Ein Kuss wie ein Versprechen

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Ein Ehemann, vielleicht sogar Kinder - für Ally ein Albtraum! Bis die Hebamme ihren Kollegen Dr. Flynn Reynolds kennenlernt. Er weckt eine bittersüße Sehnsucht in ihr: Flynn wäre der eine, mit dem sie glücklich werden könnte. Wenn er keinen Ehering tragen würde ...


  • Erscheinungstag 20.03.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733746117
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Tom fand Perdy in einem Sessel, in den sie sich mit ihrem Buch gekauert hatte. Der ängstliche Ausdruck auf ihrem Gesicht verriet ihm, dass sie wieder einmal versuchte, ihn nicht zu stören. Ihm tat es in der Seele weh, seine kleine Tochter so zu sehen.

Er wollte, Eloise wäre hier. Ohne sie war die Familie nicht vollständig. Und er wünschte, Perdy würde sich wie ein ganz normales Kind verhalten, das lachte und Unordnung anrichtete und in jeder Ecke einen Regenbogen sah statt Schatten.

Tom schluckte den aufsteigenden Ärger wieder hinunter. Es war nicht fair, Eloise Vorwürfe zu machen, weil sie an diesem Tropenfieber gestorben war. Er musste aufhören, ihr die Schuld daran zu geben.

Aber er konnte es nicht.

Eloise war weit davon entfernt gewesen, eine perfekte Mutter zu sein. Doch zumindest hatte er mit ihr über Erziehungsfragen reden können, und gemeinsam waren sie dann zu einer Lösung gekommen. Nun musste er alle Entscheidungen allein treffen und niemand sagte ihm, ob sie richtig waren oder falsch. Wahrscheinlich war er als Vater völlig unfähig.

Er lächelte seiner Tochter zu, doch sie lächelte nicht zurück. War es ein Fehler gewesen, von London wegzuziehen und Perdy aus ihrem gewohnten Leben zu reißen? Hätte er lieber durchhalten sollen, statt mit seiner Tochter mitten im Schuljahr in eine fremde Stadt zu ziehen, um neu anzufangen?

Aber auch London war kein guter Ort für sie gewesen. Das Mitleid, das man seiner Tochter von allen Seiten entgegenbrachte, hatte sie nur noch verschlossener gemacht. Er konnte einfach nicht mehr zu ihr durchdringen.

Dann hatte er das Zeitungsinserat gelesen, wo man eine Vertretung für einen Allgemeinarzt in einem Küstenort in Norfolk suchte. Tom war es wie die Lösung aller Probleme erschienen. Drei Monate würden genügen, um einen Neuanfang zu machen. Sein Terrassenhaus in London hatte er für diese Zeit vermietet, und wenn die Dinge in Norfolk gut liefen, konnte er hier vielleicht einen unbefristeten Job bekommen und sein Haus verkaufen. Sollte Perdy die Großstadt zu sehr vermissen, konnten sie immer noch zurückziehen.

Joe und Cassie Rivers waren wundervoll gewesen. Sie hatten ihm angeboten, mit seiner Tochter bei ihnen zu wohnen, während sie in Australien waren. So konnte er gleichzeitig auf ihr Haus und den Hund aufpassen.

Fast zwei Wochen war es her, dass sie hier eingezogen waren, doch Perdy war immer noch so still und in sich gekehrt. Sie war höflich zu allen Leuten, aber es schien auch, als hätte sie eine riesige Mauer um sich errichtet.

Und Tom hatte niemanden, der ihm helfen konnte, sie niederzureißen.

Seine Eltern waren alt und gebrechlich, an sie konnte er sich nicht wenden. Und seine Schwiegereltern … Sie waren schuld daran, dass Eloise sich zu dem Menschen entwickelt hatte, der sie gewesen war. Einem Menschen, der nie mit dem zufrieden war, was er erreicht hatte, und immer nach Höherem strebte. Auf keinen Fall würde er es zulassen, dass sie denselben Druck auf ihre Enkeltochter ausübten.

„Hey.“ Tom setzte sich auf die Sessellehne und wuschelte seiner Tochter das Haar. „Alles in Ordnung?“

Perdy hob den Blick von ihrem Buch. „Ja, Daddy.“

„Gefällt dir das Buch?“

„Ja, Daddy.“

Er ließ sich von ihren einsilbigen Antworten nicht entmutigen. „Wovon handelt es?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Von einem Jungen, der Löcher graben muss.“

Das hätte er sich anhand des Titels selbst zusammenreimen können. Es war offensichtlich, dass sie keine Lust hatte, ihm die Geschichte zu erklären. Sie wollte nicht unhöflich sein, schielte jedoch immer wieder auf ihr Buch, als würde sie es nicht erwarten können, weiterzulesen.

Zum Teufel, er wollte keine Höflichkeiten, sondern Liebe und Zuneigung! Er wollte ein normales Kind, das lebhaft und unordentlich und auch manchmal etwas frech war … und behütet.

Tom umarmte sie kurz und drückte sein Gesicht in ihr Haar. Sein kleines Mädchen! Seit acht Jahren war sie der Sonnenschein in seinem Leben. „Dann lasse ich dich mal weiterlesen, Süße.“

Das sollte nicht heißen, dass er aufgeben würde, zu ihr durchzudringen. Er wollte versuchen, jeden Tag einen kleinen Schritt weiterzukommen, sie wissen lassen, dass er jederzeit für sie da war, wenn sie mit ihm reden wollte. „Du weißt, dass ich dich sehr, sehr lieb habe, nicht wahr?“

„Ja, Daddy. Ich hab dich auch lieb.“

Das waren die Worte, die er hören wollte. Doch Perdys Stimme war völlig emotionslos, und es fiel ihm schwer, ihr zu glauben. Der Tod ihrer Mutter war ein großer Schock für sie gewesen und es schien, als wären alle Gefühle in ihrem Herzen erloschen. Wenn er nur wüsste, wie er ihre Liebe wieder zurückgewinnen konnte!

Ob er sich nach einer neuen Mutter für sie umsehen sollte?

Nein, damit wäre weder Perdy noch ihm geholfen. Eloise hatte auch ihm das Herz gebrochen, und er hatte nicht vor, jemals wieder eine neue Beziehung einzugehen. Nicht, weil er seine Frau für den Rest seines Lebens lieben würde. Manchmal hasste er sie geradezu. Dann wieder fühlte er sich schuldig, weil er ihr immer grollte, und der quälende Kreislauf begann aufs Neue.

„Lies nicht mehr zu lange. Morgen musst du wieder zur Schule. Schlafanzug, Zähneputzen und im Bett in zwanzig Minuten, ja?“

„Ja, Daddy.“

Ein erschreckender Gedanke kam ihm. Perdy war ein stilles Kind und eine Leseratte, das perfekte Angriffsziel für Schultyrannen. „Ist in der Schule alles in Ordnung?“ Er hoffte von Herzen, dass sie inzwischen Freunde gefunden hatte. Kinder, die sie besser vor der Welt beschützen konnten als er.

Sie nickte. Tom nahm sich vor, morgen ihre Lehrerin anzurufen, um zu hören, wie Perdy sich in der Schule eingelebt hatte. „Gut, dann lasse ich dich mit deinem Buch allein. In einer halben Stunde komme ich nach oben und sage Gute Nacht.“

Diesmal drückte ihr Lächeln sichtliche Erleichterung aus und das schmerzte ihn noch mehr.

Amy umfasste mit beiden Händen ihre Tasse. Aber auch die heiße Milch konnte sie nicht wärmen. Sie wirkte weder beruhigend noch konnte sie den Albtraum vertreiben.

Es war ein Albtraum, der seit Monaten immer wiederkehrte. Sie sah Ben vor sich auf dem Operationstisch liegen, während sie alles daransetzte, um die Nervenstränge in seiner Wirbelsäule zusammenzufügen und seinen Nackenwirbel zu fixieren. Dabei versuchte sie verzweifelt, alle persönlichen Gefühle in den Hintergrund zu drängen und sich ganz auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Ebenso versuchte sie, das wachsende Entsetzen zu ignorieren, als ihr bewusst wurde, dass sie Ben nicht helfen konnte. Und immer wieder hatte sie Lauras Stimme im Ohr, voller Schmerz und Anklage. Ich hatte dir vertraut …

Aus diesem Traum erwachte Amy jedes Mal schweißgebadet. Schlimmer noch war das Bewusstsein, dass es kein Traum gewesen war.

Alles war genau so in Wirklichkeit passiert.

Amy fröstelte. Im Moment konnte sie einfach keinen Weg sehen, um die Schatten der Vergangenheit zu vertreiben.

Fergus Keating hatte ihr angeboten, drei Monate Urlaub zu nehmen. Aber was in aller Welt sollte sie mit so viel freier Zeit anfangen?

Sie wusste aber auch, dass der Chef der Neurochirurgie recht hatte. Sie war tatsächlich kaum in der Lage, sorgfältig zu operieren. Sie brauchte eine Auszeit, um wieder zu sich selbst zu finden. Großzügigerweise hatte Fergus ihre Kündigung zurückgewiesen und ihr stattdessen geraten, unbezahlten Urlaub zu nehmen.

Er hatte auch vorgeschlagen, dass sie sich einer Therapie unterziehen sollte. Amy sah jedoch keinen Sinn darin. Psychotherapeutische Gespräche würden weder Bens Bewegungsfähigkeit zurückgeben noch ihre beste Freundin dazu bringen können, ihr zu verzeihen.

Amy holte tief Luft. Dass Laura nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte, schmerzte sie am meisten. Gerade jetzt hätte sie für Laura da sein und ihr über diese schwere Zeit hinweghelfen sollen. Aber wie konnte man jemandem eine Stütze sein, wenn man selbst die Ursache aller Probleme war?

Fergus zweiter Vorschlag dagegen, London für eine Weile den Rücken zu kehren und Abstand zu gewinnen, gefiel ihr schon besser. Amy wusste auch schon, wohin sie gehen wollte. Am liebsten hätte sie ihre Lieblingstante sofort angerufen, aber vier Uhr morgens war nun wirklich etwas zu früh.

Irgendwie schaffte Amy es, den Tag herumzubekommen. Gegen Abend wählte sie die Nummer ihrer Tante.

„Cassie Rivers“, tönte es ihr vom anderen Ende entgegen.

„Tante Cassie? Ich bin es, Amy. Ich wollte dich fragen … Kann ich am Wochenende zu euch rauskommen und eine Weile bei euch bleiben?“

Amys Tante seufzte bedauernd. „Du bist uns immer willkommen, das weißt du. Aber Joe und ich fliegen übermorgen nach Australien.“

„Oh, richtig.“ Wie hatte sie das vergessen können? Beth, ihre Tochter und Amys Cousine, bekam ihr erstes Baby, und Cassie und Joe wollten einige Wochen mit ihr und dem neuen Enkelkind verbringen. „Tut mir leid, Cassie. Daran hatte ich im Moment gar nicht gedacht.“

„Weil du nur immer deine Arbeit im Kopf hast. Du bist viel zu hart mit dir selbst.“

Das stimmte allerdings. Seit Amy ihre Facharztausbildung zur Neurochirurgin absolviert hatte, war sie von dem Ehrgeiz besessen, eine der Besten in ihrem Fach zu sein. Das war ihr auch gelungen – bis sie bei Ben so kläglich versagt hatte. Seitdem war es mit ihr bergab gegangen. Doch darüber konnte sie mit niemandem reden. Mit diesem Dilemma musste sie ganz allein fertigwerden.

„Selbstverständlich kannst du trotzdem kommen“, redete ihre Tante weiter. „Wie lange möchtest du bleiben?“

„Ich … hm, ich habe unbezahlten Urlaub genommen. Zwei Wochen vielleicht, wenn es euch recht ist?“

„Was ist passiert?“, fragte Cassie besorgt.

„Ich brauche eine gewisse Auszeit“, erwiderte Amy ausweichend.

„Das ist verständlich. Du kannst bleiben, so lange du willst. In sechs Wochen sind wir wieder zurück. Es wäre schön, wenn wir dann noch ein wenig Zeit zusammen verbringen könnten. In der Zwischenzeit kannst du auf das Haus aufpassen, und wir müssen Buster nicht in die Hundepension geben.“

Es war typisch für Cassie, die Dinge so zu drehen, dass man sich nützlich vorkam. „Danke, Cassie, das tue ich gern. Ich werde mit Buster auch jeden Tag spazieren gehen.“ Der braune Labrador war nicht mehr der Jüngste. Amy erinnerte sich noch daran, wie ihre Tante und ihr Onkel ihn als Hundebaby bekommen hatten.

„Joes Vertretung wohnt übrigens ebenfalls im Haus, aber es ist ja genug Platz, um euch nicht im Weg zu sein.“

Ah, das war also der tatsächliche Haussitter! Vermutlich hatte Cassie mit der Hundepension gar nichts arrangiert. „Ist es euch auch wirklich recht, dass ich komme?“, vergewisserte Amy sich.

„Aber natürlich.“ Ihre Tante schwieg kurz. „Warum packst du nicht ein paar Sachen und kommst heute noch her? Ich habe das Gefühl, als würdest du eine ordentliche Mahlzeit und ein gutes Gespräch vertragen können.“

Amy kamen beinahe die Tränen. Liebevollen Beistand hätte sie jetzt dringend brauchen können. Aber ihr war auch klar, dass sie ihn nicht verdiente. Nicht nach allem, was sie getan hatte. Außerdem waren Joe und Cassie in Gedanken bereits bei Beth und dem Baby, da wollte sie die beiden nicht mit ihren Problemen belasten.

„Danke, aber ich habe noch Verschiedenes zu erledigen.“

„Gut, dann plaudern wir eben hier am Telefon.“

Abwehr stieg in Amy auf. Nein, sie wollte mit niemandem darüber reden! „Ich will dich nicht aufhalten, Cassie. Bestimmt bist du mitten im Packen. Mach dir um mich mal keine Sorgen. Ich brauche nur ein bisschen Erholung, das ist alles.“

Cassie schien nicht sehr überzeugt zu sein, gab sich jedoch damit zufrieden. „Gut, ich hinterlege den Schlüssel am gewohnten Platz. Sobald wir in Australien sind, schicke ich dir eine SMS. Du kannst mich auch jederzeit anrufen. Aber denk daran, dass wir in Melbourne unserer Zeit hier um neun Stunden voraus sind.“

„In Ordnung. Und vielen Dank auch, Cassie.“ Für den Zufluchtsort …

„Gerne, Amy.“

„Grüß Beth ganz herzlich von mir. Ich hoffe, sie wird eine leichte Geburt haben. Schick mir bald ein Foto von ihrem Baby, ja?“

„Du kannst dich darauf verlassen. Und fahr vorsichtig.“

Amy versprach es ihr. „Und euch beiden eine gute Reise.“

2. KAPITEL

Am Donnerstagmorgen trat Amy ihre Fahrt nach Norfolk an. Gegen Mittag erreichte sie den Küstenort, in dem ihr Onkel schon seit ihrer Kindheit lebte. Hier hatte sie viele frohe Sommer verbracht und hier hoffte sie, endlich wieder zur Ruhe zu kommen.

Auf dem Kiesparkplatz vor Marsh End House stellte sie ihren Wagen ab. Da kein anderes Auto dastand, nahm sie an, dass die Vertretung ihres Onkels im Dienst war. Aber es konnte natürlich auch sein, dass er gar kein Auto besaß.

Wie erwartet, fand sie unter einem bestimmten Stein in der Blumenrabatte neben der Haustür den hinterlegten Schlüssel. Kaum hatte sie die Diele betreten, hörte sie aus der Küche aufgeregtes Bellen. Amy öffnete die Tür und wäre von Buster beinahe über den Haufen gerannt worden.

„Hey, benimmt sich so ein gesetzter älterer Hund?“, schimpfte sie liebevoll. Zur Antwort legte Buster ihr die Pfoten auf die Schultern und leckte ihr enthusiastisch das Gesicht.

„Ja, ja, schon gut, du alter Schmusehund! Lass mich erst mal meine Sachen hereinholen und eine Tasse Tee trinken, dann gehen wir Gassi.“

Begeistert klopfte Buster mit dem Schwanz auf den Boden. Amy betrachtete ihn lächelnd. „Es ist gut, wieder zu Hause zu sein“, erklärte sie dem Hund.

Das Haus ihrer Tante und ihres Onkels war für sie immer mehr ein Zuhause gewesen als das Haus ihrer Eltern in London. Marsh End House war ein eindrucksvolles rotes Backsteingebäude im viktorianischen Stil, mit hohen Bogenfenstern, spitzen Giebeln und einem Turm, in dem sie mit Beth und deren beiden jüngeren Brüdern immer gespielt hatte. Es waren Spiele mit Zauberern und Prinzessinnen und Schlössern gewesen, und wenn sie nicht im Haus gespielt hatten, dann hatten sie am Strand Sandburgen gebaut, Kricket und Football gespielt und bei Ebbe die Felsenlöcher erkundet. Hier war Amy immer am glücklichsten gewesen.

So viele wundervolle Erinnerungen – ob sie helfen würden, ihren Kummer zu heilen?

An der Plätzchendose auf dem Küchentisch lehnte ein Umschlag mit ihrem Namen darauf. Amy öffnete ihn.

Ich habe das Bett in Deinem alten Zimmer gerichtet, las sie.

Im Turm? Fantastisch! Amy liebte den Ausblick auf das Meer und das Marschland und am Morgen von der Sonne geweckt zu werden. Vielleicht würden in dieser Umgebung die Albträume ausbleiben.

Tom und Perdy werden sich im Laufe des Tages vorstellen, las sie weiter.

Der neue Arzt war verheiratet? Sicher würde das kein Problem sein. Das Haus war groß genug, um einander nicht zu stören.

Bitte iss ordentlich.

Amy musste lächeln. Ihre Tante war immer sehr um das leibliche Wohl ihrer Gäste besorgt. In ihrem Fall war ihre Sorge allerdings berechtigt. Seit Monaten hatte sie keine richtige Mahlzeit mehr gehabt. Sie konnte einfach nicht die Energie aufbringen, sich etwas zu kochen und hatte sich von Sandwiches und Kantinenessen ernährt. Amy konnte sich gut vorstellen, dass bei der frischen Seeluft ihr Appetit wieder zurückkehren würde.

Auch Joe hatte in seiner eigenwilligen Handschrift ein paar Zeilen dazugeschrieben. Falls ihr langweilig wurde, konnte sie sich mit Joseph Rivers gesammelten Krankenfällen beschäftigen, die in einem Karton im Arbeitszimmer standen, und sie archivieren.

Joseph war der erste Chirurg in der Familie gewesen, um 1820. Seit Jahren redeten Joe und Amys Vater schon davon, seinen medizinischen Nachlass zu sortieren, doch sie waren nie dazu gekommen.

Amy schaffte ihr Gepäck ins Turmzimmer und kehrte dann wieder in die Küche zurück, um Teewasser aufzusetzen. Als sie wenig später mit einer Tasse Tee, einem Sandwich und einem Kreuzworträtsel am Tisch saß, hörte sie die Haustür gehen.

Buster lief freudig bellend zur Haustür, um den Ankömmling zu begrüßen.

„Hallo, Buster. Hol mal dein Frisbee, dann gehen wir für zehn Minuten in den Garten.“

Das muss Tom sein, Joes Vertretung, dachte Amy bei sich. Er besaß eine angenehme Stimme, warm und tief, mit einem leichten Londoner Akzent.

Dann kam er auch schon in die Küche. „Hallo, Sie sind sicher Amy. Ich bin Tom Ashby.“

Sie schätzte ihn auf Anfang dreißig, etwa in ihrem Alter. Er hatte dunkles welliges Haar, das ihm in die Stirn fiel, und braune Augen, die sie hinter einer Metallrandbrille forschend anblickten. Er lächelte höflich, doch Amy fiel auch eine gewisse Anspannung auf seinem Gesicht auf. Unwillkürlich fragte sie sich, wie er aussah, wenn er entspannt war und lachte. Würden sich dann Lachfältchen um seine Augen zeigen? Sie konnte sich ein sexy Grinsen an ihm gut vorstellen.

Nicht, dass es eine Rolle spielen würde. Immerhin war er vergeben. Außerdem hatte sie mit Beziehungen nichts mehr im Sinn. Seit ihrer geplatzten Verlobung mit Colin vor zehn Jahren hatte sie nur ein paar unverbindliche Dates gehabt.

„Hallo.“ Sie drückte Toms ausgestreckte Hand. „Cassie hat eine Nachricht hinterlassen, dass ich Sie und Perdy später kennenlernen werde.“

„Perdy ist noch in der Schule“, erklärte er.

Toms Frau war also Lehrerin. „Ah ja“, erwiderte sie mit einem unverbindlichen Lächeln. Im Stillen hoffte sie, irgendein belangloses Gesprächsthema gefunden zu haben, bis Perdy nach Hause kam.

Amy Rivers war ganz anders, als Tom sie sich vorgestellt hatte. Sie war sehr attraktiv, auch wenn sie überschlank war und die Blässe auf ihrem Gesicht verriet, dass sie nicht besonders gut auf ihre Gesundheit achtete. Ihre meergrünen Augen erinnerten ihn an die von Joe. Ihr dunkles Haar war sehr kurz geschnitten, ohne unweiblich zu wirken. Am faszinierendsten war ihr herzförmiger Mund. Zu gern hätte er die Linien ihrer Lippen mit dem Finger nachgezeichnet.

Nicht, dass er diesem Impuls jemals nachgeben würde …

Abgesehen davon, dass Amy Rivers gebunden sein konnte und sich seine Annäherungsversuche verbitten würde, musste er auch auf Perdy Rücksicht nehmen. Sie hatte bereits genug Aufregungen in ihrem jungen Leben gehabt. Besonders das letzte Jahr war schwer für sie gewesen. Tom war klar, dass Amy nichts weiter als eine Kollegin für ihn sein konnte, auch wenn er nicht mit ihr zusammenarbeiten würde.

„Hatten Sie eine gute Fahrt?“, erkundigte er sich höflich.

„Danke, ja.“ Sie deutete auf den Kessel. „Das Wasser ist noch heiß. Möchten Sie eine Tasse Kaffee?“

„Danke, da sage ich nicht Nein.“

„Milch und Zucker?“

„Nur Milch, bitte.“

Amy tat Instantkaffee in eine Tasse und füllte sie mit heißem Wasser. „Buster hat Sie also zum Frisbeespielen überredet. Konnten Sie ihm beibringen, das Frisbee wieder zurückzubringen?“

„Leider nein. Er legt es jedes Mal unter den Bäumen hinten im Garten ab und wartet darauf, dass ich es holen komme.“

Amy reichte ihm die Tasse. Heißes Verlangen durchzuckte ihn, als er sie entgegennahm und ihre Finger sich dabei berührten.

Seine Reaktion war ein ziemlicher Schock für ihn. Zum ersten Mal seit Eloises Tod verspürte er in Gegenwart einer Frau wieder eine körperliche Anziehungskraft. Doch er brauchte nur an das tragische Ende seiner Ehe zu denken, um jeden Gedanken an eine neue Beziehung gleich wieder zu vergessen.

„Cassie sagte, dass Sie eine Weile bleiben werden“, bemerkte er, während er sich absichtlich ans andere Ende des Tisches setzte. Aber auch das hielt ihn nicht davon ab, festzustellen, dass ihr Gesicht herzförmig war und sie keinen Ring am Finger trug. Nicht, dass es heutzutage noch von Bedeutung war; man konnte auch ohne Ring verheiratet sein. Jedenfalls hatte sie schöne, feingliedrige Hände. Künstlerhände vielleicht? Weder Cassie noch Joe hatten ihm viel über Amy erzählt. Er wusste nur, dass sie ihre Nichte war und eine längere berufliche Pause einlegte. Cassie hatte einen besorgten Eindruck gemacht, so nahm er an, dass Amy einige Probleme im Beruf hatte. Aber natürlich hatte er nicht weiter danach gefragt.

„Keine Angst, ich werde Ihnen nicht im Weg sein“, erwiderte sie, während ihre Miene sich verschloss.

„Tut mir leid, dass wollte ich damit nicht sagen“, entschuldigte er sich. „Hier ist genug Platz für uns alle. Ich dachte nur, dass wir die Mahlzeiten vielleicht zusammen einnehmen könnten. Es erscheint mir unsinnig, wenn jeder für sich allein kocht. Wir könnten uns abwechseln.“

„Warum nicht?“, sagte sie, doch der Ausdruck auf ihrem Gesicht warnte ihn davor, ihre Privatsphäre zu sehr einzuengen.

„Ich werde mit Buster eine Weile rausgehen und ihn mit dem Frisbee herumjagen“, meinte er. „Anschließend muss ich mehrere Hausbesuche machen.“

„Dann sind Sie zum Lunch gar nicht da?“

„Ich werde mir später etwas holen.“

Amy biss sich auf die Lippe. „Ich meinte es wirklich so, als ich sagte, dass ich Ihnen nicht im Weg sein will. Sie brauchen sich nicht verpflichtet zu fühlen, mir Gesellschaft zu leisten.“

„Das gilt auch im umgekehrten Fall. Wir teilen uns das Haus und passen auf Joes und Cassies Hund auf. Und wir teilen uns die Hausarbeit, weil es einfacher ist. Einverstanden?“

Amy schwieg einen Moment lang, dann nickte sie. „Einverstanden. Und jetzt mache ich mich mal besser ans Auspacken. Wir sehen uns später.“

„Was ist mit Ihrem Sandwich?“ Sie hatte nicht einmal die Hälfte davon gegessen.

„Hat Cassie Sie gebeten, darauf zu achten, dass ich ordentlich esse?“, konnte Amy sich nicht verkneifen zu fragen.

Tom bekam rote Ohren. „Nein. Sie sollten nur nicht denken, ich wollte Sie aus der Küche scheuchen, bevor Sie mit dem Essen fertig sind.“

War das Amys Problem? fragte er sich. Litt sie an Essstörungen, und hatte sie deshalb im Dienst einen Zusammenbruch erlitten? Wenn es so war, musste sie seinen Vorschlag, gemeinsam zu essen, als Bevormundung empfunden haben.

Zu seiner Erleichterung lächelte sie. „Ah so. Und nein, ich leide nicht an Essstörungen.“

Tom seufzte. „Habe ich das laut ausgesprochen? Ich bitte um Verzeihung.“

„Nein, aber Sie haben ein sehr ausdrucksvolles Mienenspiel“, sagte Amy trocken. „Ich gebe allerdings zu, dass ich mich in letzter Zeit tatsächlich nicht sehr gesund ernährt habe. Wenn man ständig unter Zeitdruck steht, ist Fast Food die einfachste Lösung. Aber keine Angst, Sie werden nicht verhungern, wenn ich mit dem Essen an der Reihe bin. Cassie hat mir das Kochen beigebracht.“

„Entschuldigen Sie bitte, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.“ Er selbst wollte schließlich auch keine persönlichen Fragen beantworten. „Ich schlage vor, ich mache den Anfang und koche heute Abend für uns.“

„Sie sind den ganzen Tag im Dienst“, wandte Amy ein.

„Und Sie haben eine lange Fahrt hinter sich“, hielt er dagegen. „Ich tue es gern, wirklich.“

„Dann übernehme ich den Abwasch.“

„Abgemacht.“ Tom verzichtete darauf, dies mit einem Handschlag zu besiegeln. Er wollte keine weitere körperliche Berührung mit ihr riskieren, weil er zu sehr fürchtete, dann mehr von ihr zu wollen. Wahrscheinlich eine ganze Menge mehr. Und das würde die Dinge enorm komplizieren.

Er ging, um mit Buster eine Runde Frisbee zu spielen. Als er ins Haus zurückkehrte, war Amy nicht mehr in der Küche. Rasch machte er sich ein Sandwich zurecht und gab dem Hund frisches Wasser. Dann brach er zu seinen Hausbesuchen auf.

Autor

Kate Hardy
Kate Hardy wuchs in einem viktorianischen Haus in Norfolk, England, auf und ist bis heute fest davon überzeugt, dass es darin gespukt hat. Vielleicht ist das der Grund, dass sie am liebsten Liebesromane schreibt, in denen es vor Leidenschaft, Dramatik und Gefahr knistert?
Bereits vor ihrem ersten Schultag konnte Kate...
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