Gefährliches Spiel mit Lord Lazarus

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London, 1737: Endlich hat Lord Lazarus die Richtige gefunden! Nicht etwa, um mit ihr die ausschweifende Leidenschaft zu genießen, für die der Adelige in gewissen Kreisen berüchtigt ist. Nein, die schöne Temperance soll ihm dabei helfen, einen Mörder dingfest zu machen. Dieser hält sich in dem berüchtigten Viertel St. Giles versteckt, wo Temperance ein Heim für Findelkinder betreibt. Doch was der verwegene Lord mit der blutjungen Witwe erlebt, ist gefährlicher als die Verbrecherjagd, verwirrender als das Straßenlabyrinth von St. Giles - und verruchter als alles, was Lazarus bisher in den Armen einer Frau erfahren hat …


  • Erscheinungstag 01.03.2019
  • Bandnummer 79
  • ISBN / Artikelnummer 9783733739621
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine großartige Schwester Susan,
obwohl sie sich immer noch über meine eher
mäßigen Computerkenntnisse lustig macht
und es jedes Jahr aufs Neue für nötig hält,
mir das Internet zu erklären.
Es bringt meinen Kopf zum Bersten.
Ich habe dich lieb!

DANKSAGUNG

Für all die wundervollen Menschen, die mir bei diesem Buch geholfen haben: Allen voran meine Agentin, Susannah Taylor, die vollkommen selbstlos die besten exotischen Restaurants gefunden hat, in denen wir in den letzten fünf Jahren während der RWA National Conferences gegessen haben. Für meine Herausgeberin Amy Pierpoint, die immer noch blinzeln muss, wenn sie eines meiner unzusammenhängenden Book-Proposals bekommt. Für das Grand Central Publishing Art Department, allen voran Diane Luger, das immer wieder fantastische Ideen für meine Buchcover hatten. Für das unglaubliche GCP Marketing Team, besonders Bob Levine (Hi, Bob!), die dafür sorgen, dass man meine Bücher tatsächlich im Geschäft kaufen kann, und natürlich für meine großartige Lektorin Carrie Andrews, die die Leser auf der ganzen Welt vor meinen schrecklichen Rechtschreibfehlern rettet.

Ich danke euch allen.

1. KAPITEL

Vor langer Zeit lebte in einem längst vergessenen Land ein König, der von allen gefürchtet und von niemandem geliebt wurde. Sein Name war König Lockedheart.

Aus King Lockedheart.

London, Februar 1737

Jede Frau, die sich um Mitternacht in St Giles auf die Straße wagte, musste entweder sehr dumm oder sehr verzweifelt sein. Oder beides, dachte Temperance Dews trocken.

„Es heißt, dass der Geist von St Giles in Nächten wie dieser auf die Jagd gehe“, wisperte Nell Jones, Temperance’ Dienstmädchen, während sie einer der widerlichen Pfützen auswich.

Temperance sah Nell zweifelnd an. Nell war drei Jahre lang mit fahrenden Schauspielern umhergezogen und neigte seitdem zur Melodramatik.

„Es gibt keinen Geist“, erwiderte Temperance. Die kalte Winternacht war auch so schon beängstigend genug.

„Oh doch, den gibt es.“ Nell zog den Säugling in ihren Armen enger an sich. „Er trägt eine schwarze Maske und ein buntes Gewand wie ein Harlekin. Und er besitzt ein spitzes Schwert.“

Temperance runzelte die Stirn. „Ein buntes Gewand? Das klingt ja nicht gerade nach einem Geist.“

„Wenn es der Geist eines Harlekins ist, der aus dem Reich der Toten zurückkehrt, um die Lebenden heimzusuchen, schon.“

„Weil er in den Zeitungen schlechte Kritiken bekommen hat?“

Nell rümpfte die Nase. „Er ist entstellt.“

„Wer will das wissen? Ich denke, er trägt eine Maske!“

Sie erreichten eine Kreuzung. Für einen kurzen Moment glaubte Temperance, unweit von hier einen Lichtschein zu sehen. Sie hielt ihre Laterne höher und umfasste die alte Pistole. Die Waffe war so schwer, dass Temperance’ Arm schmerzte. Sie hätte besser eine Tasche mitnehmen sollen, um sie zu transportieren, doch dort wirkte sie alles als andere abschreckend. Die Waffe war geladen, doch Temperance wusste nicht, wie man damit umging. Außerdem saß nur ein Schuss im Lauf.

Dennoch sah sie gefährlich aus, und dafür war Temperance dankbar. Die Nacht war dunkel, und der Wind pfiff unheimlich um die Ecken. Er trug den Gestank von Exkrementen und Verwesung mit sich und verbreitete die für St Giles so typischen Geräusche: laute, streitende Stimmen, liebestolles Stöhnen und Gelächter, sowie hin und wieder einen angstvollen Schrei, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. St Giles konnte selbst die furchtloseste Frau so verschrecken, das sie um ihr Leben rannte.

Dazu bedurfte es nicht einmal Nells Kommentare.

Entsetzlich entstellt“, fuhr Nell fort, ohne auf Temperance’ Einwand zu reagieren. „Es heißt, seine Lippen und seine Lider seien verkohlt, weil er selbst vor langer Zeit bei einem Brand ums Leben kam. Nimm dich in Acht, wenn er dich mit seinen gelben Zähnen angrinst. Denn dann will er dir die Eingeweide herausreißen.“

Temperance rümpfte angeekelt die Nase. „Nell!“

„So erzählen es sich die Leute“, sagte Nell unschuldig. „Der Geist weidet seine Opfer aus und spielt mit ihren Eingeweiden, bevor er in die Nacht entflieht.“

Temperance erschauerte. „Warum sollte er so etwas tun?“

„Neid“, erwiderte Nell. „Er beneidet die Lebenden.“

„Ich glaube nicht an Gespenster.“ Temperance atmete tief durch, als sie in einen kleinen, elenden Hof einbogen. Am anderen Ende des Hofs unterhielten sich zwei Männer leise, doch sie eilten davon, als die Frauen näher kamen. Temperance atmete auf. „Ich bin nur ungern im Dunkeln draußen unterwegs.“

Nell tätschelte den Rücken des Säuglings. „Nur noch eine halbe Meile, dann können wir die Kleine endlich zu Bett bringen und morgen früh eine Amme rufen.“

Temperance biss sich auf die Lippe, als sie in eine andere Gasse einbogen. „Glaubst du, sie wird den Morgen noch erleben?“

Nell schwieg. Temperance beschleunigte ihren Schritt. Das Baby war vermutlich erst wenige Wochen alt, doch es gab keinen Laut mehr von sich, seitdem sie es aus den Armen seiner verstorbenen Mutter geborgen hatten. Jedes gesunde, putzmuntere Kind protestierte dagegen lautstark. Temperance durchfuhr ein eiskalter Schauer bei dem Gedanken, diesen gefährlichen Ausflug vielleicht ganz umsonst gemacht zu haben.

Aber hatte sie überhaupt eine Wahl? Als sie im Heim für Waisen und Findelkinder die Nachricht erhielt, dass dieses Kind ihre Hilfe benötigte, war es heller Tag. Temperance konnte es nicht riskieren, dass dieses kleine Mädchen über Nacht an Vernachlässigung starb oder verstümmelt oder sogar verkauft wurde, nur weil sie selbst mit ihrem Besuch bis zum nächsten, sicheren Morgen wartete. Es kam nicht selten vor, dass Säuglinge wie dieser misshandelt, verstümmelt und dann an einen Bettler oder ein Freudenhaus verkauft wurde. Skrupellose Mitmenschen stachen ihnen einfach ein Auge aus oder brachen ihnen die Glieder. Nein, Temperance hatte wirklich keine Wahl gehabt. Sie musste das Kind vor dem nächsten Morgen retten.

Dennoch würde es ihr besser gehen, wenn sie das Waisenhaus endlich erreichten.

Sie bogen in eine enge Gasse ein. Die baufälligen Häuser zu beiden Seiten neigten sich bedrohlich. Nell musste hinter Temperance gehen, um die Wände des Hauses nicht zu streifen. Eine dürre Katze drückte sich an ihnen vorbei, und schon durchdrang ein gellender Schrei die Stille.

Temperance zögerte.

„Da vorne ist jemand“, flüsterte Nell. Sie hörten Kampfgeräusche und dann plötzlich einen weiteren gellenden Schrei.

Temperance schluckte. Sie saßen in der Falle. Vor ihnen lag kein weiterer Abzweig. Sie konnten entweder weitergehen oder umkehren, was einen gefährlichen Umweg von zwanzig Minuten bedeuten würde.

Doch die Nacht war kalt, und diese Kälte war gefährlich für den Säugling.

„Bleib in meiner Nähe“, flüsterte sie Nell zu.

„Ich klebe an Ihren Fersen“, murmelte Nell.

Temperance drückte den Rücken durch und hielt die Pistole mit fester Hand. Ihr jüngerer Bruder Winter hatte ihr erklärt, dass sie damit zielen und abdrücken musste. So schwer konnte es also nicht sein. Das Licht ihrer Laterne beleuchtete ihren Weg, als sie einen weiteren verwinkelten Hof betraten. Sie blieb für einen Augenblick stehen.

Im Schein der Laterne erkannte sie einen Mann, der am Boden lag. An seinem Kopf klaffte eine blutende Wunde. Doch Temperance erstarrte aus einem ganz anderen Grund. Mord und Totschlag waren in dieser Gegend Londons nichts Ungewöhnliches. Doch der Mann, der über dem am Boden Liegenden kauerte, war es schon. Er trug einen riesigen schwarzen Umhang, der ihn wie die Schwingen eines riesigen Raubvogels umgab, und hielt einen langen, schwarzen Stock in der Hand, dessen Knauf ebenso silbern glänzte wie sein langes, glattes Haar. Obwohl sein Gesicht nahezu vollständig im Dunkeln lag, funkelten seine Augen unter dem Rand eines schwarzen Dreispitzes hervor. Temperance spürte den Blick des Fremden, als würde er sie berühren.

„Der Herr bewahre uns vor allem Übel“, murmelte Nell ängstlich und zog Temperance mit sich. „Kommt, rasch!“

Die Frauen rannten über den Hof. Ihre Schuhe klapperten auf dem Kopfsteinpflaster. Sie liefen in eine weitere Gasse und ließen das Verbrechen hinter sich.

„Wer war das, Nell?“, fragte Temperance atemlos. „Kanntest du ihn?“

Die Gasse mündete in einer breiteren Straße. Temperance fühlte sich wieder sicher und entspannte sich ein wenig.

Nell spuckte angewidert aus. Temperance sah sie fragend an. „Kennst du diesen Mann?“

„Kennen ist wohl zu viel gesagt“, erwiderte Nell, „aber ich habe ihn schon hier in der Gegend gesehen. Es ist Lord Caire, doch von ihm hält man sich besser fern.“

„Und warum?“

Nell schüttelte den Kopf und presste ihre Lippen fest aufeinander. „Ich sollte mit Euch nicht über Männer wie ihn reden.“

Temperance ignorierte die rätselhafte Bemerkung. Sie befanden sich endlich in einer etwas besseren Gegend. Rechts und links der Straße befanden sich Geschäfte, die sogar zu dieser späten Stunde noch beleuchtet waren.

Temperance bog um eine weitere Ecke in die Maiden Lane ein und sah bereits das Waisenhaus. Es war so groß und schlecht gebaut wie all die anderen Häuser um es herum auch.

Durch die wenigen engen Fenster fiel kaum Licht, und an der Tür befand sich auch kein Schild. Seit Gründung des Hauses vor fünfzehn Jahren hatte es ihm nie an armen Kindern gefehlt.

Verlassene und verwaiste Kinder gab es zuhauf in St Giles.

„Sicher daheim“, sagte Temperance, als sie die Tür erreichten. Sie stellte die Laterne auf der ausgetretenen Stufe ab und zog den schweren Eisenschlüssel hervor, der an einem Band um ihre Taille hing. „Jetzt freue ich mich auf eine Tasse Tee.“

„Ich bringe die Kleine ins Bett“, erwiderte Nell, als sie den kleinen Eingangsbereich betraten. Er war makellos sauber, doch der Putz bröckelte von den Wänden und die Dielenbretter waren verzogen.

„Danke.“ Temperance zog ihren Mantel aus und hängte ihn gerade an einen Kleiderhaken, als ein großer Mann am anderen Ende des Korridors erschien.

„Temperance.“

Sie schluckte und drehte sich um. „Oh! Winter, ich wusste nicht, dass du schon da bist.“

„Offensichtlich“, erwiderte ihr Bruder trocken. Er nickte dem Dienstmädchen zu. „Guten Abend, Nell.“

„Sir.“ Nell knickste und sah unruhig vom Bruder zur Schwester. „Ich sehe dann mal nach den Kindern, ja?“

Den Säugling eng an sich gedrückt eilte sie die Treppen hinauf. Temperance musste den Unmut ihres Bruders ganz allein ertragen.

Sie richtete sich auf und ging den engen Flur entlang und an Winter vorbei in die Küche. Die Kinder aßen pünktlich um fünf Uhr zu Abend, doch Temperance und Winter hatten bisher noch nichts gegessen.

„Ich wollte gerade einen Tee kochen“, sagte Temperance und schürte das Feuer. Soot, die schwarze Katze des Waisenhauses, erhob sich von ihrem Platz vor dem Herd und streckte sich. „Es ist noch etwas Rindfleisch von gestern übrig und ein paar frische Radieschen, die ich heute Morgen auf dem Markt gekauft habe.“

Winter seufzte. „Temperance.“

Sie suchte den Wasserkessel. „Das Brot ist ein bisschen altbacken, aber ich könnte es rösten, wenn du magst.“

Er schwieg. Temperance drehte sich schließlich um, um sich dem Unausweichlichen zu stellen.

Es traf sie schlimmer, als befürchtet. Winter sah sie so entsetzlich traurig und enttäuscht an. Sein langes, dünnes Gesicht wirkte eingefallen. Temperance hasste diesen Anblick, sie fühlte sich einfach schrecklich.

„Es war noch hell, als wir losgegangen sind“, sagte sie leise.

Winter seufzte erneut. Er nahm seinen runden, schwarzen Hut ab und setzte sich an den Küchentisch. „Konntest du nicht warten, bis ich wieder da bin?“

Temperance blickte auf. Winter war zwar erst fünfundzwanzig Jahre alt, aber er wirkte bereits wie ein alter Mann. Er sah müde aus und abgemagert, und seine breiten Schultern hingen unter seinem schlecht sitzenden schwarzen Mantel. Seit fünf Jahren unterrichtete er beinahe jeden Tag in der kleinen Schule, die zum Waisenhaus gehörte.

Seit Vaters Tod im letzten Jahr lag eine schwere Last auf seinen Schultern. Concord, ihr ältester Bruder, hatte die Familienbrauerei übernommen, während sich Asa, der zweitälteste Bruder, um sein eigenes geheimnisvolles Unternehmen kümmerte. Das Waisenhaus interessierte ihn nicht. Ihre Schwestern Verity, die älteste der Makepeace-Familie, und Silence, das Nesthäkchen, waren beide verheiratet. Somit blieb das Waisenhaus an Winter hängen. Und obwohl ihm Temperance seit dem Tod ihres Ehemannes vor neun Jahren half, wo es nur ging, wuchs ihm die Arbeit über den Kopf. Sie war zu viel für einen Mann allein. Temperance sorgte sich um Winters Wohlergehen, doch ihr Vater hatte einst das Waisenhaus und die Schule gegründet, und Winter sah es als seine Pflicht an, beides am Leben zu erhalten.

Auch wenn er damit seine Gesundheit ruinierte.

Sie füllte den Kessel mit Wasser aus einem Krug an der Hintertür. „Wenn wir auf dich gewartet hätten, wären wir in vollkommener Dunkelheit losgegangen. Wer weiß, ob das Kind dann noch da gewesen wäre.“ Sie sah Winter an, während sie den Kessel über das Feuer hängte. „Außerdem hast du schon genug zu tun.“

„Glaubst du, die Arbeit wird weniger, wenn ich meine Schwester verliere?“

Temperance blickte schuldbewusst zu Boden.

Die Stimme ihres Bruders wurde sanfter. „Ganz abgesehen von der Trauer, die ich mein Leben lang verspüren würde, wenn dir heute Nacht etwas zugestoßen wäre.“

„Nell kannte die Mutter des Mädchens. Sie war keine fünfzehn Jahre alt.“ Temperance nahm das Brot aus dem Kasten und schnitt es in dünne Scheiben. „Außerdem hatte ich die Pistole dabei.“

„Und du hättest sie benutzt, sobald du bedroht worden wärst?“

„Natürlich“, sagte sie überzeugt.

„Und was hättest du getan, wenn der Schuss danebengegangen wäre?“

Sie rümpfte die Nase. Winter kannte dank Vaters umsichtiger Art alle Unwägbarkeiten einer Auseinandersetzung. Alle Brüder waren darin ausgebildet worden, die Schwestern nicht.

Temperance nahm die Brotscheiben und ging hinüber zum Feuer, um sie zu rösten. „Jedenfalls ist nichts passiert.“

„Heute Nacht nicht.“ Winter seufzte erneut. „Du musst mir versprechen, dass du nie wieder so etwas Dummes tun wirst.“

Temperance murmelte etwas vor sich hin und blickte angestrengt auf das Brot. „Wie war es in der Schule?“

Sie befürchtete, dass er sich nicht so leicht ablenken lassen würde, doch Winter stieg auf die Frage ein. „Es war ein guter Tag. Der kleine Samuel hat sich endlich an seine Lateinstunden erinnert, und ich musste keinen der Jungen bestrafen.“

Temperance sah ihn mitfühlend an. Sie wusste, dass Winter die Kinder nur ungern mit einem Hieb auf die Handflächen disziplinierte, einen Jungen mit dem Rohrstock zu versohlen war für ihn reine Qual. Ließ es sich nicht vermeiden, kam Winter deprimiert und traurig nach Hause.

„Das freut mich“, sagte sie schlicht.

Er ruckelte auf seinem Stuhl. „Ich war zum Mittagessen hier, habe dich aber nicht angetroffen.“

Temperance nahm das Brot vom Feuer und legte es auf den Tisch. „Da habe ich Mary Found gerade zu ihrer neuen Stelle gebracht. Ich glaube, sie wird sich dort wohlfühlen. Ihre Herrin schien sehr nett zu sein, und sie hat nur fünf Pfund Lehrgeld verlangt, um Mary zur Zofe auszubilden.“

„Hoffentlich schafft sie es, dem Kind etwas beizubringen. Ich möchte Mary Found nicht wiedersehen.“

Temperance goss heißes Wasser in ihre kleine Teekanne und trug die Kanne zum Tisch. „Du klingst zynisch.“

Winter legte seine Hand über seine Augen. „Vergib mir. Zynismus ist ein schreckliches Laster. Ich werde versuchen, mein Temperament im Zaum zu halten.“

Temperance setzte sich und goss ihrem Bruder Tee ein. Sie wartete. Ihn bedrückte zweifellos mehr als nur ihr nächtliches Abenteuer.

Schließlich sagte er: „Mr Wedge kam heute Mittag hier vorbei.“

Mr Wedge war ihr Vermieter. Temperance sah auf. „Und was hat er gesagt?“

„Er gibt uns noch zwei Wochen, dann lässt er das Waisenhaus zwangsräumen.“

„Um Himmels willen.“

Temperance sah auf das kleine Stück Rindfleisch hinab, das auf ihrem Teller lag. Es war sehnig und hart, und stammte von einem undefinierbaren Teil einer Kuh, aber sie hatte sich darauf gefreut. Nun war ihr Appetit verflogen. Sie lagen mit den Zahlungen an Mr Wedge zurück. Vergangenen Monat konnten sie nur einen Teil der Kosten begleichen, in diesem Monat jedoch noch gar keine Miete zahlen. Vielleicht hätte sie die Radieschen nicht kaufen sollen, dachte Temperance missmutig. Aber die Kinder hatten in der letzten Woche nur Suppe und Brot bekommen.

„Wenn uns Sir Gilpin doch nur in seinem Testament bedacht hätte“, murmelte sie.

Sir Stanley Gilpin war einst ein guter Freund ihres Vaters und großzügiger Gönner des Waisenhauses gewesen. Der frühere Theaterbesitzer hatte ein Vermögen mit der South Sea Company gemacht und sich rechtzeitig zurückgezogen, bevor die berüchtigte Blase platzte. Doch nach seinem völlig überraschenden Tod vor sechs Monaten steckte das Waisenhaus in finanziellen Schwierigkeiten.

Nur mit Mühe kamen Winter und Temperance über die Runden. Und obwohl sie all ihre Ersparnisse aufbrauchten, reichte es nicht.

„Sir Gilpin war ein ungewöhnlich großzügiger Mann“, erwiderte Winter. „Ich habe keinen anderen Gentleman gefunden, der so bereitwillig ein Waisenhaus für arme Kinder unterstützt.“

Temperance stocherte in ihrem Fleisch herum. „Und was sollen wir jetzt tun?“

„Der Herr wird es richten“, meinte Winter. Er schob seinen noch halb vollen Teller beiseite und stand auf. „Und wenn er es nicht tut, nun, dann kann ich vielleicht abends ein paar Privatschüler unterrichten.“

„Du arbeitest doch jetzt schon zu viel. Du schläfst ja kaum noch“, widersprach Temperance.

Winter zuckte mit den Schultern. „Aber wie sollte ich es mir je verzeihen, wenn die Unschuldigen, die wir beschützen, auf die Straße geworfen werden?“

Temperance blickte auf ihren Teller herab. Darauf wusste sie auch keine Antwort.

„Komm.“ Ihr Bruder streckte ihr lächelnd die Hand entgegen. Winters Lächeln war so wertvoll. Wenn er lächelte, schien sein ganzes Gesicht zu leuchten. Er wirkte dann beinahe jungenhaft.

Sein Lächeln war so ansteckend, dass auch Temperance sich anstecken ließ. „Wohin gehen wir?“

„Wir besuchen unsere Schützlinge“, antwortete Winter. Er nahm eine Kerze und führte Temperance zur Treppe. „Ist dir je aufgefallen, wie engelsgleich sie im Schlaf aussehen?“

Temperance lachte, als sie die schmale Holztreppe zum nächsten Stockwerk emporstieg. Vom kleinen Korridor dort führten drei Türen ab. Winter leuchtete in die erste Kammer, in der sechs kleine Kinderbetten nebeneinander an der Wand standen. Hier schliefen immer zwei bis drei der kleinsten Findelkinder in einem Bett. Nell lag in einem großen Bett neben der Tür und schlief fest.

Winter trat an das Bett, das Nell am nächsten war. Zwei Säuglinge lagen darin. Ein rothaariger Junge mit rosigen Wangen, der an seiner kleinen Faust nuckelte, während er schlief. Und das kleine blasse Mädchen mit den tief liegenden Augen von heute Nacht. Kleine schwarze Locken kräuselten sich auf ihrem Kopf.

„Ist das das Kind, das du heute gerettet hast?“, fragte Winter leise.

Temperance nickte. Neben dem gesunden Jungen sah das Mädchen noch zerbrechlicher aus.

Winter berührte die Hand der Kleinen sanft mit dem Finger. „Wie gefällt dir der Name Mary Hope?“

Temperance spürte einen Kloß in ihrem Hals. „Er passt zu ihr.“

Winter nickte und verließ die Kammer, nachdem er das kleine Mädchen noch einmal vorsichtig gestreichelt hatte. Die nächste Tür führte in den Schlafsaal der Jungen. Hier teilten sich dreizehn kleine Jungen vier große Betten. Keines der Kinder war älter als neun Jahre, denn in dem Alter kamen die Kinder normalerweise zu einem Lehrherrn. Die Jungen lagen ausgestreckt da, die Gesichter vom Schlaf gerötet. Winter zog die Bettdecke über die drei Jungen, die der Tür am nächsten lagen, und schob ein Bein, das über einer Kante baumelte, zurück ins Bett.

„Man kann sich kaum vorstellen, dass sie um die Mittagszeit eine Stunde damit verbracht haben, Ratten in der Gasse zu jagen“, flüsterte Temperance.

Winter schloss leise die Tür. „Kleine Jungen wachsen so schnell zu Männern heran.“

„Ja, das tun sie.“ Temperance öffnete die letzte Tür. Sie führte in den Schlafsaal der Mädchen. Sofort hob sich ein kleines Gesicht von einem Kopfkissen.

„Habt Ihr sie gefunden, Madam?“, flüsterte Mary Whitsun heiser.

Mary war mit zwölf Jahren das älteste Mädchen hier im Waisenhaus. Ihren Namen verdankte sie dem Pfingstmorgen vor neun Jahren, als sie hier angekommen war. Und obwohl Mary Whitsun noch so jung war, musste Temperance gelegentlich Kinder in ihrer Obhut lassen. Sowie heute Nacht.

„Ja, Mary“, antwortete Temperance leise. „Nell und ich haben die Kleine in Sicherheit gebracht.“

„Das freut mich.“ Mary Whitsun gähnte.

„Du hast wieder einmal gut auf die Kinder aufgepasst“, lobte Temperance. „Aber jetzt schlaf, bald bricht der neue Tag an.“

Mary Whitsun nickte schläfrig und schloss die Augen.

Winter nahm einen Kerzenleuchter von einem kleinen Tisch neben der Tür und verließ das Zimmer als Erster. „Ich werde deinen Rat befolgen und auch zu Bett gehen. Ich wünsche dir eine gute Nacht.“

Er zündete die Kerze im Leuchter mit seiner eigenen an und reichte ihn Temperance.

„Schlaf gut“, erwiderte sie. „Ich denke, ich werde vor dem Zubettgehen noch eine Tasse Tee trinken.“

„Bleib nicht zu lange wach“, mahnte Winter. Dann strich er mit einem Finger über ihre Wange, drehte sich um und ging die Treppe hinauf.

Temperance sah ihm nachdenklich nach. Es war schon nach Mitternacht und er würde noch vor fünf Uhr in der Früh aufstehen, Bittbriefe an mögliche Gönner zu schreiben und seinen Unterricht vorzubereiten. Er würde das Morgengebet am Frühstückstisch sprechen und dann zum Unterricht eilen, um erst gegen Mittag wieder für eine Stunde und ein dürftiges Mittagessen heimzukommen. Anschließend ging der Unterricht weiter. Abends hörte er sich an, was die Mädchen den Tag über gelernt hatten, dann las er den älteren Kindern aus der Bibel vor. Doch sobald sie ihm sagte, dass sie sich um ihn sorgte, sah Winter sie nur fragend an. Wer sollte die Arbeit auch machen, wenn nicht er?

Temperance schüttelte den Kopf. Sie war müde und sollte ebenfalls ins Bett gehen. Denn auch ihr Tag begann früh, wenn auch erst um sechs Uhr. Doch sie liebte diese Augenblicke alleine am Abend bei einer Tasse in der Küche. Dafür opferte sie gern eine halbe Stunde Schlaf.

Mit dem Kerzenleuchter in der Hand ging sie die Treppe hinab. Aus Gewohnheit überprüfte sie, ob die Vordertür verschlossen und verriegelt war. Als sie in die Küche trat, rüttelte der Wind an den Fensterläden, die Hintertür klapperte. Erleichtert stellte Temperance fest, dass auch sie verriegelt war. Temperance war froh, in einer so unwirtlichen Nacht nicht mehr draußen durch die Gassen schleichen zu müssen. Sie brühte einen frischen Tee und freute sich darauf, ihn gleich ganz allein genießen zu können. Bald würde sie auf diesen Luxus verzichten müssen.

Neben der Küche befand sich eine winzige Kammer mit einem Kamin. Temperance hatte sie zu ihrer kleinen Wohnstube umgestaltet. Darin stand ein abgestoßener Sessel, der dank einer Decke wieder ansehnlich war, ein kleiner Tisch und ein Schemel, also alles das, was sie brauchte, um sich allein am wärmenden Feuer zu entspannen.

Summend stellte Temperance ihre Teekanne, die Tasse, ein wenig Zucker und den Kerzenleuchter auf ein altes Holztablett. Die wenige Milch, die sie noch besaßen, ließ sie den Kindern zum Frühstück. Eigentlich durfte sie sich auch den Zucker nicht erlauben. Beim Blick auf das kleine Schälchen biss sie sich auf die Lippe. Sie musste ihn zurückstellen, sie verdiente ihn nicht, also schob sie ihn zurück. Temperance seufzte. Sie war so müde. Mit dem Tablett in der Hand ging sie zur Kammer und stieß die Tür mit dem Rücken auf.

Erst jetzt bemerkte sie, dass sie nicht allein war.

In ihrem Sessel fläzte sich wie ein heraufbeschworener Dämon der berüchtigte Lord Caire. Sein silbergraues Haar fiel über seinen schwarzen Umhang, sein Dreispitz lag auf einem seiner Knie, und seine rechte Hand streichelte über den Knauf seines Stockes aus Ebenholz. Temperance erkannte, dass die Farbe seines Haares nichts mit seinem Alter zu tun hatte. Nur ein paar Fältchen umgaben seine verblüffend blauen Augen. Sein Mund war fest. Er konnte kaum älter als fünfunddreißig sein.

Er neigte den Kopf und sprach mit tiefer und gefährlich leiser Stimme.

„Guten Abend, Mrs Dews.“

Mrs Dews blieb völlig unbeirrt mit dem Tablett in der Hand vor ihm stehen. Diese ehrbare Frau, die hier inmitten des Elendsviertels lebte, ruhte offensichtlich in sich selbst. Sie hatte ihre Augen überrascht aufgerissen, als sie ihn sah, versuchte aber nicht wegzulaufen. Es schien sie nicht zu ängstigen, einen Fremden hier in ihrem erbärmlichen kleinen Zimmer zu sehen.

Interessant.

„Ich bin Lazarus Huntington, Lord Caire“, sagte er.

„Ich weiß, wer Ihr seid. Doch was wollt Ihr hier?“

Er betrachtete sie neugierig. Sie hatte von ihm gehört, wich aber dennoch nicht entsetzt vor ihm zurück? Ja, sie war mehr als geeignet. „Ich bin hier, um Euch einen Vorschlag zu unterbreiten, Mrs Dews.“

Sie zeigte immer noch keine Furcht, wenngleich sie zur Tür sah.

„Ihr habt Euch die Falsche ausgesucht, Lord Caire. Es ist spät. Bitte verlasst mein Haus.“

Diese Frau war wirklich interessant. Sie zeigte weder Angst noch Unterwürfigkeit trotz seines Ranges.

„Mein Vorschlag ist mitnichten ungesetzlich oder unanständig“, sagte er gedehnt. „Eigentlich ist er eher ehrenwert. Zumindest beinahe.“

Sie sah auf ihr Tablett hinab und dann wieder zu ihm. „Möchtet Ihr vielleicht eine Tasse Tee?“

Er musste sich ein Lächeln verkneifen. Tee? Er konnte sich nicht daran erinnern, wann eine Frau ihm das letzte Mal etwas so Fantasieloses und Alltägliches angeboten hatte.

Doch er blieb höflich. „Nein danke.“

Sie nickte. „Gestattet Ihr?“

Er winkte einladend mit der Hand.

Temperance stellte das Tablett auf den armseligen Tisch und setzte sich auf den gepolsterten Schemel, um sich eine Tasse Tee einzugießen. Lord Caire beobachtete sie. Sie war wie ein Bild in schwarz-weiß. Ihr Kleid, ihr Mieder, ihre Strümpfe und ihre Schuhe waren schwarz. Ihr schmuckloses Schultertuch, das in ihren hohen Ausschnitt gesteckt war, ihre schnörkellose Schürze und ihre Haube waren weiß. Es gab nichts Farbiges an ihr, was das satte Rot ihrer vollen Lippen noch mehr unterstrich. Sie war gekleidet wie eine Nonne, doch sie hatte den Mund einer Sünderin.

Dieser Gegensatz faszinierte und erregte ihn.

„Seid Ihr Puritanerin?“, fragte er.

Sie spitzte ihre schönen Lippen. „Nein.“

„Ah.“ Sie sagte aber auch nicht, ob sie Anglikanerin war. Vermutlich gehörte sie einer der zahlreichen Sekten an, aber ihr Glaube interessierte ihn nur, soweit er sein Vorhaben betraf.

Sie nippte an ihrem Tee. „Woher kennt Ihr meinen Namen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ihr und Euer Bruder seid für Euer mildtätiges Herz und Eure guten Taten bekannt.“

„Tatsächlich?“, fragte sie spöttisch. „Ich wusste nicht, dass man uns außerhalb von St Giles so gut kennt.“

Sie mochte zurückhaltend und prüde wirken, aber hinter dieser spröden Fassade verbarg sich offenbar Temperament. Und natürlich hatte sie recht, er würde ihren Namen nie kennen, hätte er die vergangenen vier Wochen nicht damit verbracht, die dunklen Schatten von St Giles zu verfolgen. Doch seine Suche war erfolglos geblieben, darum war er Mrs Dews nach Hause gefolgt. Nur darum saß er jetzt vor diesem kargen Feuer.

„Wie seid Ihr hereingekommen?“, fragte sie.

„Ich glaube, die Hintertür war nicht verschlossen.“

„Sie war verschlossen.“ Temperance musterte ihn über den Rand ihrer Teetasse hinweg. Ihre braunen Augen blitzten seltsam hell, beinahe golden. „Was führt Euch hierher, Lord Caire?“

„Ich möchte Euch engagieren, Mrs Dews“, antwortete er leise.

Sie zuckte zusammen und setzte ihre Tasse auf dem Tablett ab. „Nein.“

„Ihr wisst doch gar nicht, wofür ich Euch anheuern möchte.“

„Es ist nach Mitternacht, und nicht einmal tagsüber habe ich etwas für Spielchen dieser Art übrig. Bitte geht, oder ich sehe mich gezwungen, meinen Bruder zu rufen.“

Er rührte sich nicht. „Euren Bruder? Nicht Euren Mann?“

„Ich bin verwitwet, wie Ihr zweifelsohne wissen werdet.“ Sie starrte ins Feuer.

Er streckte seine Beine so weit aus, wie es das winzige Zimmer erlaubte. Seine Stiefelspitzen berührten beinahe das Feuer. „Ihr habt recht, ich wusste es. Ich weiß auch, dass Ihr und Euer Bruder seit beinahe zwei Monaten mit der Miete im Rückstand seid.“

Sie trank schweigend ihren Tee.

„Ich werde Euch gut für Eure Zeit bezahlen“, murmelte er.

Endlich sah sie ihn an. Ihre braunen Augen funkelten beinahe golden. „Glauben Sie denn, dass Sie jede Frau kaufen können?“

Er rieb nachdenklich mit seinem Daumen über sein Kinn. „Ja, das denke ich, wenn auch nicht unbedingt mit Geld. Und nicht nur Frauen. Ich denke, dass auch Männer auf die eine oder andere Weise käuflich sind. Die Frage ist nur, wie man das richtige Zahlungsmittel findet.“

Sie sah ihn abwägend an.

Er ließ seine Hand in den Schoß fallen. „Ihr zum Beispiel, Mrs Dews, braucht vermutlich Geld für Euer Waisenhaus, aber vielleicht irre ich mich auch. Vielleicht habe ich mich von eurem schlichten Äußeren und Eurem Ruf als sittsame Witwe täuschen lassen. Vielleicht könnte ich Euch eher überzeugen, wenn ich euch Einfluss, Wissen oder sogar fleischliches Vergnügen anböte.“

„Ihr habt mir immer noch nicht verraten, was ich dafür tun sollte.“

Obwohl sie unverändert dasaß, klang ihre Stimme plötzlich etwas heiser. Er hörte es nur, weil er als jahrelanger Casanova hinlängliche Erfahrung mit Frauen hatte. Er blähte unwillkürlich seine Nasenflügel auf, so als wolle er Witterung aufnehmen.

„Ich benötige einen Führer.“ Er senkte seine Augen und tat so, als betrachtete er seine Fingernägel. „Mehr nicht.“ Er musterte Temperance aus dem Augenwinkel. Wie sinnlich sie ihre Lippen schürzte.

„Einen Führer wofür?“

„Für St Giles.“

„Warum braucht Ihr hier einen Führer?“

Es wurde schwierig. „Ich suche eine ganz bestimmte Person in St Giles. Doch meine Suche wird durch meine mangelnde Kenntnis der Gegebenheiten und der Menschen sowie ihrer Widerwilligkeit, mit mir zu reden, erschwert. Daher brauche ich jemanden, der sich hier auskennt.“

Sie kniff die Augen zusammen und trommelte mit den Finger gegen ihre Teetasse. „Wen sucht Ihr?“

Er schüttelte langsam den Kopf. „Das sage ich Euch erst, wenn Ihr Euch bereiterklärt, in meine Dienste zu treten.“

„Und Ihr wollt mich nur als ortskundige Vermittlerin?“

Er nickte.

Sie sah wieder ins Feuer. Einen Augenblick lang war es so still in dieser kleinen Kammer, dass man nur das Knistern des Feuers hörte. Lazarus Huntington wartete geduldig und strich währenddessen über den silbernen Knauf seines Stocks.

Dann sah ihm Temperance ins Gesicht. „Ihr habt recht. Euer Geld interessiert mich nicht. Es würde nur einen kurzer Aufschub bedeuten, der unsere Zwangsräumung nicht verhindern kann.“

Er neigte den Kopf. Fasziniert beobachtete er, wie vorsichtig sie mit ihrer Zunge über ihre sinnlichen Lippen fuhr. Zweifellos bereitete sie sich darauf vor, ihre Forderung zu stellen. Er spürte, wie sein Puls schneller schlug. Es war die Reaktion seines Körpers auf ihre Lebendigkeit und ihre Weiblichkeit. „Was wollt Ihr dann, Mrs Dews?“

Sie sah ihn herausfordernd an. „Ich will, dass Ihr mich den Reichen und Adeligen Londons vorstellt. Ich will, dass Ihr mir helft, einen neuen Gönner für das Waisenhaus zu finden.“

Lazarus ließ sich nichts anmerken, aber er verspürte einen tiefen Triumph, als die ehrbare Witwe ihm geradewegs in die Klauen lief.

„Einverstanden.“

2. KAPITEL

König Lockedheart war ein sehr stolzer Mann. Obwohl er in ein kleines und unbedeutendes Königreich hineingeboren wurde, besiegte er die umliegenden, weitaus größeren Länder mit Mut, List und unerreichbarer Kühnheit. Schließlich wurde er Herr über ein großes und mächtiges Reich. Im Norden lag ein Gebirge, das reich an Erz und Edelsteinen war. Im Osten gab es goldene Felder und wohlgenährtes Vieh. Im Süden erstreckten sich riesige Wälder. Und im Westen lag ein Meer, das voller silberner Fische war. Jeder Mann, der die Hauptstadt verließ, konnte einen Monat lang in jede erdenkliche Richtung laufen ohne die Ländereien von König Lockedheart zu verlassen …

Aus König Lockedheart.

Temperance hielt den Atem an. Sie hatte plötzlich das Gefühl, sie sei in eine Falle gelaufen. Dennoch sah sie ihn unverwandt an. Lord Caire erschien ihr wie ein großes Raubtier, das nur darauf wartete, dass sein Opfer Angst oder Unsicherheit zeigte. Also lehnte sie sich zurück und goss sich eine weitere Tasse Tee ein. Stolz bemerkte sie, dass ihre Hände ruhig blieben.

Als sie einen Schluck getrunken hatte, richtete sie sich auf. „In diesem Fall sollten wir die Einzelheiten unserer Abmachung besprechen, Mylord.“

Um seinen großen, sinnlichen Mund zuckte ein Muskel. „Die da wären, Mrs Dews?“

Sie schluckte. Nie zuvor war sie in eine ähnliche Lage gekommen, normalerweise feilschte sie nur mit dem Metzger, dem Fisch- und dem Gemüsehändler sowie mit all den anderen Geschäftsleuten, mit denen sie zu tun hatte. Sie hielt sich für recht geschickt.

Temperance stellte die Teetasse ab. „Ich benötige Geld für den Lebensunterhalt.“

„Lebensunterhalt?“ Lord Caire lupfte seine schwarzen Augenbrauen.

Sie fühlte sich etwas unbehaglich bei dem Gedanken, ihn um Geld zu bitten. Gerade hatten sie vereinbart, dass sein Teil der Abmachung darin bestand, sie mit möglichen Unterstützern bekannt zu machen. Doch das Waisenhaus brauchte das Geld, und zwar dringend.

„Ja“, sagte sie entschlossen. „Wie Ihr ja wisst, sind wir mit der Miete im Rückstand. Außerdem haben die Kinder seit Tagen nichts Anständiges mehr gegessen. Ich brauche Geld, um etwas Rindfleisch, Gemüse, Brot, Tee und Milch zu kaufen. Außerdem brauchen Joseph Tinbox und Joseph Smith neue Schuhe.“

„Joseph Tinbox?“

„Und unsere kleineren Marys brauchen dringend neue Unterkleidchen“, fügte Temperance beinahe kämpferisch an.

Lord Caire starrte sie einen Augenblick lang mit seinen rätselhaften saphirblauen Augen an. Dann regte er sich. „Wie viele Kinder leben in diesem Waisenhaus?“

„Siebenundzwanzig“, antwortete Temperance. Sie erinnerte sich an ihren Ausflug in dieser Nacht. „Verzeihung, achtundzwanzig mit Mary Hope. Das ist das kleine Mädchen, das ich heute mit nach Hause gebracht habe. Zwei weitere Säuglinge befinden sich zurzeit in der Obhut von Ammen. Sobald sie entwöhnt sind, kommen sie zu uns. Und natürlich lebe ich hier mit meinem Bruder Winter und unserem Dienstmädchen Nell Jones.“

„Nur drei Erwachsene bei so vielen Kindern?“

„Ja.“ Temperance lehnte sich vor. „Versteht Ihr nun, warum wir Zuweisungen brauchen? Mit etwas mehr Geld könnten wir eine weitere Kinderfrau einstellen, oder vielleicht sogar zwei. Wir könnten mehrmals in der Woche Fleisch essen, und alle Jungen bekämen endlich anständige Schuhe. Wir könnten ein gutes Lehrgeld zahlen und jedes Kind neu einkleiden, wenn sie das Heim verlassen. Die Kleinen wären so sehr viel besser darauf vorbereitet, der Welt entgegenzutreten.“

Er hob eine Augenbraue. „Ich könnte es mir leisten, Euer Waisenhaus zu unterhalten, falls das Euer Wunsch sein sollte. Dann müssten wir meinen Teil der Abmachung neu verhandeln.“

Temperance schürzte die Lippen. Sie kannte diesen Mann nicht. Wie sollte sie wissen, dass er zu seinem Wort stand? Vielleicht ließ er sie schon nach zwei oder drei Monaten im Stich.

Und natürlich mussten sie ihren Ruf wahren. „Der Gönner des Waisenhauses muss respektabel sein.“

„Ah. Ich verstehe.“ Temperance fürchtete, Lord Caire beleidigt zu haben, doch er lächelte sie nur spöttisch an. „Nun gut. Ich werde Euch die Mittel zur Verfügung stellen, die Ihr benötigt, um die Miete und Kleider für die Kinder zu bezahlen. Im Gegenzug dazu erwarte ich jedoch, dass Ihr mich morgen Abend durch St Giles führt.“

„Und wann lerne ich mögliche Gönner für das Waisenhaus kennen?“ Sie selbst würde zumindest ein neues Kleid und neue Schuhe brauchen. Ihre schwarzen Alltagskleider waren vollkommen ungeeignet, um damit in Kreisen der Einflussreichen aufzutreten.

Er zuckte mit den Schultern. „In zwei Wochen? Vielleicht auch länger. Ich werde um Einladungen zu den gesitteteren Festen bitten.“

„Also gut.“ Zwei Wochen waren nicht viel, doch das Waisenhaus benötigte sofort Hilfe. Temperance konnte es sich nicht leisten, noch länger zu warten.

Lord Caire nickte. „Dann sind unsere Verhandlungen wohl abgeschlossen.“

„Noch nicht ganz“, entgegnete sie.

Er hielt seinen Hut in der Hand. „Tatsächlich? Ihr habt doch selbst zugegeben, dass ich mich großzügig zeige. Was wollt Ihr noch?“

Das dünne Lächeln um seine Mundwinkel wich einer furchteinflößenden Miene. Temperance schluckte. „Information.“

Er hob fragend eine Braue.

„Wie heißt die Person, nach der wir suchen?“

„Ich weiß es nicht.“

Sie runzelte die Stirn. „Wisst Ihr, wie sie aussieht oder wo sie sich für gewöhnlich aufhält?“

„Nein.“

„Handelt es sich um einen Mann oder eine Frau?“

Er lächelte, und tiefe Falten durchfurchten seine schmalen Wangen. „Ich weiß es nicht.“

Temperance schnaubte. „Wie soll ich diese Person dann für Euch finden?“

„Das erwarte ich gar nicht“, erwiderte er. „Ich erwarte nur, dass Ihr mir suchen helft. Ich denke, es gibt viele Quellen für Klatsch in St Giles. Bringt mich zu ihnen, und ich übernehme den Rest.“

„Einverstanden.“ Ihr war bereits eine gute Quelle eingefallen. Temperance stand auf und streckte die Hand aus. „Ich nehme Ihr Angebot an, Lord Caire.“

Einen schrecklichen Moment lang starrte er ihre ausgestreckte Hand an. Vielleicht fand er diese Geste unweiblich oder einfach nur dumm. Aber dann stand er ebenfalls auf. Plötzlich wurde Temperance bewusst, wie groß er war. Er überragte sie um Längen. Er sah sie seltsam an, als er ihre Hand nahm und rasch schüttelte. Dann zog er sich rasch wieder zurück, so als habe er sich verbrannt.

Sie wunderte sich immer noch über diesen seltsamen Ausdruck in seinen Augen, als er seinen Dreispitz aufsetzte und ihr zunickte. „Ich werde morgen Abend um neun Uhr vor Eurer Küchentür auf Euch warten. Bis dahin wünsche ich euch eine gute Nacht, Mrs Dews.“

Dann huschte er aus der Tür und verschwand.

Temperance eilte ihm hinterher, um die Hintertür schnell zu verriegeln. Soot stand vom Herd auf, als sie eintrat.

„Die Tür war verschlossen, da bin ich mir absolut sicher“, flüsterte sie der Katze zu. „Wie ist er nur hereingekommen?“

Doch die Katze buckelte nur träge.

Temperance seufzte und ging zurück in ihr Wohnzimmer, um das Tablett zu holen. Als sie das Zimmer betrat, lag auf der Sitzfläche des Sessels ein kleiner Geldbeutel. Als Temperance ihn öffnete, fielen ihr mehrere Goldmünzen entgegen. Es waren mehr als genug, um Mr Wedge die rückständige Miete zu bezahlen.

Offenbar hatte Lord Caire im Voraus bezahlt.

Als Lazarus spät am nächsten Nachmittag Bashams Coffeehouse betrat, schlugen ihm lautstarke Diskussionen entgegen. Er ging an einem Tisch vorbei, an dem sich ältere Herren mit altmodischen Allongeperücken lautstark über eine Zeitung stritten, auf einen Gentleman mit grauer Perücke zu, der alleine an einem abgelegenen Tisch in der Ecke saß. Der Mann betrachtete ein Pamphlet durch seinen Zwicker.

„Du wirst dir noch die Augen ruinieren, wenn du diesen Dreck liest, Godric“, sagte Lazarus und setzte sich seinem alten Freund gegenüber.

„Lazarus“, murmelte Godric St John. Er tippte mit dem Finger auf das Pamphlet. „Der Gedanke des Verfassers ist teilweise nachvollziehbar.“

„Nur teilweise? Da bin ich aber erleichtert.“ Lazarus schnipste mit den Fingern, um einen der Servierjungen, die mit Tabletts voller Kaffee herumliefen, auf sich aufmerksam zu machen. „Einen.“

Er drehte sich um und sah, wie sein Freund ihn musterte. Dank seiner grauen, zusammengebundenen Perücke, dem Zwicker und der schlichten Kleidung hielten viele Leute Godric St John für einen älteren Mann. Dabei war er ebenso jung wie Lazarus, exakt vierunddreißig Jahre. Nur wer genau hinsah erkannte Godrics klare graue Augen, sein entschlossenes Kinn und die ständige Sorge, die ihn umgab.

„Ich habe hier eine Übersetzung, die du dir ansehen solltest“, sagte Lazarus. Er zog einige Blätter Papier aus seiner Manteltasche und reichte sie seinem Freund.

Der blickte auf die Papiere. „Catullus? Das wird Burgess erzürnen.“

Lazarus schnaubte. „Burgess hält sich für DIE Koryphäe, wenn es um Catull geht. Aber der Mann versteht in etwa so viel von römischer Dichtkunst wie ein durchschnittlicher Schuljunge.“

„Natürlich.“ St John lupfte amüsiert eine Augenbraue. „Aber du wirst damit einen unschönen Streit vom Zaun brechen.“

„Oh, das hoffe ich doch“, antwortete Lazarus. „Kannst du es dir bitte ansehen und mir sagen, was du davon hältst?“

„Sicher.“

Am Nebentisch schrie jemand auf, ein Kaffeebecher wurde zu Boden geworfen.

Lazarus sah auf. „Streiten sie über Religion oder über Politik?“

„Politik“, sagte Godric St John ungerührt. „Laut den Zeitungen fordert Wakefield ein neues Gin-Gesetz.“

„Man sollte meinen, er hätte inzwischen begriffen, dass der Reichtum eines Großteils seiner Gefolgsleute aus dem Gin-Verkauf resultiert.“

Godric St John zuckte mit den Schultern. „So ganz Unrecht hat er nicht. Es schadet Londons Wirtschaft, wenn der Gin zu viele Arme dahinrafft.“

„Ja und zweifellos wird der fette Landadelige, der vor der Entscheidung steht, ob er seinen Getreideüberschuss an einen Schnapsbrenner verkauft oder es verkommen lässt, zuerst an die Entwicklung Londons denken und erst in zweiter Linie an seinen eigenen Geldbeutel. Wakefield ist ein Narr.“

„Eher ein Idealist.“

„Und ich sage, er ist ein Narr“, wiederholte Lazarus gedehnt. „Seine Ideale wiegeln die Gesellschaft nur auf. Er täte besser daran, seinen Kopf gegen eine Mauer zu schlagen als zu versuchen, das Parlament davon zu überzeugen, ein effektives Gin-Gesetz zu erlassen.“

„Du bist also der Meinung, wir sollten uns zurücklehnen und zusehen, wie London verkommt?“

Lazarus winkte ab. „Du tust ja gerade so, als gäbe es eine andere Möglichkeit. Ich behaupte, es gibt keine. Wakefield und seinesgleichen glauben, dass sie die Welt verändern können, aber sie machen sich etwas vor. Lass es dir gesagt sein, es muss schon ein Wunder geschehen, bevor es gelingt, dem Londoner Pöbel den Gin wegzunehmen.“

„Dein Zynismus ist wie immer atemberaubend.“

Ein Junge knallte einen Becher Kaffee vor Lazarus auf den Tisch. „Danke.“

Lazarus warf ihm einen Penny zu, den der Junge geschickt auffing. Lazarus trank einen Schluck des heißen Gebräus und bemerkte, dass Godric St John ihn abermals aufmerksam musterte.

„Du starrst mich an, als hätte ich die Pocken“, sagte er.

„Eines Tages wirst du sie dir holen“, entgegnete sein Freund. „Du warst mit zu vielen Huren im Bett.“

„Ich habe Bedürfnisse.“

„Du hast Begierden“, unterbrach ihn Godric St John. „Und du gibst dir keine Mühe, dich zu zügeln.“

„Warum sollte ich auch?“, fragte Lazarus. „Zweifeln der Wolf und der Falke an ihrem Jagdtrieb? Er liegt in ihrer Natur, so wie meine Bedürfnisse in meiner Natur liegen.“

„Der Wolf und der Falke haben weder Gewissen noch Seele, wie du sehr wohl weißt.“

„Die Frauen, mit denen ich mich abgebe, werden für ihre Dienste fürstlich bezahlt. Meine Bedürfnisse verletzen niemanden.“

„Nein?“, fragte Godric St John leise. „Verletzen sie letztendlich nicht auch dich?“

Lazarus schürzte seine Lippen. „Darüber haben wir schon so oft gestritten, und bisher ist keiner von uns als Sieger aus diesem Streit hervorgegangen.“

„Doch sobald ich diesen Streit aufgebe, gebe ich auch dich auf.“

Lazarus trommelte schweigend mit den Fingern auf den abgenutzten Tisch. Er würde die Bedenken seines Freundes wie immer ignorieren. Seine Bedürfnisse waren vielleicht ungewöhnlich, aber wohl kaum krankhaft.

Aber natürlich kannte Godric keine Hemmungen, sich in etwas einzumischen, was ihn nichts anging.

Godric St John lehnte sich im Stuhl zurück. „Du warst gestern Nacht dort.“

„Himmel, bist du ein Hellseher? Oder hast du mich gestern Nacht besuchen wollen und mich nicht angetroffen?“

„Weder noch.“ Godric St John schob ruhig seinen Zwicker beiseite. „Du siehst genauso aus wie das letzte Mal, irgendwie …“, er stockte.

„Müde?“

„Eher verzweifelt.“

Lazarus trank noch einen Schluck Kaffee. Er versuchte Zeit zu gewinnen, aber erwiderte nur kühl: „Ich wusste nicht, dass du einen solchen Hang zur Melodramatik hast. Verzweiflung erscheint mir doch etwas übertrieben zu sein.“

„Das glaube ich nicht.“ Godric St John blickte abwesend in seine eigene Kaffeetasse. „So siehst du seit Maries Tod häufiger aus. Willst du abstreiten, dass du letzte Nacht wieder nach ihrem Mörder gesucht hast?“

„Nein.“ Lazarus lehnte sich zurück. „Warum auch?“

„Du bist besessen.“ Sein Freund sagte die Worte beinahe beiläufig, was ihnen noch mehr Gewicht verlieh. „Sie ist seit fast zwei Monaten tot, und du hast jede Nacht damit verbracht, nach ihrem Mörder zu suchen. Wann gibst du diese Jagd endlich auf, Lazarus?“

„Wann würdest du aufgeben, sollte jemand Clara ermorden?“, erwiderte Lazarus prompt.

Godric St Johns Kinnmuskel zuckte. Lazarus hatte also ins Schwarze getroffen. „Niemals. Aber das ist etwas anderes.“

„Warum? Nur weil du mit der Frau verheiratet bist, während Marie nur meine Geliebte war?“

„Nein“, antwortete John sanft. „Weil ich Clara liebe.“

Lazarus sah betreten beiseite. So sehr er diesen Unterschied leugnen wollte, er konnte es nicht. Godric St John hatte recht. Er liebte seine Clara, wohingegen Lazarus noch nie jemanden ernsthaft geliebt hatte.

„Das gefällt mir ganz und gar nicht“, sagte Nell spät an diesem Abend in der Küche des Waisenhauses.

„Das hast du mir bereits mehrfach unmissverständlich gesagt“, murmelte Temperance, während sie ihren Mantel unter ihrem Kinn festband.

Nell ließ sich nicht beirren. „Woher wollt Ihr wissen, dass er es nicht auf Eure Tugend abgesehen hat? Wenn er Euch verführt und Euch sitzenlässt, oder Euch schlimmer noch an einen Zuhälter verkauft? Euch könnten schreckliche Dinge zustoßen!“

Temperance unterdrückte ein Erschauern, als sie an all die schrecklichen Dinge dachte, die Lord Caire ihr antun könnte. Es hätte sie anwidern sollen, doch der Gedanke an Lord Caires sexuelle Neigungen reizte sie seltsamerweise. Der schlechte, lüsterne Teil in ihr schien Witterung aufzunehmen. Das durfte sie nicht zulassen. Vor langer Zeit hatte sie sich nur ein einziges Mal von ihren niederen Begierden leiten lassen und eine unverzeihliche Sünde begangen. Dafür leistete sie seitdem jeden Tag Abbitte. Temperance wusste, dass sie ihren Dämonen nie wieder die Zügel überlassen durfte.

Sie zog ihre Kapuze über den Kopf. „Ich bezweifle, dass Lord Caire irgendetwas mit mir anstellen will. Außerdem habe ich die Pistole dabei.“

Nell stöhnte auf. „Er ist nicht wie andere Gentlemen.“

Temperance nahm die weiche Tasche, in der sie die Pistole verbarg. „Du machst schon wieder solch rätselhafte Andeutungen. Sag mir doch, inwiefern sich Lord Caire von anderen Gentlemen unterscheidet?“

Nell biss sich auf die Unterlippe und trat von einem Fuß auf den anderen. „Durch das, was er im Bett tut.“

Temperance wartete, aber ihr Dienstmädchen schwieg. Schließlich seufzte sie und unterdrückte ihre aufflammte Neugier. „Es besteht die Gefahr, dass das Waisenhaus geschlossen wird. Das, was Lord Caire in seinem Schlafzimmer treibt, wird mich nicht davon abhalten, seine Hilfe anzunehmen.“

Nell riss erschrocken die Augen auf. „Aber!“

Temperance öffnete die Hintertür. „Denk dran, sollte Winter fragen, dann bin ich früh zu Bett gegangen. Und sollte ihm das nicht reichen, sage ihm, es sei eine Frauensache. Dann wird er nicht weiterfragen.“

„Seid vorsichtig“, rief Nell, als Temperance die Tür hinter sich zuzog.

Ein kalter Wind pfiff um die Ecke. Temperance erschauerte und zog den Mantel enger um sich. Sie drehte sich um, als sich plötzlich eine breite, männliche Brust drohend vor sie schob.

„Oh!“

„Guten Abend, Mrs Dews“, sagte Lord Caire dunkel. Sein Umhang flatterte durch den Wind um seine Beine.

„Lasst das“, erwiderte Temperance etwas zu scharf.

Lord Caire sah sie belustigt an. „Was?“

„Hier wie ein Straßenräuber aus dem Nichts heraus aufzutauchen.“ Lord Caire blickte sie amüsiert an, und Temperance verspürte das lächerliche Verlangen, ihn ebenfalls anzulächeln, doch sie beherrschte sich. Heute hatte er sein silbergraues Haar zu einem Zopf gebunden. Ein seltsames Gefühl durchzuckte ihren Bauch. Inwieweit war dieser Lord Caire wohl anders im Bett?

Doch der hatte sich bereits umgedreht und ging die Gasse entlang. „Ich versichere Euch, dass ich kein Straßenräuber bin, Madame.“ Er blickte sie über seine Schulter an. Temperance sah, wie seine blauen Augen aufblitzten. „Wäre ich einer, wärt Ihr jetzt schon tot.“

„Ihr ermutigt mich nicht gerade, mit Euch zu kommen“, murmelte Temperance.

Er blieb so abrupt stehen, dass Temperance beinahe wieder in ihn hineinlief.

„Ihr seid aber hier, oder?“

Dieser elende Kerl! „Ja!“

Er verneigte sich übertrieben, hielt den Stock mit dem Silberknauf in seiner ausgestreckten Hand und ließ den schwarzen Umhang über die schmutzige Straße streichen. „Dann geht voran, holde Dame.“

Temperance ging ihm voraus. Sie spürte ihn förmlich in ihrem Nacken.

„Wohin bringt Ihr mich heute Nacht?“

Bildete sie es sich nur ein oder spürte sie seinen heißen Atem an ihrem Haaransatz?

„Es ist mir schwergefallen, mich zu entscheiden, da ihr ja nur angedeutet habt, nach wem Ihr sucht.“

Sie wartete auf eine Erklärung, doch Lord Caire schwieg.

Temperance seufzte. „Nur zu wissen, dass Ihr jemanden sucht, ohne zu erfahren, wen, ist nicht besonders hilfreich, Mylord.“

„Dennoch spüre ich, dass Ihr ein Ziel habt“, flüsterte Lord Caire.

„Ja.“ Sie hatten das Ende der Gasse erreicht und zogen die Köpfe ein, um unter einen verfallenen Torbogen hindurch in eine noch schmalere Gasse einzubiegen.

„Und wo befindet es sich?“

„Gleich hier“, erwiderte Temperance. Sie war froh, trotz der wenigen Informationen, die sie hatte, eine Quelle für ihn gefunden zu haben.

Sie blieben vor einem fensterlosen Gebäude stehen. Ein schaukelndes Holzschild mit einer aufgemalten Kerze deutete darauf hin, dass es sich um das Geschäft eines Kerzenmachers handelte. Temperance öffnete die Tür zu einem winzigen Laden. An der einen Seite befand sich ein langer Ladentisch, auf dem sich Kerzen, Zinnbecher, Schnüre, Salz, Mehl und Tee, ein Stück Pflaumenkuchen und allerlei andere Dinge stapelten. In den Regalen und an Haken dahinter entdeckte Lazarus Schmalz, ein paar Messer, einige neue Besen, Knöpfe und natürlich Gin. Am anderen Ende des Ladentischs kauerten zwei Frauen über ihren Bechern. Hinter dem Ladentisch stand Mr Hopper, ein kleiner, dunkler Mann, der vielleicht nur deshalb so klein war, damit er in diesen Laden passte.

Natürlich war es nicht erlaubt, ohne Lizenz Gin zu verkaufen, aber eine Lizenz war unerhört teuer, und nur wenige konnten sie sich leisten. Doch da die vom Magistrat bezahlten Informanten keinen Fuß nach St Giles setzten, war es auch egal. Der letzte, der es gewagt hatte, war von einer wütenden Menge durch die Straßen gezerrt und zusammengeschlagen worden. Der arme Mann war anschließend auf der Straße gestorben.

„Was kann ich für Euch tun, Mrs Dews?“, fragte Mr Hopper freundlich.

„Guten Abend, Mr Hopper“, erwiderte Temperance. „Mein Freund hier sucht jemanden, und ich frage mich, ob Ihr ihm vielleicht helfen könnt?“

Mr Hopper musterte Lord Caire misstrauisch. „Aye, vielleicht. Nach wem sucht Ihr denn?“, fragte er auffallend heiter.

„Nach einem Mörder“, entgegnete Lord Caire. Alle Köpfe drehten sich schlagartig zu ihm um.

Temperance hielt den Atem an. Einen Mörder?

Die beiden Frauen huschten leise an ihr vorbei nach draußen.

„Vor beinahe zwei Monaten wurde eine Frau in ihren Zimmern in St Giles ermordet“, fuhr Lord Caire unbeirrt fort. „Sie hieß Marie Hume. Wisst Ihr vielleicht etwas darüber?“

Aber Mr Hopper schüttelte den Kopf. „Mit Mord will ich nichts zu tun haben. Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr dafür sorgt, dass dieser Herr meinen Laden wieder verlässt, Mrs Dews.“

Temperance biss sich auf die Lippe. „Einen Augenblick bitte noch“, sagte Lord Caire.

Mr Hopper sah ihn widerwillig an.

„Dürfte ich das Stück Kuchen haben?“

Mr Hopper reichte ihm murrend den Pflaumenkuchen und kassierte zwei Pence dafür. Dann drehte er ihnen demonstrativ den Rücken zu. Temperance seufzte. Sie war ein wenig nervös. Sie musste einen anderen Informanten für Lord Caire finden.

„Ihr hättet mich ruhig vorwarnen können“, murmelte sie, als sie den Laden verließen. Der Wind blies ihr kalt ins Gesicht, und sie wünschte sich, jetzt gemütlich vor ihrem kleinen Feuer zu sitzen.

Lord Caire schien die Kälte nicht zu spüren. „Welchen Unterschied hätte das gemacht?“

„Nun, dann hätte ich Euch nicht zu Mr Hopper gebracht.“

Sie stapfte durch die Straße und wich dem Dreck, der dort lag, aus.

Er holte sie rasch ein. „Warum nicht?“

„Weil Mr Hopper ehrbar ist, Eure Nachforschungen sind es aber offenkundig nicht“, meinte sie verzweifelt. „Warum habt Ihr diesen Kuchen gekauft?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe Hunger“, sagte er und biss genüsslich hinein.

Etwas vom lilafarbenen Fruchtsaft leckte aus seinem Mundwinkel. Temperance musste schlucken. Der Kuchen sah wirklich gut aus.

„Möchtet Ihr auch einen Bissen?“, fragte er mit tiefer Stimme.

Sie schüttelte bestimmt den Kopf. „Nein. Ich bin nicht hungrig.“

Lazarus betrachtete sie nachdenklich, während er einen weiteren Bissen hinunterschluckte. „Warum lügt Ihr?“

„Ich lüge nicht“, zischte sie, und wollte lospreschen.

Doch er versperrte ihr den Weg. „Es ist doch nur ein Stück Pflaumenkuchen, Mrs Dews. Was kann das schon schaden? Nehmt einen Bissen.“

Und er brach ein Stückchen ab und hielt es mit den Fingern an ihre Lippen. Sie roch das süße Obst, und konnte den Teig beinahe schmecken, und bevor sie wusste wie ihr geschah, öffnete sie den Mund. Lord Caire schob ihr den Bissen hinein. Die Pflaume war säuerlich, der Saft zuckersüß. Der Kuchen schmeckte außergewöhnlich gut in der Dunkelheit der Gassen von St Giles.

„Na also“, flüsterte er. „Er ist köstlich, nicht wahr?“

Temperance riss die Augen auf und sah ihn entsetzt an.

Sein Mund zuckte. „Und wohin gehen wir jetzt, Mrs Dews? Oder war Mr Hopper Eure einzige Quelle?“

Temperance reckte das Kinn. „Nein. Ich habe noch eine andere Idee.“

Sie ging rasch um ihn herum. Der Geschmack der süßen Pflaume verwirrte noch immer ihre Sinne. Doch sie befanden sich jetzt im verrufenen Teil von St Giles. Temperance wagte sich nicht einmal tagsüber hierher. Ohne Lord Caire an ihrer Seite würde sie jetzt vor Angst erstarren.

Zwanzig Minuten später blieb Temperance vor einer schiefen Tür stehen, die zwei Stufen unterhalb der Gasse lag.

„Wo sind wir hier?“, fragte Lord Caire.

„Hier macht Mother Heart’s-Ease ihre Geschäfte“, antwortete Temperance, als jemand die schiefe Tür abrupt öffnete.

„Raus hier!“, schrie eine große, hagere Frau. Sie trug eine alte Uniformjacke über einem völlig verschmutzten Ledermieder und ein schwarz-rot gestreiftes halbwollenes Unterkleid, dessen Saum zerrissen und verdreckt war.

Hinter ihr flackerte ein schwaches Feuer. „Ohne Bares, kein Gin. Raus!“

Das Opfer ihres Zorns war eine dünne Frau, deren hübsches Gesicht durch eine klaffende Wunde an der Wange und schwarze Zähne entstellt war.

Das bedauernswerte Wesen duckte sich und hob die Arme über den Kopf, als wolle sie einen Schlag abwehren. „Ich geb Euch morgen eineinhalb Pennys, wenn Ihr mir heute Gin gebt.“

„Verdien dir deine Pennys erst einmal“, entgegnete Mother Heart’s-Ease und schubste die arme Frau in die Gasse. Dann stemmte sie ihre riesigen Fäuste in die Hüften und musterte Lord Caire gierig. „Nun, was wollt Ihr denn hier, Mrs Dews? Ich glaub’ nicht, dass das hier Euer Teil von St Giles ist.“

„Ich wusste nicht, dass St Giles in Territorien unterteilt ist“, erwiderte Temperance steif.

Mother Heart’s-Ease lupfte irritiert die Augenbrauen. „Ach nee?“

Temperance räusperte sich. „Mein Freund würde Euch gerne ein paar Fragen stellen.“

Mother Heart’s-Ease grinste Lord Caire an. Ihr Lachen enthüllte ihr lückenhaftes Gebiss. „Dann kommt besser rein, nicht wahr?“

Lord Caire ließ Temperance den Vortritt. Sie duckte sich durch die niedrige Tür und ging die Holztreppe in den Keller hinunter.

Der vordere Raum war lang und dunkel, und wurde von einem knisternden Feuer am anderen Ende erleuchtet. Die Balken an der Decke waren rußgeschwärzt. Ein verzogenes Brett über zwei Fässern bildete hier eine Theke, hinter der ein einäugiges Mädchen die Kunden bediente. Hier verkaufte Mother Heart’s-Ease Gin für eineinhalb Pennys pro Becher. Einige Soldaten mit hohen Mützen lachten betrunken an einem Tisch in der Ecke. Neben ihnen kauerten zwei dunkle Gestalten über ihre Becher und versuchten, nicht aufzufallen. Einer von ihnen verbarg eine Wunde mit einem dreieckigen Lederflicken, dort wo einmal seine Nase gewesen war. Weiter hinten im Raum stritten drei Seeleute über ihr Kartenspiel, während ein Mann mit einer zu großen Perücke weiter vorne gleichmütig rauchte. Vor ihm auf dem Boden saßen ein Mann und eine Frau und lehnten sich gegen die Wand. Sie hielten ihre kleinen Zinnbecher fest in den Händen.

„Also, wie kann ich ’nem so feinen Herrn wie Euch behilflich sein?“, rief Mother Heart’s-Ease gegen den Lärm der streitenden Seemänner an. Dabei rieb sie vielsagend die Finger aneinander.

Lord Caire zog einen Geldbeutel aus seinem Umhang hervor und nahm lächelnd eine Half-Crown heraus. „Ich interessiere mich für den Mord an einer Frau hier in St Giles. Sie hieß Marie Hume.“

Mother Heart’s-Ease schürzte nachdenklich die Lippen. „Diese Art Information kostet Euch etwas mehr, Mylord.“

Kannte sie Lord Caire, oder schmeichelte sie ihm nur als potenzielle Einkommensquelle?

Lord Caire lupfte missbilligend die Augenbrauen, doch er fischte schweigend eine weitere Half-Crown aus dem Geldbeutel. Mother Heart’s-Ease schnappte die Münze und ließ sie mit der anderen in ihrem Mieder verschwinden.

„Setzt Euch, Mylord.“ Mother Heart’s-Ease deutete auf einen leeren Stuhl. „Eine ermordete Frau, sagt Ihr?“

Lord Caire ignorierte die gastfreundliche Geste. „Sie war etwa dreißig Jahre alt, schlank, hatte blondes Haar, ein hübsches Gesicht und ein Muttermal in der Größe eines Pennys genau hier.“ Er tippte auf seinen rechten Augenwinkel. „Kanntet Ihr sie?“

„Tja, hier gibt’s viele hübsche Frauenzimmer, und ein Muttermal kann man gut verbergen“, antwortete Mother Heart’s-Ease. „Gab es noch etwas Besonderes an ihr?“

„Sie wurde ausgeweidet“, sagte Lord Caire.

Temperance zuckte zusammen. Sofort fielen ihr Nells gesammelten Warnungen wieder ein. Gütiger Gott.

Sogar Mother Heart’s-Ease musste blinzeln. „Ausgeweidet wie ein Schwein“, murmelte sie. „An die erinnere ich mich. Hielt sich für was Besseres, ja? Wurde in einem leeren Zimmer in einem Haus in Tanner’s Court gefunden. Die Fliegen summten in ihrem schwarzen Blut.“

Falls Mother Heart’s-Ease Lord Caire mit diesen Worten schockieren wollte, hatte sie versagt. „Ja. Die meine ich“, sagte er ungerührt.

Mother Heart’s-Ease sah ihn mit gespielter Traurigkeit an. „Ich kann Euch dabei nich’ helfen, Mylord. Ich kannte sie nicht.“

Autor

Elizabeth Hoyt
Elizabeth Hoyt zählt zu den US-amerikanischen Bestseller-Autoren der New York Times für historische Romane. Ihren ersten Roman der Princess-Trilogie “Die Schöne mit der Maske” veröffentlichte sie im Jahr 2006, seitdem folgten zwölf weitere Romane. Gern versetzt die erfolgreiche Schriftstellerin ihre Romanfiguren in das georgianische Zeitalter.

Nachdem ihre beiden...
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