EIN HÖCHST EHRENWERTER GENTLEMAN

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Davinia Darling, von allen Familienmitgliedern zärtlich Vinny genannt, weiß nicht, was sie von der ganzen Situation halten soll: Ihr Bruder hat einen Fremden auf das Landgut ihrer Eltern gebracht, der offensichtlich sein Gedächtnis verloren hat. Alles weist darauf hin, dass er ein echter Gentleman ist, der eine exzellente Erziehung genossen hat. Vinny möchte so gern wissen, wer dieser Mann ist, in dessen Nähe ihr Herz schneller klopft. Warum bloß versteht er sich so gut aufs Kartenspiel? Und darf sie sich denn überhaupt in jemanden verlieben, dessen einziges Einkommen scheinbar vom Glücksspiel abhängig ist? Allen Zweifeln zum Trotz nimmt sie Johns Heiratsantrag an - da wird durch ihre Verlobungsanzeige das Rätsel gelöst: John heißt Lord Henry Broxwood, ist der Viscount Roxborough, und hat, bevor er in den Krieg zog, zu Vinnys maßlosem Entsetzen bereits einer anderen die Ehe versprochen…


  • Erscheinungstag 16.12.2013
  • ISBN / Artikelnummer 9783954467808
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sarah Westleigh

Ein höchst ehrenwerter Gentleman

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Claudia Wuttke (v.l.S.d.P.)

Grafik:

Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

©

1993 by Sarah Westleigh
Originaltitel: „A Most Exceptional Quest“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V., Amsterdam
Deutsche Erstausgabe 1994 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg, in der Reihe: MY LADY, Band 151
Übersetzung: Eva-Luise Hoffmann

CORA Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

ROMANA, BIANCA, BACCARA, TIFFANY, MYSTERY, MYLADY, HISTORICAL

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1. KAPITEL

Mrs Davinia Darling – von ihrer Familie liebevoll Vinny genannt – verspürte nicht das geringste Verlangen nach Gesellschaft. Ihre Mutter, Lady Marldon, hatte an diesem Tag ungewöhnlich viele Besucherinnen empfangen. Und als gehorsame Tochter hatte Vinny Stunde um Stunde damit zugebracht, den unerträglich langweiligen Klatschgeschichten der verschiedenen Damen zu lauschen. Kein Wunder also, dass sie sich jetzt nach ein wenig Ruhe sehnte.

Wie es in solchen Situationen ihre Gewohnheit war, hatte Mrs Darling sich mit einem Buch in den Park des väterlichen Anwesens Preston Grange zurückgezogen. Von ihrem Lieblingsplatz aus hatte sie eine herrliche Sicht auf den Hafen von Tor Bay, wo mehrere Schiffe der königlichen Flotte friedlich auf den Wellen schaukelten.

Vinny seufzte zufrieden auf, als sie die leicht salzige Luft tief einatmete. Sie hatte ihr Buch noch nicht aufgeschlagen, sondern genoss einen Moment lang die beruhigende Stille, die nur vom Gesang der Vögel unterbrochen wurde. Wie herrlich, dachte sie, endlich allein zu sein.

Doch gerade in diesem Augenblick bemerkte Mrs Darling zwei männliche Gestalten, die sich ihr näherten. Einer der beiden Gentlemen war zweifellos ihr Bruder, Percival Sinclair. Aber wer mochte der andere sein? Verdiente er die Bezeichnung Gentleman überhaupt? Er war, wie Vinny zu ihrer Verwunderung erkannte, überaus seltsam gekleidet.

Mit einer etwas ungeduldigen Geste strich Mrs Darling ihr gemustertes Musselinkleid glatt. Es war ihr klar, dass sie eine Begegnung unmöglich vermeiden konnte. Entschlossen zwang sie sich zu einem Lächeln.

„Vinny“, rief ihr Bruder ihr da auch schon fröhlich entgegen, „Mama hatte also recht damit, dass wir dich hier finden würden!“

Mrs Darling schwieg. Mit zunehmender Bestürzung betrachtete sie den Begleiter ihres Bruders. Er trug eine gelbe Hose, die nicht nur um einiges zu kurz war, sondern auch so straff über seine kräftigen Oberschenkel gespannt saß, dass sie jeden Moment zu zerreißen drohte. Sicher, seine Krawatte war makellos gebunden. Aber der um die Schultern viel zu eng geschnittene Rock gehörte doch gewiss Percy!

Der Fremde hatte Mrs Darlings Musterung mit einer gewissen Belustigung über sich ergehen lassen. Ein Lächeln spielte um seine Lippen, während er schweigend darauf wartete, vorgestellt zu werden.

„Guten Tag, Percy“, sagte Vinny endlich. Sie fühlte sich seltsam verwirrt durch die Anwesenheit des Fremden. War dieses Unbehagen nur auf seine merkwürdige Erscheinung zurückzuführen? Oder störte sie womöglich sein selbstbewusstes Auftreten noch mehr als seine unpassende Kleidung? Wahrhaftig, woher nahm er das Recht, so überheblich dreinzuschauen? Einen Moment lang fühlte sie sich unter seinem forschenden Blick fast wie ein unerfahrenes, schüchternes Schulmädchen.

„Ich möchte dir Mr John Smith vorstellen“, erklärte Percival Sinclair, dem das Unbehagen seiner Schwester nicht aufgefallen war, gut gelaunt. Dann wandte er sich seinem Begleiter zu: „Meine verwitwete Schwester, Mrs Davinia Darling.“

Vinny nickte dem Fremden leicht zu. „Mr Smith.“ Der Name schien ebenso wenig zu ihm zu passen wie Gehrock und Hose.

Er verbeugte sich. Und jetzt erst bemerkte Mrs Darling, wie dicht und dunkel sein Haar war, beinahe so tiefschwarz wie ihr eigenes, das allerdings im Gegensatz zu dem seinen bei Sonnenlicht manchmal fast blau schimmerte.

„Erfreut, Sie kennenzulernen, Madam“, sagte Mr Smith.

Seine dunkle Stimme berührte Vinny merkwürdig. Ihr war, als höre sie ein leichtes Lachen in ihr. Erneut wallte dieser unvernünftige Zorn über sein Benehmen in ihr auf. Sie warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. Und da fiel ihr auf, dass sein Gesicht deutliche Spuren von Müdigkeit und tapfer ertragenem Schmerz trug. Auch waren seine Wangen ein wenig eingefallen, so als habe er längere Zeit Hunger gelitten.

Mit plötzlich erwachter Neugier musterte sie Mr Smiths Gesicht noch einmal eingehender. Ja, sie hatte sich nicht getäuscht, als sie diesen Ausdruck von Schmerz, körperlicher Müdigkeit und geistiger Erschöpfung entdeckte. Dennoch blickten die grünbraunen Augen des Gentleman noch immer unerträglich belustigt und arrogant. Und warum hatte er sie trotz der Vorstellung durch Percy nicht mit „Mrs Darling“ angesprochen?

„Sie mögen meinen Namen wohl nicht, Mr Smith?“, fragte sie kühl. „Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass ich meinen Gatten nicht danach ausgewählt habe, wie sein Familienname lautet. Im Übrigen nehme ich an, dass auch Sie nicht gerade begeistert davon sind, Smith zu heißen.“

„Verzeihen Sie mir, Mrs Davinia – Darling“, gab er zurück. Die zweifellos absichtlich eingelegte Pause zwischen den Worten erweckte den Eindruck, dass er sie Darling – Liebling – hatte nennen wollen.

Vinny errötete, und ihre Augen blitzten zornig auf. Eine heftige Erwiderung lag ihr auf der Zunge. Aber Mr Smith kam ihr zuvor, indem er fortfuhr: „Leider muss ich Ihnen gestehen, dass ich nicht einmal ahne, wie mein wirklicher Name lautet. Dass man mich derzeit als John Smith kennt, habe ich der Militärverwaltung zu verdanken.“

Während er sprach, glaubte Mrs Darling einen seltsam verlorenen, unglücklichen Ausdruck in seinen Augen zu erkennen. Dieser wurde jedoch so rasch wieder von jenem herablassenden Blick ersetzt, dass Vinny sich fragte, ob sie sich nicht getäuscht hatte.

„Er hat sein Gedächtnis verloren“, fiel Percival in diesem Moment ein. „Stell dir nur vor, was es für ein Gefühl sein muss, eines Morgens aufzuwachen und nicht mehr zu wissen, wer man ist!“

„Sie haben tatsächlich Ihr Gedächtnis verloren?“, fragte Vinny fassungslos. Mitgefühl wallte in ihr auf. „Das tut mir aufrichtig leid für Sie. Aber wie kommt es, dass Sie sich ohne Probleme unterhalten können?“

Mr Smith runzelte leicht die Stirn. Es klang ein wenig ironisch, als er sagte: „Ich kann mich sogar in zwei Sprachen unterhalten. Auch weiß ich im Allgemeinen, wie ich mich zu benehmen habe. Außerdem erkenne ich die meisten Dinge und kann sie ihrer Bestimmung entsprechend benutzen. Mein eigenes Gesicht allerdings kommt mir fremd vor. Und leider habe ich bisher weder einen Menschen noch einen Ort in England wiedererkannt. Wissen Sie, ich kann mich nämlich an nichts von all dem erinnern, was geschehen ist, ehe ich vor etwa drei Monaten in einer Bauernkate in Portugal die Augen aufschlug.“

Mrs Darling nickte nachdenklich. „Sie waren also als Soldat in Portugal?“

„Ja“, ließ sich jetzt wieder Percival vernehmen. „Er hat gegen Napoleon gekämpft. Und Reverend Jackson … du kennt ihn doch, Vinny? Er arbeitet als Pfarrer im Marinekrankenhaus. Also Reverend Jackson ist der Meinung, dass Mr Smith bei der Erstürmung von Badajoz verwundet wurde. Damals hatte die englische Armee große Verluste zu beklagen, wie du dich vielleicht erinnerst.“

„Es hat den Anschein“, fiel Mr Smith ein, „dass ich mich schwer verwundet von Badajoz fortgeschleppt habe, bis ich Tage später auf der Schwelle einer Bauernkate zusammenbrach. Die Bauersleute waren so freundlich, mich zu pflegen. Es kann nicht leicht für sie gewesen sein, mich einigermaßen wiederherzustellen. Denn nach allem, was sie mir erzählten, hatte ich nicht nur eine Kopfverletzung, sondern auch Brandwunden auf Arm und Schulter sowie ein gebrochenes Bein. Zweifellos haben diese Leute mir das Leben gerettet.“

„Oh!“, entfuhr es Vinny, die erschrocken die Augen aufgerissen hatte. In England sprach man im Allgemeinen in Anwesenheit von Damen nicht über diese Seite des Krieges.

„Ja“, wiederholte Mr Smith, „ich verdanke dieser portugiesischen Bauersfrau und ihrer Familie mein Leben. Aber niemand konnte mir sagen, wer ich war und wohin ich gehörte. Als man mich fand, trug ich noch meine Uniform, allerdings war sie so zerschlissen, dass man nicht mehr erkennen konnte, welchem Regiment ich angehört und welchen Rang ich bekleidet hatte. Diese Tatsache macht es beinahe unmöglich, meine Identität herauszufinden.“

„Immerhin“, mischte Percival sich ein, „war es offensichtlich, dass Mr Smith kein einfacher Soldat gewesen war. Er ist ein Gentleman, und die Militärverwaltung ist davon überzeugt, dass er als Offizier gegen Napoleon gekämpft hat.“

Percys Augen spiegelten deutlich seine Bewunderung für Mr Smith wider. Nur zu gern wäre er selbst in den Krieg gezogen, doch sein Vater, Lord Marldon, hatte es ihm verboten. Als einziger Sohn – so hatte das Familienoberhaupt argumentiert hatte Percy andere Pflichten gegenüber seinen Angehörigen und seinem Vaterland.

Mrs Darling ließ den Blick von ihrem Bruder zu Mr Smith gleiten. Letzterer hatte den Kopf gesenkt. Denn während Percival sprach, hatte wieder jenes Schwindelgefühl von ihm Besitz ergriffen, das ihn seit seiner Verwundung stets aufs Neue in Verwirrung stürzte. Dieser Schwindel machte es Mr Smith sekundenlang unmöglich, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Und in solchen Momenten fühlte er sich unerträglich verletzlich und hilflos.

Anfangs, als er noch auf jenem Strohlager in der portugiesischen Bauernkate gelegen hatte, war ihm fast ständig schwindelig gewesen. Wie mühsam war es gewesen, zu denken, zu sprechen, sich mit der Welt auseinanderzusetzen! Aber Mr Smith hatte den Kampf gegen seine Krankheit mit dem gleichen Mut und der gleichen Energie aufgenommen, mit der er auch andere Kämpfe ausgefochten hatte.

Mit der Zeit waren die Schwindelanfälle seltener und die Welt war überschaubarer geworden. Inzwischen fühlte Mr Smith sich wieder stark genug, sich dem Leben aus eigener Kraft zu stellen und sich um eine angemessene Zukunft zu bemühen. Dazu gehörte vor allem, dass er mehr über seine Vergangenheit herausfand. Vielleicht wartete irgendwo eine Familie auf ihn. Vielleicht hatte er nicht nur Eltern, die verzweifelt waren, weil ihr Sohn verschollen war. Vielleicht besaß er auch Geschwister oder sogar eine Gattin, die noch immer auf seine Rückkehr hoffte.

Eine Gattin? Mr Smith ließ den Blick noch einmal über Mrs Darlings fein geschnittenes, von dunklen Locken umrahmtes Gesicht und über ihre zierliche Figur wandern. In diesem Moment wünschte er, frei zu sein. Bei Jupiter, wie sehr diese junge Dame ihn anzog! Durfte er es wagen, ihr seine Aufmerksamkeit zu schenken? Oder beging er damit Verrat an einer anderen jungen Frau, der er vielleicht vor Jahren ewige Treue geschworen hatte? Doch nein! In diesem Moment war Mr Smith sich ganz sicher, dass er noch nie geliebt hatte.

Vinnys Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Ich bezweifele nicht“, sagte sie, „dass Sie bald wieder vollkommen hergestellt sein werden, Mr Smith.“

„Davon bin ich ebenfalls überzeugt“, stimmte Percival zu. „Und wir werden tun, was in unserer Macht steht, um Mr Smith dabei zu helfen. Stell dir vor, Vinny, Papa und Mama haben ihn eingeladen, für eine Weile unser Gast zu sein.“

„Tatsächlich?“ Die Vorstellung, längere Zeit mit dem seltsamen Gentleman unter einem Dach zu leben, behagte Mrs Darling so wenig, dass sie ihren Fächer aufgeregt bewegte. Dann schob sie ihn entschlossen zusammen und sprang auf. „Ich vermag mir nicht vorzustellen“, erklärte sie, ihren Arger kaum verbergend, „wie gerade wir Mr Smith dabei helfen könnten, sein Gedächtnis zurückzuerlangen. Mr Smith, Percy, wir sehen uns beim Dinner.“ Und damit wandte sie sich dem Haus zu.

„Merkwürdig …“, murmelte ihr Bruder, ehe er sich zu seinem Begleiter umdrehte. „Ich möchte mich für Vinnys Benehmen entschuldigen, Mr Smith. „Bitte, glauben Sie mir, dass meine Schwester in allgemeinen ein höflicher Mensch ist. Ich weiß wahrhaftig nicht, was in sie gefahren sein mag.“

Tatsächlich empfand Mrs Darling, sobald sie sich ein wenig beruhigt hatte, heftige Gewissensbisse wegen ihres Verhaltens gegenüber dem unglücklichen Mr Smith. Während sie sich zum Dinner umkleidete, beschloss sie, sich von nun an ganz besonders freundlich und zuvorkommend zu geben.

Von diesem guten Vorsatz erfüllt, stieg sie die Treppe hinunter und betrat den Salon, den sie bis zum Dinner für sich allein zu haben glaubte. Doch am Fenster, das einen herrlichen Blick aufs Meer bot, stand Mr Smith, der interessiert die vor Anker liegenden Schiffe beobachtete. Vinnys erster Impuls war, sich leise zurückzuziehen. Doch Mr Smith hatte sie bereits gehört. Er wandte sich um und verbeugte sich höflich. „Mrs Darling.“

Vinny starrte ihn wortlos an. Nie zuvor hatte das Äußere eines Mannes sie so beeindruckt. Mr Smith trug jetzt weiße Kniehosen und Seidenstrümpfe sowie einen Frackrock, der seine breiten Schultern nicht allzu sehr einengte. Dadurch wirkte er verwirrend männlich. Ja, sein Anblick brachte Vinny so durcheinander, dass es eine Weile dauerte, bis ihr klar wurde, dass er die Abendgarderobe von ihrem Vater ausgeliehen haben musste.

Es kostete Mrs Darling einige Mühe, den Blick von Mr Smiths schmaler Hüfte abzuwenden. Sie schalt sich für ihr albernes jungmädchenhaftes Benehmen und versuchte, sich selbst zu beruhigen, indem sie sich sagte, dass sie seit dem Tode ihres Gatten kaum mit jüngeren Herren zusammengekommen und den Umgang mit ihnen einfach nicht mehr gewöhnt war.

„Ich habe die Aussicht bewundert“, erklärte Mr Smith in diesem Moment.

Vinny zwang sich zu einem Lächeln. „Wir Sinclairs sind der Überzeugung, dass der Blick, den wir von Preston Grange aufs Meer haben, der schönste in ganz England ist“, gab sie zurück.

„So schön“, meinte Mr Smith mit sanftem Spott, „dass man ihn nicht mit Gästen teilen möchte?“

Mrs Darling errötete, entschloss sich aber, gar nicht auf die Bemerkung einzugehen. „Warum hat man Sie ausgerechnet nach hier, nach Tor Bay, gebracht?“, erkundigte sie sich stattdessen.

„Ich bin eigentlich nur durch Zufall nach hier gelangt. Meine Lebensretter in Portugal sorgten, sobald es mir besser ging, dafür, dass ich nach Lissabon kam. Und das erste Schiff, mit dem ich von dort aus nach England zurückkehren konnte, hatte Tor Bay zum Ziel.“

„Wäre es nicht besser gewesen, Sie mit einem Hospitalschiff nach Hause zu schicken?“

Mr Smith zuckte die Schultern. „Ich war nicht mehr so krank, dass ich besonderer medizinischer Versorgung bedurfte“, erklärte er. „Wahrscheinlich …“ Er unterbrach sich, weil in diesem Moment Lady Marldon, Vinnys Mutter, den Raum, betrat.

„Mr Smith“, rief sie und überschüttete ihn mit einem Schwall freundlicher Worte. Seit jeher war Clarissa Sinclair, Lady Marldon, berühmt für ihre Gastfreundschaft und ihr Temperament, das sich auch mit zunehmendem Alter nicht gewandelt hatte.

Mr Smith verbeugte sich erneut und sagte: „Lady Marldon, die Gastfreundschaft, die Sie mir bieten, ist mehr, als ich verdiene. Ich empfinde es als große Ehre, unter Ihrem Dach weilen zu dürfen.“

Elender Schmeichler! dachte Vinny ärgerlich.

„Lieber Mr Smith“, ließ sich nun wieder Lady Marldon vernehmen, „wir freuen uns alle, dass Sie uns eine Weile Gesellschaft leisten wollen. Ihre Anwesenheit ist eine willkommene Abwechselung. Nicht wahr, Vinny?“

„Aber ja, Mama“, murmelte diese.

„Und wie ich sehe, Mr Smith“, fuhr Lady Marldon unbeeindruckt von der fehlenden Begeisterung ihrer Tochter fort, „haben Sie meinem Gatten bereits einen großen Gefallen getan. Sie haben ihn von seiner Abendgarderobe befreit. Sie müssen nämlich wissen, dass Lord Marldon sich nur glücklich fühlt, wenn er sich auf dem Lande aufhält und sich dementsprechend einfach kleiden kann. Ich zweifele nicht daran, dass er Ihnen sehr dankbar dafür ist, dass Sie ihm diese Kleidungsstücke abgenommen haben! Er hat sich geweigert, sie jemals wieder zu tragen, nachdem Vinny in die Gesellschaft eingeführt worden war. Wie lange ist das nun her, Vinny, Liebling?“

„Sechs Jahre“, antwortete diese.

„Ach ja“, Lady Marldon seufzte auf, „so lange waren wir nun schon nicht mehr in London. Stellen Sie sich vor, Mr Smith, ich kann meinen Gatten nicht einmal dazu überreden, Vinny in ihrem Londoner Haus ab und zu einen Besuch abzustatten.“

„Du solltest einfach einmal ohne Papa kommen“, mischte Vinny sich ein. „Ich weiß sehr wohl, dass dir das gesellschaftliche Leben in der Stadt gefallen hat, Mama.“

„Das stimmt. Aber inzwischen bin ich zu alt für solche Vergnügungen. Und außerdem kann man, wie du weißt, deinen Papa nicht allein lassen. Ohne mich würde er sich ganz verloren vorkommen.“

Mr Smith hatte schweigend zugehört. Es erschien ihm seltsam, dass die beiden Damen sich in seiner Anwesenheit über derart private Dinge unterhielten.

„Unsinn, Mama“, rief Vinny gerade aus. „Natürlich könntest du Papa für ein paar Tage allein lassen!“

„Nun“, gab Lady Marldon zurück, „warum sollte ich das tun? Ich fühle mich wohl hier. Das Leben auf dem Lande bietet eine Menge einfacher Vergnügungen.“

„Wenn ich mich recht entsinne“, mischte Mr Smith sich ein, „erwähnte Ihr Sohn, dass er gelegentlich andere Vergnügungen vorziehen würde.“

„Ach ja, Percy ist noch jung und wie alle jungen Männer manchmal ein wenig stürmisch. In diesem Alter sehnt man sich nach aufregenden Erlebnissen, nicht wahr?“

„Höre ich da etwa etwas von aufregenden Erlebnissen?“, ließ sich in diesem Moment Percival selbst vernehmen. Gefolgt von seinem Vater betrat er den Raum. Die beiden Herren begrüßten Mr Smith freundlich. Und gleich darauf begab sich die kleine Gesellschaft in den Speisesaal.

Es gefiel Vinny nicht besonders, dass ihr Platz an der Tafel sich genau gegenüber dem des seltsamen Gastes befand. Doch sie bemühte sich, ihre Unzufriedenheit nicht zu zeigen. Schließlich schienen ihre Eltern keinerlei Bedenken zu hegen, einen Mann unter ihrem Dach zu beherbergen, von dem man nichts wusste, als dass er auf der Pyrenäenhalbinsel als Soldat gekämpft hatte.

Obwohl Lady Marldon behauptet hatte, man wolle Mr Smith wie ein Familienmitglied behandeln, gab es doch zum Dinner andere Speisen und mehr Gänge als sonst. Auch waren die Dienstboten angewiesen worden, das wertvolle chinesische Porzellan und das Familiensilber aufzulegen.

Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – verspürte Mrs Darling keinen rechten Appetit. Keines der Gerichte wollte ihr wirklich munden. Und schließlich wandte sie mit einem unterdrückten Seufzer den Blick von ihrem Teller ab.

Ihr Herzschlag schien zu stocken, als sie bemerkte, dass Mr Smith sie nachdenklich betrachtete. Im Licht der Kerzen wirkten seine Züge weicher, jünger und – Vinny musste es sich widerwillig eingestehen – anziehender.

„Ich kann mich nicht erinnern, jemals besser gespeist zu haben“, erklärte er, und seine Augen blitzten humorvoll auf. „Lady Marldon, ich möchte Sie zu Ihrem Koch beglückwünschen. Die Lammkeule war wunderbar zart.“

„Da müssen Sie meinen Gatten loben. Das Lamm entstammte seiner eigenen Zucht“, gab Vinnys Mutter zurück.

„Es freut mich, dass es Ihnen geschmeckt hat, Mr Smith“, ließ sich nun Lord Marldon vernehmen. „Sie sollten morgen einmal mit mir oder meinem Sohn losreiten, um sich den Besitz anzuschauen. Auf meinen Weiden gibt es große Herden, und ich züchte nur die besten Viehsorten.“

„Gern.“ Mr Smith lächelte seinem Gastgeber zu. „Ich hoffe nur, dass ich überhaupt reiten kann.“

„Natürlich können Sie reiten. Das kann schließlich jeder Offizier.“

„Nun, bisher war es tatsächlich so, dass ich durch meine … Krankheit keine meiner vorher erworbenen Fertigkeiten eingebüßt habe. Lord Marldon, ich muss gestehen, dass ich mich auf den Ausritt freue.“

„Du musst unserem Gast unbedingt das Sommerhaus zeigen, Percy“, mischte sich nun wieder Lady Marldon in das Gespräch ein.

„Es ist im Stil eines griechischen Tempels erbaut“, erklärte Percival Sinclair, ehe seine Mutter zu einer begeisterten Beschreibung ausholen konnte. Percy selbst fand das Sommerhaus lächerlich. Aber er hätte niemals gewagt, seine Meinung zu äußern. Denn seine Mutter, auf deren Wunsch hin das Sommerhaus einst erbaut worden war, liebte es sehr. Rasch wechselte Percy das Thema. Freundlich begann er, Mr Smith Vorschläge zu unterbreiten, was sie sich am nächsten Tag alles ansehen könnten.

Eine Zeit lang lauschten die Damen dem Gespräch der Gentlemen schweigend. Als das Mahl beendet war, zogen sie sich zurück, während die Herren ihre Unterhaltung bei Port und Brandy fortsetzten.

„Weißt du, Mama“, sagte Vinny, als sie sich mit einer Stickarbeit neben ihrer Mutter auf dem zierlichen Sofa im Salon niederließ, „ich begreife nicht recht, warum ihr einen euch völlig fremden Menschen eingeladen habt.“

„Aber Liebes“, gab Lady Marldon zurück, „was hätten wir denn deiner Meinung nach tun sollen? Der arme Mr Smith hat sich seine Verletzung im Kampf für England zugezogen. Es ist offensichtlich, dass er ein Gentleman ist, und wahrscheinlich hat er als Offizier einen hohen Rang bekleidet.“

„Wenn dem so wäre, hätte man doch längst herausfinden müssen, wer er ist“, widersprach Vinny.

„Nicht unbedingt“, erklärte ihre Mutter ruhig. „Die Armee hat bei Badajoz so viele Offiziere verloren, dass es schwer ist festzustellen, welcher von ihnen überlebt haben könnte. Percy hat mir erzählt, dass man kaum einen der Gefallenen zu identifizieren vermochte. Ach, es ist schrecklich!“

Lady Marldon sah so betrübt aus, dass Vinny sofort versuchte, sie zu trösten. Und wenig später versprach sie ihrer Mutter, Mr Smith so nett und freundlich zu behandeln, als sei er ein alter Freund der Familie. „Aber“, setzte sie hinzu, „ich muss dir gestehen, Mama, dass jede gesellschaftliche Verpflichtung mir im Moment zur Last wird.“

„Mein liebes Kind, ich vermute, dass du Mr Smith gar nicht oft sehen wirst. Du hast doch bemerkt, wie sehr dein Bruder sich um ihn bemüht.

„Gewiss wird Percy dafür sorgen, dass unser Gast sich nicht langweilt.“

„Du hast wahrscheinlich recht, Mama. Dennoch hoffe ich, dass Mr Smith sein Gedächtnis bald zurückerlangt und unsere Gastfreundschaft nicht mehr allzu lange in Anspruch nimmt.“

Lady Marldon warf ihrer Tochter einen forschenden Blick zu und schüttelte dann leicht den Kopf. Von dieser Seite kannte sie Vinny gar nicht. Merkwürdig, was mochte nur mit den Mädchen los sein?

Sie fand keine Gelegenheit, weiter darüber nachzudenken, weil ein Dienstmädchen mit dem abendlichen Tee erschien und beinahe gleichzeitig auch die drei Gentlemen den Salon betraten.

„Vinny, möchtest du uns nicht etwas auf dem Pianoforte vorspielen?“, bat Lord Marldon, als das Teetablett schließlich wieder abgetragen worden war.

Mrs Darling, die im Allgemeinen gern spielte, erhob sich mit einem gezwungenen Lächeln. „Aber ja, Papa“, meinte sie. Tatsächlich jedoch hätte sie sich gerade an diesem Abend lieber früh zurückgezogen. Es behagte ihr gar nicht, ihre Kunstfertigkeit vor Mr Smith unter Beweis zu stellen. „Was möchtet ihr denn hören?“

„Etwas von Händel“, schlug ihr Vater vor.

Doch Percival widersprach. „Ich finde, Vinny sollte etwas Lebhafteres spielen. Warum singst du uns nicht ein paar Lieder, Schwesterchen?“ Unterdessen hatte Mr Smith sich erhoben und war zum Klavier getreten. Er entzündete die auf dem Instrument in einem Silberleuchter stehenden Kerzen und deutete dann eine Verbeugung in Mrs Darlings Richtung an.

„Danke“, sagte Vinny steif. Sie suchte ein paar Notenblätter heraus und nahm auf dem Klavierschemel Platz. Sie fühlte sich ungewöhnlich nervös, und selbst ihre Stimme wollte nicht so sicher klingen wie sonst. Vinny räusperte sich und atmete ein paar Mal tief durch. Dann endlich schlug sie den ersten Ton an.

Als sie zu singen begann, stand Mr Smith noch immer in ihrer Nähe. Fasziniert betrachtete er ihre schwarzen Locken, die im Rhythmus der Musik wippten. Bei Jupiter, welch seltsame Gefühle diese junge Dame in ihm weckte! Warum nur verhielt sie sich ihm gegenüber so abweisend? Machte das womöglich einen Teil ihres Reizes aus? Aber nein, es musste etwas anderes sein, das ihn so anzog.

Unwillkürlich seufzte Mr Smith auf. Es war äußerst unangenehm, nicht zu wissen, ob man über ein gewisses Vermögen verfügte und einer guten Familie entstammte, sodass man sich berechtigt fühlen konnte, einer bezaubernden jungen Dame den Hof zu machen. Wenn er doch wenigstens wüsste, ob er bereits verheiratet war! Sein Arzt hatte ihm gesagt, dass er ihn für etwas über dreißig hielt, durchaus in dem Alter, eine eigene Familie gegründet zu haben. Und dennoch …

Mit klopfendem Herzen betrachtete er den zarten Nacken der jungen Frau am Klavier. Und gerade in diesem Moment gab Mrs Darling ihm durch eine leichte Bewegung des Kopfes zu verstehen, dass er ihr Notenblatt umwenden möge. Er gehorchte sofort und war im gleichen Augenblick erstaunt darüber, dass er ihr Anliegen so mühelos verstanden hatte. Offenbar hatte er sich schon früher in diesen Kreisen bewegt, offenbar gehörte er der gleichen Gesellschaftsschicht an wie die Sinclairs.

Vinny, die nichts von Mr Smiths Überlegungen ahnte, hatte seine Anwesenheit inzwischen beinahe vergessen. Sie war ganz in die Musik versunken. Und selbst als plötzlich ein angenehmer Bariton in ihren Gesang einfiel, war ihr zunächst nicht klar, dass nur Mr Smith der Sänger sein konnte.

Als das Lied endete, klatschte Lady Marldon hingerissen Beifall. Auch Percival Sinclair gab seiner Begeisterung laut Ausdruck. Doch es waren die einfachen Worte ihres Vaters, die Vinny am meisten berührten. „Vinny, Mr Smith, das war wunderschön“, sagte er.

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