Erpresst vom sizilianischen Verführer

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"Der Junge gehört zu mir!" Bei Luciano Vitales wütenden Worten erbebt Jemima. Der Sizilianer hat nach ihr gesucht, er hat sie gefunden – jetzt will er ihr ihren geliebten kleinen Neffen nehmen! Sie muss auf Lucianos unerhörte Bedingung eingehen: zu ihm nach Italien ziehen …


  • Erscheinungstag 26.11.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751520874
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Luciano Vitale wurde von seinem Londoner Anwalt Charles Bennett begrüßt, als er aus seinem Privatjet stieg. Der sizilianische Milliardär und der Jurist betrieben ein wenig Small Talk, doch schnell wurde Luciano unruhig wie ein Löwe, der die Witterung seiner Beute aufgenommen hatte.

Endlich hatte er Jemima Barber aufgespürt, diese verabscheuenswerte Frau, die ihm erst seinen Sohn gestohlen und dann versucht hatte, das Baby an ihn zurückzuverkaufen, als wäre es ein Gegenstand. Es machte ihn wütend, dass Jemima nicht in vollem Maße die Härte des Gesetzes zu spüren bekommen würde. Denn Luciano wollte nicht noch einmal den internationalen Medien sein Privatleben offenlegen, und er war sich bewusst, dass ein solcher Racheakt langfristige Auswirkungen haben konnte. Er hatte schon genug unter der Presse gelitten, als seine Frau noch gelebt hatte.

Mittlerweile mied Luciano das grelle Tageslicht und die verleumderischen Schlagzeilen, die ihm während seiner Ehe so zu schaffen gemacht hatten. Trotzdem bewegte er sich noch immer mit stolz erhobenem Kopf, und sämtliche Frauen in seiner Nähe drehten sich nach ihm um. Er war einen Meter neunzig groß, hatte einen athletischen Körper und ein markant-attraktives Gesicht. Darüberhinaus besaß er einen goldbrauner Teint, eine absolut gerade Nase und hohe Wangenknochen. Er selbst war allerdings nicht stolz auf seine makellosen Züge, weil sie häufig für unerbetene Aufmerksamkeit sorgten.

Luciano fand es unerträglich, dass er fast ein zweites Kind verloren hätte, obwohl er jede nur denkbare Vorsichtsmaße ergriffen hatte.

Sofort rügte er sich innerlich für diesen Gedanken. Bis ein DNA-Test gemacht wurde, wusste er nicht, ob der Junge wirklich sein Sohn war. Es war durchaus möglich, dass die Leihmutter zum Zeitpunkt der künstlichen Befruchtung mit anderen Männern geschlafen hatte. Immerhin hatte sie auch gegen sämtliche anderen Punkte der Vereinbarung verstoßen.

Aber wenn das Baby von ihm stammte, wie er hoffte, würde es dann nach seiner verlogenen, hinterhältigen Mutter kommen? Eigentlich glaubte Luciano nicht daran, dass Niedertracht sich über die Gene weitervererbte. Immerhin war er selbst der Letzte in einer langen Reihe skrupelloser Männer, die wegen ihrer Grausamkeit und ihrer Missachtung des Rechts berüchtigt waren. Ein unschuldiges Kind konnte doch nicht durch seine Abstammung verdorben sein, sondern nur gewisse Neigungen haben, die man verstärken oder bekämpfen konnte.

Auf dem Papier hatte die Mutter seines Sohns absolut respektabel und seriös gewirkt. Sie war das einzige Kind eines älteren Paars und eine ausgebildete Vorschullehrerin, die mit Begeisterung Gemüse anbaute und kochte. Ihre wahren Interessen waren leider deutlich weniger seriös gewesen, doch das hatte er leider erst festgestellt, nachdem sie sich mit dem Kind aus dem Krankenhaus davongemacht hatte. Die Frau war eine soziopathische, gewissenlose Person, die das Geld zum Fenster hinauswarf und ohne jegliche Gewissensbisse stahl, wenn es ihr ausging.

Immer wieder hatte Luciano sich vorgeworfen, dass er die Mutter seines Kindes nicht persönlich kennengelernt hatte, mit der er diese wichtige geschäftliche Vereinbarung eingegangen war. Vielleicht hätte er dann ihr wahres Wesen erkannt? Als er das Kind nach der Geburt aus dem Krankenhaus hatte abholen wollen, war sie verschwunden und hatte ihm nur eine Nachricht mit ihren finanziellen Forderungen hinterlassen. Offenbar hatte sie mittlerweile erfahren, wie reich er war.

Als sie unter angespanntem Schweigen in der Limousine saßen, fragte Charles ihn leise: „Werden Sie der Polizei den Aufenthaltsort von Miss Barber mitteilen?“

Luciano erstarrte und presste den Mund zusammen. „Nein.“

„Darf ich fragen …“ Aus Höflichkeit und in der Hoffnung, sein wohlhabendster Klient würde ihm entgegenkommen, sprach der Anwalt die Frage nicht zu Ende aus.

Doch Luciano Vitale, der einzige Spross von Siziliens gefürchtetstem Mafiaboss, war seit jeher äußerst zurückhaltend und reserviert. Mit einunddreißig Jahren war er bereits Milliardär, ein äußerst erfolgreicher Geschäftsmann und – soweit Charles das beurteilen konnte – bei seinen Geschäften absolut gesetzestreu. Trotzdem ließ allein sein Name Menschen angstvoll erbleichen. Aufgrund seiner Abscheu gegenüber Paparazzi und wegen seiner berüchtigten kriminellen Vorfahren war er ständig von Bodyguards umgeben, die den Rest der Welt auf Abstand hielten.

In vieler Hinsicht war Luciano Vitale ihm nach wie vor ein absolutes Rätsel. Nur zu gern hätte Charles zum Beispiel gewusst, warum ein Mann wie er, dem so viele angenehmere Möglichkeiten offenstanden, sich für die Option einer Leihmutter entschieden hatte.

„Ich werde die rechtmäßige Mutter meines Sohns nicht ins Gefängnis bringen“, antwortete Luciano mit ausdrucksloser Miene. „Auch wenn Jemima das ohne Zweifel verdient hätte.“

„Das ist absolut verständlich“, log Charles höflich, der dies eigentlich überhaupt nicht nachvollziehen konnte. „Allerdings könnte man die Polizei natürlich auch sehr diskret informieren.“

„Dann würden die Großeltern meines Sohns möglicherweise das Sorgerecht erhalten, und die Behörden würden einschreiten und sich um das Kindeswohl kümmern“, entgegnete Luciano. „Sie haben mich doch bereits warnend darauf hingewiesen, dass Leihmutterschaftsverträge von britischen Gerichten sehr unterschiedlich beurteilt werden. Ich werde auf keinen Fall riskieren, alle Ansprüche auf meinen Sohn zu verlieren.“

„Aber Miss Barber hat doch schon deutlich gemacht, dass sie Ihnen den Jungen nur gegen eine beträchtliche Summe überlassen wird … und Sie dürfen Ihr auf keinen Fall Bargeld anbieten, denn damit stellen Sie sich gegen das britische Recht.“

„Ich werde eine vertretbare, legale Vorgehensweise finden, um die Angelegenheit zufriedenbringend abzuschließen“, erwiderte Luciano ein wenig ungeduldig. „Ohne schädliche Medienaufmerksamkeit, ohne eine Gerichtsverhandlung und ohne sie ins Gefängnis zu bringen.“

Als Charles in die kalten dunklen Augen seines Klienten sah, musste er ein Schaudern unterdrücken. Unwillkürlich dachte er daran, wie Lucianos Vorfahren sich menschliche Hindernisse aus dem Weg geschafft hatten: mit kaltblütigem Mord. Auch sein Klient war skrupellos in der Art und Weise, wie er seine Geschäfte betrieb. Zwar ließ er Konkurrenten nicht einfach umbringen, doch wer ihn verärgerte oder beleidigte, musste mit gnadenloser Vergeltung rechnen. Jemima Barber ahnte bestimmt nicht, welch gefährliche Folgen ihr Vertragsbruch haben würde.

Luciano dachte nach. Er würde sein Ziel erreichen, weil er immer bekam, was er wollte. Alles andere war für ihn undenkbar, besonders wenn es um das Wohlergehen seines Sohnes ging. Sollte er tatsächlich der Vater des Kleinen sein, würde er ihn um jeden Preis zu sich nehmen. Er konnte ein unschuldiges Kind doch nicht so einer Mutter überlassen!

Jemima ordnete die Blumen auf dem Grab ihrer Schwester. Ihre blauen Augen brannten, und ihr Herz zog sich vor Schmerz zusammen.

Sie hatte sehr an Julie gehangen, doch leider hatte sie ihr nicht helfen können. Ihren Vater hatten die Zwillingsschwestern nie kennengelernt, und die drogenabhängige Mutter hatte die Mädchen zur Adoption durch zwei unterschiedliche Familien freigegeben.

Julie war während der Geburt kurzzeitig nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt gewesen und hatte danach mehrfach operiert werden müssen, sodass sich ihre Adoption um zwei Jahre verzögert hatte. Ich dagegen hatte Glück, dachte Jemima ein wenig schuldbewusst. Ihre Adoptiveltern hatten ihr eine wunderschöne, glückliche Kindheit geschenkt. Julies neue Familie, die wesentlich reicher gewesen war, hatte die Verzögerung als Enttäuschung erlebt und die aufsässige Julie als Teenager weggegeben. Kein Wunder, dass danach in ihrem Leben alles schiefgelaufen ist, dachte Jemima.

Erst als Erwachsene waren die Zwillinge sich wieder begegnet, als Julie ihre Schwester ausfindig gemacht hatte. Jemima und ihre Eltern waren zunächst von der temperamentvollen Julie begeistert gewesen, aber es war nicht lange gutgegangen.

Am schlimmsten war es jedoch für den kleinen Nicky, der seine Mutter nun nie kennenlernen würde. Mit Tränen in den Augen blickte Jemima zu dem acht Monate alten Baby, das in seinem Buggy saß. Sofort ging es ihr besser, denn Nicky war der Sonnenschein ihres Lebens. Aufmerksam sah er sie aus großen dunklen Augen an. Mit seinen dichten schwarzen Locken war er ein absolut entzückendes Baby und hatte das Herz seiner Tante im Sturm erobert – damals, als er gerade mal eine Woche alt gewesen war.

„Ich habe dich von der Straße aus gesehen“, sagte plötzlich eine Frau besorgt zu ihr. „Warum bist du schon wieder hier und quälst dich? Wenn du mich fragst, ist es besser, dass sie weg ist!“

„Sag so etwas nicht“, bat Jemima ihre beste Freundin Ellie, die sie schon seit dem Kindergarten kannte. Entschlossen sah sie die rothaarige Ellie an, die größer und schlanker war als sie.

„Julie hätte deine Familie fast zerstört“, erklärte Ellie unverblümt. „Ich weiß, es tut dir weh, das zu hören, aber deine Zwillingsschwester war wirklich kein guter Mensch.“

Jemima presste die Lippen zusammen. Sie wollte sich nicht schon wieder mit ihr streiten. Ellie hatte sich als treue Freundin erwiesen, sie hatte ihr und ihren Eltern während des Debakels mit Julie immer geduldig zugehört und ihnen Ratschläge gegeben.

Doch trotz allem schmerzte Jemima der Verlust ihrer Zwillingsschwester, die vor wenigen Monaten achtlos auf die Straße gelaufen und überfahren worden war. Ihre Adoptiveltern hatten nicht zur Beerdigung kommen wollen, sodass Jemimas Eltern diese bezahlt hatten, obwohl sie es sich kaum leisten konnten.

„Hätten wir mehr Zeit zusammen gehabt, wäre vielleicht alles anders gekommen“, sagte Jemima.

„Sie hat deine Eltern ausgenommen, hat dir deine Identität und deinen Freund weggenommen und dir ein Baby angehängt“, stellte Ellie trocken fest.

„Lass uns nicht mehr darüber reden“, erwiderte Jemima.

„Gute Idee“, stimmte ihre Freundin zu. „Wie willst du das mit Nicky eigentlich hinbekommen? Du hast schließlich einen Vollzeitjob und unterstützt außerdem noch deine Eltern.“

„Es macht mir nichts aus, mich zusätzlich um den Kleinen zu kümmern. Ich habe Nicky sehr lieb, und er ist mein einziger lebender Verwandter. Irgendwie werden wir es schon schaffen.“

Die beiden Frauen verließen den Friedhof.

„Was ist mit seinem Vater? Der hat schließlich auch Rechte!“

Als Jemima blass wurde, seufzte Ellie. „Ich muss los, in einer Stunde fängt meine Schicht an. Bis morgen.“

Jemima verabschiedete sich von ihrer Freundin, die in derselben Straße wohnte wie sie. Sie ging weiter, ein wenig erschöpft, denn Nicky schlief immer nur wenige Stunden am Stück. Sie hatte viel über Nickys Vater nachgedacht. Abgesehen davon, dass er vermutlich sehr wohlhabend war, wusste sie nichts über ihn – und auch nicht, warum er sich für ein Kind von einer Leihmutter entschieden hatte. War er homosexuell oder konnte mit seiner Partnerin kein Kind bekommen?

Im Gegensatz zu Julie beschäftigte Jemima dieses Thema sehr. Sie konnte nicht einfach ignorieren, dass Nicky irgendwo auf der Welt einen Vater hatte, der seine Zeugung geplant und dafür bezahlt hatte. Aber Julie hatte die Identität des Mannes nicht preisgegeben, und Jemima war zugleich schuldbewusst und erleichtert darüber gewesen, dass sie nichts tun konnte, um ihn zu finden. Für sie war Nickys Wohlergehen das Allerwichtigste. Sie würde ihren kleinen Neffen niemandem überlassen, ohne sich zu vergewissern, dass man liebevoll für ihn sorgen würde.

Das ist meine Aufgabe, dachte Jemima traurig. Julie hatte ihren Sohn in eine unmögliche Situation gebracht, und nun musste sie dafür sorgen, dass er nicht unter den unüberlegten Entscheidungen seiner Mutter leiden würde.

Für Julie war die Leihmutterschaft lediglich eine Möglichkeit gewesen, um Geld zu verdienen. Dass sie gegen Bezahlung ein Kind in die Welt setzte, darüber hatte sie gar nicht nachgedacht. Nie hatte sie mit ihrer Entscheidung gehadert, den kleinen Nicky seinem Vater zu übergeben. Nein, Julie war nur der Ansicht gewesen, sie wäre für die Strapazen der Schwangerschaft und der Geburt nicht angemessen entlohnt worden – besonders, als sie erfahren hatte, wie reich Nickys Vater war.

Weil der Mann die Mutter seines zukünftigen Sohns nicht einmal hatte kennenlernen wollen, zweifelte Jemima daran, dass er nach besten Kräften für den Kleinen sorgen würde. Immerhin war er Julies leiblicher Sohn – und somit Jemimas Neffe. Deshalb empfand sie es als ihre Pflicht, ihn zu lieben und zu beschützen.

Jemima betrat das kleine Häuschen, in dem ihre Eltern zurzeit lebten. Es hatte zwei Schlafzimmer und einen kleinen Garten, sodass auch sie und Nicky dort unterkommen konnten, wofür sie zutiefst dankbar war. Ihr Vater war Pfarrer im Ruhestand, ihre Mutter war nicht berufstätig gewesen. Leider war das gesamte mühevoll angesparte Geld der beiden in Julies Tasche gelandet: Sie hatte so getan, als wollte sie einen Laden im Ort anmieten und sich damit selbstständig machen.

Vielleicht hatte sie das anfangs auch tatsächlich vor, korrigierte Jemima sich. Aber Julie war unglaublich impulsiv gewesen, hatte große Pläne gemacht und diese schnell wieder verworfen. Und leider hatte sie auch oft gelogen.

Jedenfalls hatten die Barbers ihr bescheidenes finanzielles Polster verloren – und mit ihm die Hoffnung, sich den lang gehegten Traum eines eigenen Häuschens zu erfüllen. Es war sogar so, dass sie nur deshalb ein Dach über dem Haus hatten, weil Jemima zu ihnen gezogen war, um sich an der Miete und sonstigen Kosten zu beteiligen, die die kleine Rente ihres Vaters überstiegen. Die finanziellen Sorgen hatten die Gesundheit der beiden stark belastet.

Jemima wickelte Nicky und legte ihn zum Schlafen hin. Gähnend beschloss sie, sich auch ein Nickerchen zu gönnen, denn das gelang nur, wenn er gerade schlief. Als sie sich die Tunika abstreifte und ihren wohlgeformten Po im Spiegel sah, zuckte sie unwillkürlich zusammen.

„Dein Hintern ist viel zu dick für Leggings! Du solltest immer ein langes Oberteil tragen“, hatte Julie ihr geraten.

Jemima rief sich in Erinnerung, dass ihre Schwester Bulimie gehabt hatte und spindeldürr gewesen war. Mit diesem traurigen Gedanken legte sie sich in Leggings und ärmellosem Top hin und schlief sofort ein.

Als es schrill an der Tür klingelte, fuhr sie aus dem Schlaf hoch. Wer mochte das sein? Die meisten Freunde ihrer Eltern wussten, dass sie gerade ein paar Tage bei einem früheren Gemeindemitglied in Devon verbrachten. So ein Besuch war der einzige Urlaub, den sie sich derzeit leisten konnten.

Jemima blickte zu ihrem kleinen Neffen hinüber, der friedlich schlummerte. Dann ging sie zur Tür. Durch das Glas konnte sie zwei Männer erkennen. Sie öffnete die Tür einen Spalt breit: „Ja?“, fragte sie vorsichtig.

Ein älterer Mann mit graumeliertem Haar sah sie ernst und durchdringend an. „Dürfen wir hereinkommen und mit Ihnen sprechen, Miss Barber?“

Er reichte ihr eine Visitenkarte durch den Türspalt. „Charles Bennett, Anwalt, Kanzlei Bennett & Bennett“, stand darauf.

Jemima wurde blass vor Schreck und öffnete die Tür. Bestimmt hatte der unerwartete Besuch mit Julie zu tun. Ihre Schwester hatte ihre Identität gestohlen, in ihrem Namen Schulden angehäuft und als Jemima Barber auf Sizilien ein Kind zur Welt gebracht. Das hatte Jemima der Polizei nicht mitgeteilt, denn es bedeutete, dass ihr Sorgerecht für Nicky keinerlei rechtliche Grundlage hatte. Und auf keinen Fall durfte man ihr den Kleinen wegnehmen und in eine fremde Pflegefamilie geben!

„Luciano Vitale“, stellte der andere Mann sich vor, als die beiden Männer eintraten.

Er war größer und jünger als der Anwalt, und bei seinem Anblick war Jemima wie erstarrt. Einem Mann wie ihm war sie noch nie begegnet: Er bewegte sich schnell und geschmeidig, strahlte eine natürliche Autorität aus und war so attraktiv, dass ihr der Atem stockte. Wie gebannt betrachtete sie sein Gesicht mit dem bronzefarbenen Teint und den markanten Zügen. Plötzlich kam sie sich wie ein schüchternes Schulmädchen vor. Dann wandte sie mit aller Macht den Blick ab und bat die beiden Männer ins Wohnzimmer.

Wie gebannt starrte Luciano Jemima Barber an, die so ganz anders war, als er sie sich vorgestellt hatte. Das Passfoto in ihrer Bewerbung hatte eine blonde blauäugige, ein bisschen mollige Frau gezeigt – so durchschnittlich, dass er sie sich kaum als Mutter seines Kindes vorstellen konnte.

Die Aufnahmen einer Überwachungskamera in einem Londoner Hotel, die er vor zwei Monaten gesehen hatte, waren aufschlussreicher gewesen: Blondes Haar, kurz und stufig geschnitten, ein tief ausgeschnittenes Oberteil, dazu ein extrem kurzer silberfarbener Rock und unfassbar hohe High Heels. Das nuttige Outfit hatte ihre schlanke Figur und ihre Brustimplantate betont, und ihr Verhalten hatte dazu gepasst: Kichernd hatte sie mit den beiden Männern herumgemacht, die sie mit aufs Zimmer genommen hatte.

Dass Jemima Barber sich offenbar ein neues Image verpasst hatte, war bestimmt ein weiterer Trick dieser gerissenen Betrügerin. Statt der Kurzhaarfrisur hatte sie jetzt eine goldblonde Mähne, die ihr bis zur Taille reichte – vermutlich Extensions. Das herzförmige Gesicht war kaum geschminkt. Misstrauisch betrachtete er die sinnlichen Lippen, die rosigen Wangen und die Augen, die nicht nur auf dem Foto, sondern auch in Wirklichkeit eisblau waren. Jemima trug eine schwarze Leggings und ein enges Trägertop, das ihre üppigen Brüste betonte. Nur mit Mühe konnte er den Blick von ihr abwenden.

Sie sah so viel natürlicher aus, als er erwartet hatte. Hatte sie einfach nur zugenommen? Auch das unscheinbare Outfit überraschte ihn. Andererseits wohnte sie bei ihren Eltern und hatte nicht mit Besuch gerechnet. Wie war Jemima Barber wohl wirklich, wenn man hinter die Fassade blickte? Und warum fragte er sich das überhaupt? Er wusste doch schon alles, was er wissen musste: Sie log, betrog und verkaufte ihren Körper ebenso bereitwillig, wie sie seinen Sohn verkaufen wollte.

Lucianos durchdringender Blick verunsicherte Jemima so sehr, dass ihr Gesicht ganz heiß wurde. Deshalb sah sie bewusst den älteren Mann an und fragte: „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Wir möchten mit Ihnen über die Zukunft des Kindes reden“, erwiderte Charles Bennett.

Ihr wurde kalt ums Herz. Als ihr Blick unwillkürlich zu Luciano glitt, stellte sie die schreckliche Verbindung her, die ein riesiges Fragezeichen hinter ihre Hoffnungen und Träume für Nicky setzte. Denn der Junge war Luciano wie aus dem Gesicht geschnitten. Luciano trug sein Haar ein wenig länger als üblich: Die glänzenden tiefschwarzen Locken reichten bis zum Kragen. Er hatte eine perfekt gerade Nase, hohe Wangenknochen und geschwungene Brauen über tief liegenden goldbraunen Augen. Ihr Ausdruck war kalt und hart wie Kristall.

Jemima dachte daran, was Julie über Nickys Vater gesagt hatte. „Wenn er mich kennengelernt hätte, würde er mich wollen. Das tun alle Männer. Er ist genau der Typ Mann, den ich heiraten würde: reich, gut aussehend und unglaublich erfolgreich. Ich wäre die perfekte Frau für ihn.“

Ganz bestimmt war Luciano Vitale nicht begeistert darüber, dass er statt der schlanken, schicken Julie die molligere, unscheinbare Zwillingsschwester bekam, flüsterte eine Stimme in Jemimas Kopf. Starrte er sie deshalb so an? Andererseits war er Julie nie begegnet und wusste nicht, dass Jemima ihre Schwester war. Ebenso wenig wusste er wahrscheinlich, dass Julie ihre Identität angenommen hatte – und dass sie tot war.

Plötzlich lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Als Nickys Mutter hatte Julie Ansprüche in Bezug auf ihren Sohn gehabt, auch wenn diese vielleicht vor Gericht angefochten worden wären. Doch als seine Tante hatte Jemima praktisch gar keine Rechte. Julie hatte sich im Krankenhaus als Jemima ausgegeben, sodass ihr Name auch auf der Geburtsurkunde stand, doch das würde irgendwann herauskommen …

Aber heute noch nicht, beschloss Jemima energisch, als ihr Blick dem von Luciano begegnete. Kalt und ohne jegliches Gefühl sah er sie an. Nickys Vater schien ein wütender, misstrauischer Mann zu sein, der zu voreiligen Urteilen und Entscheidungen neigte. Er war ihr nicht wohlgesonnen, und warum auch? Schließlich hatte Julie sich mit seinem Kind davongemacht und dann unverschämte Geldforderungen gestellt.

Jemima hob das Kinn, als würde Lucianos bohrender Blick sie nicht im Geringsten beeindrucken. Doch in Wirklichkeit zog sich ihr wegen der angespannten Stimmung angstvoll der Magen zusammen. Sie musste sich beruhigen, um überlegt reagieren zu können – Nicky zuliebe. Erschrocken stellte sie fest, dass sie bereits eine schwerwiegende Entscheidung getroffen hatte: So lange es möglich war, würde sie so tun, als wäre sie Julie – um herauszufinden, ob dieser Mann als Vater geeignet war. Denn wenn sie die Wahrheit sagte, würde er ihr ihren kleinen Neffen sofort wegnehmen. Allein bei dieser Vorstellung blieb ihr fast das Herz stehen. Also würde sie lügen – und damit gegen all ihre Grundsätze verstoßen.

Das Verhalten der jungen Frau verwirrte Luciano. Wenn Frauen das Glück hatten, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, lächelten sie, flirteten mit ihm und warfen ihm vielsagende Blicke zu. Jemima Barber jedoch ignorierte ihn.

„Ich will, dass per DNA-Test festgestellt wird, ob der Junge mein Sohn ist oder nicht.“ Als Luciano Vitale sich zum ersten Mal zu Wort meldete, bekam Jemima beim Klang seiner tiefen Stimme mit dem markanten Akzent eine Gänsehaut.

Dann drangen seine Worte zu ihr durch. Dass er ihre Schwester beleidigte, machte sie wütend. „Wie können Sie es wagen?“, entgegnete sie aufgebracht und war selbst überrascht, wie heftig sie reagierte.

Luciano verzog seinen perfekten Mund zu einem spöttischen Lächeln. „Ich wage es eben“, sagte er kühl. „Es darf nicht der geringste Zweifel daran bestehen, dass er mein …“

„Ein DNA-Test ist im Vertrag ohnehin verbindlich vorgesehen“, mischte der Anwalt sich ein. „Leider haben Sie jedoch das Krankenhaus verlassen, bevor dieser durchgeführt werden konnte.“

Autor

Lynne Graham
Lynne Graham ist eine populäre Autorin aus Nord-Irland. Seit 1987 hat sie über 60 Romances geschrieben, die auf vielen Bestseller-Listen stehen.

Bereits im Alter von 15 Jahren schrieb sie ihren ersten Liebesroman, leider wurde er abgelehnt. Nachdem sie wegen ihres Babys zu Hause blieb, begann sie erneut mit dem...
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