Frühling süßer Verheißungen

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Als Sophie Langford zögernd das Schiff verlässt, traut James, Duke of Belfont, seinen Augen kaum: Er hatte ein junges Mädchen erwartet, keine attraktive Frau! Diese Schönheit soll sein Mündel sein? Beim ersten Blick in Sophies Augen ahnt James, dass der kommende Frühling an ihrer Seite voller süßer Verheißungen ist …


  • Erscheinungstag 03.04.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733746261
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Die leichte Brise, die über den schattigen Balkon strich, brachte den Duft von Orangenblüten und Bougainvillea mit sich. Miss Sophia Langford atmete ihn tief ein. Er war so viel angenehmer als die von der Straße heraufsteigenden Gerüche. Sie ließ den Blick über die roten Dächer der Stadt und über das in der Ferne im Sonnenlicht glitzernde Wasser des Golfs von Neapel gleiten. Aber in Gedanken war sie mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Sie befand sich in einer beinahe ausweglosen Situation. Was, um Himmels willen, sollte sie tun? Vor Kurzem war ihr Vater ihrer Mutter ins Grab gefolgt und hatte sie allein in einem fremden Land zurückgelassen. Sie zählte knapp einundzwanzig Jahre, hatte keine Freunde und auch keine Verwandten, die ihr zu Hilfe kommen würden. Und in wenigen Tagen war die Miete für das Haus fällig, das sie bewohnte.

Es klopfte. Doch Sophie war so in ihre trüben Gedanken vertieft, dass sie es nicht hörte.

Die Besucherin klopfte erneut. Nichts! Also öffnete sie die Tür und rief: „Sophie, meine Liebe, ich habe gute Neuigkeiten. Ja, wundervolle Neuigkeiten!“

Lady Myers war klein, rundlich und etwa vierzig Jahre alt. Sie trug ein leichtes Musselinkleid, das vom Stil her eher zu einer jungen Dame gepasst hätte. Auch konnte man deutlich erkennen, dass sie ihr Haar gefärbt hatte. Trotz dieser kleinen modischen Fehler machte sie einen sehr warmherzigen Eindruck. Ihre braunen Augen strahlten Lebensfreude und Mitgefühl aus. Um ihren Mund spielte ein leicht amüsiertes und gleichzeitig verständnisvolles Lächeln.

Sophie hob den Kopf und begriff im gleichen Moment, dass sie sich vorhin getäuscht hatte: Sie war nicht ohne Freunde. Lady Myers würde sie nicht im Stich lassen.

„Der Krieg ist vorbei“, teilte diese ihr strahlend mit. „Napoleon hat sich zuletzt doch geschlagen geben müssen. Paris ist von den Alliierten besetzt. Wir können endlich nach Hause.“

„Nach Hause …“, wiederholte Sophie leise. Wo war ihr Zuhause? Während der letzten zehn Jahre hatte sie in Italien, Frankreich, Österreich und der Schweiz gelebt. Frankreich hatte sie als ein Land voller Kontraste in Erinnerung, wofür vermutlich die Revolution verantwortlich war. Die Schweiz mit den wunderschönen Bergen und der klaren Luft hatte sie geliebt, vor allem, weil ihre Mutter sich dort wohlgefühlt hatte. Viel zu schnell hatten sie das Land wieder verlassen müssen. Natürlich hätte ihr Vater nie zugegeben, dass sie auf der Flucht waren. Aber es stimmte trotzdem: Wo auch immer er sich niederließ – nach einer Weile musste er vor seinen Gläubigern davonlaufen.

Sie unterdrückte einen Seufzer. Für Engländer war das Leben auf dem europäischen Festland verhältnismäßig günstig. Sie und ihre Eltern hätten ein bescheidenes, aber dabei doch recht bequemes Dasein führen können, wenn die Schwäche ihres Vaters nicht immer wieder zu neuen Katastrophen geführt hätte.

Von der Schweiz aus war man nach Österreich gereist, um eine Zeit lang in Wien zu wohnen. Sophie und ihre Mutter hatten die schönsten Ecken der Stadt erforscht, während ihr Vater sich mit anderen Engländern getroffen und sich erneut dem Glücksspiel hingegeben hatte. Stets hatte er behauptet, der große Gewinn könne nicht mehr lange auf sich warten lassen. Dann würden er und seine Lieben endlich die Achtung erfahren, die ihnen zukam. Hotelangestellte, Vermieter, Schneiderinnen und Lebensmittelhändler würden sie mit der größten Zuvorkommenheit behandeln.

Leider ging diese Prophezeiung nie in Erfüllung. Stattdessen mussten sie oft mitten in der Nacht heimlich das Hotel verlassen, in dem sie abgestiegen waren, weil sie die Rechnung nicht bezahlen konnten. Sophie war damals fünfzehn gewesen und hatte die Flucht als spannendes Abenteuer erlebt. Ihrer Mutter hingegen, die schon lange an Melancholie litt, hatte die Aufregung gar nicht gutgetan. Sie erholte sich weder in Venedig noch in Mailand, Turin, Florenz oder Rom von den Anstrengungen, die ihr Ehemann ihr aufbürdete.

Als ihr Gatte sich schließlich in Neapel niederließ, war Lady Langford bereits schwer krank. Umso mehr freute es sie, eine alte Freundin wiederzutreffen. Lady Alicia Myers, eine Engländerin, die sie bereits vor vielen Jahren in Suffolk kennengelernt hatte, wohnte in der Nachbarschaft.

„Sie war frisch verheiratet, als wir uns zum ersten Mal begegneten“, hatte Lady Langford ihrer Tochter erzählt. „Lord Myers entschloss sich, in den diplomatischen Dienst zu gehen, und musste deshalb bald darauf seine Heimat verlassen. Natürlich begleitete Alicia ihn. Wir schrieben uns, wann immer das möglich war. Doch irgendwann haben wir uns aus den Augen verloren. Ich bin so froh, dass wir unsere Freundschaft nun erneuern können.“

Sophie hatte genickt und gehofft, dass das Wiedersehen mit der langjährigen Freundin ihrer Mutter guttun würde.

Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Langfords in noch größeren finanziellen Schwierigkeiten als je zuvor. Längst hatten sie alle Hausangestellten entlassen. Die Kutsche war samt den Pferden verkauft worden. Um den Lebensunterhalt ihrer Familie zu sichern, hatte Lady Langford sich vom größten Teil ihres Schmucks getrennt. Vielleicht war es dieser Schritt gewesen, der ihre Hoffnung, jemals nach England zurückkehren zu können, endgültig ausgelöscht hatte. Sie wusste, dass sie mitten im Krieg in einem fremden Land gestrandet war, ohne Geld und ohne die Aussicht auf eine Verbesserung der Situation. So hatte sie allen Lebensmut verloren und war nach relativ kurzer Zeit gestorben.

Ihr Tod hatte Lord Langford völlig aus der Bahn geworfen. Tagelang hatte er geweint, sich mit Selbstvorwürfen gequält und Sophie, wenn er betrunken war, angefleht, ihm seine Fehler zu verzeihen. Sie hatte selbst kaum gewusst, wie sie weiterleben sollte. Niemand hatte sie in ihrem Kummer getröstet. Ja, sie hatte nicht einmal Zeit, richtig zu trauern. Wenn sie nicht verhungern wollte, musste sie sich um alles kümmern, was es zu erledigen gab.

Dazu gehörte auch – wie sie bald einsehen musste –, dass sie sich um eine Stellung bemühte, denn ihr Vater brachte nur sehr unregelmäßig ein wenig Geld nach Hause. Noch ehe sie zwanzig wurde, hatte Sophie begonnen, italienischen Kindern Englischunterricht zu geben und sich Touristen als Fremdenführerin zur Verfügung zu stellen. Da wegen des Krieges nur wenige Engländer nach Italien reisten, um sich die Sehenswürdigkeiten anzuschauen, frischte Sophie ihre Französisch- und Deutschkenntnisse auf, um ihre Dienste auch Franzosen, Deutschen, Schweizern und Österreichern anbieten zu können.

Eine Zeit lang schien alles gut zu gehen. Doch dann war auch ihr Vater gestorben. Unbekannte hatten ihn überfallen und getötet, als er wieder einmal betrunken in den Straßen Neapels unterwegs war. Dieser Schicksalsschlag machte auch einer so charakterstarken jungen Dame wie Sophie sehr zu schaffen.

„Wir können endlich nach Hause zurückkehren“, wiederholte Lady Myers, die ein wenig beunruhigt über Sophies anhaltendes Schweigen war. Sie musterte ihre junge Freundin unauffällig. Eine Schönheit war Sophie nicht, und das abgetragene schwarze Kleid trug nicht dazu bei, sie attraktiver wirken zu lassen. Aber mit ein wenig Mühe würde man den Blick heiratsfähiger junger Gentlemen auf die natürliche Anmut, den schlanken biegsamen Körper und die strahlenden Augen der jungen Dame lenken können. „Heim nach England! Das ist doch eine gute Nachricht!“

„Ich kann nicht nach England zurück“, stellte Sophie leise, aber entschieden fest.

„Unsinn! Sie können unmöglich allein hier bleiben! Gewiss haben Sie Verwandte in England. Und …“

Sophie schüttelte den Kopf und bückte sich nach einem zerknitterten Blatt Papier, das auf der Erde lag. „Ich habe meinen Onkel, den Bruder meines Vaters, angeschrieben, da ich es für ein Gebot der Höflichkeit hielt, ihn über Papas Tod zu informieren.“

„Gut“, lobte Lady Myers und streckte die Hand nach dem Blatt aus, das Sophie ihr hinhielt.

„Dies ist die Antwort.“

„Aber …“ Während sie las, schüttelte Lady Myers wiederholt den Kopf. „Das ist schlichtweg boshaft! Sie waren noch ein Kind, als Sie England mit Ihren Eltern verließen. Wie kann er Sie für die Fehler Ihres Vaters verantwortlich machen?“

Sophie zuckte die Schultern. „Seiner Meinung nach ist Papa nur deshalb zu einem Spieler geworden, weil er die falsche Frau geheiratet hat. Zudem ist mein Onkel davon überzeugt, dass meine Erziehung mich nicht befähigt, mich in der guten Gesellschaft angemessen zu bewegen.“

„Bei Gott, Ihr Onkel ist kein Gentleman! Er verlangt, dass Sie sich nie wieder bei ihm melden!“ Lady Myers starrte die Zeilen wütend an. „Ich denke fast, ich sollte ihm schreiben, um ihm klar zu machen, wie verachtenswert er sich verhält.“

„O bitte tun Sie das nicht! Es wäre mir überaus unangenehm. Ich habe nie um irgendetwas gebettelt. Ich kann schon die Vorstellung nicht ertragen! Ich werde meine Arbeit hier fortsetzen. Jetzt, da der Krieg vorüber ist, werden gewiss mehr Touristen nach Neapel kommen als bisher.“

„Da mögen Sie recht haben. Ich fürchte allerdings, dass gerade die englischen Reisenden nicht Sie als Fremdenführerin wählen werden. Bedenken Sie: Durch den Tod Ihres Vaters sind Sie zu einer alleinstehenden jungen Dame geworden. Das genügt, damit die Mitglieder der guten Gesellschaft die Nase über Sie rümpfen.“

Darüber hatte Sophie sich bisher keine Gedanken gemacht. Nun allerdings musste sie zugeben, dass Lady Myers die Lage vermutlich richtig einschätzte. Von den Englischstunden, die sie gab, würde sie nicht überleben können. Sie dachte einen Moment lang nach und erklärte dann in entschiedenem Ton: „Ich werde ein Buch schreiben. Über all das, was ich in den Ländern, die wir bereist haben, gesehen und erlebt habe. Mama hat mich schon vor Jahren ermutigt, Notizen zu machen. Ich habe seitdem so manches aufgeschrieben zu den Sehenswürdigkeiten, zu den Landessitten und zu den Menschen, denen wir begegnet sind …“

„Ich bin sicher, dass es ein interessantes Werk wird. Aber wovon wollen Sie leben, solange Sie daran arbeiten?“ Lady Myers gab Sophie Gelegenheit, darüber nachzudenken, ehe sie fortfuhr: „Ich glaube wirklich, dass es das Beste sein wird, wenn Sie mit uns zurück nach England kommen. Irgendjemanden, an den Sie sich wenden können, muss es doch geben!“

„Mein Vater hatte nur diesen einen Bruder.“ Sie warf einen zornigen Blick auf den Brief des neuen Lord Langford. „Meine Mutter war mit dem Duke of Belfont verwandt, der allerdings, wenn ich mich recht erinnere, vor einiger Zeit gestorben ist. Da er keine Söhne hatte und da Mamas Vater zu diesem Zeitpunkt ebenfalls nicht mehr lebte, müsste sein jüngerer Bruder Henry Dersingham ihn beerbt haben. Das wäre mein Großonkel, nicht wahr?“

„Ja. Und er würde Ihnen gewiss ein Zuhause anbieten.“

„Ich kenne ihn überhaupt nicht.“„Sophie, Sie müssen sich an ihn wenden. Sie haben keine Wahl!“

„Die Dersinghams waren mit der Ehe meiner Mutter ebenso wenig einverstanden wie die Langfords.“

„Man kann Ihnen nicht zum Vorwurf machen, dass Ihre Eltern gegen den Willen der Verwandtschaft geheiratet haben. Und wenn dieser Großonkel sich wider Erwarten doch weigern sollte, Sie bei sich aufzunehmen, dann werde ich persönlich dafür sorgen, dass Sie in die Gesellschaft eingeführt werden und einen Ehemann finden.“

„Aber ich habe nie daran gedacht, mir einen Gatten zu suchen!“ Tatsächlich war sie viel zu beschäftigt gewesen, um über eine Eheschließung nachzudenken. Erst hatte sie ihre Mutter gepflegt, dann für das Einkommen der Familie gesorgt. Im Übrigen besaß sie keine Mitgift. Wer also hätte überhaupt ein Interesse daran haben sollen, sie zu heiraten?

„Nun, jetzt ist es jedenfalls an der Zeit, an einen Gatten zu denken. Ich werde nicht zulassen, dass Sie hier bleiben. Das könnte ich Ihrer Mutter, die meine Freundin war, niemals antun.“

Sophie begriff, wie unsinnig es war, sich weiter gegen Lady Myers’ Vorschlag zu wehren. „Gut“, erklärte sie, „ich werde Sie begleiten. Aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen Ihre Güte jemals vergelten kann.“ Dann lächelte sie. „Oder vielleicht doch. Mein Buch wird sich so gut verkaufen, dass ich reich werde und Ihnen in angemessener Weise danken kann.“

„Ich werde Ihren Dank gern annehmen, wenn es so weit ist. Doch nun denken Sie nicht länger darüber nach! Packen Sie zusammen, was Sie mitnehmen wollen. Ich schicke Ihnen später unsere Kutsche. Sie können die Nacht bei uns verbringen.“

Nachdenklich schaute Sophie der rundlichen Dame nach, die nun geschäftig davoneilte. Lady Myers, fand sie, hatte etwas von einer Henne an sich, die ihre Küken beschützend unter die Flügel nimmt.

Es ist ein gutes Gefühl, eines ihrer Küken zu sein, dachte Sophie.

Dabei war sie durchaus kein schwacher Mensch, der auf die Hilfe anderer angewiesen war. Im Gegenteil. Bisher hatte sie ihr Leben selbst gemeistert. Allerdings hatte sie die Verantwortung, die sie jahrelang für ihre Eltern getragen hatte, oft als schwere Last empfunden.

Entschlossen begann sie, ihre Koffer zu packen. Viel besaß sie nicht. Die guten Kleider ihrer Mutter und auch die meisten Besitztümer ihres Vaters waren längst verkauft worden, um einen Teil der Lebenshaltungskosten aus dem Erlös zu bestreiten. Abgesehen von einer Perlenkette, einem Familienerbstück, das ihre Mutter ihr einst geschenkt hatte, besaß sie nichts Wertvolles. Ein paar praktische Kleider, etwas Unterwäsche, zwei Paar Schuhe und ein Paar Stiefeletten, dazu einen Hut und eine Haube sowie einen leichten Umhang und einen etwas wärmeren Kapuzenmantel.

Sie runzelte die Stirn. Ihre Garderobe war dem englischen Klima wohl nicht angemessen. Doch das ließ sich nicht ändern. Wenigstens besaß sie ein akzeptables schwarzes Kleid. Modern war auch dieses nicht mehr, sie hatte es nach dem Tod ihrer Mutter angeschafft. Aber es würde fürs Erste ausreichen müssen.

Nachdem sie ihre Kleidung eingepackt hatte, legte Sophie das Schmuckkästchen mit den Perlen, eine Miniatur ihrer Mutter sowie ihre eigenen Toilettenartikel dazu. Als Letztes packte sie all die Reisenotizen zusammen, die sie im Laufe der Jahre gemacht hatte. Dann schaute sie sich noch einmal um. Diese Räume waren eine Zeit lang ihr Zuhause gewesen. Hier hatte sie ihre Mutter gepflegt und ihren Vater versorgt. Hier hatte sie – wie ihr erst jetzt bewusst wurde – so viele Pflichten zu erfüllen gehabt, dass ihr keine Zeit für Träume geblieben war. Kaum jemals hatte sie über die Zukunft nachgedacht, weil die Gegenwart sie zu sehr in Anspruch genommen hatte. Nun allerdings fragte sie sich, was die vor ihr liegenden Wochen und Monate wohl bringen würden.

Wenn ihr Großonkel bereit war, ihr ein Dach über dem Kopf anzubieten, würde sie das dankbar annehmen. Aber darüber hinaus wollte sie sich nicht von ihm abhängig machen. Sie würde einen Weg finden, selbst für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Denn dass sie heiraten würde, hielt sie für ausgeschlossen. Am Beispiel ihrer Mutter hatte sie gesehen, wie unglücklich die Liebe eine Frau machen konnte.

Unwillkürlich seufzte sie auf. Ihr Vater war sehr charmant gewesen, aber leider hatte er dem Glücksspiel und dem Alkohol nie widerstehen können. Unaufhaltsam hatte er seine Familie tiefer und tiefer ins Elend geführt. Dies zu erleben hatte ihr schon früh gezeigt, wie gefährlich es war, einem Mann zu vertrauen. Sophie schüttelte den Kopf. Nein, sie wollte keinen Gatten. Daran würden auch Lady Myers’ Überredungskünste nichts ändern können.

Nachdem Sophie einen Brief an den Duke of Belfont abgeschickt, zum letzten Mal die Gräber ihrer Eltern aufgesucht und sich von ihren Nachbarn verabschiedet hatte, nahm sie eine Mietdroschke zum Haus der Myers, wo sie rechtzeitig zum Dinner eintraf.

„Wir sollten die Gelegenheit nutzen, Paris einen Besuch abzustatten“, erklärte Lord Myers beim Essen. „Der Comte de Provence ist unter dem Namen Louis XVIII zum König erklärt worden und hat sich in die französische Hauptstadt begeben, wo man nun sehnsüchtig auf die Ankunft des Duke of Wellington wartet. Wie es heißt, will er sich dort mit Marschall Blücher, seinem Verbündeten, treffen.“

„Ein kurzer Aufenthalt in Paris wäre wundervoll!“ Lady Myers strahlte ihren Gatten an. Er war nur unwesentlich größer als sie und genauso rundlich. „Was halten Sie davon, Sophie?“

„Ich bin mit allem einverstanden.“

„Wann, meine Teure, wirst du zum Aufbruch bereit sein?“, fragte Lord Myers seine Gemahlin.

„Das solltest du wissen, mein Bester. Wir sind …“, sie warf Sophie ein kurzes Lächeln zu, „… so oft umgezogen, dass ich eine Strategie entwickelt habe, mit der alles sehr schnell geht. Die wichtigen Gegenstände sind alle mit Nummern beschriftet, sodass das Personal gleich erkennt, in welche Reisekiste sie gehören. Wir können schon morgen abreisen.“

Er nickte ihr anerkennend zu und sagte dann zu Sophie: „Wie ich gesehen habe, reisen Sie mit leichtem Gepäck. Das ist sehr vernünftig.“

Sie war ihm dankbar dafür, dass er ihren Mangel an weltlichem Besitz nicht weiter kommentierte. „Ich hoffe, Sie werden nicht bedauern, mich zur Mitreise aufgefordert zu haben. Sicher können Sie sich vorstellen, dass ich noch keine Antwort auf meinen Brief an den Duke of Belfont erhalten habe.“

„Sie begleiten uns auf jeden Fall, meine Liebe“, stellte Lady Myers fest. „Mit Ihrem Großonkel können wir uns beschäftigen, wenn wir England erreicht haben.“

Sophie runzelte die Stirn. Die Vorstellung, sich mit einem Duke auseinanderzusetzen, schien die Myers nicht im Geringsten zu beeindrucken. Sie selbst hingegen empfand eine an Angst grenzende Scheu vor dem gesellschaftlich so weit über ihr stehenden und sicherlich nicht mehr jungen Adligen. Ob er ein arroganter und reizbarer alter Mann war?

Nur gut, dass es noch eine Weile dauern würde, ehe sie das überprüfen konnte. Vorher würde sie Paris besuchen und die Möglichkeit haben, die moderne Metropole mit jener Stadt zu vergleichen, die sie vor zehn Jahren kennengelernt hatte. Das würde sie mit neuem Stoff für das geplante Buch versorgen.

Ja, sie setzte große Hoffnungen auf das Buch.

Zwei Tage später setzten sich zwei Kutschen in Bewegung. In der ersten reisten die Myers und Sophie, in der zweiten wurden die Bediensteten und das Gepäck transportiert. Alle Personen waren an die Unbequemlichkeiten solcher Reisen gewöhnt: schlechte Straßen, wenig einladende Gasthöfe, heftiger Regen oder auch heiße Tage, an denen die Sonne alles zu verbrennen schien.

In Frankreich kamen weitere Probleme hinzu. Ehemalige Soldaten, die noch immer an eine Rückkehr Napoleons glaubten, belästigten ausländische Reisende und forderten Geld von ihnen, um sie überhaupt weiterfahren zu lassen. Es war sowohl beängstigend als auch ermüdend und führte dazu, dass keine der Damen auch nur im Geringsten auf das frühlingshafte Wetter und die zum Teil schon voll erblühte Natur achtete.

Sophie, die Myers und auch deren Dienstboten – alle waren zutiefst erleichtert, als sie Paris und das Hôtel du Luxembourg endlich erreichten, wo man zum Glück Zimmer vorbestellt hatte. Tatsächlich waren seit dem Ende des Krieges so viele Besucher in die Stadt geströmt, dass praktisch jedes Hotelzimmer und auch jede private Unterkunft ausgebucht war.

Völlig erschöpft ließ Sophie sich auf das weiche Hotelbett fallen. Sie war so müde, dass sie sogleich einschlief.

Am nächsten Tag machte Lord Myers sich auf, um beim Duke of Wellington und, wenn möglich, auch beim neuen französischen König vorzusprechen. Louis XVIII genoss – wie allgemein bekannt war – keineswegs die Zuneigung seiner Untertanen. Aber als Diplomat hielt Lord Myers es für seine Pflicht, dem Monarchen seine Aufwartung zu machen. Lady Myers und Sophie unternahmen derweil, begleitet von mehreren Bediensteten, einen Stadtbummel.

Die Luft war mild, Vögel sangen. Und überall, wo nur ein Fleckchen Erde zu sehen war, sprossen bunte Blumen. Doch das nahmen die Damen kaum wahr. Stattdessen galt ihre Aufmerksamkeit den vielen Gruppen völlig verarmter Menschen, die überall herumlungerten. Wer Hunger litt, blickte voller Neid auf alle, denen es besser ging. Die Stimmung war gereizt und alles andere als frühlingshaft entspannt. Ja, es war offensichtlich, dass selbst der kleinste Vorfall zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen konnte. Daher beschlossen Lady Myers und Sophie recht bald, zum Hotel zurückzukehren.

Das erwies sich als überraschend schwierig. Mühsam mussten sie sich einen Weg durch die Menschenmassen bahnen. Und als sie endlich aufatmend die Tür ihres Hotelzimmers hinter sich schlossen, waren beide Damen entschlossen, Paris so bald wie möglich zu verlassen.

Das teilte Lady Myers ihrem Gatten beim Dinner mit. „Im Übrigen möchte ich auch nicht“, fuhr sie fort, „dass Sophie die halbe Saison in London verpasst.“

„O bitte“, rief diese aus, „machen Sie sich darum keine Gedanken.“

Doch Lady Myers bestand darauf, dass Sophie in die Gesellschaft eingeführt werden müsse.

Lord Myers nickte nur dazu. „Der König selbst wird morgen nach Calais aufbrechen, von wo aus er nach England weiterreisen will. Ich denke, wir sollten uns seinem Gefolge anschließen.“

Es erwies sich als überaus mühsam und nervenaufreibend, mit Frankreichs König zu reisen. Manchmal bestand er darauf, dass die Wagen mit der höchstmöglichen Geschwindigkeit fuhren, weil er einen Angriff fürchtete. Dann sahen die Reisenden kaum etwas von den blumenübersäten Wiesen, den Wäldern, die sich grün zu färben begannen, und den Bauerngärten, in denen Frauen und Kinder mit den unterschiedlichsten Arbeiten beschäftigt waren. Wenn Seine Majestät allerdings schlafen wollte, musste seine Kutsche so langsam fahren, dass er die Unebenheiten der Straße kaum spürte.

Endlich jedoch erreichte der Tross Calais, wo mehrere Schiffe bereitlagen, darunter die „Sea Maid“, die den König über den Ärmelkanal bringen sollte. Die Myers und Sophie stachen einige Zeit später mit einem weniger prächtigen Schiff in See.

Sophie wurde unruhiger mit jeder Meile, die sie England näher kam. Würde der Duke sie willkommen heißen? Würde sie feststellen, dass sie außer ihm noch andere Verwandte besaß? Hatte ihr Großonkel Kinder und Enkel? Sie versuchte, sich Belfonts Erscheinung und seinen Charakter auszumalen. Doch stattdessen fiel ihr nur ein, dass ihre Mama einmal gesagt hatte, Dersingham Park in Suffolk sei ein riesiges beeindruckendes Anwesen, das gerade im Frühjahr seine ganze Schönheit zeige.

Natürlich würde der Duke sich während der Saison vermutlich in London aufhalten. Über das Stadtpalais der Familie wusste Sophie praktisch nichts. Das machte ihr deutlich, wie wenige Informationen über ihre Familie sie besaß. Ihre Nervosität wuchs.

Zum Glück, dachte sie, besitze ich einen gewissen Stolz, der mir wohl über das Schlimmste hinweghelfen wird.

„Harriet“, fragte James Dersingham, Duke of Belfont, seine Schwester, „kenne ich eine gewisse Sophia Langford?“

„Du erwartest doch nicht, dass ich mich an die Namen all deiner kleinen Freundinnen erinnere?“, gab Lady Harriet Harley zurück. „Du wechselst sie ja beinahe täglich! Ich hoffe nur, du hast keine von ihnen in Schwierigkeiten gebracht.“

„Natürlich nicht. Außerdem bin ich nicht so alt, dass ich auch nur eine meiner Geliebten vergessen hätte.“

Tatsächlich war der Duke noch jung, und sein Gedächtnis funktionierte hervorragend. Bisher hatte er es vermeiden können, vor den Traualtar zu treten, da er für seine Affären stets Frauen wählte, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht an einer Ehe interessiert waren. Das schützte ihn allerdings nicht davor, bei allen möglichen Gelegenheiten von ehrgeizigen Müttern und ihren heiratsfähigen Töchtern verfolgt zu werden – was ihn entsetzlich langweilte.

„Diese Sophia Langford behauptet, sie sei mit uns verwandt“, erklärte er seiner Schwester. „Sie schreibt, ihre Eltern seien verstorben, weshalb sie vorübergehend in Neapel im Haushalt einer Freundin lebe. Vermutlich möchte sie, dass ich ihr ein Dach über dem Kopf anbiete.“

Harriet runzelte die Stirn. „Ich glaube, eine von Papas Nichten hat einen Langford geheiratet.“

„Ach?“

„Ja, sie muss Onkel Roberts Tochter gewesen sein. Louise hieß sie, glaube ich. Die Familie war mit der Ehe nicht einverstanden, denn dieser Langford soll ein Spieler gewesen sein. Um seinen Gläubigern zu entkommen, ist er irgendwann ins Ausland geflohen.“

Lady Harriet Harley war einige Jahre älter als der Duke, und nach dem viel zu frühen Tod ihrer Mutter hatte sie sich fürsorglich um ihn gekümmert. Auch als sie heiratete, war sie seine Vertraute geblieben. Gelegentlich bat er sie selbst jetzt noch um Rat, denn er trug schwer an der Verantwortung, die er zusammen mit dem Titel geerbt hatte. Da er auch gewisse Aufgaben im Auftrag der Krone wahrzunehmen hatte, erschien ihm jede weitere Verpflichtung als ungebührliche Last.

„Ich kann mich als Junggeselle unmöglich um ein Kind kümmern“, stellte er fest. „Ich verstehe überhaupt nichts von Kindern.“

„Das würde sich schnell ändern, wenn du dich nur entschließen könntest zu heiraten“, gab Harriet zurück.

Lachend schüttelte er den Kopf. Bisher war er keiner passenden Ehekandidatin begegnet. Die jungen Damen waren entweder zu unerfahren, zu dumm, zu steif oder zu hässlich, um seinen Ansprüchen zu genügen. „Ein Mädchen kann unmöglich mit mir unter einem Dach leben, ohne dass es unerfreuliche Gerüchte gibt. Im Übrigen wissen wir nichts über diese Sophia Langford. Sie könnte eine Hochstaplerin sein.“

„Mit ein paar gezielten Fragen können wir ihre Identität klären.“

„Wir?“

„Ja, natürlich. Wie du schon sagtest: Als Junggeselle kannst du keine junge Dame in deinen Haushalt aufnehmen. Andererseits können wir das Mädchen unmöglich seinem Schicksal überlassen.“

„Du meinst, wir sollen Miss Langford mit offenen Armen aufnehmen, wann immer es ihr behagt, hier aufzutauchen?“

„Zuerst solltest du ihr schreiben. Bestimmt wartet sie sehnsüchtig auf eine Antwort auf ihren Brief.“

Unzufrieden brummte er vor sich hin.

„James“, redete Harriet ihm ins Gewissen, „die Arme hat ihre Eltern verloren. Sie ist allein und fürchtet sich gewiss vor der Zukunft. Du solltest sie in Dersingham Park unterbringen. Dort hast du so viel Platz, dass du ihre Anwesenheit vermutlich nicht einmal bemerkst.“

Das war zweifellos richtig. Dennoch zögerte er. Es würde Probleme geben, so viel stand fest. Das Mädchen wusste nichts über das Leben in England. Es würde womöglich eine Gouvernante oder eine Gesellschafterin oder sonst irgendetwas brauchen. Später würde die junge Dame erwarten, auf seine Kosten in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Dabei spielte Geld natürlich keine Rolle. Davon besaß er genug. Aber er war einfach nicht bereit, diese neuen Pflichten zu übernehmen.

Andererseits … Ein Gentleman war für das Wohlergehen seiner Verwandten verantwortlich. Auch besaß der Duke ein erstaunlich weiches Herz und eine lebhafte Fantasie. Im Gegensatz zu den meisten anderen Männern konnte er sich vorstellen, was es für ein junges Mädchen bedeutete, allein und ohne männlichen Schutz in der Welt zu stehen.

Seine graublauen Augen blitzten auf, und ein Lächeln erhellte sein Gesicht. „Also gut, Harriet. Schreib ihr, dass sie uns willkommen ist. Ich kann mich wirklich nicht darum kümmern. Prinny hat es sich in den Kopf gesetzt, den König von Frankreich in Dover zu begrüßen. Mir ist die Aufgabe zugefallen, alles für dieses Treffen vorzubereiten. Ich weiß nicht recht, ob ich mir wünschen sollte, das Wetter wäre weniger schön. Bei Regen würden jedenfalls nicht so viele Neugierige die Straßen säumen, und die Sicherheit des Regenten und seines königlichen Gastes wäre leichter zu gewährleisten.“ Mit gerunzelter Stirn schaute er zum Fenster hin, durch das ein Stück des strahlend blauen Himmels zu sehen war. „Ich muss mich auf den Weg machen. Man erwartet mich in Carlton House.“

Sophie freute sich über das herrliche Frühlingswetter. Die Überfahrt war ruhig verlaufen, kein Sturm aufgezogen. Und als sie von Deck aus den ersten Blick auf die weißen Klippen von Dover erhaschte, begann ihr Herz schneller zu schlagen. Erstaunt gestand sie sich ein, dass sie darauf brannte, ihre alte Heimat wiederzusehen.

Allerdings musste sie sich noch eine Weile gedulden, denn solange der französische König und sein Gefolge nicht an Land gegangen waren, durfte kein anderes Schiff in den Hafen einfahren. Dann jedoch ging plötzlich alles sehr schnell. Der Anker wurde gelichtet, Seeleute eilten hierhin und dorthin. Wind blähte die Segel, und dann fand sich das Schiff auch schon längsseits der „Sea Maid“ wieder. Das Gepäck wurde an Land gebracht. Und schon eine halbe Stunde später standen die Myers und Sophie auf dem Kai.

Staunend beobachtete Sophie das Chaos um sich herum. Da gab es Hafenarbeiter und einfache Reisende, aber auch vornehm gekleidete Gentlemen, die hoch zu Ross unterwegs waren, darunter eine Gruppe prachtvoll Uniformierter, die zweifellos zur berittenen Garde gehörten.

Auch zahlreiche Kutschen drängten sich auf dem Kai. „Das dort“, meinte Lord Myers und wies auf einen mit einem auffälligen Wappen geschmückten Wagen, „muss die Karosse des Prinzregenten sein.“

Sophie reckte den Hals, bekam jedoch weder Prinny noch den französischen König zu sehen. Ihr Blick blieb an einem Gentleman hängen, der inmitten all der Aufregung als Einziger die Ruhe zu bewahren schien. Mit knappen Worten und unmissverständlichen Gesten sorgte er für Ordnung. Obwohl er keine Uniform, sondern einen elegant geschnittenen blauen Gehrock, ein schneeweißes Krawattentuch und Wildlederbreeches trug, wirkte er wie ein befehlsgewohnter Offizier. Unter seinem Hut schauten blonde Locken hervor.

Als er zufällig in Sophies Richtung schaute, machte ihr Herz einen Sprung.

„Wir werden wohl warten müssen, bis sich die hohen Herren auf den Weg nach London machen“, meinte Lady Myers seufzend. „Nur gut, dass wenigstens das Wetter erträglich ist.“

Tatsächlich war es ein für englische Verhältnisse ungewöhnlich schöner Frühlingstag. Doch am Hafen herrschte ein solches Gewühl, dass kaum jemand dem Sonnenschein oder den am blauen Himmel segelnden Möwen Beachtung schenkte.

„Ich fürchte“, bemerkte Lord Myers, „es war keine gute Idee, sich dem Gefolge des französischen Königs anzuschließen. Vielleicht sollten wir ihm und all jenen, die hier sind, um ihn zu begrüßen, einen ordentlichen Vorsprung gönnen. Wir könnten unterdessen eine Erfrischung zu uns nehmen.“

Sein Vorschlag stieß auf allgemeine Zustimmung. Doch als die kleine Gruppe sich dem nächsten Gasthof näherte, trat ihnen der blonde Gentleman, der Sophie zuvor aufgefallen war, in den Weg. „Ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie erst eintreten können, wenn Seine Königliche Hoheit abgereist ist.“

„Aber dies ist ein öffentliches Gasthaus“, widersprach Sophie. „Nach dem Gesetz muss jeder hier bedient werden.“

Aus graublauen Augen musterte er sie kurz. Ihr abgetragener Mantel und der Strohhut mit dem schwarzen Bändchen verliehen ihr nicht das Aussehen einer hochgestellten Persönlichkeit. Vermutlich war sie die Gesellschafterin einer vornehmen Dame. Allerdings entdeckte er nichts Unterwürfiges an ihr. Im Gegenteil. Ihre Haltung war selbstbewusst, und ihre braunen Augen blitzten unternehmungslustig. Sie schien genau zu wissen, dass sie im Recht war, aber sie schien daran zu zweifeln, dass man ihr dieses Recht auch zugestehen würde. Dieser Widerspruch ließ sie irgendwie verletzlich erscheinen.

„Nun, Miss“, sagte der Gentleman, „Sie werden verstehen, dass die Sicherheit und die Wünsche des Prinzregenten im Moment an erster Stelle stehen.“

Ehe Sophie sich dazu äußern konnte, meinte Lady Myers: „Wohin sollen wir uns wenden, Sir? Wir sind durstig und …“

„Im Garten des Gasthauses hat man Tische und Stühle aufgestellt. Bei diesem Wetter können Sie gewiss dort Platz nehmen. Ich werde Captain Summers bitten, dem Wirt Bescheid zu geben, damit er Sie bedient.“ Damit wandte er sich ab und gab einem jungen Offizier, der in der Nähe stand, einen Wink.

In diesem Augenblick wurde die Tür des Gasthauses geöffnet. Zwei sehr beleibte Männer traten in die Sonne hinaus. Langsam schritten sie auf die Kutsche des Prinzregenten zu.

„O Gott“, flüsterte Sophie, „ich erkenne Louis XVIII. Dann muss der andere wohl Prinny sein?“

„Ja“, stimmte der junge Offizier zu, während er interessiert beobachtete, wie die Kutsche sich zur Seite neigte, als die schwergewichtigen königlichen Hoheiten einstiegen.

Ein paar Männer der berittenen Garde lenkten ihre Pferde vor die Kutsche, andere reihten sich hinter dem Gefährt ein. Schon drängten auch andere Wagen herbei, denn gleich würde die Prozession sich in Bewegung setzen. Sophie entdeckte den Gentleman, der sie so beeindruckt hatte, jetzt hoch zu Ross, wie er den Blick über die Menschen schweifen ließ, so als erwarte er, dass es Probleme geben würde. Doch zum Glück blieb alles ruhig.

„Wenn Sie wünschen“, meinte Captain Summers freundlich, „können Sie jetzt die Gaststube betreten. Ich selbst muss mich leider verabschieden. Die Pflicht ruft.“

Während sie den Myers in den Gasthof folgte, dachte Sophie, dass der französische König und der englische Prinzregent weit weniger beeindruckend wirkten als der blonde Gentleman im blauen Rock.

2. KAPITEL

Als Sophie am nächsten Morgen erwachte, wusste sie zunächst nicht, wo sie war. Sie richtete sich im Bett auf und schaute sich verwirrt um. Durch einen dünnen Vorhang drangen helle Sonnenstrahlen ins Zimmer, sodass man die Uhr auf dem Kaminsims erkennen konnte. Die Zeiger standen auf halb elf.

Himmel, dachte Sophie, so lange habe ich seit Jahren nicht geschlafen! Im gleichen Moment wurde ihr klar, wo sie sich befand. Am vergangenen Abend hatte sie London erreicht!

Jetzt erinnerte sie sich auch daran, wie beschwerlich die letzte Etappe der Reise gewesen war. Hatte schon der französische König seinem Gefolge unendliche Geduld abverlangt, so schien der Prinzregent noch weniger Rücksicht auf seine Mitmenschen zu nehmen. Obwohl er Dover mindestens eine Stunde vor den Myers und Sophie verlassen hatte, holten sie ihn und seine zahlreichen Begleiter schon bald ein. Prinny bestand nämlich darauf, seine Untertanen bei jeder Gelegenheit zu grüßen. Seine Kutsche und natürlich auch alle anderen Wagen und die Berittenen mussten dann anhalten, damit er den Menschen zuwinken konnte. Er war so von sich überzeugt, dass er gar nicht bemerkte, welch große Abneigung man ihm im Allgemeinen entgegenbrachte.

Tatsächlich schien der attraktive blonde Gentleman, der schon auf dem Kai Sophies Interesse geweckt hatte, in ständiger Sorge um Prinnys Sicherheit zu sein. Sehr genau beobachtete er alle, die sich dem Tross näherten. Zwar wirkte er ruhig und ausgeglichen, dennoch meinte Sophie, deutlich seine Ungeduld zu spüren.

Nur ein einziges Mal verhielt er sich ungewöhnlich. Der Regent war ausgestiegen, um einem kleinen Jungen, der die Kutsche voller Bewunderung anstarrte, etwas in die Hand zu drücken. Der Knabe schien allerdings nicht zu wissen, was er mit dem Geschenk anfangen sollte. Da beugte der blonde Reiter im blauen Rock sich zu ihm hinunter und flüsterte ihm etwas zu. Lachend nickte der Kleine, ehe er davonlief.

Sophie war froh, dass es solche Begebenheiten zu beobachten gab. Wie langweilig wäre die Reise sonst gewesen! Es war unmöglich, den Prinzregenten und sein Gefolge zu überholen. Doch die frühlingshafte Landschaft, die von Gänseblümchen übersäten Wiesen und der Anblick der Menschen, die auf den Feldern verschiedene Arbeiten verrichteten, sorgten für Abwechslung. Zugleich vermittelten diese Bilder ihr das ungewohnte Gefühl, endlich nach Hause zu kommen. Ja, dies war England. Und sie war froh, wieder hier zu sein!

London jedoch erschien ihr fremd. Die Stadt war ebenso überfüllt und laut wie Paris. Händler priesen ihre Waren an, Kutschen ratterten über das Kopfsteinpflaster, Pferde wieherten, und erstaunlicherweise war sogar ab und zu der Gesang eines Vogels zu hören.

Noch immer folgte die von Lord Myers gemietete Kutsche dem königlichen Tross, der erschreckend langsam vorankam. Menschenmassen drängten sich in den Straßen. „Wo ist Ihre Gemahlin?“, rief jemand dem Prinzregenten zu. Andere nahmen den Ruf auf.

„Worum geht es?“, erkundigte Sophie sich bei Lord Myers.

„Sie wollen die Princess of Wales sehen“, gab dieser zurück. „Sie ist bei der Bevölkerung beliebter als der Prinzregent, der gern so tut, als gäbe es seine Gemahlin gar nicht.“

Ein Schauer überlief Sophie. Glückliche Ehen waren wirklich die Ausnahme! Erneut beschloss sie, sich auf ihr Buch zu konzentrieren, ganz gleich, wie sehr alle Welt sie auch drängen mochte, sich einen Bräutigam zu suchen.

Als die Reisenden endlich das Stadthaus der Myers erreichten, waren alle so erschöpft, dass sie nur rasch einen kalten Imbiss zu sich nahmen, ehe sie ins Bett fielen.

Ein sehr bequemes Bett, wie Sophie sich jetzt sagte, als sie die Füße auf den Boden setzte und sich umschaute. Jemand hatte ihr eine Waschschüssel mit Wasser gebracht. Auch Handtücher lagen bereit. Gut, sie würde sich rasch fertig machen und sich dann ins Frühstückszimmer begeben.

Was mochte der erste Tag ihres neuen Lebens für sie bereithalten? Würde Lady Myers von ihr erwarten, dass sie gleich heute beim Duke of Belfont vorsprach? Die Vorstellung erfüllte sie mit Besorgnis und Unruhe. Andererseits wollte sie den Myers auf keinen Fall länger als unbedingt nötig zur Last fallen.

Wie sich herausstellte, hatte Lord Myers das Haus schon verlassen, um irgendwelchen beruflichen Pflichten nachzukommen. Lady Myers allerdings saß bei einer Tasse Tee über die Zeitung gebeugt, als Sophie eintrat.

Über einen Strauß Frühlingsblumen hinweg lächelten die Frauen einander zu.

Später – Sophie hatte ein bescheidenes Frühstück zu sich genommen – schlug Lady Myers vor, ihr Schützling solle sich etwas Neues zum Anziehen kaufen.

Sophie schaute an sich hinunter. Sie trug ein lila Musselinkleid, das so einfach geschnitten war, das man meinen konnte, es sei für ein Kind entworfen worden. Die Bündchen der kleinen Puffärmel und die hohe Taille waren mit Bändern in einem dunkleren Ton abgesetzt. Doch es gab keine Rüschen, Schleifen oder sonstige Verzierungen.

„Denken Sie, ich sollte Trauerkleidung tragen, wenn ich meinen Großonkel aufsuche?“, fragte sie unsicher.

„Denken Sie selbst das?“

Sophie schüttelte den Kopf. „Nach dem Tod meiner Mutter habe ich nicht nur um sie, sondern auch um meinen Vater getrauert. Also, ich meine, um den Mann, den ich früher gekannt hatte. Sie wissen ja selbst, wie Papa sich in den letzten Jahren verändert hat.“

Lady Myers nickte. „Lila ist sicher die richtige Farbe. Allerdings wäre ein etwas eleganteres Kleid vielleicht angemessener.“

„Ich kann mir nicht in jeder Saison eine neue Garderobe schneidern lassen, nur weil sich der Geschmack der Menschen ändert“, gestand Sophie. „Einfache Schnitte kommen zum Glück nicht so schnell aus der Mode.“

Wieder nickte ihre Freundin. Es gilt, dachte sie, das Mitleid des Duke zu wecken; und das wird sicher leichter sein, wenn seine Nichte nicht aussieht, als sei sie gerade einem Modemagazin entstiegen.

Sophie zitterte am ganzen Körper, als der Landauer der Myers in der South Audley Street vor dem Stadtpalais des Dukes zum Stehen kam. Wäre sie allein gewesen, so hätte sie wohl niemals den Mut aufgebracht, die Stufen zum Haupteingang hinaufzusteigen und den Türklopfer zu betätigen. Dabei gab es doch nichts, wovor sie sich fürchten musste! Sie war mit dem Duke of Belfont verwandt. Erst wenn er nicht bereit war, sie als Mitglied der Familie willkommen zu heißen, würde sie einen Grund haben, sich Sorgen zu machen.

„Lady Myers und Miss Sophia Langford“, erklärte Lady Myers dem Butler, der die Tür öffnete, und reichte ihm ihre Visitenkarte. „Wir möchten den Duke of Belfont in einer privaten Angelegenheit sprechen.“

„Ich werde nachschauen, ob Seine Gnaden daheim ist. Bitte nehmen Sie Platz!“ Er wies auf mehrere zierliche Stühle, die in der Eingangshalle standen.

Sophie war jedoch zu aufgeregt, um still zu sitzen. Sie schaute sich in dem beeindruckenden, mit Marmor gefliesten Raum um, bewunderte die breite Treppe, die nach oben führte, und zählte staunend die große Zahl der geschlossenen Türen, die zu den Zimmern führten, die von der Halle abgingen.

„Ich wünschte, ich wäre nicht hergekommen“, murmelte sie. „Ich fühle mich so entsetzlich unbedeutend.“

„Welch ein Unsinn!“, widersprach Lady Myers. „Warten Sie nur ab, bis …“

Autor

Mary Nichols

Mary Nichols wurde in Singapur geboren, zog aber schon als kleines Mädchen nach England. Ihr Vater vermittelte ihr die Freude zur Sprache und zum Lesen – mit dem Schreiben sollte es aber noch ein wenig dauern, denn mit achtzehn heiratete Mary Nichols. Erst als ihre Kinder in der Schule waren,...

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