Es ist keine Illusion

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Venedig könnte so herrlich sein! Hand in Hand mit der bezaubernden Journalistin Deborah will der Millionär Matthew Tyrell durch die Gassen der Altstadt schlendern. Aber der Ausflug wird bald zum Wettrennen, als sie von Paparazzi verfolgt werden. Steckt Deborah womöglich selbst dahinter?


  • Erscheinungstag 22.02.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733787998
  • Seitenanzahl 128
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Es dämmerte schon, als Deborah aus dem Hotel trat. Der Portier eilte herbei, um ihr die Tür offen zu halten, und er bedachte sie dabei mit diesem schmeichelnden Lächeln, das die Männer der südlichen Länder jeder Frau, ob jung oder alt, zukommen lassen.

„Sie wissen, dass das Dinner ab acht Uhr eingenommen werden kann, Miss?“ Sein Englisch hatte einen leichten amerikanischen Akzent, aber er sprach es fließend.

„Oh nein“, antwortete Deborah. Sie war sehr hungrig, weil sie im Flugzeug das in Plastik verpackte Essen zurückgewiesen hatte. Seit dem leichten Frühstück zu Hause in London hatte sie noch nichts gegessen, und das war schon viele Stunden her.

Zu viele andere Dinge waren ihr durch den Kopf gegangen. Ihr Kummer war wie ein Schmerz, der keine anderen Gedanken zuließ und nicht von ihr wich. Wie blind war sie über Frankreich und Italien hinweggeflogen und hatte von ihrer Umgebung nichts wahrgenommen. Ihr Schmerz hatte sie wie ein unsichtbarer Begleiter keinen Augenblick verlassen, er beherrschte ihr ganzes Denken und Fühlen.

Die körperliche Müdigkeit hatte ihren Schmerz noch verstärkt, jetzt taten ihr sogar alle Glieder weh. Sie hatte zu lange im Flugzeug still sitzen müssen, der Redestrom der Passagiere und die Unruhe hatten sie halb wahnsinnig gemacht. Sie sehnte sich danach, eine Weile allein zu sein und so rasch auszuschreiten, als könnte sie dadurch ihre trostlose Stimmung abschütteln.

Das Hotel lag an einem der Seitenkanäle, an dem eine schmale Gasse entlangführte, die verlassen vor ihr lag. Die rückwärtige Front der Häuser spiegelte sich in dem schwarzen öligen Wasser. Weiter entfernt überspannte eine Brücke die Gasse. Dahinter konnte Deborah nur noch schwache Umrisse wahrnehmen, denn der abendliche Nebel stieg von der Lagune auf und verhüllte die Sicht.

Deborah wurde ein wenig unheimlich zumute. Sie blieb stehen und horchte in die Stille, die ebenso bedrückend war wie ihre Stimmung.

Das Hotel in ihrem Rücken war erleuchtet. Als sie sich umdrehte, konnte sie undeutlich die Gestalt des Portiers hinter der Glastür erkennen. Er schien ihr nachzusehen und zu überlegen, ob er ihr irgendwelche Hinweise geben sollte, aber Deborah schritt weiter, ehe er sich in Bewegung setzen konnte.

Auf der kleinen Brücke blieb sie stehen und starrte ins Wasser. Es roch dumpfig, genauso wie die Themse an feuchtkalten Tagen. Manchmal waren sie und Robert am Themseufer entlanggeschlendert, wenn es noch zu früh war, um ins Theater oder zu einer Show zu gehen, und hatten beobachtet, wie sich die viktorianischen Laternen im Fluss spiegelten.

Sie hatten eigentlich immer gelacht, erinnerte sich Deborah. Robert brachte sie stets zum Lachen, und sie hatte nie damit gerechnet, dass er ihr eines Tages mehr wehtun würde, als sie ertragen konnte. Vielleicht war es gut, dass man nicht in die Zukunft schauen konnte. Dabei hatte er sie über seinen Charakter nie im Unklaren gelassen. „Nimm mich nur nicht zu ernst“, sagte er von Zeit zu Zeit, aber er sagte es lachend, und es klang so unbeschwert, dass sie seine Warnung nicht ernst nahm. Sie hatte sich bedenkenlos in ihn verliebt und die Anzeichen, die sie hätte warnen sollen, ignoriert. Robert war überaus charmant, er wollte jeden Menschen für sich gewinnen, ohne die Folgen zu bedenken, und sein betörendes Lachen war ebenso bedeutungslos wie das des Portiers in ihrem Hotel. Robert schien das Zusammensein mit ihr zu genießen, drei Monate lang waren sie unzertrennlich gewesen. Deborah war gescheit, lebhaft; sie hatte einen hinreißenden Sinn für Humor, der Robert gefiel.

Der Sinn für Humor verging Deborah, als sie entdeckte, dass Robert auch noch eine andere Frau traf.

„Ich hab doch immer gesagt, dass du mich nicht zu ernst nehmen sollst“, wehrte er ein wenig gekränkt ihre Fragen ab. „Wir sind doch Freunde und bleiben es?“

„Freunde?“ Ihr verschlug es den Atem.

Robert schien durch den Ton ihrer Stimme doch betroffen zu sein. Ihre einsilbige Frage beschwor Erinnerungen herauf, die er nicht verleugnen konnte. Seine Antwort war dennoch ausweichend:

„Deb, ich habe dir nie etwas versprochen – das kannst du nicht behaupten. Versuch nicht, mich einzusperren und festzubinden. Ich kann es nicht ertragen. Ich werde verrückt, wenn ich das Gefühl bekomme, dass jemand Besitzansprüche an mich stellt.“

Sie war jetzt froh, dass ihr genügend Stolz geblieben war, um ihm nicht zu zeigen, wie tief er sie verwundet hatte. Sie hatte nur den Wunsch verspürt, sich irgendwo zu verkriechen, damit niemand zusehen konnte, wie sehr sie litt. Darum hatte sie sich entschlossen, um Urlaub zu bitten.

„Zu dieser Jahreszeit?“, hatte Andrea gefragt, und es hatte argwöhnisch geklungen oder sogar ein wenig verdrießlich.

Andrea liebte ihren Mann und ihre Kinder, aber sie beneidete Deborah dennoch um ihre Freiheit von solchen Fesseln.

„Du bist doch ständig unterwegs. Du bist gerade aus Genf zurück, wieso brauchst du denn nun plötzlich Urlaub?“

Dann hatte sie all die Gründe aufgezählt, warum sie viel dringender eine Ausspannung nötig hätte, und wenn sie erst einmal angefangen hatte, sich zu beklagen, konnte niemand sie bremsen. Nach wenigen Augenblicken hörte Deborah ihr nicht mehr zu. Wozu auch? Andreas Leben lag wie ein aufgeschlagenes Buch vor ihr, sie berichtete Deborah ausführlich über jedes geringfügige Ereignis.

Andrea war vier Jahre älter, und dieser Altersunterschied hatte von jeher ihre Beziehung bestimmt. Sie hatte es nie aufgegeben, ihre Autorität zu betonen. Sie schalt, stritt sich über Kleinigkeiten und mischte sich immer noch in alles ein, was Deborah betraf, so wie sie es in ihrer Kindheit getan hatte.

„Du solltest endlich heiraten“, beendete Andrea wieder einmal die einseitige Unterhaltung. Deborah empfand einen schmerzlichen Stich und verbarg ihren Kummer hinter einem harten, wenig fröhlich klingenden Lachen.

„Danke für den guten Ratschlag!“

Andrea hatte sie in einer Mischung von Gekränktsein und Neugier angeschaut. „Hast du irgendetwas?“

„Ich bin übermüdet, nichts sonst.“ Deborah hatte nicht die Absicht, Andrea über die Trennung von Robert aufzuklären. Ihre Schwester war ein paarmal mit ihm zusammengetroffen und hatte halb eifersüchtig, halb zustimmend die Wahl ihrer Schwester akzeptiert. Robert sah viel besser aus als Tom, Andreas Mann. Andrea schwankte eigentlich ständig zwischen dem Gefühl der Erleichterung, dass ihre Schwester endlich heiraten wollte, und dem Gefühl, dass es unfair war, einen so attraktiven Mann gefunden zu haben.

„Du übermüdet? Das ist lachhaft!“ Andrea betonte immer, wie erschöpft sie war. „Wenn du erst wegen deines Babys um sechs Uhr morgens rausmusst, dann Frühstück machen und das Haus putzen …“

Gottlob geht alles einmal zu Ende, dachte Deborah im Weitergehen. Sie schritt in die Nebelwand hinein, und der dumpfe Klang ihrer Schritte war der einzige Laut, den sie vernahm. Wieder blieb sie stehen, ihr war plötzlich kalt geworden. Wo befand sie sich?

Das Gescheiteste war, sofort umzukehren. Sie tat es und ging rascher, das Klicken ihrer hohen Absätze wurde wie ein Echo von den fensterlosen Mauern zurückgeworfen.

Sie tauchten aus dem Nebel auf, leise, auf Gummisohlen. Deborah bemerkte sie erst, als sie schon neben ihr waren. Sie schienen sie überholen zu wollen, aber dann passten sie sich ihrem Schritttempo an. Sie warf ihnen einen Blick zu, und Unbehagen beschlich sie. Es waren zwei Jungen, dünn und hoch aufgeschossen, in Jeans und schwarzen Rollkragenpullis, und sie tauschten über ihren Kopf hinweg einen Blick aus, der Deborah erschreckte.

Sie begann rascher zu gehen. Die beiden ebenfalls und sie rückten näher an sie heran, sodass sie ihre Schultern berührten.

In der unbekannten, leeren Gasse fühlte sich Deborah auf einmal verzweifelt verlassen. Panik erfasste sie.

Wenn die beiden etwas gesagt hätten, würde sie sich nicht so fürchten. Es war das Schweigen, das es ihr fast unmöglich machte, möglichst unbeeindruckt weiterzugehen.

Die Jungen waren höchstens siebzehn, dachte Deborah, aber sie benahmen sich so, als hätten sie bereits vorher besprochen, was sie mit ihr anstellen wollten. Hatten sie sie von Anfang an beobachtet?

Plötzlich legte der eine den Arm um Deborahs Taille. Sie wurde wütend, entwand sich seinem Griff und stieß den Jungen von sich. Sie fing zu laufen an, aber sie wurde eingeholt und wieder in die Mitte genommen. Diesmal packten sie sie an den Armen.

Deborah schrie laut auf, und da verschloss ihr einer mit der Hand den Mund, aber von irgendwoher drang aus der Nebelwand eine menschliche Stimme. „Was ist passiert?“, rief ein Mann auf Englisch.

Die Jungen rührten sich nicht, und Deborah konnte keine Antwort geben, denn die Hand presste sich noch immer auf ihren Mund. Sie gab nur ein wütendes Stöhnen von sich.

Schritte näherten sich. Die beiden ließen sie abrupt los und liefen lautlos davon, und der Nebel verschluckte ihre Gestalten.

Deborah zitterte und rang nach Luft. Sie streckte eine Hand aus und hielt sich an der Hauswand fest. Ihre Beine fühlten sich wie Gummi an, und sie war schweißnass.

Aus dem Nebel tauchte ein Mann auf. Immer noch zitternd, starrte Deborah ihn an.

„Haben Sie geschrien? Warum zum Teufel haben Sie mir keine Antwort gegeben, als ich rief. Haben Sie sich verirrt?“

Deborah konnte noch immer keine Antwort geben. Ihr Herz klopfte wie rasend.

„Fehlt Ihnen auch nichts?“ Die Stimme klang ungeduldig, fast gereizt. Er schien in Eile zu sein und war wohl verärgert, weil sie ihn aufhielt. „Vielleicht können Sie sich endlich mal äußern?“, sagte er und trat einen Schritt auf sie zu.

„Zwei Jungen hielten mich fest“, sagte sie und bemerkte, dass er runzelnd die Augenbrauen hob.

Er schaute sich um. „Jungen?“

„Sie liefen weg, als Sie riefen …“

Er sah nicht so aus, als ob er ihr Glauben schenkte. „Ach so“, sagte er und blickte sie aufmerksam an. „Sie sind doch nicht verletzt?“

Sie schüttelte stumm den Kopf. Nun, da sie in Sicherheit war und ihr Herz wieder normal schlug, setzte die Situation sie in Verlegenheit. Sie fühlte sich unsicher.

„Tut mir leid, dass ich Sie beunruhigt habe“, murmelte sie.

Er lächelte ein wenig amüsiert. „Ich war nicht beunruhigt. Ich dachte nur, dass sich jemand in diesem Nebel verlaufen hätte.“

„Hab ich auch“, antwortete Deborah. „Wo befinde ich mich?“

„Also haben Sie sich doch verirrt“, sagte er prompt. Deborah begriff, dass er die beiden Jungen für reine Erfindung hielt, damit sie ihm nicht zuzugeben brauchte, dass sie sich verlaufen und Angst gehabt hatte. „Wir sind am Loretsi-Kanal“, fuhr er fort. „Wohin wollten Sie?“

„Ins Loretsi-Hotel.“

„Das ist nur ein paar Hundert Schritte von hier entfernt.“ Sein Lächeln war jetzt so unverhüllt amüsiert, dass es sie ärgerte. „Also haben Sie sich nur eingebildet, dass Sie die Richtung verloren hatten. Sie hätten in dem Nebel nicht spazieren gehen sollen.“

Deborah war nicht geneigt, von irgendeinem Fremden gönnerhafte Ratschläge entgegenzunehmen. Sie richtete wie ein Igel sofort ihre Stacheln auf.

„Danke“, sagte sie zwischen zusammengepressten Zähnen, und es klang mehr nach einer Beleidigung denn nach Dankbarkeit. Sie ging weiter, ohne ihn anzusehen.

„Ich begleite Sie“, sagte er und schlenderte mit langen Schritten Sekunden später neben ihr her. „Es ist besser, falls Ihnen noch einmal so ungezogene Jungen über den Weg laufen sollten.“ Der Spott war nicht zu überhören, und der schräge Blick, den er ihr zuwarf, war belustigt.

Sie verzichtete darauf, ihn von der Wahrheit ihrer Behauptung überzeugen zu wollen. Es machte ihr nichts aus, ob dieser Mann ihr glaubte oder nicht. Der Vorfall bedrückte sie noch immer. Es war ihr, als spürte sie die stumme Feindseligkeit dieser beiden Halbstarken unvermindert weiter.

Ein Schauder überlief sie, und der Mann an ihrer Seite warf ihr einen raschen Blick zu. „Sie hätten sich wärmer anziehen sollen“, sagte er. „Ihre Jacke ist zu dünn. Vergessen Sie nicht, wir sind schon im Oktober. Venedig kann im Herbst sehr kühl sein.“

Deborah konnte endlich das erleuchtete Hotel sehen. Sie blieben vor der Tür stehen, und Deborah begann mit einer höflichen kleinen Dankesrede, die mit einer lächelnden Handbewegung unterbrochen wurde.

„Nicht nötig. Ich hab Ihnen gern weitergeholfen. Sind Sie hier abgestiegen?“

„Ja.“

„Es ist ein gutes Hotel, ruhig und komfortabel. Auch das Essen ist ausgezeichnet.“

„Kennen Sie es?“ Sie fragte sich, ob er in Venedig zu Hause war. Er wirkte nicht wie ein Tourist, und seine Worte klangen so, als ob er ein intimer Kenner der Stadt wäre.

Im Licht, das aus dem Hotel drang, konnte Deborah ihn zum ersten Mal genauer betrachten. Er überragte sie um Kopflänge, seine Schultern waren breit, aber er war sonst ausgesprochen schlank und sportlich. Das Gesicht wirkte anziehend, ohne dass es ausgesprochen hübsch war. Vor allem die beweglichen dunklen Brauen über den dunkelblauen Augen, die stets amüsiert funkelten, die gerade, ein wenig arrogant wirkende Nase und der großzügig geschnittene Mund fesselten Deborahs Blick.

„Ich bin schon früher hier gewesen“, sagte er jetzt. „Wann sind Sie angekommen?“

„Vor ein, zwei Stunden.“

Er lachte. „Und Sie sind sofort losgelaufen? Nicht sehr gescheit bei diesem Nebelwetter.“

„Nicht sehr“, gab sie zu. „Haben Sie jedenfalls nochmals vielen Dank.“ Dann ging sie hinein.

Der Portier hielt ihr bereits die Tür auf. Deborah bemerkte, dass er dem Mann draußen einen Blick und ein überaus höfliches Lächeln zuwarf, aber sie drehte sich nicht mehr um. Im Foyer war es wohltuend warm. Deborah fröstelte noch immer.

„Ein ungemütlicher Abend, Miss“, sagte der Portier teilnahmsvoll. „Wir haben um diese Jahreszeit regelmäßig so einen Nebel.“

Sie nickte lächelnd. „Ich bin hungrig“, sagte sie, denn aus dem Speisesaal drang ein Duft nach köstlichem Essen, und ihr Magen knurrte. „Ich mache mich nur rasch frisch.“

Sie wählte lokale Gerichte, eine vorzüglich gebratene Leber mit Kräutern und Gewürzen und als Nachtisch Zabaglione, eine leicht gefrorene Süßspeise aus Sahne, Eiern und Wein. Außer ihr waren nur wenige Gäste im Speisesaal, die sie alle neugierig angeschaut hatten, als sie hereingekommen war. Ein neuer Gast schien ein Ereignis zu sein. Der sie bedienende Ober war ausgesprochen aufmerksam.

Deborah blieb noch eine Weile sitzen, obwohl die bewundernden Blicke der Männer, die ihrem auffallend blonden langen Haar galten, sie ärgerten. Früher hätte sie sich geschmeichelt gefühlt, doch im Augenblick empfand sie für das männliche Geschlecht nur Abneigung und Feindseligkeit. Sie trank ihren Kaffee aus, doch dann merkte sie, dass sie sehr müde war, und sie verbarg ihr Gähnen nur mühsam hinter der vorgehaltenen Hand.

Der Portier beendete gerade seinen Dienst. „Gute Nacht, Miss!“, sagte er, als sie an ihm vorüberging, und der Nachtportier verbeugte sich lächelnd und reichte ihr den Zimmerschlüssel.

Deborah bestellte sich das Frühstück aufs Zimmer.

„Wünschen Sie auch eine Zeitung?“

„Ja, die ‚Times‘“, bat Deborah, da sie wusste, dass es die einzige Zeitung war, die bestimmt schon am frühen Morgen da war.

Beim Weitergehen stieß sie mit jemandem zusammen. Dieser Jemand hielt sie mit beiden Händen fest und bewahrte sie vor dem Straucheln. Deborah schaute auf. Sie wollte sich mit einem höflichen Lächeln bedanken, aber das Lächeln verlosch.

„Fühlen Sie sich wieder wohl?“, fragte der Fremde.

„Danke, ja.“ Sie konnte ihm nicht vorspielen, dass sie sich über das Wiedersehen freute. Er erinnerte sie an die Augenblicke der panischen Furcht, die sie fast schon vergessen hatte. Außerdem ärgerte sie sich über das belustigte Funkeln der tiefblauen Augen.

Deborah wollte weitergehen, doch er sagte: „Ich hoffe, Sie haben keine Albträume“, und erst dann ließ er sie los.

Am liebsten hätte sie geantwortet: Scheren Sie sich zum Teufel! Sie sagte es nicht, aber ihre steif aufgerichtete Haltung war beredter als Worte, und sie wandte sich nicht um, obwohl er lachte und Gute Nacht rief.

Die duftenden Blumen in ihrem Zimmer erinnerten sie schmerzlich an Robert, weil sie ebenso künstlich wirkten wie die langstieligen roten Rosen, die er ihr einmal schicken ließ. Ihr wäre ein Veilchensträußchen lieber gewesen als dieses teure Blumenzüchterprodukt. „Wie schön!“, hatte sie gesagt, als er kam und sie sich bedankte. Sie wollte ihn nicht enttäuschen und ihm nicht zeigen, dass sie die teure Gabe nicht recht zu würdigen wusste. Robert handelte stets impulsiv, er schenkte und kaufte Dinge – auch für sich selbst –, ohne über den Preis und die Zweckmäßigkeit nachzudenken. Er weigerte sich, andere oder sich selbst ernst zu nehmen, so, wie er nicht aufhörte, Deborah davor zu warnen, ihn zu ernst zu nehmen. Am Beginn ihrer Beziehung fand Deborah seine Einstellung großartig, aber jetzt sah sie es mit anderen Augen …

Sie versuchte einzuschlafen, aber es gelang ihr nicht. Sie starrte durch die offene Balkontür in die neblige Nacht; das Wasser des Kanals schwappte träge an die Steinstufen, die unterhalb des kleinen Balkons vor ihrem Zimmer lagen.

„Betreten Sie diesen Balkon bitte nicht“, hatte der Hausdiener ihr geraten, als er ihr die Koffer ins Zimmer stellte. Kaum war er draußen, hatte sie die Tür geöffnet und war hinausgegangen. Der Geruch des Kanalwassers war im Sonnenlicht viel stärker zu ihr heraufgedrungen als jetzt bei Nacht.

Robert war nicht der erste Mann in ihrem Leben, sie war schon ein paarmal verliebt gewesen. Sie wusste, dass sich Gefühle wandeln konnten, dass sie ebenso schnell vergingen, wie sie gekommen waren. Sie war nun siebenundzwanzig Jahre alt, und sie konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wie ihre erste Liebe ausgesehen hatte.

Würde sie eines Tages auch vergessen haben, wie Robert aussah? Sie schloss die Augen und verdrängte die Erinnerung an sein Gesicht.

Es war nicht so sehr sein blendendes Aussehen gewesen, das sie bezaubert hatte, sondern sein Lächeln und der Klang seiner Stimme, die sie unwiderstehlich angezogen hatten.

„Sie hören nie richtig zu“, hatte ihr Chef sie einmal getadelt. Sie war eine übereifrige junge Reporterin gewesen, immer in Eile, immer voller Sorge, etwas zu verpassen. Weil sie versäumt hatte, richtig zuzuhören, hatte sie einen ärgerlichen Fehler gemacht und zwei Namen verwechselt. Zwei wichtige, bedeutende Männer hatten sich bei ihrer Zeitung beschwert. Sie hatte den Tadel ihres Chefs verdient.

Sie hätte auch zuhören sollen, als ihr Robert sagte: „Nimm mich nur nicht zu ernst!“

Er war ehrlich gewesen. Er hatte sie niemals gebeten, ihm ihre ganze Liebe zu schenken …

Sie hatten sich bei irgendeinem offiziellen Lunch kennengelernt. Deborah war gerade von einem der Krisenherde aus Afrika zurückgekehrt, sie hatte schreckliche Gräuel gesehen, die sie nie vergessen würde, und dieses Mittagessen mit den gut gekleideten Herren, die belanglose Reden hielten, kam ihr seltsam unwirklich vor.

Aber sie hütete sich davor, über ihre trostlosen Erfahrungen zu sprechen. Stattdessen trank sie mehr, als sie normalerweise tat, und die Mischung aus Wein und der Bitterkeit über das, was sie gerade erlebt hatte, hatte sie redseliger als sonst gemacht.

Robert war ihr Tischherr gewesen, sie unterhielten sich angeregt miteinander, und als der Lunch beendet war, bat er sie um ein Wiedersehen.

Doch danach war sie so häufig von London fort, um einer Geschichte nachzugehen, dass sie sich nur selten sahen und sie selbst anfangs nicht bemerkte, wie viel er ihr bereits bedeutete. Robert schien immer glücklich zu sein, wenn sie sich treffen konnten, und er schien auch immer traurig zu sein, wenn sie wieder einmal fortfliegen musste.

Er wohnte und arbeitete in London. Für ihn gab es keine schönere Stadt als London. Er kannte jeden und war überall dabei, denn als Herausgeber eines viel gelesenen Magazins erhielt er zu allen bedeutsamen Ereignissen Einladungen, und jeder war froh, wenn er sie annahm.

Robert liebte die Geselligkeit, er ging gern ins Theater und versäumte kaum eine Premiere. Er war nicht nur als einflussreicher Herausgeber ein begehrter Gast; er war beliebt, weil er ein charmanter Plauderer war, und die Frauen rissen sich um ihn.

Deborah hatte natürlich von Anfang an gewusst, dass er eine bewegte Vergangenheit hatte. Sie bemerkte wohl die halb amüsierten, halb neugierigen Blicke, mit denen sie von anderen Frauen gemustert wurde, die vielleicht ihre Vorgängerinnen gewesen waren.

Aber sie zeigte Robert ihre Eifersucht nicht. Robert begrüßte auch diese Frauen mit der gleichen Liebenswürdigkeit, und er zeigte nie eine Spur von Verlegenheit oder gar Unsicherheit. „Wie schön, dich wiederzusehen“, versicherte er jeder mit der gleichen ehrlichen Miene.

Deborah hatte anfangs Mitleid mit den Frauen gehabt, die Robert nicht hatten halten können. Dass sie es auch nicht konnte, ahnte sie damals nicht. Robert ließ sich nicht festbinden.

Nun wusste sie es nur allzu gut. Wenn sie sich nur von Anfang an darüber im Klaren gewesen wäre, hätte sie niemals diesen unerträglichen Kummer und diese bittere Enttäuschung ertragen müssen.

Sie liebte ihn noch immer. Doch wenn diese Liebe in ihr erlosch, würde auch der Schmerz vorüber sein, sagte sich Deborah immer wieder.

Sie schloss die Augen und lag ganz still, bis sie sanft in den Schlaf glitt.

Es war schon heller Tag, als sie erwachte. Der Nebel war gewichen, ein etwas blässlicher Sonnenstrahl fiel durch die Balkontür, und von der Uferstraße drang Stimmengewirr herauf.

Es pochte an ihre Tür, und sie merkte erst jetzt, dass sie durch ein erstes Anklopfen aufgeweckt worden war. Sie rief mit verschlafener Stimme: „Herein.“

Das Zimmermädchen brachte ihr das Frühstück. Die Times war nicht dabei.

Nachdem Deborah das karge Frühstück verzehrt hatte, duschte sie sich und zog sich ihren leichten cremefarbenen Hosenanzug an. Sie wollte herumschlendern, irgendwo einen Espresso trinken und ein paar Postkarten schreiben. Kerry, Andreas ältester Sohn, sammelte Briefmarken, und Deborah schickte ihm Grüße von jedem Ort und aus jedem Erdteil, den sie wegen einer Story aufsuchte. Kerry würde es nicht begreifen können, wenn seine geliebte Tante Deborah ihn einmal vergessen würde.

Manchmal, wenn ihr Reporterdasein ihr Zeit dazu ließ, malte sich Deborah aus, wie schön es sein müsste, einen Sohn wie Kerry zu haben. Sie beneidete Andrea insgeheim, denn sie wurde geliebt, und sie war für ihre Familie unentbehrlich. Umgekehrt beneidete Andrea ihre Schwester um das aufregende Leben, das sie führte.

Nachdem sich Deborah einige Postkarten ausgesucht hatte, ließ sie sich in einem Straßencafé nieder. Während sie ihre Grüße schrieb, trank sie einen Espresso und bestellte gleich einen zweiten. Zum ersten Mal schrieb sie von unterwegs nicht an Robert, das brachte ihr die Endgültigkeit der Trennung wieder schmerzlich zum Bewusstsein.

Sie wollte gerade aufstehen und den Spaziergang fortsetzen, da sah sie den Fremden aus dem Hotel vorübergehen. Er hatte sie nicht bemerkt, da seine Aufmerksamkeit auf eine junge Frau gerichtet war, die neben ihm über den Platz schritt. Er hatte den dunklen Kopf zu ihr gewandt und hörte ihr zu. Die junge Frau musste sehr rasch gehen, um sich seinen langen Schritten anzupassen.

Deborah sah, wie er seine Begleiterin anlächelte. Sein Gesicht war durch dieses warme, charmante Lächeln wie verwandelt. Deborah empfand einen Stich, als sie das Aufstrahlen in dem Gesicht der jungen Frau bemerkte, die zu dem Mann an ihrer Seite aufschaute.

Deborah ging in die entgegengesetzte Richtung. Sie spazierte eine Weile umher und nahm dann einen Vaporetto, der sie zu ihrem Hotel zurückbrachte. An diesem Tag war die Luft so trocken und der Himmel so klar, dass es wahrscheinlich keinen abendlichen Nebel geben würde. Eine leichte Brise wehte über den Canale Grande und kräuselte die Wasseroberfläche, auf der die Sonnenstrahlen tanzten. Deborahs Stimmung hob sich. Sie betrachtete im Vorbeifahren die vergoldeten Stuckfassaden der Paläste, sah die Kirchtürme in der Ferne aufragen und verspürte einen Augenblick des Glücks, der sie daran erinnerte, dass auch der tiefste Schmerz einmal vorübergehen würde. Irgendwann in der Zukunft würde sie frei von Kummer sein.

Während sie sich vom Portier den Zimmerschlüssel geben ließ, schenkte sie ihm ein überraschend fröhliches Lächeln.

„Haben Sie einen schönen Vormittag erlebt, Miss?“, fragte er sie so erwartungsvoll, als gehöre ganz Venedig ihm. Er schien erfreut und erleichtert, als sie seine Frage bejahte.

Sie stieg gerade in den Lift, der sich nach oben in Bewegung setzte, da sah sie den Fremden die Halle betreten. Ihre Blicke begegneten sich, und Deborah hätte ihn fast angelächelt. Im letzten Augenblick senkte sie den Blick. Es war besser so.

2. KAPITEL

Am Abend, als Deborah zum Essen hinunterfahren wollte, stand der Lift still. „Wird repariert“ stand auf einem Zettel. Sie musste also die vier Treppen hinauf- und hinuntergehen. Repariert würde der Lift bestimmt erst am nächsten Tag.

Im ersten Stock öffnete sich gerade eine Zimmertür, und jemand trat auf den Korridor, schloss seine Tür ab und wirbelte den Schlüsselbund in der Luft herum. Deborah lächelte dem Gast höflich zu, aber das Lächeln erstarb, als sie ihn erkannte. Er begrüßte sie mit einer leichten Verbeugung und trat an ihre Seite.

„Haben Sie einen schönen Tag verlebt?“

„Ja, danke“, antwortete Deborah einsilbig.

Er sah an diesem Abend irgendwie verändert aus, offenbar war er verärgert. Die Kinnmuskeln waren angespannt und traten unter der straffen gebräunten Haut hervor. Die blauen Augen blickten düster. Deborah fand, dass er in dieser Stimmung fast noch beeindruckender aussah als sonst. Er blickte auf sie hinunter, und auf einmal lächelte er.

„Haben Sie heute Abend etwas vor?“

Deborah wurde steif. „Essen und früh ins Bett gehen“, sagte sie abwehrend, weil sie ahnte, was kommen würde.

„Ich habe Ihnen gestern das Leben gerettet“, meinte er ein wenig spöttisch. „Oder Sie womöglich vor einem noch schlimmeren Schicksal bewahrt – je nachdem, was diese Jungen mit Ihnen vorhatten.“

„Dabei hatte ich das Gefühl, Sie glaubten mir nicht einmal, dass es diese Jungen überhaupt gegeben hätte.“

„Aber ich habe es nie bezweifelt!“, antwortete er, und es klang wieder belustigt. „Finden Sie nicht, dass Sie mir auf jeden Fall einen Wunsch erfüllen sollten?“

„Ich werde Ihnen gern behilflich sein, falls Sie jemals von Teenagern bedrängt werden sollten“, meinte Deborah spöttisch.

„Das ist genau die Situation, in der ich bin.“

Deborah starrte ihn verständnislos an.

„Ich muss heute Abend noch zu einer Party gehen. Es lässt sich nicht vermeiden, sonst würde ich jemanden kränken, der so wichtig für mich ist, dass ich ihn nicht kränken darf. Wenn ich aber allein komme, kann ich einem dickköpfigen, reichlich aufdringlichen jungen Mädchen nicht entkommen, das meine höfliche Zurückweisung einfach nicht begreifen will.“

„Versuchen Sie es doch mal mit Unhöflichkeit“, schlug Deborah vor.

Er lachte. „Leider ist ihr Vater der Mann, den ich nicht kränken kann, ohne mir selbst zu schaden.“

„Ja, das ist Ihr Problem …“ Deborah zuckte nur mit den Achseln.

„Ich würde Ihnen wirklich sehr dankbar sein, wenn Sie an diesem einen Abend meinen Leibwächter spielen.“

Deborah warf ihm einen eisigen Blick zu. „Rufen Sie doch bei einer Agentur an.“

„Dafür ist es schon zu spät“, wandte er ein. „Ich hatte bereits eine Begleiterin für diese Party, aber sie rief eben an und erklärte, dass sie eine Migräne hätte. Ich darf einfach nicht allein dort erscheinen!“

„Ach – so eine Art von Party ist das also? Das ist auf keinen Fall etwas für mich, fürchte ich.“ Sie nickte ihm mit einem höflichen kleinen Lächeln zu, und da sie inzwischen den Speisesaal betreten hatten, ging sie rasch zu ihrem Tisch hinüber. Der dunkelhaarige Fremde folge ihr, ohne dass sie ihn dazu aufgefordert hatte. Er setzte sich ihr mit einer solchen Selbstverständlichkeit gegenüber, als hätte sie ihn dazu eingeladen.

„Oh nein, es ist im Gegenteil eine sehr offizielle Party“, setzte er das Gespräch fort. „Das einzige Problem dabei ist Teresa. Sie ist ausgesprochen verwöhnt, und aus irgendeinem Grund hat sie sich in den Kopf gesetzt, sich in mich zu verlieben. Wenn ich allein komme, hängt sie an mir wie eine Klette.“

Der Ober überreichte jedem eine Menükarte. Deborah schaute mit gerunzelter Stirn auf den ungebetenen Gast an ihrem Tisch.

Autor

Charlotte Lamb

Die britische Autorin Charlotte Lamb begeisterte zahlreiche Fans, ihr richtiger Name war Sheila Holland. Ebenfalls veröffentlichte sie Romane unter den Pseudonymen Sheila Coates, Sheila Lancaster, Victoria Woolf, Laura Hardy sowie unter ihrem richtigen Namen. Insgesamt schrieb sie über 160 Romane, und zwar hauptsächlich Romances, romantische Thriller sowie historische Romane. Weltweit...

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