männer, die hier leben, haben eine wichtige Arbeit zu verrichten, die ihre volle Aufmerksamkeit erfordert. Sie haben die untätige Menge gesehen, die sich heute Nachmittag am Kai versammelt hat. Halifax kann solche Ablenkungen nicht gebrauchen.“

„Das war nicht unsere Schuld!“ Wütend stand Jocelyn auf und warf die Serviette auf das Tablett. „Wenn mehr Männer in Ihrer Kolonie Frauen und Kinder hätten, die für sie von Bedeutung wären, würden sie vielleicht nicht darin Zerstreuung suchen, auf ankommende Schiffe zu starren.“

Der Gouverneur legte die Stirn noch tiefer in Falten. „Sie kennen diese Menschen und diese Kolonie nicht, Madam. Deren Frieden und Wohlergehen fällt nicht in Ihren Zuständigkeitsbereich, sondern in meinen.“

„Wie können liebende Ehefrauen eine Bedrohung für den Frieden und das Wohlergehen Ihrer Siedler darstellen, Sir?“ Jocelyn hätte den unnachgiebigen Mann am liebsten geschüttelt, damit er zur Vernunft kam. „Sind sie verheiratet?“

„Nein“, entgegnete der Gouverneur. „Ich habe mir nie eine solche Ablenkung von meinen Pflichten gewünscht, geschweige denn die zusätzliche Belastung durch eine Familie. Die Junggesellen von Neuschottland täten gut daran, meinem Beispiel zu folgen. Ich werde dafür sorgen, dass Ihre Proviantvorräte aufgestockt werden, sodass Sie nach England zurückkehren oder in eine andere Kolonie segeln können, wo Sie möglicherweise willkommener sind.“

Die Aussicht, auch nur eine weitere Stunde, geschweige denn Tage oder Wochen, mit den Mädchen auf dem Schiff eingesperrt zu sein, war für Jocelyn beinahe unerträglich. Außerdem konnte sie unmöglich nach England zurückkehren und Mrs Beamish gegenübertreten, ohne ihre Aufgabe erfüllt zu haben. Und wie würde man sie erst in den anderen Kolonien empfangen, nachdem man sie an den Ufern Neuschottlands abgewiesen hatte!

„Das können Sie mir nicht antun!“, schrie sie. Außer ihrem Vater hatte nie ein Mann sie in solche Wut versetzt.

„Ich kann das nicht nur, ich muss es sogar zum Wohl dieser Kolonie tun.“ Er schritt auf die Tür zu und rief nach seinem Sekretär.

Jocelyn stieß beinahe den Teetisch um, als sie hinter ihm herhastete.

„Haben Sie vergessen, dass ich Sie zum Duell herausgefordert habe?“ Sie zupfte an seinem rechten Ärmel. „Sind Sie ein solcher Feigling, dass Sie mich aus der Stadt schicken, bevor ich meine Ehre verteidigen kann?“

Mit unverhohlener Abscheu sah er sie an. „Madam, ich habe nicht die Absicht, mich mit irgendjemandem zu duellieren und schon gar nicht mit einer Frau. Mir ist ein Irrtum unterlaufen, der unter den gegebenen Umständen nur zu verständlich gewesen sein dürfte. Ich bin bereit, mich dafür öffentlich zu entschuldigen. Wenn Sie möchten, lasse ich eine entsprechende Erklärung in der Halifax Gazette veröffentlichen.“

Er wandte sich an seinen Sekretär, der gerade erschienen war. „Erinnern Sie mich bitte daran, Duckworth. Aber zunächst möchte ich, dass Sie Mrs Finch zurück zu ihrem Schiff begleiten.“

Der Gouverneur löste ihre Hand von seinem Ärmel und verbeugte sich kurz. „Ich wünsche Ihnen eine gute Reise, Madam.“

Bevor Jocelyn weiteren Protest erheben konnte, hatte er das Gesellschaftszimmer verlassen.

Mit einem erstickten Aufschrei wandte sie sich zu dem Teetablett um und ergriff schwungvoll das Schälchen mit Blaubeermarmelade, um es gegen den makellosen Marmorkamin des Gouverneurs zu schleudern … in Ermangelung eines geeigneteren Ziels.

Mr Duckworth eilte erschrocken auf sie zu. „Bitte nicht, Madam! Das macht einen fürchterlichen Dreck!“

Das war genau, was sie wollte – Seiner Exzellenz ein ewiges Andenken in Form von violetten Flecken hinterlassen!

Die flehentliche Bitte des Sekretärs ließ sie innehalten. Schließlich würde nicht der Gouverneur selbst den Schaden beseitigen müssen.

Sie reichte Mr Duckworth das Marmeladenschälchen. „Sie haben mein tiefstes Mitleid, für einen solchen Tyrannen arbeiten zu müssen.“

Der junge Mann nahm ihr das Töpfchen ab, bevor er antwortete. „Es gibt keinen Mann in der Kolonie, dem ich lieber dienen würde, Madam.“

Der arme dumme Junge! dachte Jocelyn, während sie sich von ihm aus dem Government House und hinunter zum Hafen führen ließ. Bei jedem Schritt überlegte sie, mit welcher Ausrede sie die Rückkehr auf das Schiff verzögern konnte. Wenn sie erst wieder an Bord war, würde Gouverneur Kerr sie gewiss daran hindern, auch nur einen Schritt an Land zu gehen. Und wie sollte sie Befürworter für ihr Anliegen finden, ohne jemanden in der Stadt sprechen zu können?

Als der Kai in Sichtweite war, seufzte Mr Duckworth. „Da hat sich schon wieder eine Menschenmenge versammelt! Ich hoffe, wir müssen nicht das Militär rufen, um diese Leute auseinanderzutreiben.“

Je näher sie kamen, desto deutlicher wurde, dass sich die Schaulustigen von der ersten Ansammlung unterschieden, da es sich nun überwiegend um Frauen handelte.

In kleinen Grüppchen standen sie am Kai, stritten miteinander und wiesen mit den Fingern auf das Schiff. Einige schäkerten mit dem jungen Soldaten, den Gouverneur Kerr als Wache zurückgelassen hatte. Aus den aufdringlichen Farben ihrer Kleider und ihrer vulgären Verhaltensweise schloss Jocelyn, dass es die Art von Frauen war, die Sir Robert zunächst in ihr und ihren Schützlingen vermutet hatte. Gewiss hatten sie von der Unterstellung des Gouverneurs erfahren und wollten einen Blick auf ihre vermeintlichen Konkurrentinnen werfen.

Jocelyn konnte sich nicht daran erinnern, in London je so viele Frauen von schlechtem Ruf auf einen Haufen gesehen zu haben … zumindest nicht in den Stadtteilen, in denen sie gewöhnlich unterwegs war. Wenn Halifax ein derartig großes Problem mit dem ältesten Gewerbe der Welt hatte, entschuldigte das zumindest ein ganz klein wenig, weshalb der Gouverneur so voreilig falsche Schlüsse aus ihrer, Jocelyns, Anwesenheit gezogen hatte. Was ihm jedoch noch lange nicht das Recht gab, sie fortzuschicken, nachdem sie ihm die wahren Absichten erläutert hatte!

In diesem Moment rief eine Frau etwas aus einer offenen Kutsche, die nicht weit entfernt angehalten hatte. „Oh, Mr Duckling! Auf ein Wort bitte!“

„Duck-worth, verdammt!“, fluchte der junge Mann beinahe unhörbar und näherte sich der Kutsche.

Es kam Jocelyn kurz in den Sinn, wegzulaufen, während er abgelenkt war. Mit etwas Glück würde es ihr gelingen, einen Geistlichen oder einen anderen angesehenen Bürger zu finden, der bereit war, sich für sie beim Gouverneur zu verwenden. Sofort verwarf sie den Gedanken. Da sie hier niemanden kannte und auch nicht wusste, wen sie aufsuchen musste, war die Lage aussichtslos.

Als Mr Duckworth die Kutsche erreichte, war sie ein Stück zurückgeblieben. „Oh, Mrs Carmont, was für eine freudige Überraschung! Kann ich Ihnen mit irgendetwas zu Diensten sein, Madam?“

„Ja, das können Sie in der Tat“, erwiderte die vornehme Dame, deren Stimme Jocelyn irgendwie bekannt vorkam. „Vielleicht wären Sie so freundlich, mich zuverlässig über die jüngsten Ereignisse aufzuklären. Im Augenblick kursieren die abwegigsten Gerüchte. Oder stimmt es etwa, dass Barnabas Power eine Schiffsladung liederlicher Frauen importiert hat, um die Offiziere der Garnison zu versorgen?“

Duckworth schüttelte entschieden den Kopf. „Es ist ein Schiff angekommen, auf dem sich eine Reihe junger Damen befindet, Madam. Aber meines Erachtens nach sind sie aus ehrbaren Gründen in die Kolonie gekommen. Überdies ist mir keinerlei Verbindung zu Mr Power bekannt, außer dass sie am Kai seiner Werft angelegt haben.“

Er drehte sich zu Jocelyn um und winkte sie zu sich. „Hier ist eine Dame, die Ihnen genauer Auskunft erteilen kann als ich. Darf ich Ihnen Mrs Jocelyn Finch vorstellen. Mrs Finch, darf ich Ihnen Mrs Carmont, die Gattin unseres …“

Bevor er den Satz beenden konnte, rief die Frau: „Jocelyn? Lady Jocelyn DeLacey? Meine Liebe, ich bin es, Sally Hastings – Mrs Carmont seit meiner Heirat. Was für eine freudige Überraschung, dich ausgerechnet hier in Halifax wiederzusehen!“

„Sally, natürlich! Wie schön, dich zu sehen!“ Zu Hause in England hatte Jocelyn es gehasst, zufällig alte Bekannte zu treffen. Aber hier und jetzt war sie mehr als dankbar, ein vertrautes Gesicht zu erblicken.

Sally Carmont öffnete den Schlag der Kutsche. „Du musst unbedingt zu mir zum Dinner kommen! Wir werden uns so viel zu erzählen haben!“

Als Jocelyn die Einladung annehmen wollte, wurde der Sekretär des Gouverneurs sehr unruhig. „Seine Exzellenz hat mich mit der Aufgabe betraut, Mrs Finch zurück auf ihr Schiff zu geleiten!“

„Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Mr Duckling.“ Sally Carmont machte eine abwinkende Handbewegung. „Ich verspreche Ihnen, dass ich sie nach dem Dinner persönlich dort hinbringen werde. Wenn nötig kann ich auch meinen Mann bitten, uns eine bewaffnete Eskorte zur Verfügung zu stellen.“

Offenbar war Sally in Halifax eine einflussreiche Person, denn Duckworth schien zwischen der Anweisung des Gouverneurs und ihrem Wunsch hin- und hergerissen zu sein.

„Bitte!“, wirkte Jocelyn auf ihn ein. „Es würde mir viel bedeuten, den Abend mit meiner alten Freundin zu verbringen. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich vor Mitternacht wieder auf dem Schiff bin. Seine Exzellenz braucht ja gar nichts davon zu erfahren.“

Sie konnte dem jungen Mann vom Gesicht ablesen, dass er mit sich rang. „Ich nehme an, dass ein kleiner Umweg nichts schadet.“

„Auf gar keinen Fall!“ Jocelyn strahlte über das ganze Gesicht. „Ich danke Ihnen! Vielen Dank!“

„Wenn es mit Gouverneur Kerr irgendeinen Ärger geben sollte, übernehme ich die volle Verantwortung“, versprach Sally.

Bevor Mr Duckworth es sich anders überlegen konnte, war Jocelyn in die Kutsche gestiegen, und Sally wies den Kutscher an, loszufahren.

Während sie sich vom Hafen entfernten, musterte Sally ihre alte Bekannte im schwindenden Licht des frühen Abends. „Du siehst fabelhaft aus, meine Liebe! Erzähl mir, was dich nach Halifax geführt hat.“

Ein winziger Hoffnungsschimmer keimte in Jocelyn auf. Wenn Sally tatsächlich eine wichtige Persönlichkeit in der Stadt war, konnte sie ihr vielleicht weiterhelfen. Hatte Mrs Beamish nicht immer behauptet, dass zwei Frauen, die sich miteinander verbünden, mit jeder beliebigen Anzahl von Männern fertigwerden können?

Sie musste keine große Anzahl an Männern überzeugen – nur einen einzigen. Aber dieses Exemplar der Gattung Mann war außergewöhnlich stur.

3. KAPITEL

Was für eine verflucht sture Frau!

Sir Robert aß in aller Eile sein Frühstück, gereizt, weil er wegen Jocelyn Finch hinter seinem Zeitplan zurücklag. Dieses hübsche kleine Biest war sogar in seine Träume eingedrungen und hatte ihn darin erneut zu einem Duell herausgefordert. Allerdings nicht auf dem Feld der Ehre, sondern beim Tanzen, im Gesellschaftszimmer … und im Schlafzimmer!

Ihr offenes Haar hatte seine Wangen gestreift. Ihr betörender Duft war ihm in die Nase gestiegen, und er hatte ihren weichen, willigen Körper unter sich gespürt.

Anschließend hatte er sich stundenlang hin- und hergewälzt. Einerseits hatte er Angst davor gehabt, wieder einzuschlafen und noch mehr solcher Träume zu haben, andererseits hatte er sich danach gesehnt, wieder ähnlich aufreizende Empfindungen zu verspüren. Zu guter Letzt war er in einen traumlosen Schlaf gesunken, der so tief gewesen war, dass er die Glockenschläge des nahen Turms von St. Paul’s um sieben Uhr überhört hatte.

Das hatte zur Folge gehabt, dass er später als geplant aufgestanden war, obwohl er mit seinem Arbeitspensum bereits säumig war. Je früher er diese teuflische Frau und ihr Schiff mit Bräuten von seiner Kolonie entfernte, desto besser!

Vielleicht sollte er zu Powers Werft hinuntergehen und persönlich sicherstellen, dass die Hestia unverzüglich den Anker lichtete, sobald die Vorräte aufgestockt waren. Ohne es genauer begründen zu können, überkam Sir Robert bei dem Gedanken, einen letzten Blick auf Jocelyn Finch zu werfen, eine seltsame Furcht.

Genau in diesem Moment trat Duckworth durch die Seitentür ein und wirkte beinahe ebenso aufgeregt wie am Vortag, als er Sir Robert gebeten hatte, ihm zum Hafen zu folgen.

„Was ist los, Duckworth? Ich bin in zwei Minuten fertig.“

„Seine Hochwürden der Bischof möchte Sie sprechen, Eure Exzellenz.“

„Der Bischof?“ Sir Robert sah zu der Standuhr neben dem Seiteneingang. „Um diese Uhrzeit?“

„Ja, Sir.“

„Wir hatten doch gar keinen Termin mit ihm ausgemacht, oder?“

„Äh … nein, Sir. Ich glaube nicht.“

Noch eine Unterbrechung, die ihn am Weiterarbeiten hindern würde, stand ihm bevor. Sir Robert seufzte. Da kann man nichts machen, dachte er. Immerhin handelte es sich um das geistliche Oberhaupt der Kolonie.

„Führen Sie Seine Hochwürden in mein Arbeitszimmer, Duckworth, und bieten Sie ihm etwas zu trinken an. Ich komme gleich zu ihm.“

Nachdem der Sekretär gegangen war, aß Sir Robert in aller Eile den restlichen Porridge auf, obgleich er gar keinen Appetit darauf hatte. Doch kein Essen zu verschwenden, war ihm seit frühester Kindheit in Fleisch und Blut übergegangen, und selbst der Besuch des Bischofs änderte daran nichts.

Kaum hatte er die Schale ausgelöffelt, spülte er den Brei mit einem Schluck starkem westindischen Kaffee hinunter. Dann ging er zügigen Schritts in sein Arbeitszimmer.

„Hochwürden.“ Er verbeugte sich vor dem Bischof, einem großen, asketischen Mann mit einem langen aristokratischen Gesicht. „Womit verdiene ich die Ehre Ihres unerwarteten Besuchs … zu dieser Stunde?“

„Habe ich Sie etwa zu früh aufgesucht, Gouverneur?“ Der Bischof nahm wieder Platz, während Sir Robert sich hinter seinen Schreibtisch setzte. „Man erzählte mir, Sie seien ein notorischer Frühaufsteher.“

Sir Robert knirschte mit den Zähnen. „Heute bin ich zufällig ein bisschen spät dran. Was kann ich für Sie tun?“

Der Bischof blickte ihn mit feierlichem Ernst an. „Ich komme, weil ich mit Ihnen über dieses Brautschiff reden möchte und Sie dazu bewegen will, die Angelegenheit neu zu überdenken.“

Sir Robert unterdrückte ein Stöhnen.

Die private Predigt des Bischofs über die Tugenden der Ehe dauerte fast eine Stunde. Dabei ließ der geistliche Würdenträger Sir Robert kaum eine Chance, das Wort zu ergreifen. Das spielte allerdings keine große Rolle, denn seine Einwände wären beim Bischof ohnehin auf taube Ohren gestoßen.

Endlich hatte er sich von Neuschottlands Kirchenoberhaupt verabschiedet und nichts weiter versprochen, als sich bei seiner Entscheidung von Gottes Führung leiten zu lassen, da kündigte Duckworth auch schon drei Ratsmitglieder an, die im Empfangszimmer warteten, um mit ihm zu reden.

„Möchten Sie die Herren einzeln sprechen oder zusammen, Sir?“

„Besser zusammen“, erwiderte er. Das würde schneller gehen. So wie der Vormittag anfing, würden Mrs Finch und ihre lästigen Schützlinge ihm einen weiteren Arbeitstag rauben. „Ich weiß gar nicht, wie der Bischof so viel über die ganze Geschichte in Erfahrung bringen konnte. Er war einer der wenigen Männer, die ich gestern nicht an Powers Kai gesehen habe.“

„Sie wissen ja, wie leicht sich in einer Stadt von dieser Größe Gerüchte ausbreiten, Sir.“ Der arme Duckworth senkte den Kopf, als ob das alles seine Schuld wäre.

Autor

Deborah Hale

Deborah Hale konnte es nie richtig glauben, wenn ihre Eltern erzählten, sie hätte schon mit sieben Monaten zu sprechen begonnen. Aber wie auch immer, eines ist sicher: Deborah liebt es, Geschichten zu erzählen, seit sie denken kann.

In ihrer Jugend las sie unendlich viele Romane über das Meer und schrieb...

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