Die verbotene Liebe des Dukes

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Wie es sich für einen Adeligen gehört, plant Octavius Mortimer John Allardyce, der sechste Duke of Trent, standesgemäß zu heiraten. Für ihn kommt nur eine Tochter aus allerbestem Hause infrage, die so wohlerzogen wie sittsam ist. Merry Pelford ist weder das eine noch das andere. Trotzdem sprühen zwischen ihr und Trent die Funken, als sie sich auf einem Ball kennenlernen. Trent weiß sofort: Diese temperamentvolle Amerikanerin soll seine Duchess werden – um jeden Preis! Doch Merry hat sich soeben verlobt. Trent muss seinen Nebenbuhler auf jeden Fall verdrängen. Da erfährt er, wem seine Auserwählte die Ehe versprochen hat: seinem jüngeren Bruder!


  • Erscheinungstag 11.11.2023
  • Bandnummer 397
  • ISBN / Artikelnummer 9783751516280
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Eloisa James

New-York-Times-Bestseller-Autorin Eloisa James schreibt nicht nur packende historische Liebesromane, sie ist auch Professorin für Englische Literatur. Eloisa lebt mit ihrer Familie in New York, hält sich aber auch oft in Paris oder Italien auf. Sie hat zwei Kinder und ist mit einem waschechten italienischen Ritter verheiratet.

Dieses Buch ist Joe und Leanne gewidmet. Die beiden jungen Engländer aus York, England, waren zu Besuch in unserem Apartment in New York. Joe trug in seiner Tasche einen Diamantring mit sich herum, denn vier Tage zuvor hatte er den perfekten Ort im Central Park entdeckt. Möge Euer Leben ebenso romantisch sein wie dieser Roman – und wie Joes Antrag, der ehrlich gesagt, der Traum einer jeden Romanautorin war.

1. KAPITEL

6. April 1806

Lady Portmeadows Ball zu Ehren des East End Armenhospitals

Golden Square 15

Um Punkt neun Uhr abends fiel Lord Cedric Allardyce elegant auf die Knie und hielt formvollendet um Miss Merry Pelfords Hand an.

Merry starrte auf seine buttergelben Locken herunter und konnte es kaum fassen, dass dies tatsächlich ihr passierte. Mühsam unterdrückte sie ein nervöses Kichern, als Cedric ihre Finger für ihre Zartheit bewunderte, ehe er ihr einen Diamantring auf einen dieser Finger schob.

Es fühlte sich an, als würde sie auf der Bühne stehen und eine Rolle spielen, die für eine grazile, feminine Engländerin vorgesehen war. Die Schauspielerin war nicht aufgetaucht, und Merry Pelford, die einem Storch nicht unähnlich war, hatte ihren Platz eingenommen.

Doch um zwei Minuten nach neun, nachdem Cedric sein schwärmerisches Anliegen vorgetragen hatte, zwang sie ihre nervösen Bedenken zurück und willigte ein, seine Frau zu werden.

Zurück im Ballsaal, schien ihrer Anstandsdame nicht aufzufallen, dass Cedric und Merry nicht zusammenpassten. „Ihr beide ergänzt euch ganz wunderbar, wie Tag und Nacht“, sagte ihre Tante Bess und musterte Cedrics blondes Haar. „Nein, wie Mitternacht und Dämmerung. Das ist nicht schlecht, ich muss es mir gleich notieren.“

„Meine Tante ist eine Dichterin“, erklärte Merry Cedric.

Ehe Bess ihre Künste unter Beweis stellen konnte, indem sie ein paar Zeilen zum Besten gab, zog ihr Onkel Thaddeus Cedric schon mit sich fort ins Kartenzimmer. Onkel Thaddeus machte keinen Hehl daraus, dass er Reime gleich welcher Art verabscheute. Merry zog sofort ihre Handschuhe aus und zeigte ihren Diamantring vor.

„Cedric ist mit dem Prince of Wales befreundet“, flüsterte sie.

Bess hob eine Braue. „Es ist immer hilfreich, mit den Mächtigen bekannt zu sein. Obwohl ich es nicht besonders erstrebenswert finde, diesen Mann um seiner selbst willen zu kennen.“

Merrys Tante war in dem Bostoner Stadtteil Beacon Hill aufgewachsen, einer der Wiegen der amerikanischen gehobenen Gesellschaft. Ihr Vater war ein Cabot und ihre Mutter eine Saltonstall. Bess Pelford glaubte fest daran, dass sie die Créme de la Créme der Gesellschaft repräsentierte. Und diese Überzeugung geriet auch in Gegenwart von überaus arroganten Adligen nicht ins Wanken.

„Cedric findet, dass Seine Hoheit ungerecht dargestellt wurde“, sagte Merry stur. Sie würde einen Engländer heiraten, und das bedeutete, dass sie sich die englische Denkart zu eigen machen musste.

„Der einzige Prinz, den ich bis jetzt kennengelernt habe, ist dieser Russe, der deiner Cousine Kate den Hof gemacht hat“, sagte Bess. „Es gibt nichts Schlimmeres als einen Mann, der sich zu viel verbeugt. Er ist hoch und runter gegangen wie ein Springteufel. Ich habe schon vom Zusehen Kopfschmerzen bekommen.“

„Prinz Jewgeny“, sagte Merry. „Er hat immer weiße Handschuhe getragen.“

„Weiße Handschuhe bei einem Mann haben ihre Zeit und ihren Ort. Aber mit diesen Handschuhen und diesen ständigen Verbeugungen sah er aus wie ein Kaninchen, das seinen Schwanz hochhebt, ehe es davonrennt.“

Tante Bess hatte zweifelsohne eine Begabung für lebhafte Metaphern.

„Was für ein wundervoller Abend“, fuhr sie fort. „Das Einzige, was ihn noch schöner machen würde, wäre, wenn dein Vater hier sein könnte. Aber ich bin sicher, dass er und deine selige Mutter über dich wachen. Wahrscheinlich hat er mir die Idee zu dieser Reise nach England eingegeben.“

Merry nickte, obwohl sie sich nicht ganz so sicher war, ob ihr Vater diese Hochzeit tatsächlich so schätzen würde. Mr. Pelford war ein Patriot durch und durch gewesen. Immerhin hatte man ihn gewählt, um Massachusetts im Constitutional Congress zu vertreten, jener Versammlung, die die Verfassung der Vereinigten Staaten ausgearbeitet hatte.

Er hatte seine Spuren in der Welt hinterlassen. Nachdem ein erfolgreiches Patent auf eine Webmaschine sowie Immobilienspekulationen ihn reich gemacht hatten, war er ins Repräsentantenhaus gewählt worden. Manchmal dachte Merry, dass ihr Vater gewiss Präsident der Vereinigten Staaten geworden wäre, wenn er nicht an seinem Herzleiden gestorben wäre.

Die Gedanken ihrer Tante mussten eine ganz ähnliche Richtung eingeschlagen haben, denn sie fügte hinzu: „Wenn ich genauer darüber nachdenke, hätte deinem Vater die Vorstellung vielleicht doch nicht gefallen. Aber deiner Mutter auf jeden Fall. Ich weiß, dass sie das Land ihrer Geburt geliebt hat.“

Merry hauchte ihrer Tante einen Kuss auf die rosige Wange. „Mein Vater hätte sich mit keinem Wort beschwert. Du und Onkel Thaddeus seid die besten Vormünder, die man sich denken kann.“

„Du warst immer so ein liebes Kind, vom ersten Tag an, seit du zu uns gekommen bist“, sagte Bess, und ihr Blick wurde wehmütig. „Du hast zehnfach wettgemacht, dass ich keine eigenen Kinder bekommen konnte. Ich kann kaum glauben, dass meine Nichte eine englische Dame werden wird.“

Merry konnte es sich selbst noch nicht recht vorstellen.

„Allmächtiger, dieser Raum ist vollkommen überheizt!“ Ihre Tante begann, sich selbst so energisch Luft zuzufächeln, dass die Federn an ihrem Hut sich blähten wie die Segel eines Schiffes. „Mir ist heiß wie Blutwurst.“

„Warum gehen wir nicht auf den Balkon?“, schlug Merry vor. Die großen Flügeltüren standen weit offen – ein fruchtloser Versuch, den Raum abzukühlen.

„Aber nur, wenn es aufgehört hat zu regnen“, sagte Bess zweifelnd. Doch sobald sie in der kühlen Nachtluft war, erholte sie sich rasch. „Dein Cedric ist umwerfend“, rief sie und ließ ihren Fächer zuschnappen. „Ein Titel ist auch sehr schön, meine Liebe, aber ich denke, es ist besser, einen Ehemann nach seinen eigenen Verdiensten zu beurteilen – den nackten Mann ohne jeden Schnickschnack, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Tante Bess!“ Merry zog sie von der offenen Tür fort. „Du musst aufpassen, was du sagst. Die Damen des englischen Adels legen großen Wert auf Anstand und Sitte.“

Unnötig zu erwähnen, dass Bess diese Werte nicht teilte. „Dieser Ballsaal ist voller Frauen, die so tun, als hätten sie noch nie die interessanten Stellen eines Mannes angestarrt“, stellte sie fest. „Dabei laufen sie herum wie die Schlachtersweiber auf dem Fischmarkt.“

„Engländerinnen haben sehr kultivierte Manieren“, warf Merry ein.

„Das würde sie gerne von sich glauben. Probieren geht über Studieren, meine Liebe. Sieh dir nur die Mode hier an. Ich sehe mir diese Seidenhosen genauso gerne an wie jede andere Frau hier.“

Merry verdrehte die Augen. „Tante Bess!“

„Du bist wieder verlobt, also kann ich offen sagen, was ich denke“, erwiderte Bess unbeeindruckt. „Übrigens, wo wir gerade von Hosen sprechen, dein Cedric ist jedenfalls ziemlich gut gebaut.“ Sie ließ ein kehliges Lachen hören. „Dabei fällt mir ein, dass ich deinem Onkel versprochen habe, diese Quadrille mit ihm zu tanzen. Er ist tollpatschig wie ein Junikäfer, aber er möchte gerne eine Runde durch den Saal galoppieren. Komm, Liebes.“

„Wenn es dir nichts ausmacht, Tante, würde ich lieber noch ein wenig hier draußen bleiben.“

Ihre Tante umarmte sie kurz. „Wie ich dieses Lächeln bei dir liebe! Dein Cedric ist der perfekte Spielgefährte für eine Dame. In eurer Hochzeitsnacht werdet ihr beide so fröhlich sein wie Grillen im Kamin.“

Damit kehrte ihre Tante mit flatternden Federn und Fächer in den Ballsaal zurück.

Merry wickelte sich fester in ihren Schal, um sich vor der kühlen Aprilluft zu schützen. Sie legte den Kopf in den Nacken, um in den Himmel emporzublicken.

Sie vergaß immer wieder, dass man über London keine Sterne sah, egal, ob es regnete oder nicht. Nebel und Rauch verdunkelten die Straßen bereits um vier Uhr am Nachmittag.

Doch Cedric liebte die Stadt, also würden sie hier leben. Es war sinnlos, sich nach dem Sternenlicht zu sehnen. Oder nach einem Garten.

Merry hatte eine Leidenschaft für Gärten, die weit über das Vergnügen ihrer Schulfreundinnen am Arrangieren von Blumenbouquets hinausging. Sie mochte es, „im Dreck herumzuwühlen“, wie ihr Onkel es nannte, Pflanzen auszugraben und neu anzuordnen, bis sie den perfekten Garten hatte.

In diesem Moment stürmte ein Mann zur Balustrade und stieß eine Reihe Flüche aus, die keine junge Dame hören sollte.

Merry trat einen Schritt näher, erfreut über die Gelegenheit, ihren Wortschatz verbotener Begriff erweitern zu können. Doch das einzige Wort, das sie aufschnappte, war „Mist“, und das kannte sie bereits. Während sie zusah, umklammerte er die Brüstung mit einer kontrollierten, aber wütenden Geste.

Wahrscheinlich hatte jemand ihn schroff abgewiesen, und er war nach draußen gekommen, um seine Fassung wiederzugewinnen. Wie Merry seit ihrer Ankunft in London immer wieder feststellte, hatten englische Aristokraten die Neigung und das Talent, vernichtende Bemerkungen von sich zu geben. Sie hatte sogar ihren lieben Cedric dabei erlebt, wie er selbst mehrere Male jemanden scharf angefahren hatte. Allerdings nur, wenn er heftig provoziert wurde.

Nun, wenn sie dazu neigen würde, sich beleidigt zu fühlen, wäre sie bereits mit der Hälfte der Gäste des heutigen Balls zerstritten. Ständig machte man sich über ihren Bostoner Akzent lustig.

Der Mann, der jetzt finster eine unschuldige Weißdornhecke anstarrte, stand vermutlich eher auf einer der unteren Stufen der sozialen Leiter. Ein Mann, durch den die meisten Gäste im Ballsaal einfach hindurchblickten.

In Amerika wäre er frei, um sein Glück zu machen. Es käme allein auf seine Fähigkeiten, nicht auf seine Geburt an. Aber hier? Man wurde in eine soziale Klasse geboren, und in dieser Klasse blieb man bis zu seinem Tod.

Der Mann war gewiss nicht besonders wohlhabend. Auf Cedrics Anzug glitzerten Goldfäden und vergoldete Knöpfe, doch der Gehrock dieses Gentleman war schlicht und schwarz wie der eines Quäkers.

Von ihrem Platz aus konnte Merry erkennen, dass sein Halstuch nur einen Hauch von Stärke abgekommen hatte und lediglich zu einem einfachen Knoten gebunden war. Vielleicht konnte er sich nicht einmal einen Kammerdiener leisten, denn sein Haar war kurz geschnitten, was nicht im Geringsten der herrschenden Mode entsprach.

Vielleicht war er Amerikaner. Das würde seinen unmodischen Haarschnitt und Gehrock erklären. Mit einer Aufwallung patriotischer Gefühle gegenüber ihrem vermeintlichen Landsmann ging sie zu ihm und berührte ihn sacht am Ärmel.

Als er sich zu ihr umdrehte, erkannte sie sofort, dass sie sich geirrt hatte – nicht nur, was seine Herkunft anging, sondern auch seinen Rang. Die harte Linie seines Kinns und die Arroganz seiner Haltung zeichneten ihn ohne jeden Zweifel als Mitglied des englischen Adels aus. Selbst sein Haar, das die Farbe von angelaufenen Guineen hatte, wirkte aristokratisch.

„Ja bitte?“ Seine Stimme war tief, und Merry meinte, Geringschätzung herauszuhören. Er schaute hinunter auf ihre Hand, die immer noch auf seinem Arm ruhte, und sie riss sie fort.

Du liebe Güte!

Englische Damen sprachen niemals mit Fremden, also erwartete er vermutlich, dass sie vor ihm den Kopf einzog wie ein Zimmermädchen. Doch in diesem Punkt musste sie ihn enttäuschen. Keine Amerikanerin würde vor einem Engländer zurückweichen, sei er adlig oder nicht.

Hocherhobenen Hauptes sah sie ihn direkt an, und siehe da, ein kurzer Ausdruck der Überraschung huschte über sein Gesicht. „Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie gestört habe, Sir“, sagte sie und knickste höflich. „Ich hatte Sie für einen Landsmann gehalten.“

Hatte sie wirklich Mitleid mit diesem Mann empfunden? Jetzt hatte sie das Gefühl, auf engstem Raum mit einem großen Raubtier eingesperrt zu sein. Sie trat einen Schritt zurück, um in den Ballsaal zurückzukehren, doch er stellte sich ihr in den Weg und verhinderte ihre Flucht.

„Es gibt in dieser Saison ziemlich viele Amerikaner in London, nicht wahr?“, fragte er.

Um Himmels willen, der Mann wirkte fuchsteufelswild. Schwer vorstellbar, dass irgendjemand den Mut hätte, sich ihm entgegenzustellen. Im Vergleich dazu war ihr streitlustiger ehemaliger Verlobter Bertie Pike so sanft wie eine Kuh.

Der Mann vor ihr hatte sie so durcheinandergebracht, dass sie losredete, ohne nachzudenken. „Laut der Times sind mindestens dreimal so viele Amerikaner in London wie noch vor zehn Jahren.“

Ihre alte Gouvernante, Miss Fairfax, hatte immer gesagt, dass kein Mann es mochte, wenn man ihn für unwissend hält. Aber Merry war sicher, dass dieser Mann sich keinen Deut darum scheren würde – denn er vertraute vollkommen auf das, was er wusste.

Und siehe da: Er hob lediglich eine Braue und fragte: „Hat die Times auch eine Erklärung dafür geboten, warum Sie so viele sind?“

„Nein. Aber wussten Sie, dass Amerikaner hier oft Jura studieren? Fünf der Männer, die unsere Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet haben, wurden hier in London ausgebildet.“

Sie schlug fast eine Hand vor den Mund. Sie benahm sich nicht nur unangemessen, sondern geradezu anstößig. Die amerikanische Unabhängigkeit war kaum ein Thema, das englische Aristokraten in Begeisterung versetzte.

Sie sank hastig in einen Knicks. „Wenn Sie mich entschuldigen würden, Sir, ich sollte meinen nächsten Tanzpartner abholen.“

Heiterkeit leuchtete in seinen dunklen Augen auf. „Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf – kein englischer Gentleman möchte ‚abgeholt‘ werden.“

Seine unverhohlene Belustigung beruhigte sie. „Ich kenne mich in London nicht besonders gut aus, aber ich habe bereits festgestellt, dass nicht wenige Engländer ganz versessen darauf sind, ‚abgeholt‘ zu werden“, sagte sie und schenkte ihm ein breites Lächeln. Zu spät fiel ihr ein, dass junge Damen lediglich gesittet die Lippen kräuseln durften.

„Ich nehme an, Sie spielen auf gewisse Gentlemen an, die sich durch die Heirat einer vermögenden jungen Dame bereichern wollen. Gibt es in Amerika keine solchen Abenteurer?“

Sein Tonfall machte deutlich, dass er kein Mitgiftjäger war. Merry war die Gentlemen leid, die sie auf raffinierte Weise darüber in Kenntnis setzten, dass ihr Vermögen ihre „unglückliche“ Nationalität wettmachte.

„Natürlich“, sagte sie. „Aber zu Hause sind sie nicht so herablassend. Hier benehmen sie sich, als würden sie mir einen Gefallen tun. Dabei ist es meiner Ansicht nach genau andersherum.“

„Das ist ein gutes Argument“, gab er zu.

„Aber ich bin nicht ganz fair. Englische Gentlemen haben immerhin Titel zu verkaufen. Nehmen Sie meine Cousinen – sie sind Cabots und kommen somit aus einer der einflussreichsten Familien Amerikas. Aber sie haben nichts, was sie ihrem Namen hinzufügen könnten, damit die Leute vor ihnen katzbuckeln.“

„Ich nehme an, Sie sind nicht gewillt, vor einem Gentleman mit einem Titel zu katzbuckeln?“

Er wirkte nicht im Mindesten empört, was eine große Erleichterung war.

„Stimmt genau. Ich ziehe es vor, einen Mann aufgrund seiner Fähigkeiten und seines Charakters zu beurteilen. Falls Sie selbst einen Titel besitzen, Sir, entschuldige ich mich für meine Direktheit.“

Er lächelte, was sie als Fingerzeig nahm, dass er keinen Titel hatte. „Haben Sie schon viele Adlige kennengelernt? Einen Duke, zum Beispiel?“

„Ich habe den Duke of Villiers kennengelernt, und gerade gestern Abend den Prince of Wales.“ Merry senkte die Stimme zu einem Flüstern. „Ehrlich gesagt scheint jeder zu glauben, dass seine Titel ihn zu etwas Besonderem machen – wie ein Kalb mit fünf Beinen. Möglicherweise erwartet der Duke auch, dass man ihm allein wegen seines Gehrocks mit Ehrfurcht begegnet.“

Sein schallendes Gelächter schien ihn ebenso zu überraschen wie Merry.

„Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, Sir, ich muss in den Ballsaal zurückkehren.“ Merry war sich ziemlich sicher, dass Cedric sich keine Sorgen um ihre Treue machte. Aber es war nicht nötig, einen Skandal zu verursachen, indem sie sich bei einem Gespräch unter vier Augen mit einem Fremden erwischen ließ.

Der Mann rührte sich nicht. „Sagen Sie, halten Sie sich für eine typische amerikanische Dame?“

„In mancher Hinsicht“, sagte sie zögernd.

Sein Lächeln wurde tiefer. „Wie sind amerikanische Damen denn so im Vergleich zu ihren englischen Gegenstücken?“

„Nun, amerikanische Damen ziehen es vor, zu sprechen anstatt zu trällern“, sagte Merry mit einem frechen Grinsen. „Wir fallen niemals in Ohnmacht, und unsere Gesundheit ist viel robuster als die der zarten englischen Damen. Ach ja, und wir gießen den Tee in die Milch, nicht andersherum.“

„Meinen Sie, dass ‚zart‘ die passende Beschreibung für die Vertreterinnen des schönen Geschlechts ist, die sich heute in Lady Portmeadows Ballsaal tummeln?“

Merry schob die Lippen vor und dachte an die Damen mit den Adlerblicken, die in der Londoner Gesellschaft den Ton angaben. „Vielleicht wäre es zutreffender zu sagen, dass Engländerinnen Zartheit anstreben, während Amerikanerinnen es nicht tun. Ich für meinen Teil finde, dass eine Frau selbst entscheiden können sollte, was für ein Temperament sie hat. Ich habe nicht vor, einen hysterischen Anfall zu bekommen, jetzt nicht und auch in Zukunft nicht.“

„Ich habe von dieser ‚Hysterie‘ gehört, aber ich habe noch nie eine Frau in Ohnmacht fallen sehen“, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust.

Er hatte eine nette Brust. Merry ließ ihren Blick bis hinunter zu den kräftigen Schenkeln wandern, ehe sie sich zusammenriss und ihm wieder ins Gesicht schaute. Seine Miene war unverändert, also hatte er ihre Ungehörigkeit hoffentlich nicht bemerkt.

Doch im Stillen entschied sie, dass Tante Bess recht hatte: Beim richtigen Mann wirkten enge Seidenhosen unbestreitbar anziehend.

Geduldig wartete er auf ihre Antwort. Er verströmte eine Art von Macht, die nichts mit Mode zu tun hatte. Wenn sie darüber nachdachte, hatte sie so eine Selbstbeherrschung erst einmal zuvor erlebt: bei einem Mohawk-Krieger, den sie einst als Kind getroffen hatte.

Sie schob den Gedanken beiseite und schüttelte den Kopf. „Kein einziges Mal? In diesem Fall hatten Sie entweder Glück, oder Sie sind bemerkenswert unachtsam. Ist Ihnen etwa der Trubel am frühen Abend entgangen, als Miss Cernay umgekippt ist?“

„Ich bin erst vor einer Viertelstunde angekommen. Warum ist Miss Cernay ohnmächtig geworden?“

„Sie hat behauptet, eine Maus sei an ihrem Bein hochgelaufen.“

„Das ist höchst unwahrscheinlich“, stellte er fest. Seine Augen funkelten boshaft. „Lady Portmeadow ist berüchtigt für ihre Sparsamkeit, und nicht einmal Mäuse haben Lust, zu verhungern.“

„Es geht hier nicht um Miss Cernays Behauptung“, erklärte Merry. „Wahrscheinlich wurde sie von Lord Ma… von irgendjemandem betatscht, und sie ist vor lauter Schrecken in Ohnmacht gefallen. Vielleicht hat sie das auch nur vorgetäuscht, um weitere Demütigungen zu vermeiden. Wie auch immer, ich verspreche Ihnen, dass eine amerikanische Dame sofort gehandelt hätte.“

Er öffnete die Arme, und seine Augen wurden schmal. „Darf ich daraus folgern, dass Sie wissen, wer dieser Schurke war, weil er Sie ebenfalls betatscht hat?“

„‚Betatscht‘ ist vielleicht zu stark“, sagte Merry, als sie die Drohgebärde wahrnahm, die plötzlich von diesen breiten Schultern auszugehen schien. „‚Befingern‘ trifft es eher.“

Ihre Klarstellung machte die Sache nicht besser. „Wer war es?“, fragte er. Seine Brauen bildeten eine dunkle Linie.

Sie wollte gewiss nicht für einen unerquicklichen Streit verantwortlich sein. „Ich habe keine Ahnung“, sagte sie. Sie war eine elende Lügnerin.

„Ich nehme an, dass Sie nicht in Ohnmacht gefallen sind?“

„Natürlich nicht. Ich habe mich selbst verteidigt.“

„Ich verstehe“, sagte er und betrachtete sie interessiert. „Wie genau haben Sie das angestellt?“

„Ich habe ihn mit meiner Hutnadel gestochen“, erklärte Merry.

„Mit Ihrer Hutnadel?“

Sie nickte und zeigte ihm eine der beiden diamantbesetzten Nadeln, die die Oberseite ihrer Handschuhe zierten. „In Amerika falten wir unsere Handschuhe oben und stechen eine Hutnadel hindurch. Auf diese Weise bleiben die Handschuhe oben, aber die Nadeln können auch gut dazu verwendet werden, verirrte Hände auf Wanderschaft abzuwehren.“

„Sehr erfinderisch“, sagte er nickend.

„Ja, nicht wahr? Nun, der infrage kommende Herr hat möglicherweise ein wenig laut geschrien“, erzählte sie ihm augenzwinkernd. „Vielleicht hat der eine oder andere sich umgedreht. Und es könnte sein, dass ich ihm den Arm getätschelt und gesagt habe, ich wüsste, dass Furunkel ziemlich viel Ärger machen können. Wussten Sie übrigens, dass man Furunkel am besten mit Schafgarbe behandelt, was bei Männern außerdem Haarausfall vorbeugt?“

Sie spürte, wie sie errötete. Er hatte so eine Erinnerung nicht nötig. Sein Haar war zwar kurz geschnitten, aber dicht und kräftig, soweit sie auf dem beschatteten Balkon erkennen konnte.

Doch er lachte kehlig, und Merry entspannte sich wieder. Sie stellte fest, dass sie zum ersten Mal seit einer Woche – vielleicht sogar seit einem Monat – das Gefühl hatte, sie selbst sein zu können. Diesem Mann schien es tatsächlich zu gefallen, wenn die eine oder andere Tatsache aus ihrem Mund entwischte.

„Glücklicherweise bin ich von Furunkeln verschont“, sagte er. „Sind alle amerikanischen Damen in solcherlei Dingen bewandert?“

„Mir fallen einfach ständig solche Wissenshappen ein“, gab sie zu. „Es ist jedes Mal eine harte Prüfung für mich, weil ich immer wieder vergesse, dass man so etwas nicht herausposaunen sollte.“

„Warum nicht?“ Die Mundwinkel im so streng wirkenden Gesicht des Mannes hoben sich auf überaus betörende Weise. Unwillkürlich beugte Merry sich ihm entgegen, bis sie sich zusammenriss.

„In London gibt es nur wenige zulässige Gesprächsthemen. Es ist recht ermüdend, stets daran zu denken, worüber man sprechen darf“, sagte sie.

„Federn ja, Furunkel nein?“

Er musste so etwas wie ein Lebemann sein, entschied Merry. Die Art, wie er mit den Augen lachte, war überaus verführerisch.

„Genau“, sagte sie und nickte. „Englische Damen sind sehr heikle Gesprächspartnerinnen.“

„Sie haben doch wohl nicht vor, die Kunst zu erlernen, viel zu reden und nichts zu sagen?“

Merry lachte. „Ich fürchte, ich werde niemals eine Expertin im schicken Plappern und Schnattern. Wissen Sie, was ich wirklich verabscheue?“, fragte sie. Sie vertraute ihm aus keinem anderen Grund, als dass er aufrichtig interessiert wirkte. „Dass …“

Sie hielt inne, als ihr einfiel, dass sie kurz davor war, seine Landsleute zu beleidigen. Sie war immer noch zu Gast in seinem Land, zumindest bis sie mit Cedric verheiratet war. Sie sollte ihre wenig schmeichelhafte Meinung also besser für sich behalten.

Sein Blick war berauschend. Und sei es nur, weil sich bis jetzt niemand in London dafür interessiert hatte, welchen Eindruck eine Amerikanerin von diesem Land hatte. Sie liebte London, schon allein wegen der wunderbaren öffentlichen Gärten, aber es gab Momente, in denen sie die feine Gesellschaft einfach nur ermüdend fand.

„Es ist die Art und Weise, wie die Menschen miteinander reden“, erklärte sie und wählte ihre Worte sorgfältig. „Sie sind gebildet, aber ihre gebildeten Worte scheinen regelmäßig die Form einer Kränkung anzunehmen.“

Merry spürte erneut, wie ihre Wangen heiß wurden. Er musste sie für einen völligen Einfaltspinsel halten. „Ich weiß Wortwitz und geistreiche Bemerkungen durchaus zu schätzen. Aber viele dieser Bemerkungen gehen auf Kosten eines anderen.“

Er runzelte die Stirn. „Solche Leute reden nichts als Unsinn. Sie sollten gar nicht darauf achten“, sagte er im Befehlston.

„Ich kann nicht. Aber ich lerne, mein Temperament zu zügeln.“

„Ich glaube, ich würde Sie gerne einmal in voller Fahrt erleben.“

„Sie können mich gerne verspotten, Sir. Aber ich kann Ihnen sagen, dass es für eine Amerikanerin gnadenlos schwierig ist, sich in eine perfekte englische Dame zu verwandeln. Sie sollten es einmal versuchen.“

Er bekam ganz entzückende Grübchen in den Wangen, wenn er lächelte. „Ich bin ziemlich sicher, dass ich scheitern würde. Erstens würde ich in einem Kleid niemals auch nur annähernd so bezaubernd aussehen wie Sie.“

Damit hatte er recht. Er war ungewöhnlich groß. Dabei war sie selbst auch nicht gerade klein. Viel größer, als eine Dame rechtmäßig sein dürfte, wie Miss Fairfax unzählige Male angemerkt hatte.

„Wissen Sie übrigens, warum Amerikaner sich erst die Milch und dann den Tee einschenken anstatt andersherum?“, fragte er und kam damit auf eine frühere Bemerkung von ihr zurück.

„Weil das die richtige Art und Weise ist, natürlich“, sagte sie und zwinkerte ihm zu.

Er schüttelte den Kopf. „Hier ist ein Happen Wissen für Sie. Ihre Landsleute gießen kochend heißen Tee in die Milch, um sie aufzubrühen. Für den Fall, dass die Qualität zu wünschen lässt.“

„Du meine Güte!“, rief sie. „Erzählen Sie mir nicht, Sie wären genauso ignorant gegenüber Amerikanern wie jeder andere auf diesem Ball! Die Haushälterin meiner Tante würde eher sterben, als dass sie Milch servieren würde, die nicht absolut frisch ist!“

„Und warum gießen Amerikaner dann zuerst die Milch in die Tasse?“

„Es schmeckt besser. Engländer machen es nur deshalb andersherum, weil sie beweisen wollen, dass ihr Porzellan von bester Qualität ist und nicht zerbricht. Minderwertiges Porzellan zerspringt sofort, sobald man kochendes Wasser eingießt, ohne es in der Tasse mit Milch abzukühlen. Und bevor Sie fragen: In Boston trinken wir nur aus allerfeinstem chinesischem Porzellan.“

Mist! Sie hatte wieder mit den Händen herumgefuchtelt. Das war auch so eine Gewohnheit, die sie sich unbedingt abgewöhnen musste. Cedric hatte einmal erwähnt, dass eine Dame nicht wie italienische Opernsänger aussehen sollten.

Aber die Art und Weise, wie dieser Gentleman nur mit den Augen lächeln konnte, war ziemlich …

Sie sollte wirklich in den Ballsaal zurückkehren, ehe sie etwas Dummes tat. „Wenn Sie mich entschuldigen würden, Sir, ich muss meinen Tanzpartner erlauben, mich zu finden.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln. „Oder besser, mich ‚abzuholen‘. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend.“

Als er sich immer noch nicht von der Stelle rührte, begann sie, um ihn herumzugehen.

„Bitte stillen Sie meine Neugier“, sagte er leise. „Warum um alles auf der Welt lassen die amerikanischen Gentlemen Sie einfach nach England reisen, damit Sie sich auf unseren Bällen vergnügen?“

Er hatte kein Recht, eine verlobte Frau mit diesem Funkeln in den Augen anzuschauen. Auch wenn er gar nicht wusste, dass sie vergeben war, da ihr Diamantring unter dem Handschuh verborgen war. Er machte einen Schritt auf sie zu, nah genug, dass sie die Hitze seines Körpers spüren konnte.

Und dann wanderte sein Blick zu ihrem Mund, als sei er genauso von Sehnsucht verzehrt wie Bertie früher.

Das war ein unsinniger Vergleich, denn er war ein englischer Gentleman, und selbst ein Narr konnte merken, dass dieser Mann sich selbst und seine Gefühle vollkommen im Griff hatte.

Trotzdem wanderte sein Blick tiefer, zu ihren behandschuhten Händen. Er runzelte die Stirn. „Sind Sie verheiratet?“

„Nein!“, sagte sie hastig. „Die Wahrheit ist … Die Wahrheit …“ Sie sollte ihm sagen, dass sie sich an diesem Abend mit Cedric verlobt hatte. Aber aus irgendeinem Grund platzte sie mit einer anderen Wahrheit heraus.

„Ich habe mir einen gewissen Ruf erworben.“

Er starrte sie einen Moment an. „Sie überraschen mich.“

„Nicht diese Art von Ruf! Es ist nur so, dass ich … nun … um ehrlich zu sein, habe ich mich schon mehr als einmal verliebt. Aber ich habe den Mann nie wirklich geliebt, denn jedes Mal wurde mir klar, dass es ein schrecklicher Fehler war. Ich musste schon zwei Verlobungen wieder auflösen.“

Er zuckte die Achseln. „Sie haben eine wertvolle Lektion über dieses überschätzte Gefühl gelernt, das man Liebe nennt. Warum sollten Sie sich damit einen Ruf erworben haben?“

„Ich bin schrecklich wankelmütig“, erklärte sie. „Wirklich. Mit meinem zweiten Verlobten habe ich eine besonders bedauerliche Wahl getroffen. Er hat sich wesentlich mehr für mein Vermögen als für meine Person interessiert. Er hat mich auf Bruch des Eheversprechens verklagt, und jeder hat davon gehört.“

„Das wirft doch eher ein schlechtes Licht auf ihn als auf Sie“, sagte er sichtlich amüsiert.

„Das ist nicht witzig“, sagte sie scharf. „Dermot hat in Erwartung seines zukünftigen Vermögens Schulden gemacht. Das heißt, in Erwartung meines Vermögens, das er bei der Hochzeit bekommen hätte.“

„Ist der Fall vor Gericht verhandelt worden? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Geschworenen so einem Schwei…“, er hielt kurz inne, „so einem Schurken Schadensersatz gewähren würden.“

„So weit ist es nicht gekommen. Mein Onkel hat die Sache geklärt. Aber ich fürchte, dass die Nachricht die Runde gemacht hat. Und weil ich davor schon einmal ein Eheversprechen gebrochen habe, gibt es jetzt einige, die sagen, ich sei …“

„Chronisch treulos?“

Als sie nickte, fragte er: „Was ist mit Ihrem ersten Verlobten passiert?“

„Bertie hatte eine entzückende Nase, aber er war schrecklich streitsüchtig“, gab sie zu.

„Ich habe noch nie viel über Nasen nachgedacht“, sagte der Gentleman. Er beugte sich leicht vor, um ihre Nase zu betrachten. Er berührte sie fast.

Merrys Mund wurde trocken. Er roch wunderbar nach gestärktem Leinen und Seife aus Wintergrün. Sie leckte sich die Unterlippe, und für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke, ehe er sich abrupt aufrichtete. Er wirkte vollkommen ungerührt, während Merrys Herz heftig pochte.

„Ihre Nase ist ganz entzückend“, sagte er.

„Ihre aber auch“, platzte sie heraus. Und das stimmte. Was Nasen anging, war Merry so etwas wie eine Feinschmeckerin, und seine Nase war weder zu spitz noch zu schmal oder zu breit. Sie war genau richtig.

„Aber ich könnte immer noch streitsüchtig sein“, warnte er.

Merry empfand ein atemloses Behagen, das sie fast kichern ließ. „Haben Sie sich schon einmal duelliert?“, fragte sie und machte ein ernstes Gesicht.

„Kein einziges Mal.“

„Bertie hatte zwei.“

„Das scheint mir …“

„Innerhalb des ersten Monats unserer Verlobungszeit“, stellte sie klar.

„Vielleicht wurde er provoziert?“ Sein Blick hatte etwas Mitreißendes. „Ich kann mir vorstellen, dass ein Gentleman, der mit Ihnen verlobt ist, es nicht gut aufnimmt, wenn andere Gentlemen Ihnen ihre Aufmerksamkeit schenken.“ Sein Blick ruhte weiterhin schicklich auf ihrem Gesicht, doch sie spürte, wie ihr ganzer Körper vor Hitze prickelte. „Ich nehme an, Sie ziehen sehr viel Aufmerksamkeit auf sich“, sagte er. „Ich würde es Bertie nicht verübeln, wenn er Sie ganz für sich haben wollte.“

Merrys Herz schlug so schnell, dass das Blut in ihren Ohren rauschte wie ein wilder Gebirgsbach. „Beide Kontrahenten hatten ihn aus Versehen auf der Straße angerempelt“, brachte sie heraus. „Die Duelle hatten nichts mit mir zu tun.“

„Streitsüchtig, in der Tat“, murmelte er.

Seine Stimme umfing sie wie ein warmer Umhang. Merry hatte plötzlich die schwindelerregende Vorstellung, der Balkon hätte sich vom Rest des Hauses gelöst und sie beide wären an einem dunklen, warmen See gelandet.

„Als ich ihm seinen Freundschaftsring zurückgab, dachte ich fast, er würde mich ebenfalls zum Duell fordern“, sagte sie und versuchte, die Stimmung aufzulockern.

„Er hat mit einem Freundschaftsring um Ihre Hand angehalten? In England schenken junge Mädchen sich solche Ringe. Ein Lehrling gibt ihn vielleicht seiner Angebeteten.“

„Er war ganz hübsch“, sagte sie zu Berties Verteidigung. „Mein Name war mit Blumen hineingraviert.“

„Sagen Sie bloß!“, sagte er gedehnt. Irgendwie, ohne dass sie sagen könnte, wie, war er ihr noch näher gekommen. Sie konnte seinen warmen Atem auf ihrer Wange spüren. „Wie um alles auf der Welt können Blumen einen Namen schreiben?“

„Mit der Sprache der Blumen“, sagte sie und plapperte drauflos. „Jede Blume hat eine bestimmte Bedeutung, sodass man sich Botschaften zukommen lassen kann, als würde man Französisch sprechen.“ Ihre Stimme erstarb, weil sein Blick so intensiv war. „Oder so ähnlich“, flüsterte sie. Ihre Stimme war nur noch ein Hauchen.

Aus dem Ballsaal schallte unvermittelt laute Musik zu ihnen, und Merry zuckte zusammen. „Ich muss …“

„Aber zuerst müssen Sie mir den Rest der Geschichte erzählen.“

Etwas in seiner Stimme verlangte Gehorsam, und obwohl Merry sich niemals von irgendjemandem herumkommandieren ließ, antwortete sie brav. „Es ist nicht nur eine Geschichte“, sagte sie und sah ihn stirnrunzelnd an. „Es tat mir in der Seele weh, Bertie seinen Ring zurückzugeben. Bei Dermot ging es mir genauso.“

„Also haben Sie Dermots Freundschaftsring auch zurückgegeben?“

„Bei ihm war es kein Freundschaftsring“, sagte Merry und unterdrückte ein Lächeln. „Er war sehr stolz auf sein goldenes Haar, also hat er mir einen Ring aus seinen Locken gemacht.“

Es folgte ein Moment Totenstille, dann warf der Gentleman den Kopf zurück und lachte schallend.

Dermots Anklage war so unerfreulich gewesen, dass Merry versuchte, nie an ihre Verlobung zu denken, aber das Gelächter ließ sie die Demütigung leichter ertragen.

„Und deshalb sind Sie nach London gekommen“, sagte er schließlich.

„Meine Tante fürchtete, dass niemand mich mehr heiraten würde.“ Sie sollte nicht im Dunkeln auf einem Balkon stehen und so mit einem Mann reden. Sie sollte ihm sagen, dass tatsächlich ein Gentleman um ihre Hand angehalten und dass sie Ja gesagt hatte.

„Ihre Tante unterschätzt Ihren Charme. Ich bin sicher, die meisten Männer in Amerika würden einfach annehmen, dass Sie den Richtigen noch nicht getroffen haben. Und dass Sie, wenn Sie ihn gefunden haben, sich so glücklich niederlassen würden wie ein Vogel in seinem Nest.“

Sein Blick lag auf ihren unmodernen vollen Lippen, dann wanderte er tiefer zu ihrem ebenso unmodernen vollen Busen, der nur von einer dünnen Schicht rosa Seide bedeckt war.

Sie holte tief Luft, was sie nicht beruhigte, im Gegenteil. Sie sog erneut den Geruch von gestärktem Leinen ein, unter den sich noch etwas schwer Fassbares, noch Verlockenderes gemischt hatte. Männlichkeit. Ihre Wangen wurden heiß, und sie schaute starr auf sein Kinn.

„Meiner Meinung nach wäre es egal, ob Sie drei oder dreißig Verlobten den Laufpass gegeben haben“, stellte er fest.

Als sie es wagte, ihm wieder in die Augen zu schauen, sah sie, dass er auf überaus züchtige Weise ihre Stirn betrachtete. Doch seine Stimme klang so rau, dass Merry vor Verlangen weiche Knie bekam. Plötzlich stellte sie sich vor, wie er verschwitzt und zerzaust aussehen würde, während seine Brust sich hob und senkte.

Ihre eigene Dummheit war wie eine Dusche mit eiskaltem Wasser. Was um alles auf der Welt tat sie hier? „Danke“, sagte sie und nickte heftig. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, und es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen zu plaudern.“ Ohne weitere Umstände ging sie um ihn herum und wandte sich dem Ballsaal zu.

Eine große Hand schlang sich um ihre Hüfte, drehte sie geschickt um und zog sie an ihn.

Mehrere Gefühle jagten durch sie hindurch, als sie die harte, männliche Brust an ihrer spürte. Miss Fairfax wäre entsetzt gewesen. Doch anstatt sich seinem Griff zu entwinden, erstarrte Merry und blickte mit pochendem Herzen zu ihm hoch.

„Wer hat Sie betatscht?“, fragte er mit fordernder Stimme.

„Wer hat Sie so wütend gemacht, dass Sie auf den Balkon gestürmt sind?“, konterte sie. Wer – oder was – könnte einen Mann wie ihn so in Rage versetzen?

„Mein Dummkopf von einem Bruder. Und jetzt hätte ich gerne eine Antwort auf meine Frage.“

Sie hatte schon vergessen, was er sie gefragt hatte. Sein Blick war so eindringlich, dass sie ganz durcheinandergeriet und errötete. Sie würde niemals zulassen, dass ein Mann, ein vollkommener Fremder, sie küsste. Falls es das war, was er vorhatte.

„Was war noch einmal Ihre Frage?“, fragte sie und zuckte innerlich zusammen, weil ihre Stimme so atemlos und heiser klang wie die einer Sirene.

„Wer hat Sie betatscht?“, wiederholte er.

Er hatte den Blick eines Kriegers, was Merry absurderweise unwiderstehlich fand. Sie platzte mit der Wahrheit heraus, ehe sie es sich anders überlegen konnte. „Lord Malmsbury … Der Gentleman lässt seine Hände an Stellen wandern, wo sie nicht hingehören.“

„Halten Sie sich von ihm fern“, knurrte er.

„Ich weiß Ihre Besorgnis sehr zu schätzen“, sagte Merry würdevoll, löste sich von ihm und trat einen Schritt zurück, „aber es ist nicht notwendig, mich deswegen herumzukommandieren. Ich habe bereits entschieden, Seiner Lordschaft in Zukunft aus dem Weg zu gehen. Nicht, dass er die geringste Absicht gezeigt hätte, unsere Bekanntschaft zu vertiefen, meiner Hutnadel sei Dank.“

„Bei Ihrer Waffe und seinen Furunkeln bezweifle ich, dass er weitere Versuche unternehmen wird.“ Sein Lächeln tauchte wieder auf. „Ich vertraue darauf, dass ich Sie um einen Tanz bitten darf, sobald wir einander förmlich vorgestellt wurden. Ich verspreche auch, Sie nicht zu betatschen.“

Merry stellte fest, dass sie sich von diesen Mann ganz gerne betatschen lassen würde. Es war eine erschreckende Einsicht. Sie war verlobt.

Er vollführte eine perfekte Verbeugung.

Sie sank in einen Knicks, und dieses Mal machte sie Miss Fairfax’ Anweisungen alle Ehre und berührte mit ihren Knien beinahe den Boden.

Ohne zurückzublicken, kehrte Merry in den Ballsaal zurück. Gleichgültig, was ihre Gouvernante dachte, sie verfügte sehr wohl über Selbstbeherrschung. Über sehr viel Selbstbeherrschung.

Sie hatte fast die andere Seite des Raumes erreicht, als sie den Kopf umwandte und zurückschaute.

Er war nirgendwo zu sehen.

Sie suchte sich einen Platz an der Wand und redete sich selbst gut zu. Was um alles auf der Welt dachte sie sich dabei? War sie tatsächlich so wankelmütig, wie die Gerüchte zu Hause behaupteten? Sie mochte bei der Auswahl ihrer ersten beiden Verlobten Fehler gemacht haben, aber sie war niemals wirklich launisch gewesen.

Sie hatte wirklich geglaubt, sie würde sowohl Bertie als auch Dermot lieben. Sie hatte niemals einem anderen Mann schöne Augen gemacht, solange sie mit einem der beiden verlobt war.

Auch diesem Mann hatte sie genau genommen keine schönen Augen gemacht.

Also gut, sie hatte vielleicht ein wenig mit ihm getändelt.

Merry stöhnte tonlos. Warum hatte sie ihm keine Ohrfeige gegeben, als er den Arm um ihre Taille gelegt hatte, oder wenigstens offenbart, dass sie schon bald eine verheiratete Frau sein würde? Stattdessen hatte sie zu ihm aufgeblickt wie ein alberner Backfisch, der darauf wartete, geküsst zu werden.

Kein Wunder, dass er so vergnügt gewesen war. Wahrscheinlich hielt er sie für ein unerfahrenes junges Ding, das prompt von der Herrlichkeit seiner schwarzbetuchten Erscheinung umgeworfen worden war.

Das war alles so peinlich.

Wenn sie ihn das nächste Mal sah, würde sie ihm deutlich machen müssen, dass sie verliebt war und keinen weiteren Gedanken an ihre Unterhaltung verschwendet hatte. Vielleicht sollte sie so etwas sagen wie: Oh, sind wir uns schon einmal begegnet? Ich muss gestehen, ich habe alles vergessen!

„Da bist du ja, meine Liebe“, sagte ihre Tante und tauchte vor Merry auf. „Cedric hat dir ein Glas Wein besorgt.“ Bess drückte Merry ein randvolles Glas in die Hand. „Der Junge ist überaus rücksichtsvoll, das muss ich schon sagen.“

„Danke“, sagte Merry.

„Er ist mit deinem Onkel ins Kartenzimmer zurückgekehrt“, sagte Bess. „Du wirst ihn später sehen. Wir werden deinen Galan in unserer Kutsche mitnehmen, denn bei seinem Fahrzeug ist die Achse gebrochen oder so ähnlich. Du hättest sehen sollen, wie gnädig er das Angebot deines Onkels angenommen hat. Seine Manieren sind einfach zauberhaft! Glänzend, wie polierter Wachs.“

„Wie polierter Wachs“, wiederholte Merry und riss sich zusammen. Diese Unterhaltung auf dem Balkon hatte gar nichts zu bedeuten. Wahrscheinlich würde sie diesen Mann nie wiedersehen. „Tante Bess, das ergibt doch keinen Sinn. Man nimmt Wachs, um die Dinge zu polieren.“

„Du weißt, was ich meine“, sagte Bess unbeeindruckt. „Der Junge schimmert wie Messing.“

Merry runzelte die Stirn.

„Grundgütiger!“, sagte ihre Tante. „Du hast Glück, dass du ihn hast, meine Liebe, mehr wollte ich damit doch nicht sagen.“

Als Merry – nicht zum ersten Mal – zu einer Erklärung über durcheinandergewürfelte Metaphern ansetzte, näherte sich einer ihrer Verehrer, ein gewissen Mr. Kestril. Nachdem er beide Damen begrüßt hatte, sagte er: „Miss Pelford, ich glaube, Sie hatten mir den nächsten Tanz versprochen.“

„Gewiss doch“, sagte er und lächelte ihn an. Cedric hatte vorgeschlagen, dass Merry Mr. Kestril auf Abstand halten sollte, denn er gehörte nicht zum ton, was auch das bedeuten sollte.

Aber Merry mochte ihn. Mr. Kestril war nicht nur größer als sie, sondern verstand auch viel vom Gärtnern.

„Schimmernd wie ein Barren Feengold“, sagte ihre Tante unvermittelt.

Mr. Kestril runzelte die Stirn. „Ich bitte um Verzeihung?“

„Ich habe Merrys Verlobten, Lord Cedric, mit den Worten beschrieben, er würde schimmern wie Messing. Aber ich versuche, ein besseres Bild zu finden“, erklärte Bess und gab damit ganz nebenbei kund, dass Merry jetzt verlobt war. „Meine Muse hat mir gerade einen Vergleich mit Feengold vorgeschlagen.“

„Meine Tante ist eine Dichterin“, informierte Merry Mr. Kestril, dessen Mund bei Bess’ Neuigkeit zu einer schmalen Linie geworden war.

„Das wäre zu viel gesagt“, sagte Bess und fächerte sich Luft zu. „Ein Dichter verfügt über Raffinesse und Genie. Ich spiele lediglich mit den Worten.“

„Ihr Vergleich von Lord Cedric mit Feengold hat durchaus etwas von einem Geniestreich“, sagte Mr. Kestril trocken.

Merry runzelte die Stirn. „Warum? Feengold ist doch Gold, oder?“

„Und Lord Cedrics Haar ist goldfarben“, erklärte Bess.

Die ersten Klänge eines Kontertanzes ertönten. „Miss Pelford“, sagte Mr. Kestril mit einer tiefen Verbeugung und reichte ihr die Hand. „Darf ich bitten?“

Sie legte ihre Hand in seine. Und damit waren sie fort, sprangen durch den Raum und lächelten jedes Mal, sobald sie sich trafen und wieder trennten, sich erneut trafen und wieder trennten.

Merry wandte den Blick nicht vom Gesicht ihres Tanzpartners ab und schaute nicht nach links und rechts. Nicht, dass es jemanden in dem Ballsaal gäbe, den sie anschauen wollte.

Außer ihren Verlobten natürlich.

2. KAPITEL

Octavius Mortimer John Allardyce, der sechste Duke of Trent, kehrte in den Ballsaal zurück. Er hatte das Gefühl, einen heftigen Schlag in den Magen bekommen zu haben.

Kurz zuvor war Trent auf dem Ball von Lady Portmeadow angekommen, hatte der Gastgeberin die Hand geküsst und den Festsaal betreten. Prompt war sein Bruder Cedric aufgetaucht und hatte, laut genug, damit alle Umstehenden es hören konnten, verkündet, dass er jetzt verlobt sei und heiraten würde.

Trents erster Impuls war es gewesen, einen Freudenschrei auszustoßen, doch den hatte er natürlich unterdrückt und seinem Bruder stattdessen mit einem Nicken gratuliert.

Er wollte gerade darum bitten, seiner zukünftigen Schwägerin vorgestellt zu werden, als Cedric hinzufügte, dass er seiner Verlobten einen Diamantring geschenkt hatte. Das erwähnte er so beiläufig, als würde er über das Wetter reden.

Dabei ging es um den Ring ihrer Mutter. Dieser Ring war wertvoller als jedes andere Schmuckstück im Besitz der Familie, und das bezog sich nicht nur auf den finanziellen, sondern auch auf den symbolischen Wert. Nicht nur ihre Mutter, sondern auch die Mutter ihres Vaters hatte ihn schon getragen.

Mit anderen Worten, sein Bruder hatte den Ring verschenkt, der traditionell von der Duchess of Trent getragen wurde. Den Ring, der der Familientradition zufolge einmal den Finger seiner eigenen Braut zieren sollte. Vielleicht hätte Trent ihn einschließen sollen, doch er war nie auf die Idee gekommen, dass Cedric ihn nehmen könnte.

Bei einem anderen Mann wäre der Diebstahl eines Diamantrings ein Zeichen der Habsucht gewesen. Bei Cedric war das nicht der Fall. Er war neidisch auf Trents Titel, aber er war nicht gierig. Cedrics Augen hatten vor Schadenfreude gefunkelt. Es war ganz offenkundig seine Absicht gewesen, ihn zu provozieren.

Genauso klar war es, dass Cedric die Neuigkeit auf dem Ball bekannt gegeben hatte, weil er hoffte, dass Trent die Beherrschung verlieren würde. Und zwar vor einem Publikum, das aus dem größten Teil der feinen Gesellschaft Londons bestand. Wenn Trent einer Dame ihren Verlobungsring vom Finger reißen würde, gäbe es einen Skandal, der noch Jahre später in aller Munde sein würde.

Doch Trent würde lieber in der Hölle schmoren, als seinem Bruder die Genugtuung eines öffentlichen Streits zu verschaffen. Selbst wenn der Ring seinen Nachkommen zustand, nicht Cedrics. Seine zukünftige Schwägerin war in dieser ganzen Angelegenheit unschuldig, und allein die Vorstellung, den Diamantring von ihr zurückzufordern, war ihm zuwider.

Ohne ein Wort hatte er auf dem Absatz kehrtgemacht und sich auf den Balkon verzogen. Er starrte in den dunklen Garten, als er eine Berührung an seinem Arm spürte. Er drehte sich um – und sah sie.

Jetzt stand er wieder im Ballsaal, betrachtete vom Rand aus den Wirbel aus Musik und Farben und dachte über das nach, was soeben geschehen war.

Er mochte Amerikaner nicht einmal.

Seiner Erfahrung nach waren sie überaus unverschämt – und sie machte darin keine Ausnahme. Sie hatte ihm in die Augen geschaut, als wäre sie ein Mitglied der königlichen Familie: direkt und unbeirrt, ohne einen Hauch von Respekt vor seinem Titel.

Doch sie war die hübscheste junge Frau, die er je gesehen hatte. Sie hatte unbändige Locken von der Farbe und mit dem Glanz einer reife Kastanie. Ihr Mund war wie eine saftige Rose, ohne dass sie klebrige Lippenfarbe zu Hilfe nehmen müsste. Sie war kurvig und schlank zugleich, und sie war groß genug, damit er sie küssen könnte, ohne sich schmerzhaft den Hals zu verrenken.

Doch was ihn endgültig aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, waren ihre Augen. Er war sich ziemlich sicher, dass sie grau waren, aber auf dem schattigen Balkon war das schwer zu sagen. Aber er wusste, dass sie vor Humor und Klugheit strahlten. Und sie veränderten sich mit jeder Emotion, mit jedem klaren Gedanken von ihr.

Ihre Offenheit war eine willkommene Abwechslung zu den Heimlichkeiten in seiner Familie. Sein Vater hatte bis zum Exzess getrunken, und wie jeder Trinker hatte er unzählige Geheimnisse gehabt. Was seine Mutter davon gehalten hatte, wusste niemand. Trent konnte sich nicht daran erinnern, dass sie jemals eine Meinung oder eine Gefühlsregung preisgegeben hätte – außer eine alles umfassende, vernichtende Unzufriedenheit.

Im Gegensatz dazu stand der Amerikanerin alles, was sie dachte und fühlte, auf die Stirn geschrieben und kam ihr unverblümt über die Lippen. Sie würde niemals mit dem hinter dem Berg halten, was sie dachte. Wahrscheinlich würde derjenige, der sie heiratete, die meiste Zeit mit Lachen verbringen, wenn sie ihm wieder einmal offen mitteilte, was sie dachte.

Trent hatte es nie in Betracht gezogen, zusammen mit seiner Gemahlin zu lachen. Soweit er überhaupt über seine Duchess nachdachte, stellte er sich eine zurückhaltende Frau vor, die niemals eine Szene machte. Sie würde sich nicht an ihn klammern, kein Theater machen oder unablässig Forderungen stellen, schon gar keine emotionalen.

Doch er war es gewohnt, rasche Entscheidungen zu treffen, sobald ihm neue Beweise vorlagen.

Er würde diese Dame heiraten. Ihm gefiel einfach alles an ihr, von ihrem heiseren Kichern bis zu der Tatsache, dass sie schon so oft verliebt gewesen war.

Sie würde keine anständige ehrerbietige Gemahlin sein oder auch nur eine gehorsame Gattin. Aber sie würde auch niemals hinterlistig sein. Sie würde eine völlig andere Duchess sein, als seine Mutter es gewesen war. Und das war nur zu begrüßen.

Er hatte keine Ahnung gehabt, dass er auf eine bestimmte Frau gewartet hatte, aber wie sich jetzt herausstellte, hatte er auf eine Amerikanerin mit glänzenden Locken gewartet, die ihn offen ansah und sich keinen Deut darum scherte, dass er ein Duke war.

Cedrics Braut konnte den Diamantring behalten. Trent würde seiner Amerikanerin einen neuen Ring kaufen. Schließlich kam sie aus einem neuen Land.

Er würde ihr einen Ring kaufen, der doppelt so viel wert war wie der gestohlene Diamant. Sie würden eine neue Tradition begründen, und sein Ring würde die Hände der zukünftigen Duchesses of Trent schmücken.

Jetzt musste er nur noch herausfinden, wie sie hieß, eine angemessene Vorstellung arrangieren und ihre Anstandsdame darüber in Kenntnis setzen, dass er ihr morgen früh seine Aufwartung machen würde. Die Bitte würde für sich selbst sprechen. Jeder, der das hören würde, würde erwarten, dass sie die nächste Duchess werden würde. Am Morgen würde ganz London Bescheid wissen.

Trent merkte erst, dass er lächelte, als er den verwirrten Blick eines Mannes auffing, mit dem er zusammen zur Schule gegangen war.

„Ausgezeichneter Champagner, nicht wahr?“, sagte Lord Royston und hob sein Glas.

„Ja.“

„Sie haben ja gar keinen.“

„Ich werde ihn gleich kosten“, sagte Trent. „Wenn Sie mich entschuldigen würden, Royston, ich muss unsere Gastgeberin suchen.“

„Sie sollten sich etwas Champagner nehmen, ehe er zur Neige geht. Als ich Lady Portmeadow zuletzt gesehen habe, schlich sie um die Tische mit den Erfrischungen herum. Zweifelsohne achtet sie darauf, dass niemand sich zu viel nimmt.“

„Genau. Nun …“

„Es ist wirklich beschämend. Sie stellt zwei, drei Teller Gurkensandwiches hin und versucht, so zu tun, als sei es ein kaltes Buffet“, fuhr Royston fort und starrte Trent so eindringlich an, dass seine Augen ein wenig hervortraten.

War er wirklich so griesgrämig geworden, dass seine Bekannten erschrocken waren, wenn er lächelte? Der Mann sah ihn an, als sei er ein Kalb mit fünf Beinen, wie die Amerikanerin es beschrieben hatte. Die Erinnerung daran ließ ihn erneut lächeln.

Seine Lordschaft blinzelte verunsichert. „Wie ich hörte, hat Ihir Bruder eine Frau gefunden.“

„Das haben wir beide“, verkündete Trent.

„Tatsächlich? Wer ist denn die zukünftige Duchess?“

„Ich muss sie noch fragen, also werde ich es wohl besser für mich behalten.“

Ein verschrobener Humor spiegelte sich in Roystons Augen. „Von allen Männern in London brauchen Sie sich am wenigsten Sorgen um eine Zurückweisung machen, Euer Gnaden.“ Er hob sein Glas. „Ich trinke auf die bevorstehende Hochzeit, da sie Sie so aufheitert. Ich glaube, ich habe Sie seit Jahren nicht mehr lächeln sehen.“

Trent verbeugte sich knapp und ging zu den Tischen mit den Erfrischungen, die in einem Vorraum der Eingangshalle aufgebaut worden waren. Wahrscheinlich hatte er in der letzten Zeit wirklich nicht oft gelächelt. Aber wie auch? Er war jeden Tag rund um die Uhr damit beschäftigt gewesen, den Familienbesitz zu retten, den sein Vater fast in den Bankrott geführt hatte.

Doch das würde sich ändern, sobald er diese Amerikanerin geheiratet hatte. Sie hatte versprochen, niemals in Ohnmacht zu fallen – aber als sie ihn von Kopf bis Fuß begutachtet hatte, hatte sie leicht benommen gewirkt.

Besonders nach Prüfung seines Unterleibes.

Sein Körper hatte auf ihre Musterung mit einer Woge heftigen Verlangens reagiert. Wenn sie nicht so nah beim Ballsaal gestanden hätten, hätte er sie geküsst. Teufel noch eins, er hätte sie sich geschnappt und sie überwältigt … natürlich nachdem er ihre Erlaubnis dazu eingeholt hätte. Bei dem Gedanken wurde ihm erneut heiß, vor allem in den Lenden.

Mehr als einmal während ihrer Unterhaltung musste er den starken Wunsch unterdrücken, sich einfach einen Kuss zu stehlen. Sich einfach alles zu nehmen, was sie zu bieten hatte. Sie gegen die Balustrade zu drängen und sie zu küssen, bis diese klugen Augen vor Verlangen verschleiert waren und ihr wacher Verstand alles vergaß, was er je gelernt hatte.

Wie Royston vorhergesagt hatte, lungerte Lady Portmeadow tatsächlich neben den Erfrischungen herum und beobachtete, wie die Gurkensandwiches in den Kehlen der Gäste verschwanden.

Einfach nur zum Spaß bediente er sich selbst an den Sandwiches und verspeiste seines, während Ihre Ladyschaft um den Tisch herum zu ihm kam.

„Ich fühle mich sehr geehrt, dass es Ihnen möglich war, sich uns heute Abend anzuschließen“, sagte Lady Portmeadow mit einem verkniffenen Lächeln. „In Zeiten wie diesen vermisse ich Ihre liebe Mutter ganz besonders.“

Trent hatte keine Ahnung, wovon sie redete. Er nahm sich noch ein Sandwich. Sie waren klein, aber überraschend schmackhaft.

„Wie geht es Ihnen, Lady Portmeadow?“, fragte er.

„Unverändert, ganz unverändert. Meine Tochter Edwina ist … aber das wissen Sie natürlich. Schließlich sind Sie auf ihrem Debütantinnenball.“

Verwirrt runzelte Trent die Stirn. War das nicht ein Ball zu Ehren des neuen Hospitals, für das sein Bruder sich eingesetzt hatte?

„Ich sah keinen Grund, warum ich mich in Unkosten stürzen sollte, nur um zwei Bälle zu veranstalten“, erklärte Lady Portmeadow. „Edwina gibt heute Abend ihr Debüt, was sehr passend ist, da Ihre Mutter ihre Patin war.“

Trent machte eine leichte Verbeugung.

„Ich werde Sie zu Edwina bringen“, sagte Lady Portmeadow, nahm seinen Arm und zog ihn zurück in den Ballsaal. Und weg von den Sandwiches, wie Trent unwillkürlich feststellte. „Sie hat sich sehr verändert, seit Sie sie zuletzt gesehen haben. Damals war sie noch ein Kind. Ich freue mich, Ihnen berichten zu können, dass diese unglückseligen Sommersprossen verschwunden sind.“

„Ich bin sicher, dass sie überaus liebreizend ist“, murmelte Trent. Er erinnerte sich ohne große Begeisterung an Edwina. Sie war etwa so interessant wie ein Brotpudding.

Doch gerechterweise sollte er hinzufügen, dass sie damals erst zehn Jahre alt gewesen war.

„Ihr Bruder sagte mir, dass Sie sehr im House of Lords beschäftigt sind, seit die Saison begonnen hat“, sagte Lady Portmeadow. Sie durchquerten die Eingangshalle und hielten auf den Ballsaal zu. „Haben Sie Lord Cedric heute Abend schon gesehen? Er muss Ihnen die glückliche Nachricht bereits mitgeteilt haben.“

„Das hat er.“ Trent nickte einem Bekannten zu.

Lady Portmeadow senkte die Stimme. „Ich freue mich so sehr für ihn. Sie wissen natürlich, wie sehr Ihre Frau Mutter sich um ihn gesorgt hat. In den letzten Jahren habe ich so oft an sie gedacht – seit ich beobachte, wie Sie beide zu Männern herangewachsen sind. Jüngere Söhne machen regelmäßig Probleme. Es ist so eine Last für einen Mann, ohne ein Erbe aufzuwachsen.“

Trent hielt den Mund. Cedric hatte seinen Landsitz verspielt, doch das war zum Glück niemals publik geworden.

„Bei seiner zukünftigen Gattin musste er natürlich einige Abstriche machen“, flüsterte Lady Portmeadow. „Aus Vernunftgründen konnte Ihr Bruder nur aus einem sehr begrenzten Kreis auswählen.“

Teufel noch eins. Cedric musste eine Erbin mit vorstehenden Zähnen gefunden haben. Oder sie schielte.

Trent versuchte, Mitleid mit ihm zu empfinden, aber er war mit den Gedanken schon längst wieder woanders.

Bei seiner Amerikanerin. Die meisten englischen Jungfrauen wären der Ansicht, sie seien kompromittiert, nur weil sie sich etwas länger mit einem Mann im Halbdunkel auf einem Balkon unterhalten haben. Doch seine Amerikanerin interessierte sich nicht für die raffinierten Spielereien, mit denen sich die Mitglieder der englischen Gesellschaft amüsierten.

Sie war direkt auf ihn zugekommen und hatte ihn am Arm berührt – aber nicht, weil er ein Duke war. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wer er war. Wenn sie gewusst hätte, dass er einen Titel besaß, wäre sie garantiert auf der Stelle in die andere Richtung marschiert.

Trent grinste in sich hinein und freute sich auf den Moment, in dem er ihr vorgestellt wurde, samt Titel und allem Drum und Dran.

„Wo steckt bloß meine Tochter?“, fragte Lady Portmeadow, blieb am Eingang zum Ballsaal stehen. Sie hielt Trents Arm auf eine Art und Weise fest, die nahelegte, dass sie glaubte, Edwina würde eine feine Duchess abgeben. „Ah, da ist sie ja. Sie tanzt gerade mit Viscount Bern.“

Trent sah seinen Moment gekommen. „Ich wäre hocherfreut, wenn ich Miss Portmeadow später am Abend um einen Tanz bitten dürfte. Aber ich frage mich, ob Sie mir bis dahin vielleicht einen Gefallen tun könnten?“

„Aber gewiss doch, Euer Gnaden.“

„Ich würde gerne einer jungen Dame vorgestellt werden, die ich im Ballsaal gesehen habe.“

„Aber gewiss doch“, wiederholte Ihre Ladyschaft mit deutlich weniger Eifer. Widerstreben rang mit Neugier.

Vermutlich riet der mütterliche Instinkt ihr, den Duke als ihren Schwiegersohn zu sichern. Andererseits wäre sie nur zu gerne die Gastgeberin, die einen der angesehensten, wenngleich scheuesten Junggesellen auf dem Markt mit seiner zukünftigen Duchess bekannt machte. Man stelle sich nur vor, welche Geschichte sie vom Moment ihrer ersten Begegnung erzählen könnte!

Er zuckte unmerklich die Achseln und sah sich im überfüllten Saal nach seiner Amerikanerin um. Er entdeckte sie sofort und stellte frohen Herzens fest, dass sie im Licht der Kronleuchter genauso reizend aussah wie auf dem Balkon.

Sie stand nur wenige Meter von ihm entfernt, ein Glas Limonade in der Hand, neben einer dürren jungen Frau mit blonden, fast gelben Haaren und launischer Miene. Die blonde Dame nickte zu etwas, was Nigel Hampster den beiden erzählte.

„Reizend“ war nicht ganz das richtige Wort. Die Amerikanerin hatte ein herzförmiges Gesicht und eine Stupsnase. Doch der Schwung ihrer Nase war perfekt. Einfach anbetungswürdig. Sie würde diese Beschreibung vermutlich zurückweisen, aber er fand sie überaus zutreffend. Sie war anbetungswürdig.

Aber dieses Wort war auch nicht richtig, denn jetzt, wo sie direkt unter einem Kronleuchter stand, konnte er ihre Kurven deutlicher erkennen. Sie trug kein Weiß, wie die meisten jungen Damen hier. Ihr rosafarbenes Kleid verströmte nicht den Hauch jungfräulicher Keuschheit.

Stattdessen war es unterhalb ihrer vollen Brüste eng geschnürt und schmiegte sich an ihren Körper, als hätte sie ihre Unterröcke angefeuchtet. Das Mieder war tief ausgeschnitten, knapp an der Grenze der Schicklichkeit.

Sie sah teuer aus. Sinnlich. Kompliziert.

Unschuldig.

Und anbetungswürdig – alles auf einmal.

Hampster erzählte der blonden Dame Witze, auch wenn jeder Narr erkennen konnte, dass die ganze Vorstellung allein der jungen Frau galt, die neben ihm stand. Sie schaute direkt durch ihn hindurch, ein starres Lächeln auf den Lippen.

Trent stellte fest, dass er schon wieder grinste. Sie würde eine prachtvolle Duchess abgeben.

„Wen möchten Sie gerne kennenlernen, Euer Gnaden?“,...

Autor

Eloisa James
New-York-Times-Bestseller-Autorin Eloisa James schreibt nicht nur packende historische Liebesromane, sie ist auch Professorin für Englische Literatur. Eloisa lebt mit ihrer Familie in New York, hält sich aber auch oft in Paris oder Italien auf. Sie hat zwei Kinder und ist mit einem waschechten italienischen Ritter verheiratet.
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Eloisa James
New-York-Times-Bestseller-Autorin Eloisa James schreibt nicht nur packende historische Liebesromane, sie ist auch Professorin für Englische Literatur. Eloisa lebt mit ihrer Familie in New York, hält sich aber auch oft in Paris oder Italien auf. Sie hat zwei Kinder und ist mit einem waschechten italienischen Ritter verheiratet.
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