Hand in Hand in Virgin River

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Hektik, Stress, lange Arbeitstage – als Souschefin in einem Fünf-Sterne-Restaurant bleibt Kelly keine Zeit für ein Privatleben, geschweige denn für eine Beziehung. Erst ein Zusammenbruch lässt sie innehalten. Will sie wirklich so weitermachen? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, besucht Kelly ihre Schwester Jillian in Virgin River, wo sie zur Ruhe kommt und ihre Leidenschaft fürs Kochen neu entdeckt. Und dann lernt sie den attraktiven Witwer Lief kennen. Er weckt Gefühle in ihr, die sie von einer glücklichen Zukunft träumen lassen. Wäre da nicht seine rebellische Stieftochter Courtney, die ihre Liebe auf eine harte Probe stellt...

»Eine gelungene Mischung aus Wohlfühlroman und einer berührenden Darstellung von Charakteren, die in ihrem Leben an einem Wendepunkt angelangt sind.«Romantic Times Book Reviews


  • Erscheinungstag 27.09.2022
  • Bandnummer 13
  • ISBN / Artikelnummer 9783745703313
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Nancy Berland,
die beste Freundin und Verbündete einer Autorin.

Danke für alles!

1. KAPITEL

Ich muss mit dir reden«, sagte Philip. »In meinem Büro.«

Kelly Matlock, Souschefin, warf ihm einen ungläubigen Blick zu. Sie war gerade im wahrsten Sinne des Wortes dabei, einen dicken Italiener und einen ebenso korpulenten Schweden voneinander zu trennen. Der italienische Beikoch fuchtelte mit einem Pfannenwender herum, während der schwedische Koch beim Revierkampf um das Cerankochfeld die Gabel schwang. Die Bitte, sich sofort ins Büro des Restaurantmanagers zu begeben, erschien ihr so absurd, dass sie beinahe losgelacht hätte. »Ich habe hier echt alle Hände voll zu tun, Philip«, entgegnete sie. »Nicht nur, weil wir gerade eine handfeste Küchenschlägerei haben, sondern es ist sieben. Hauptansturmzeit fürs Abendessen. Sprich mich noch einmal um zehn Uhr an.«

»Es ist dringend«, erwiderte er. »Andernfalls hätte ich dich nicht darum gebeten. Glaub mir.«

»Wo ist Durant?«, erkundigte sich Kelly nach dem Küchenchef.

»Der dreht seine Runde durchs Restaurant. Schadenfroh. Lass diese beiden Irren sich doch umbringen – wir sind ohnehin knapp an Fleisch.«

Dieser Vorschlag sorgte wesentlich effektiver dafür, dass die beiden Streithähne voneinander abließen, als es Kellys Eingreifen vermocht hatte. »Ich bin gleich da«, meinte sie zu Philip. Ihm gefiel es, wenn man ihn Philippe nannte, obwohl Kelly wusste, dass nicht ein Tropfen französisches Blut durch seine Adern floss. Sein Akzent war bloß Schau. Sie ging zu ihrem Spind, zog sich die Schürze aus und tauschte ihre verfleckte weiße Jacke gegen eine saubere und gebügelte aus. Dann übertrug sie ihrem Beikoch die Verantwortung.

Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass es sich um einen echten Notfall handeln könnte. Philip liebte melodramatische Einlagen. Sein Zweitliebstes war es, seinen weiblichen Mitarbeiterinnen den Hof zu machen, und sein Drittliebstes, laut mit Durant herumzubrüllen.

Eines Tages, wenn Kelly endlich Küchenchefin würde, gäbe es keinen Philip mehr, denn Kelly hätte einen Manager mit solch nervigen und inakzeptablen Umgangsformen niemals toleriert.

Sie klopfte ein paar Mal an Philips Bürotür und stieß sie schließlich auf. Kelly stockte das Herz. Vor dem Schreibtisch des Managers saß Olivia Brazzi, die Frau des weltberühmten Chefkochs Luciano Brazzi. Obwohl Kelly den beiden regelmäßig über den Weg lief – bei Charity-Veranstaltungen und in diesem Restaurant –, kannten sie sich überhaupt nicht. Luca besaß die Mehrheitsbeteiligung am Lokal. Olivia war eng mit Durant befreundet, und ihre Anwesenheit war nichts Außergewöhnliches. Aber bis jetzt hatte Olivia Kelly stets ignoriert und sie wie eine normale Köchin behandelt, die ihre Aufmerksamkeit nicht wert war.

Olivia lächelte sie dermaßen freundlich und warmherzig an, dass Kelly sich einen verwirrenden Moment lang fragte, ob sie träumte und Olivia hier aufgetaucht war, um ihr Luca auszuliefern.

Mrs. Brazzi sah in ihrem schwarzen Crêpekleid, den glänzenden gemusterten Seidenstrümpfen, sieben Zentimeter hohen Pumps und den strategisch geschickt platzierten Diamanten atemberaubend elegant aus. Sie wirkte keinesfalls wie fünfzig. Nicht einmal wie zwanzig. Sie sah wie ein junges Mädchen aus. Ein anspruchsvolles Mädchen mit eisblauen Augen.

Kellys Magen verkrampfte sich. Was, um alles in der Welt, könnte sie von mir wollen? schoss es ihr durch den Kopf. Will sie vielleicht, dass ich das Catering für eine besondere Dinnerparty oder eine andere Veranstaltung übernehme?

Olivia schaute zu Philip. »Einen Moment, Philippe? Kann ich mit Kelly kurz allein sprechen?«

Kelly wurde schwindelig. Auf ihrer Liste der Ereignisse, mit denen sie am wenigsten gerechnet hätte, stand ein privates Gespräch mit Olivia Brazzi genauso weit oben wie eine Entführung durch Außerirdische.

»Selbstverständlich, Olivia«, antwortete Philip und küsste ihr die Hand, bevor er den Raum verließ. Kelly hätte am liebsten laut aufgelacht.

»Ms. Matlock, bitte«, schnurrte Olivia. »Setzen Sie sich doch einen Moment.« Sie deutete mit ihrer schmalen gepflegten Hand auf den Stuhl an ihrer Seite.

Kelly sprach ein kurzes Gebet. Um was auch immer es hier geht, bitte lass es schnell vorüber sein!

»Es tut mir leid, dass unser erstes Treffen so merkwürdig ist, Ms. Matlock, allerdings bin ich hergekommen, um sie zu bitten, nicht mehr mit meinem Mann zu schlafen.«

Kelly riss die Augen weit auf, obwohl sie sich vorgenommen hatte, keine Unsicherheit zu zeigen. »Ist das Ihr Ernst?«, stieß sie beschämt hervor.

»Oh, ja sicher«, erklärte Olivia.

»Mrs. Brazzi. Ich schlafe nicht mit Luca!«

»Vielleicht schlafen Sie dabei nicht viel … Nun, lassen Sie uns die Sache rasch und in Ruhe regeln. Ja?« Sie zog eine Augenbraue hoch.

Nun, immerhin redete Olivia nicht lange um den heißen Brei herum. Und es klang verdächtig danach, als ob Olivia und Luca nicht so getrennt waren, wie Luca behauptet hatte.

Natürlich schlief Kelly nicht mit ihm! Allerdings war es wohl am besten, nichts mehr dazu zu sagen, entschied sie, weil sie befürchtete, dass man ihr sonst die Gefühle für Luca vom Gesicht ablesen konnte. Sie schluckte ihre Empfindungen hinunter. Zumindest versuchte sie es.

Kelly war sehr hübsch; sie wusste, dass sie hübsch war. Doch Olivia war bildschön. Und schick. Und modisch; erfahren. Ihre mondäne und zurückhaltende Selbstsicherheit war ein wenig beängstigend. Kelly hatte sich schon gegen die teuflischsten Bosse der Welt behauptet, aber die sanft sprechende Mrs. Brazzi schüchterte sie total ein.

»Luca hat mir alles erzählt. Wie Sie sich kennengelernt haben. Wie lange Sie sich schon treffen und so weiter. Das ist ein alter Hut. Natürlich sind Sie nicht die Erste«, erklärte Olivia. »Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen das inzwischen bewusst ist. Mein Mann scheint eine ganz spezielle Vorliebe für Blondinen zu haben. Sie brechen den Kontakt bitte ab?«

Kelly war klar, dass sie am besten dazu schweigen sollte. Jedoch war das alles ein bisschen zu verrückt, um es einfach so stehen zu lassen. »Mit allem gebotenen Respekt, Mrs. Brazzi. Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«

»Ihre Affäre mit Luca dauert nun schon drei Monate. Vielleicht sogar vier? Sie sind sich bei einer Charity-Veranstaltung begegnet – ich war übrigens auch dort. Sie mögen es, sich über Gerichte auszutauschen. Das führt zu allem anderen – für Luca ist Essen gleichbedeutend mit Leidenschaft. Ihre Nummer war in seinem Handy gespeichert, deshalb habe ich ihn damit konfrontiert. Es ist nicht das erste Mal, dass wir so etwas durchmachen. Die Nachrichten, die Texte, die Fotos, all das. Bitte, das ist jetzt vorbei. Ich will einfach, dass es vorbei ist.«

Kelly erstarrte. »Ehrlich, Mrs. Brazzi, ich kenne Ihren Mann schon viel länger als drei Monate. Bereits seit drei Jahren bin ich hier Souschefin! Wir haben beruflich miteinander zu tun, manchmal regelmäßig – das hier ist sein Restaurant, auch wenn Durant glaubt, dass ihm das Lokal gehört, aber …«

Nachsichtig lächelte Olivia. »Bitte nennen Sie mich Olivia. Nach allem, was wir gemeinsam haben. Und, meine Liebe, Sie wollen es ganz sicher nicht fortsetzen. Falls es nicht bereits offensichtlich für Sie ist, erlauben Sie mir netterweise, Ihnen auf die Sprünge zu helfen – Luca besitzt nur eine kurze Aufmerksamkeitsspanne. Hat er Ihnen von seinen anderen Kindern erzählt? Denjenigen, die er außerhalb unserer Ehe gezeugt hat?«

Falls sie beabsichtigt hatte, Kelly zu schockieren, war es ihr nun gelungen. »Oh, Mrs. Brazzi, Sie schätzen mich total falsch ein. Das klingt mehr und mehr nach einer persönlichen Sache zwischen Ihnen und Ihrem Mann. Ich möchte lieber nichts davon wissen …«

»Wir haben es geschafft, nichts von diesen unglücklichen Liaisons und deren Resultaten nach außen dringen zu lassen, allerdings wenn Sie ihm wirklich nahestünden, hätte er mit Ihnen darüber gesprochen. Luca hat ziemlich viele Eroberungen auf dem Kerbholz. Soweit es mir bekannt ist, könnte es sich um ein Dutzend Kinder handeln. Und was die Bücher betrifft – ich habe ein Auge auf die Finanzen. Es tut mir leid, falls ich Sie verletze, aber je eher Sie sich von Lucas Durcheinander fernhalten, desto besser; das verspreche ich Ihnen. Das würde kein glückliches Ende nehmen. Und es ist kein Geld mehr zu holen.«

Kelly sprang auf. »Geld? Sie denken doch nicht …« Und dann hätte sie sich selbst in den Hintern treten können. Wenn sich das nicht wie ein Geständnis anhörte. Allerdings war die Unterstellung, sie könnte hinter seinem Vermögen her sein, irgendwie beleidigender als die Anschuldigung, sie könnte etwas mit Luca haben!

»Es tut mir wirklich leid«, meinte Olivia. »Ich wollte Sie nicht kränken. Ich bin mir sicher, dass Sie ihn wahnsinnig lieben. Sie sollten sich im Klaren darüber sein, dass die Mütter seiner Kinder, die Luca finanziell unterstützt, nichts davon haben. Sie sind gezwungen, sich einzuschränken und ein einfaches Leben zu führen. Und traurigerweise sind sie meinen Kindern nicht willkommen. Wie Sie sich sicher denken können, gefällt es ihnen gar nicht, dass ihr Vater sich nicht im Griff hat. Sie halten sehr loyal zu mir.«

»Mrs. Brazzi, ich wollte von solchen Dingen wie außereheliche Kinder eigentlich gar nichts wissen, denn das empfinde ich als zu vertraulich. Ich rede mit Luca über Rezepte und Menüfolgen, Restauranttipps und Karrieremöglichkeiten. Er ist mein Mentor und Freund, aber nicht mein …«

»Sparen Sie es sich, Ms. Matlock. Ich wäre sicher nicht so lange mit Luca zusammen, wenn ich so naiv wäre. Sie rufen ihn mehrmals am Tag an!«

»Das sind Rückrufe«, beharrte Kelly. Das entsprach der Wahrheit – falls sie häufiger miteinander telefonierten, dann, weil sie seine Fragen beantwortete. Sie hatte nie von sich aus zum Hörer gegriffen. Sie wollte nicht bedauernswert oder verzweifelt erscheinen. »Ich würde ihn nie nerven wollen! Er ist ein viel beschäftigter Mann!«

Olivia beugte sich näher zu ihr. »Ich habe die Telefonliste gesehen, meine Liebe. Ich weiß, dass Sie in meinen Ehemann verliebt sind, und das müssen wir beenden. Und zwar sofort.«

Na gut, dachte Kelly. Die Beziehung, falls man es so bezeichnen konnte, würde hiermit vorbei sein. Doch ihr missfiel, dass sie vollkommen falsch eingeschätzt wurde, dass ihr zum Beispiel zugetraut wurde, hinter Lucas Geld her zu sein. Luca hatte ihr erklärt, dass er und Olivia getrennte Wege gingen, auch wenn sie noch unter einem Dach wohnten. Dass sie schon seit gut zwanzig Jahren nicht mehr im selben Bett schliefen, dass sie nur noch wegen der Kinder und aus gesellschaftlichen Gründen zusammenblieben. Kelly war nie seine Geliebte gewesen!

All das war bereits gesagt worden. Dennoch hatte sich Kelly schon seit Langem eingestehen müssen, dass ihr Verhältnis zu ihm nicht ganz so unschuldig war, wie sie vorgab. Luca umwarb sie mit Essen und Worten, behauptete, sich in sie verliebt zu haben, beteuerte, dass er sie liebte. Und obwohl sie deutlich gemacht hatte, dass sie sich nicht mit einem verheirateten Mann einlassen würde, saugte sie sein Lob und seine Bewunderung in sich auf wie ein bedürftiges kleines Hündchen.

Trotzdem konnte sie sich nicht vorstellen, was Olivia Brazzi zu der Annahme verleitet hatte, Kelly hätte eine sexuelle Beziehung mit ihrem Mann.

Kelly wollte sie hinhalten, bis sie mit Luca gesprochen und herausgefunden hatte, was da ablief. »Im Ernst, Mrs. Brazzi, ich würde Ihre Familie niemals auseinanderreißen wollen. Luca hätte Ihnen die Unannehmlichkeit, hierherzukommen, um mit mir zu reden, ersparen müssen. Falls er mir erklären würde, es wäre das Beste, wenn wir nicht mehr miteinander befreundet wären, würde ich es tatsächlich verstehen. Er ist nicht meine Geisel.«

Doch was hatte Mrs. Brazzi gesagt – Vorliebe für Blondinen, viele Eroberungen, außereheliche Kinder? Nichts davon entsprach dem, was Luca ihr erzählt hatte.

Aber natürlich nicht, schalt sie sich selbst. Welch eine große Überraschung.

Olivia lachte. »Was denken Sie denn, wer mich geschickt hat, Schätzchen? Es ist nicht das erste Mal, dass ich hinter ihm herräumen muss.«

»Sind Sie verrückt?« Kelly erhob die Stimme, bevor sie sich bremsen konnte.

»Mir ist bewusst, dass ein nicht gerade höflicher Ton in der Küche weit verbreitet ist.« Olivia sah sie finster an. »Glauben Sie mir, ich habe das an mir selbst auch schon einige Male beobachtet, aber es ist nicht besonders liebenswürdig. Ja, Luca hat mich geschickt, damit ich mit Ihnen spreche. Er hat angenommen, dass Sie es begreifen, wenn ich mit Ihnen rede.«

»Und genau das verstehe ich nicht. Weshalb sollte er so mit mir umgehen? Ich bin mit Sicherheit keine Gefahr für Sie.« Kelly schüttelte den Kopf. »Er müsste mir doch nur sagen, dass Ihnen unsere Freundschaft nicht gefällt, und dann würde zwischen uns Funkstille herrschen.«

»Netter Versuch, Schätzchen«, erwiderte Olivia. »Während er letzte Nacht im Badezimmer war, habe ich mir sein Telefon vom Nachttisch geschnappt und es mir mal genauer angesehen. Ich fand jede Menge Anrufe der letzten Wochen, ein paar sehr sexy Nachrichten von Ihnen. Er hatte sie noch nicht alle gelöscht. Wir haben gestritten. Wir haben verhandelt. Er hat mir ein Angebot gemacht – wenn ich Sie bitten würde, ihn in Ruhe zu lassen, würde er aufhören, Ihre Anrufe entgegenzunehmen, und die Küchenmannschaft anweisen, ihn freundlich zu entschuldigen. Ich war einverstanden. Wie auch schon andere Male vorher. Können wir den Fall nun als erledigt betrachten?«

Kelly warf ihr einen düsteren Blick zu. Dann lachte sie laut auf. Sexy Nachrichten? Eher nicht. »Mrs. Brazzi, Sie haben die falsche Frau erwischt. Ich kann mich nicht erinnern, ihm je eine heiße Nachricht hinterlassen zu haben!« Und der Luca, den Kelly kannte, wäre auch eher imstande, vor Wut zu explodieren, als wimmernd ein Geständnis abzulegen und seine ihm entfremdete Ehefrau anzubetteln, eine Beziehung nur wegen des Inhalts der Mailbox seines Handys zu beenden! Kelly war viel zu paranoid und nervös, um eine verräterische Nachricht zu simsen oder auf die Mailbox zu sprechen. Sie konnte die Anzahl der Assistenten, die Luca beschäftigte, nicht einmal schätzen.

Sie hatte Luca geglaubt, dass er und seine Frau sich bereits über eine Trennung und die Scheidungsmodalitäten verständigt hatten. Es gab gelegentliche SMS der Art: Ich bin um fünf im Büro des Restaurants. Ich möchte mit dir sprechen. Hätte er diese Art von Textnachricht nicht an jeden seiner Küchenchefs, den er sprechen wollte, schicken können? An alle Kollegen? An Durant? An Philip?

Bestand die Möglichkeit, dass Olivia vielleicht ein bisschen verrückt war? Übertrieb sie einfach nur hoffnungslos, oder war sie tatsächlich nicht mehr ganz richtig im Kopf?

Um ehrlich zu sein, überraschte es Kelly, dass Luca überhaupt noch da war. Die meisten gut aussehenden Männer mit Lucas Macht und Einfluss hätten sich doch eher mit einer Frau abgegeben, die ihre Vorsicht in den Wind schrieb und sich in eine Affäre mit ihm gestürzt hätte. Genau wie Olivia es von ihr vermutete.

Es war irrelevant, dass Kelly sich danach sehnte; es war nebensächlich, dass Kelly ihn anbetete, dass sie dachte, sich in ihn verliebt zu haben. Es war ihr gelungen, ihn auf Abstand zu halten, weil er verheiratet war. Und … weil sie erbärmlich unerfahren war, was Männer betraf.

»Ich schätze, das müssen Sie mit Luciano ausmachen«, sagte Kelly kopfschüttelnd. »Ich habe keine Ahnung, was hier läuft.«

»Falls das der Fall sein sollte, Liebes, dann werden Sie sicher auch nicht zu traurig darüber sein, falls Sie ihn nicht mehr erreichen können.«

»Mrs. Brazzi, wenn er so ein Schürzenjäger und Betrüger ist, wenn er uneheliche Kinder von verschiedenen Geliebten hat und Ihren guten Namen in den Schmutz zieht, weshalb, um alles in der Welt, bleiben Sie denn bei ihm?«

»Das ist eine gute Frage. Da wir uns ein lebenslanges Eheversprechen gegeben und eine große Familie gegründet haben. Wir sind Geschäftspartner. Und ein internationales Unternehmen wie unseres aufzuteilen wäre grauenhaft kompliziert. Und Sie können sicher sein, dass mein Name auf allen Papieren, die irgendwie wichtig wären, steht. Abgesehen davon und trotz all seiner Schwächen liebe ich diesen Mann. Er ist ein Genie. Er ist ein begnadeter und komplizierter Mann, und er würde ohne mich gar nicht klarkommen. Er hat die Angewohnheit, seinen Frauen zu erzählen, dass da nichts mehr zwischen uns ist, aber das stimmt natürlich nicht – wir schlafen jede Nacht miteinander. Wir sind Mann und Frau, Liebes. So, und nun tun wir Folgendes«, erklärte sie. »Er hat mir versprochen, dass er den Kontakt zu Ihnen abbrechen wird. Ihre Affäre ist ab sofort beendet, und Sie können sich den nächsten verfügbaren Liebhaber suchen. Ich danke Ihnen, dass Sie mir Ihre Zeit geschenkt haben.«

Sie drehte sich um, und bevor Kelly auch nur ein Wort sagen konnte, hatte Olivia schon die Hand an der Klinke der Bürotür, um zu verschwinden.

Kelly verlor die Nerven und platzte mit ihren Gefühlen heraus. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich die mutmaßlichen Freundinnen des Mannes, den ich liebe, vertreiben würde. Weshalb machen Sie das?«

Olivia wandte sich nach ihr um. Sie lächelte geduldig. »Vertrauen Sie mir, ich habe meine Gründe. Eine Milliarde Gründe. Wirklich. Guten Abend, Ms. Matlock.«

Kelly kehrte in die Küche zurück, wo es heiß, dunstig und hektisch zuging. Es herrschten das übliche Halb-acht-abends-Chaos und Geschrei. Wie in Trance tauschte sie ihre makellose weiße und gestärkte Jacke gegen ihre leicht verkleckerte und schlang sich wieder die Schürze um die Hüften. Natürlich war es möglich, dass Luca sie angelogen hatte; vielleicht versuchte er tatsächlich einfach nur, sich auszutoben, wie Olivia vermutete.

Oder es gab eine Milliarde von Gründen, weshalb Olivia log, wenn sie behauptete, dass Luca sie beauftragt habe, Kelly wegzuschicken.

Da Kelly das nicht so schnell herausfinden würde, marschierte sie zurück in die Küche und begann den Betrieb zu leiten, Bestellungen zu kontrollieren, Geschirr an das Personal weiterzuschieben, die Beiköche bei der Arbeit zu beobachten und überall da einzuspringen, wo ihre Hilfe benötigt wurde.

Luca besaß viele Restaurants und war Geschäftspartner von Dutzenden, falls nicht Hunderten von Lokalen weltweit. Er vermarktete eine eigene Lebensmittelproduktreihe und war regelmäßig im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu sehen, und dennoch kannte ihn Kelly, was nicht weiter verwunderlich war. Er hatte eine besondere Vorliebe für die französisch-amerikanische Küche und hatte sich vor ein paar Jahren mit Durant zusammengeschlossen, um das La Touche zu eröffnen. Da sich eines von Lucas zahlreichen Häusern in der Bay-Gegend befand, tauchte er gerne und oft in seinem Laden auf. Während seine Frau und seine Freunde möglicherweise irgendwo zu Abend aßen, gehörte es zu den wirklichen Vorzügen von Luca, dass das Kochen trotz seiner anderen Geschäfte und seiner TV-Shows für ihn immer noch das Wichtigste war. Und Kelly mochte es, wenn er da war – jeder hielt eine respektvolle Distanz zu ihm ein, und der gesamte Küchenbetrieb lief, sobald er anwesend war, so geordnet ab wie sonst nie. Möglicherweise weil sich Durant, der klug genug war, sich in Gegenwart seiner »besseren Hälfte« unauffällig zu verhalten, wie ein Profi benahm, wenn Luca im Haus war.

Kelly hatte Luca sofort gemocht, sich allerdings nie vorstellen können, dass er ihre Zuneigung erwiderte. Er hatte ihr den Job als Küchenchef versprochen, bevor er sich ihr wenig später in romantischer Absicht genähert hatte.

Sie probierte zu ignorieren, dass Durant und Philip sich vor dem Kühlraum unterhielten. Die beiden Männer redeten normalerweise nie miteinander. Normalerweise kämpften sie wie räudige Straßenköter um die Macht im Restaurant. Kelly vermutete, dass es sich bei dem Gespräch der beiden um sie drehte.

Das Schwindelgefühl in ihrem Kopf kehrte zurück, doch sie ignorierte es. Kelly brüllte, dass der Lachs fertig war, die Crème brûlée zum Flambieren bereit und das Filet schon zu lange auf dem Herd stand.

Sie hatte ein paar Schwierigkeiten beim Atmen, und ihr Herz raste. Dann plötzlich spürte sie ein schmerzhaftes Stechen in ihrer Brust. Das passiert vermutlich, wenn die Ehefrau eines Mannes dich aufsucht, weil sie dich um das Ende einer Affäre bitten möchte, von deren Existenz du nicht einmal eine Ahnung hattest, dachte Kelly. Vermutlich habe ich es nicht anders verdient! Ich wusste immer, dass ich ihm hätte sagen sollen: »Großartig, komm wieder, nachdem du geschieden bist!«

Aber den schlimmsten Schmerz verursachte ihr die Vorstellung, dass Luca sie einfach so fallen lassen wollte – zuzugeben, dass er ihr nahestand, vielleicht zu nah, und dann seine Frau vorschickte, um die Sache zu beenden.

Kelly keuchte. Sie bekam kaum noch Luft und griff sich an die Brust. Unheimliches Sodbrennen; sie litt sonst nie unter Sodbrennen. Ihr brach der Schweiß aus.

Durants Gesicht, auf dem ein grausames Grinsen zu sehen war, tauchte vor ihr auf, was nicht verwunderlich war – sie waren beide eins siebenundsechzig groß. »Du hast mit Luca Brazzi geschlafen, stimmt’s, du blöde Kuh?«

Kelly verdrehte die Augen und sackte zusammen. Dann wurde alles um sie herum schwarz.

Als Kelly wieder aufwachte, lächelte ein Mann in einem marineblauen T-Shirt sie an und rollte sie in einen Wagen mit blinkendem Blaulicht. Man hatte ihr eine Sauerstoffmaske auf Mund und Nase gesetzt. Ihr wurde bewusst, dass sie auf einer Bahre oder Krankentrage lag; sie spürte die Bewegungen, sowie sie hinten in den Rettungswagen hineingeschoben wurde. »Ja, hallo«, sagte der Mann, nachdem er die Türen geschlossen hatte. »Geht es Ihnen gut?«

Sie zog sich die Sauerstoffmaske ab. »Wo … Was …?«

»Sie sind ohnmächtig geworden und haben sich beim Fallen leicht am Kopf verletzt. Ihr EKG scheint auf den ersten Blick ganz in Ordnung zu sein, dennoch muss es noch einmal von einem Kardiologen überprüft werden. Ihr Blutdruck ist viel zu hoch, und Ihr Puls geht ein bisschen zu heftig.« Als Nächstes stellte er ihr eine Mengen Fragen – wie heißt der Präsident, in welchem Jahr befinden wir uns, wo arbeiten Sie? Er hörte ihr Herz ab und checkte erneut ihren Blutdruck. Sie hob die Hand und entdeckte eine Kanüle. »Wir haben Ihnen einen Zugang gelegt, falls wir Ihnen Medikamente geben müssen. Haben Sie Asthma? Allergien?«

Es war der reine Instinkt, der sie dazu veranlasste, sich aufzurichten. »Nein, alles in Ordnung, ich bin nur einfach …«

Er drückte sie vorsichtig an der Schulter wieder zurück auf die Trage. »Wir sind bald da, Miss Matlock. Vertrauen Sie mir. Sie müssen kurz zum Arzt.« Sie beobachtete, wie er nach der Kanüle fasste und etwas hineinspritzte. Dann lachte er unglücklich. »Diese Küche«, stieß er schnaubend hervor. »Wahrscheinlich betrete ich nie wieder ein Restaurant …«

»Wie?«

»Im Ernst«, meinte er. »Da sind Sanitäter in der Küche, und die Leute schreien sich was wegen des Spinats zu und steigen einfach über uns! Machen die denn nicht mal dann eine Pause, wenn der Chefkoch vielleicht einen Herzinfarkt hat?«

Sie legte ihre Hand auf die Brust, und ihr Blick wurde panisch. »Habe ich einen Herzinfarkt?«

»Nee, ich glaube nicht. Sie sind jetzt stabil. Allerdings haben Sie ein paar bemerkenswerte Symptome. Einer der Köche hat gesagt, dass Sie sich an die Brust gegriffen haben und Schwierigkeiten beim Atmen hatten. Sie müssen erst zum Notarzt, bevor Sie irgendwohin dürfen. Ernsthaft, diese Küche ist ein Irrenhaus.«

Plötzlich war sie sehr müde und ließ sich auf die Liege zurückfallen. »Ja, erzählen Sie mir mehr davon.«

»Stehen Sie die ganze Zeit unter so einem Stress?«, erkundigte sich der Sanitäter.

Sie nickte, aber was sie dachte, war: Bis auf dass mich Lucas Frau aufgesucht hat, war das ein ziemlich normaler Abend.

Er lachte hohl. »Unglaublich. Ich musste die Küche räumen lassen …«

»Was?«

»Ich habe ihnen gesagt, sie sollen die Herde und Öfen ausstellen und sich zum Teufel scheren oder ich würde die Polizei rufen, um sie aus der Küche entfernen zu lassen«, fuhr er fort. »Die Sache ist die, dass eine Menge Leute stressige Jobs haben – Chirurgen, Aktienhändler, Piloten. Doch ich würde niemals in so einer Küche arbeiten.«

»Kochen Sie nicht gerne?«, fragte sie ihn erschöpft.

»Ich koche sehr gerne. Ich wette, ich bin der beste Koch des Hauses.«

Jetzt grinste er. »In der Feuerwehrzentrale. Und natürlich ist es auch stressig als Rettungsassistent. Allerdings habe ich den wesentlichen Unterschied sofort bemerkt, kaum dass ich die Küche betreten hatte. Wir arbeiten als Team. Und wir verlassen uns aufeinander.«

Kelly wurde schwummrig. Sie konnte kaum noch die Augen offen halten. »Haben Sie mir etwas gegeben?«

»Valium«, erklärte er. »Der Notarzt wollte es so. Es wird Sie ein bisschen zur Ruhe kommen lassen. Sie sind aufgeregt, was die Ursache für den schnellen Puls und den hohen Blutdruck sein könnte.«

»Wir arbeiten auch als Team. Wir sind eine Fünfsterneküche …«

»Ja, doch in Ihrem Team werden die Schwachen ausgegrenzt. Das kann einem ganz schön zusetzen.«

»Hm. Und das Valium ändert etwas daran.«

Er lächelte. »Schlafen Sie ein wenig. Wir sind fast da.«

»Haben Sie meine Handtasche?«, fragte sie. »Kann ich mein Handy kriegen?«

»Wir bringen Sie erst mal in die Notaufnahme und lassen erst einmal die Ärzte einen Blick auf Sie werfen«, erklärte er. »Dann erledigen wir das mit dem Telefon später. Sie sind jetzt sowieso zu kaputt, als dass Sie es sinnvoll nutzen könnten.«

Offensichtlich starb sie nicht. Jedenfalls noch nicht. Und sie hatte ihr Handy immer noch nicht wieder. Es musste ihr aus der Tasche gefallen sein, während sie in die Ambulanz gebracht worden war.

Nach fünf Stunden in der Notaufnahme hatte man sie schließlich wieder nach Hause entlassen. Sie hatte Kontrolltermine für einen Stresstest beim Kardiologen vereinbart und wegen einer generellen Untersuchung beim Internisten und um ihren erhöhten Blutdruck checken zu lassen, der möglicherweise stressbedingt war. Die Blutuntersuchung hatte ergeben, dass sie außerdem unter einer Anämie litt; ihr Schädel-CT war negativ – keine Gehirnerschütterung.

Trotzdem ging sie am nächsten Morgen als Erstes ins Restaurant, da sie ihr Telefon suchen wollte. Als sie es nicht finden konnte, rief sie Philip zu Hause an und weckte ihn.

»Wer hat den Rettungssanitätern meine Handtasche gegeben?«, wollte sie von ihm wissen.

»Ich«, antwortete er und gähnte herzhaft. »Ich bin der einzige Mensch, der an alle Schränke kommt. Ich hatte mir gedacht, dass du deinen Ausweis und deine Krankenversicherungskarte brauchst.«

»Aber mein Handy ist verschwunden. Ich habe nicht mal einen Festnetzanschluss in meiner Wohnung, und alles, Adressen, Termine und Verabredungen, ist in diesem Telefon gespeichert!«

»Ich sehe nach, wenn wir öffnen, doch ich habe es gestern nirgends entdeckt, als wir zumachten.«

»Ich bin jetzt im Restaurant«, entgegnete sie. »Ich kenne den Alarmcode.«

»Hör mal zu«, erwiderte Philip. Langsam schien er wach zu werden. »Du musst dir ein paar Tage freinehmen, damit du herausfindest, weshalb du zusammengebrochen bist. Diese Unterbrechung kostet uns Geld. Was haben die im Krankenhaus gemeint?«

»Nichts Besonderes«, erklärte sie ihm. »Obwohl mit mir alles bestens ist, mache ich ein oder zwei Tage Urlaub. Ich muss noch mal zu ein paar Nachuntersuchungen, um mir ein paar … Vitamine geben zu lassen … und ich muss mir offenbar ein neues Telefon kaufen.«

»Sieh mal in den Schränken und bei den Küchenutensilien nach et cetera. Vielleicht hat es jemand aus dem Weg gekickt oder so.«

Sie seufzte. »Das habe ich schon getan, Philip.«

»Dann tut es mir leid«, sagte er und legte auf.

Sie sprach noch eine Weile in den Hörer hinein. »Danke, ich fühle mich gut, Philip! Ich bin mir sicher, dass alles gut ist, aber es ist so nett von dir, dass du mich fragst, ob du etwas für mich tun kannst, um mir zu helfen!« Und dann knallte sie das Telefon auf den Schreibtisch.

Sie fühlte sich nicht so besonders; sie war immer noch ein wenig benommen, eine Nachwirkung des Valiums. Der Notarzt hatte deutlich gemacht, dass nicht nur ihr Blutdruck zu hoch war, sondern dass ihre Zähne sich vom vielen Knirschen abnutzten. Schwindel und Herzklopfen waren vermutlich von einer Angstattacke verursacht worden – was, wenn möglich, überprüft werden sollte. Stress, Anämie und Erschöpfung führten dann zu einem Ohnmachtsanfall.

»Werde ich daran sterben?«, hatte Kelly gefragt. Vielleicht konnte sie sich die Nachuntersuchungen sparen.

Der Arzt hatte mit den Schultern gezuckt und geantwortet: »Es wird auf jeden Fall Ihre Lebensqualität mindern. Sie sollten wirklich in Erwägung ziehen, ein bisschen Tempo rauszunehmen und kürzerzutreten.«

Glücklicherweise konnte sie sich an die wichtigsten Telefonnummern, die sie auf ihrem alten Handy gespeichert hatte, auch so erinnern – die ihrer Schwester Jillian und die von Luca zum Beispiel. Zu ihrer großen Schande rief sie mit dem inzwischen neu besorgten Handy Luca zuerst an. Seine Mailbox war an. Sie hinterließ ihm folgende Nachricht: »Ich habe mein Telefon verloren und habe jetzt eine neue Nummer, die ja jetzt automatisch in deiner Anrufliste gespeichert ist. Aber falls es nicht so ist, die Vorwahl bleibt dieselbe, 555-7604. Bitte ruf mich an, ich hatte einen ziemlichen Schock. Wenn ich nichts von dir höre, muss ich annehmen, dass deine Frau mir die Wahrheit gesagt hat – dass du sie zu mir geschickt hast, damit sie mit mir spricht und mir erzählt, dass wir nicht mehr miteinander befreundet sein können – weder beruflich noch privat.« Anschließend schickte sie Luca eine SMS mit demselben Inhalt. Dann versuchte sie ihm eine Mail mit wieder demselben Text zu schicken, musste allerdings erst einen neuen Account erstellen. Das Handy zu verlieren, auf dem alle Accounts und Zugangsdaten gespeichert waren, erwies sich als unglaublich kompliziert.

Aber zu ihrer großen Enttäuschung hörte sie den ganzen Tag lang nichts von Luca.

Nachdem sie sowohl beim Internisten als auch beim Kardiologen gewesen war, rief sie Shannon an, eine von Lucas persönlichen Assistenten. »Hi, Shannon, hier spricht Kelly Matlock, Souschefin vom La Touche. Es sieht so aus, als ob ich mein Handy verlegt hätte, und deshalb habe ich jetzt eine neue Nummer und E-Mail-Adresse. Ich versuche, Luca zu erreichen. Ich muss etwas Geschäftliches mit ihm besprechen. Würden Sie ihm bitte meine neue Telefonnummer und E-Mail-Adresse geben und ihn bitten, mich anzurufen oder so?«

»Natürlich, Ms. Matlock! Das mache ich sehr gerne. Ich bin in einer Stunde mit ihm verabredet.«

Doch das neue Handy klingelte nicht.

Kelly meldete sich bei Jillian in Virgin River, sagte ihr allerdings nur, dass ihr Handy weg war und sie nun eine neue Nummer hatte. Den Rest wollte sie ihr erzählen, wenn die Untersuchungsergebnisse vorlagen und die Krise vorüber war, denn sie wollte ihre Schwester nicht unnötig beunruhigen. Außerdem hatte Jillian gerade selbst erst mit schwierigen Zeiten zu kämpfen gehabt und war erst seit Kurzem wieder mit ihrem Freund zusammen. Kelly igelte sich zu Hause ein und wartete, dass das neue Handy klingelte. Sie überwand ihren Stolz und probierte es noch ein paar Mal auf Lucas Handy. Sie hinterließ ihm dabei Nachrichten, die sich professionell wie immer anhörten.

Am zweiten Tag kriegte sie die Ergebnisse der Tests, denen sie sich unterzogen hatte. Sie fielen glücklicherweise nicht halb so katastrophal aus wie befürchtet. Kelly bekam Eisenspritzen und Medikamente gegen ihren hohen Blutdruck sowie ein niedrig dosiertes Mittel gegen ihre Ängste verschrieben sowie ein einfaches Vitaminpräparat, das noch einmal extra Eisen enthielt. Bald würde sie wieder auf dem Damm sein; alle Ärzte empfahlen ihr eine bessere Ernährung – etwas Besseres als ein Fünfsternekoch liefern konnte? –, mehr Schlaf, weniger Druck und viel weniger Stress.

Sie lachte in sich hinein. Ja. Na gut.

Sie hatte die Jalousien in ihrem Apartment runtergelassen, dennoch konnte sie nicht schlafen. Ihr wurde bewusst, dass sie ihre Wohnung hasste. Die kleine Zweizimmerwohnung in der Innenstadt kostete aufgrund der Lage ein Vermögen, aber sie hatte dieses Apartment nur gemietet, weil es nah am Restaurant war und sie das Auto so nur selten brauchte.

Sie liebte die Stadt, doch sie hasste ihre Wohnung. Aber Himmel, sie verbrachte dort ohnehin nicht viel Zeit. Es kam ihr vor, als ob sich ihr Leben in den letzten drei Jahren nur rund um das Restaurant abgespielt hatte. Sie hatte Freunde, gute Freunde, allerdings sah sie sie kaum, da sie eigentlich nie Zeit hatte, um sich mit ihnen zu treffen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zum letzten Mal im Kino gewesen war. Arbeit, Arbeit, Arbeit – und vieles davon geschah nur, um ihre Stelle zu sichern, nicht aus Spaß an der Arbeit. Selbst ihr Liebesleben schien Anfang und Ende im La Touche zu finden.

Nach zwei ganzen freien Tagen kehrte sie wieder zurück. Ein paar Beiköche waren bereits in der Küche, wo sie hackten und schnippelten; keiner fragte danach, wie sie sich fühlte. Sie ging an die Arbeit und überprüfte den Inhalt des Kühlraums, während langsam weitere Angestellte eintrafen. Sie hörte einen Streit und erkannte die Stimmen von Philip und einem der Köche, widerstand aber dem dringenden Bedürfnis, den Grund dafür herauszufinden. Sie hätte sich gewünscht, dass Philip sich um den vorderen Bereich des Restaurants kümmerte und ihr die Verantwortung für ihren Bereich überlassen hätte, doch er mischte sich immer in jedermanns Angelegenheiten. Es dauerte nicht lange, bis Durant ein paar Köche beschimpfte und Philip erklärte, dass er ein nutzloser Idiot sei, der sich bitte aus der Küche heraushalten solle.

Bald war das Küchenpersonal vollzählig; Lärmpegel und Temperaturen stiegen zusammen mit der Anspannung bald ins Unermessliche. Jeder hatte seinen Bereich, entweder Gemüse, Nudeln, Fisch, Fleisch oder Pasteten. Durant entdeckte etwas, das ihm nicht gefiel. Er goss den Inhalt eines Soßentopfes in den Ausguss und nannte die Köchin ein dummes, inkompetentes Miststück. Sie war eine junge Beiköchin, die er gerne beschimpfte, weil er sie damit zum Weinen brachte. »Matlock!«, brüllte er. »Arbeiten Sie, oder beschäftigen Sie sich nur mit sich selbst?«

Sie ignorierte ihn und holte Filets und Lachs aus dem Kühlschrank.

Durant übte Kritik, alles, was er sah, war Mist. Kelly spürte, wie ihr Puls nach oben schoss und sich Schweißperlen auf ihrer Stirn bildeten. Gott, sie hoffte, sie würde nicht noch einmal in Ohnmacht fallen. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie sich keine weitere Fahrt im Rettungswagen leisten konnte.

Ihr Telefon, das sie jetzt in ihrer Hosentasche verstaute, gab einen kurzen Ton von sich, der ihr ankündigte, dass sie eine Nachricht erhalten hatte. Statt sich auf ihren Verstand zu besinnen, betete sie, dass die SMS von Luca war, der ihr schrieb, dass die ganze Sache mit seiner Frau nicht stimmte und dass er sie liebte. Sie konnte sich zwar nicht vorstellen, wie so etwas sein konnte, dennoch hoffte sie es inständig. In dieser heißen, fast feindseligen Küchenatmosphäre fühlte sie sich so einsam. So einsam, dass sie hätte heulen können.

Lustig, dass sie bisher in den letzten achtundvierzig Stunden, seit Lucas Frau sie runtergemacht und aus Lucas Leben verjagt hatte, nicht eine Träne vergossen hatte. Hätte sie sich nicht das Herz aus dem Leibe weinen müssen?

Bei der SMS handelte es sich um ein Foto. Es zeigte einen riesigen Berg Kürbisse, die von Ranken umgeben waren, und stammte von Jillian. Der Text lautete: Die Blätter auf den Bäumen verfärben sich vor unseren Augen! Kürbisse und Melonen sind reif, wachsen aber immer noch weiter! Wir sitzen auf unserer Veranda, trinken Limonade und genießen den Anblick – ich habe noch nie so etwas Schönes gesehen und wünschte, du wärst hier! Xoxoxo

»Matlock!«, brüllte Durant. »Keine Handys in der Küche! Leg es weg, oder ich schiebe es dir dahin, wo die Sonne nicht scheint.«

Sie lächelte und vergrößerte das Foto der Kürbisse. Ich habe noch nie so etwas Schönes gesehen und wünschte, du wärst hier!

»Matlock, du blöde Kuh, ich sagte …«

Und plötzlich hatte sie genug. Sie war fertig mit allem.

Kelly steckte das Telefon in ihre Tasche und wandte Durant den Rücken zu. Vorsichtig legte sie ihre eigenen Messer in das Lederetui und ging dann zu ihrem Spind. Sie hatte nie viel in diesem Schrank aufbewahrt. Sie stopfte ein paar Chefkochjacken, Ersatzhosen für die Küche, ihr zweites Paar Schuhe, Ausdrucke des Arbeitsplans und der Speisekarte in ihren Rucksack. Ihre Tasche passte ebenfalls, wenn auch nur knapp, noch in den Rucksack hinein.

Ich habe hier nichts, dachte sie. Ich habe hier niemanden. Luca wird mir kein eigenes Restaurant geben. Durant wird mich niemals weiterkommen lassen. Jeder Tag hier ist die reine Ausbeutung. Lebensqualität? Dass ich nicht lache. Ich habe nichts außer Bluthochdruck, Knirschschäden an den Backenzähnen und Angstattacken.

Sie nahm ihren Rucksack und marschierte durch die Küche zur Hintertür.

»Matlock, wenn Sie jetzt gehen, werde ich dafür sorgen, dass Sie in dieser Stadt nie wieder arbeiten dürfen!«

Sie warf einen Blick über die Schulter und lächelte ihm zu. »Können Sie mir das versprechen?«

Sie verließ die Küche.

Ihr folgten Applaus und Beifallsrufe vermischt mit Durants Gebrüll und Beschimpfungen. Es war unmöglich zu wissen, ob die Beiköche ihr applaudierten, weil ihre Stelle nun frei wurde oder weil sie ihren Mut bewunderten.

Es spielte keine Rolle. Sie lief nach Hause in die Wohnung, die sie so hasste, und packte ihr Leben zusammen.

2. KAPITEL

Alles, was Kelly wirklich wollte, war, sich nicht mehr so einsam zu fühlen, sich zu entspannen, aufzuhören mit dem Zähneknirschen und dieser Küchenhölle zu entkommen! Sie betrachtete das Foto der Kürbisse mindestens zwanzig Mal; sie lud es auf ihren Laptop, um es vergrößern zu können. Und sie stellte sich vor, auf der Veranda zu sitzen und den Blättern bei ihrem Wechselspiel der Farben zuzusehen.

Natürlich dachte sie als Köchin im Zusammenhang mit den Herbstfarben auch an heiße Suppen, noch warmes, weiches Brot und einen aufgehenden Hefeteig.

Ihre Schwester Jillian hatte während ihrer zehn Jahre bei einem Softwareunternehmen ein Vermögen gemacht, was es ihr erlaubt hatte, ein großes viktorianisches Haus auf vier Hektar Ackerland zu kaufen. Aber Souschefs, die weder ein eigenes Restaurant noch eine eigene Lebensmittelproduktreihe besaßen oder eine TV-Show hatten, verdienten nur ein karges Gehalt. Kelly hatte zwar etwas Geld beiseitegelegt, dennoch war sie weit von einem Leben im Überfluss entfernt. Ganz bestimmt würde ihre Schwester sich freuen, wenn sie, während sie sich von Durant und Co. erholte, bei ihr wohnte. Kelly schmiedete den Plan, sich im Internet nach Stellenangeboten für einen ruhigeren Chefkochposten umzusehen. Im Augenblick waren ihr Geld und Ansehen wesentlich weniger wichtig als ein bisschen Ruhe und Frieden.

Ohne Jillian ein Wort darüber zu sagen, was sie gerade durchgestanden hatte, packte Kelly alles zusammen und ließ nur ein paar Kisten in der Wohnung stehen. Da sie nicht viel besaß, dauerte es nicht lange. Sie fuhr mit dem Auto und nahm ein paar Kleidungsstücke, ihre Gewürze und Messer und, weil Jill keine besonders gute Köchin und ihre Küche nicht besonders gut ausgestattet war, einige ihrer Lieblingspfannen und Tischdecken mit. Die Wohnungsschlüssel hinterließ sie beim Nachbarn, damit das Umzugsunternehmen in das Apartment konnte, rief ihre Vermieterin an, um ihr mitzuteilen, dass sie zum Ende des Monats die Wohnung kündigte, und machte sich auf den Weg. In San Francisco gab es eine lange Warteliste für Apartments in der Innenstadt; es würde der Vermieterin nicht schwerfallen, einen Nachmieter zu finden.

Auf der Fahrt nach Virgin River begann Kelly sich eine Ausrede zu überlegen, weshalb sie ohne Vorankündigung, ohne zu fragen und ohne ihre Schwester über die Umstände zu informieren, so plötzlich bei ihr auf der Matte stand. Sie spürte, wie ihre innere Anspannung anstieg, je näher sie Virgin River kam. Jillian war immer die ungestümere der beiden Schwestern gewesen, während sich Kelly normalerweise immer an ihre fest gefassten, praktischen und langfristigen Pläne gehalten hatte. Jillian war diejenige gewesen, die sich ohne die richtige Ausbildung auf einen Job stürzte, sobald er ihr gefiel. Die spontane Jillian war auch diejenige, die sich Hals über Kopf in einen Mann verliebt hatte, den sie kaum kannte. Kelly war immer die solidere der beiden Schwestern gewesen. Oh, Jillian war fraglos brillant in allem, was mit PR, Marketing zu tun hatte – überhaupt in unternehmerischen Dingen. Und Jill ergriff Gelegenheiten, wenn sie sich ihr boten. Kelly nicht.

Und dennoch war es Kelly, die für einen wahnsinnigen, beleidigenden Chef gearbeitet hatte und die sich nach einem Mann sehnte, der mehr verheiratet als getrennt war, und die nun in eine Kleinstadt floh, bevor sie den nächsten Nervenzusammenbruch erlitt. Kelly, die Jillian bei allen Herausforderungen geholfen und unterstützt hatte, von der ersten Periode bis zum Studienbeginn. Und ausgerechnet Kelly fühlte sich nun wie eine totale Niete. Kelly war sich nicht sicher, ob Jill sie bemitleiden oder auslachen würde.

Sie schätzte, dass sie so gegen sechs Uhr in Virgin River eintreffen würde. Bevor sie zu Jillian nach Hause fuhr, entschied sie sich, erst einmal in Jacks Bar zu gehen, um sich mit einem Glas Wein oder Ähnlichem zu stärken. Kelly hatte in den letzten beiden Nächten kaum geschlafen und den ganzen Tag noch nichts gegessen. Wie denn auch, bei der überraschenden Wendung, die ihr Leben auf einmal genommen hatte?

Lief Holbrook betrat Jacks Bar und setzte sich auf einen Hocker an der Theke. Mitten in der Jagdsaison im Oktober war der Laden voll mit Männern, die Kakihemden, rote Westen und Jagdhüte trugen und ihr Feierabendbier genossen. Sie hockten alle in kleinen Grüppchen zusammen, und er war der Einzige, der alleine dort war.

Nicht zum ersten Mal dachte Lief darüber nach, dass er hier viel besser hinpasste als nach L. A., und das galt erst recht für Hollywood. Ursprünglich von einer großen Farm in Idaho stammend, fühlte er sich in Jeans, Stiefeln und Baumwollhemden wohler als in gebügelten Hosen und italienischen Schuhen.

Außerdem war er Autor und kein Schauspieler. Er arbeitete meistens zu Hause und nur manchmal hinter der Kamera, allerdings nie davor.

Lief war ein Mensch, der sich gerne draußen aufhielt, so war er erzogen worden – als Jäger oder Angler. Seine Geschichten fielen ihm meist entweder beim Jagen, Angeln oder bei handwerklichen Tätigkeiten ein. In der letzten Zeit hatte Lief mehr geangelt als geschrieben, mehr Selbstreflexion betrieben, als etwas aufs Papier zu bringen. Seine Stieftochter Courtney erforderte eine Menge Energie und Kraft. Sie war gerade vierzehn geworden, ein verwirrter Teenager, der seine Mutter vor ein paar Jahren verloren hatte. Seit rund zwei Jahren schien es stetig abwärts mit ihr zu gehen. Er musste sie aus L. A. in eine ruhigere Umgebung bringen, wo sie noch einmal versuchen konnten, ihre Beziehung zu verbessern.

Doch nicht heute Abend.

»Bier?«, fragte Jack ihn.

»Danke. Das wäre toll.«

»Wo ist deine Verabredung?«, erkundigte sich Jack und zapfte ihm ein Bier.

Lief grinste in sich hinein, weil er wusste, dass Jack sich auf Courtney bezog, die einzige Verabredung, die er in den letzten zwei Jahren gehabt hatte. »Wir hatten ein paar kleine Meinungsverschiedenheiten und müssen uns mal aus dem Weg gehen.«

»Ach was?« Jack stellte das Bier auf einen Untersetzer. »Worüber könnte ein Mann in den Vierzigern mit einem vierzehnjährigen Mädchen denn wohl groß in Konflikt geraten?«

»Kleidungsfragen. Die Wahl des Fernsehprogramms. Internetseiten. Hausaufgaben. Benehmen. Diät. Und Sprache, wie zum Beispiel Ausdrücke, die sie mir an den Kopf wirft, wenn sie sauer auf mich ist. Und sie ist ständig sauer auf mich.«

»Hast du mit dem Therapeuten gesprochen, von dem ich dir erzählt habe?«, wollte Jack wissen.

»Sie hat nächste Woche einen Termin, aber um ehrlich zu sein, tut mir der Kerl jetzt schon leid. Ich fühle mich schlecht, ihm das anzutun. Sie hat wirklich ein sehr loses Mundwerk.«

»Ich kenne Jerry Powell. Er ist härter, als er aussieht. Mein junger Freund Rick war bei ihm. Damals war Rick zwanzig und gerade mit einem Bein weniger aus dem Irak zurück und … meine Güte, war er schlecht drauf. Ich hatte nicht viel Hoffnung, dass er jemals darüber hinwegkommen würde, allerdings hat er es dann doch geschafft. Er hält große Stücke auf Jerry.« Jack wischte über den Tresen. »Er kümmert sich um eine Menge wütender und völlig durchgedrehter Kids. Ich vermute, er weiß, was er zu tun hat.« Jack beugte sich über die Theke. »Bei ihr liegt es wohl hauptsächlich am Tod ihrer Mutter?«

Lief nickte. »Das, und mit vierzehn auf eine neue Schule zu kommen, die nach eigenen Regeln funktioniert.«

»Damit habe ich nicht viel Erfahrung. Rick war wie ein Sohn für mich, und als er in diesem Alter war, war er der süßeste Junge, den man sich vorstellen kann. Irak hat ihn eine Zeit lang ziemlich auf den Kopf gestellt, aber jetzt ist er wieder gut in Schuss, trotz der Prothese und allem. Verheiratet, kümmert sich um seine Großmutter, schließt das College ab. Möchte Architekt werden. Wie findest du das?«

»Gute Wahl«, erwiderte Lief. »Ich habe in L. A. jahrelang Kulissen gebaut. Bauen gefiel mir – ich konnte nachdenken, während ich etwas Produktives getan habe.«

»Ach wirklich? Das war bestimmt sehr interessant. Da hast du sicher eine Menge Menschen kennengelernt, die …«

Jack wurde durch das plötzliche Erscheinen Kelly Matlocks unterbrochen. Tatsächlich verstummten alle Männer, die an diesem Abend die Bar bevölkerten. Wenn eine schöne Blondine eine Bar voller Jäger betrat, konnte es gar nicht anders sein.

»Wow«, stieß Lief hervor.

Kelly zog ihre Jacke aus, hängte sie auf einen Haken neben der Tür und bahnte sich einen Weg zu dem einzigen freien Platz an der Theke. Neben Lief. Bevor es ihm selbst bewusst wurde, war er schon aufgestanden, während sie sich hinsetzte.

»Also«, sagte Jack. »Ich hatte nicht erwartet, dich so schnell wiederzusehen.«

»Das habe ich selbst nicht erwartet. Wie geht’s dir?«

»Wunderbar. Kelly, das ist mein neuer Nachbar. Lief Holbrook. Lief, das ist Kelly Matlock, eine Chefköchin aus der Bay Area. Ihre Schwester wohnt hier.«

Kelly hielt Lief die Hand hin. »Freut mich.«

»Was darf’s denn sein, Kelly?«

»Wie stehen die Chancen auf einen guten gekühlten Wodka, den du mit ungefähr vier Oliven zusammenbringen könntest?«

»Ketel One für dich?«

»Perfekt.«

Erst danach schaute sich Kelly in der Bar um. »Ich war schon ein paar Mal hier, aber so voll habe ich es noch nie erlebt«, meinte sie zu Lief.

»Jagdsaison«, erklärte er ihr. »Ich glaube, Sie haben die Männer für eine Weile aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass eine so schöne Frau auftauchen könnte. Sie besuchen also Ihre Schwester?«

»Ähm-hm. Habe ich Jack richtig verstanden – dass Sie erst vor Kurzem hergezogen sind?«

»Das stimmt. Vor ungefähr einem Monat.«

Jack kehrte zurück und stellte das Getränk vor Kelly ab. »Probier mal, Kelly. Und sag mir, ob es deinen Anforderungen entspricht.«

Sie hob das Glas, trank einen winzigen Schluck, schloss kurz die Augen. Dann lächelte sie. »Du bist brillant«, lobte sie Jack.

Er lachte in sich hinein und griff unter den Tresen, um ein Schüsselchen mit Nüssen neben die Schale mit den Crackern zu stellen. »Ich mag es, wenn du mit mir flirtest, Kelly.« Dann wandte er sich ab, da er sich um die anderen Gäste kümmern musste.

»Soso«, sagte Lief. »Chefköchin?«

Sie nippte wieder an ihrem Drink. »Tja, das ist das Problem. Ich bin zwar immer noch Chefköchin, allerdings bin ich einfach aus der Küche abgehauen, während mein Boss mir hinterhergebrüllt hat, dass ich in San Francisco nie wieder einen Job finden werde. Ich dachte mir, dass ich mir hier lieber noch etwas Mut antrinke, Rückendeckung sozusagen, ehe ich meiner Schwester gestehe, dass ich arbeits- und obdachlos bin.«

Lief runzelte die Stirn. »Ich verstehe. Sie ahnt nicht, dass Ihr Besuch ein bisschen … äh … länger dauern könnte?«

»Sie ahnt nicht mal, dass ich sie überhaupt besuche. Ich habe ziemlich überstürzt gehandelt. Waren Sie schon mal in der Küche eines großen Restaurants?«

Er schüttelte den Kopf. »Kann man nicht sagen.«

»Es ist brutal. Man muss absolut furchtlos sein. Ich war immer eine gute Köchin, doch ich brauchte Jahre, bis ich genügend Rückgrat hatte, zurückzubrüllen oder fliegenden, vom Chef durch die Küche geschleuderten Objekten auszuweichen. Und offensichtlich entspricht das auch nicht meiner Natur. Ich bin eher Köchin als Straßenkämpfer.«

Er stützte sich mit dem Ellbogen auf der Theke ab und widmete ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit. »Und das wissen Sie, weil …?«

»Weil ich sicher war, dass ich prima damit klarkomme, ehe ich wegen des ganzen Stresses in der Notaufnahme gelandet bin.«

»Sie haben sich entschieden zu kündigen?«, fragte er das Offensichtliche.

Sie war sehr still, nahm einen Schluck ihres Wodka-Martinis, fischte eine Olive aus dem Drink und knabberte daran.

»Ganz so einfach ist die Sache nicht. Ich hatte einen lieben Freund und Mentor. Ich gebe zu, dass wir uns möglicherweise etwas zu nahegekommen sind, allerdings hat er mir geschworen, dass er sich von seiner Frau getrennt habe, dass er kurz vor der Scheidung stünde. Dann suchte mich seine Frau bei der Arbeit auf. Hatte ich schon erwähnt, dass dieser Mentor gleichzeitig einer der Eigentümer des Restaurants ist? Sie hat mir erklärt, dass ihr Mann sie zu mir geschickt habe, um mir mitzuteilen, dass ich mich still und leise aus dem Staub machen soll. Es dauerte ungefähr fünf Minuten, da hatte sich schon rumgesprochen, was sie mir vorwarf.« Sie hielt inne, um erneut an ihrem Drink zu nippen. »Dennoch«, fuhr sie fort. »war das Schlimmste daran, dass er nie auf meinen Anruf reagiert hat. Ich hatte ihn angerufen, um ihn zu fragen, warum, um alles in der Welt, er seine Frau damit beauftragt hat, mich loszuwerden, doch er hat sich nie mehr bei mir gemeldet.« Sie sah Lief mit ihren großen blauen Augen an. »Ich hatte irgendwie gehofft, dass seine Frau sich das alles nur ausgedacht hatte. Verstehen Sie?«

Lief griff nach ihrer Hand und drückte sie kurz. »Und zu allem Übel hat man Ihnen auch noch das Herz gebrochen.«

»Vermutlich«, gab sie zu. »Ich hätte es besser wissen müssen. Und nun – wie erzähle ich meiner Schwester bloß, dass mein Freund gar nicht mein Freund war? Dass die Karriere, für die ich mich beinahe umgebracht hätte, beinahe mich umgebracht hätte? Und dass ich fristlos und ohne Vorwarnung gekündigt habe und ihr nun unaufgefordert einen endlosen Besuch abstatte?«

Er konnte nicht anders als grinsen. »Sie scheinen diese Geschichte aus dem Effeff runterbeten zu können. Ich bin mir sicher, sie wird verständnisvoll reagieren.«

»Vermutlich. Aber auch sehr überrascht, denn eigentlich ist Jillian die Flatterhafte von uns beiden. Ich bin eigentlich die Beständige.«

»Soll ich Ihnen was sagen? Sie haben sich aus einer miserablen Situation befreit. Das klingt sowohl intelligent als auch gefestigt. Jetzt benötigen Sie bloß ein bisschen Zeit, um wieder auf die Beine zu kommen.«

»Kennen Sie den Ausspruch, wer die Hitze nicht verträgt, hat in der Küche nichts zu suchen?«, fragte sie und schüttelte bedrückt den Kopf. »Ich bin ein wandelndes Klischee. Was machen Sie eigentlich hier? In Virgin River?«

»Ich? War einfach auf der Suche nach einem ruhigeren Ort. Und ich gehe gerne angeln und jagen. In der Reihenfolge.«

Plötzlich stand Jack wieder vor ihnen. »Wie geht es euch beiden?«

»Ich denke, einfach fantastisch!«, antwortete Kelly. »Das hier habe ich jetzt wirklich gebraucht – einen starken Drink und eine kleine Unterhaltung. Faszinierend, wie gut das hilft.«

»Also dann fehlt euch nichts?«, erkundigte sich Jack.

»Ich trinke in ein paar Minuten noch einen. Und bring meinem Freund Lief hier bitte ein Bier, das auf mich geht. Er ist ein guter Zuhörer.«

»Klar«, entgegnete Jack. »Abendessen?«

»Für mich nicht, allerdings würde ich gerne noch ein paar Nüsse haben. Danke.« Als Jack sich wieder von ihnen abgewandt hatte, schaute sie Lief erneut an. »Ruhiger als in …?«

»Los Angeles. Meine Frau ist vor ein paar Jahren gestorben, und meine Tochter leidet immer noch sehr darunter. Sie brauchte wirklich einen Neuanfang und weniger Hektik. Genau wie ich.«

Kelly wirkte betroffen. »Oh, Mann, das tut mir leid. Das rückt die Dinge für mich wirklich wieder zurecht. Da sitze ich hier und heule Ihnen wegen meines Nichtfreundes und dem gemeinen Boss etwas vor …«

Er lachte. »Sie haben mir nichts vorgeheult – das klang eher wie bei den Dreharbeiten zu einem Film. Jede Menge Wutanfälle, Skandale und gestörte Verhältnisse am Set.«

»Sind Sie Schauspieler?«

»Nee. Ich habe ein paar Jahre lang Kulissen gebaut, und jetzt schreibe ich ein bisschen«, erwiderte er. »Ich muss nicht mehr so viel Zeit am Set verbringen und wenn, dann ist es üblicherweise ziemlich bescheuert, und ich erkenne immer, wie froh ich bin, dass ich das nicht die ganze Zeit tun muss.«

Ihre neuen Drinks kamen. »Wie haben Sie es geschafft, in diesem Umfeld zu arbeiten, wenn ich fragen darf?«

»Ohrstöpsel sind sehr wirkungsvoll. Ich wollte bei diesem Irrsinn einfach nicht mitmachen. Und mich hat auch kaum jemand dazu gezwungen.«

»Wieso brauchen Sie keinen Ganztagsjob?«

»Oh, ich habe einen Ganztagsjob«, korrigierte er sie. »Ich schreibe Drehbücher. Die Produzenten und Regisseure wollen sie umgeschrieben haben und setzen ihre eigenen Autoren daran. Diese Autoren müssen am Set bleiben – ich bin normalerweise nur ein Berater. Ich arbeite alleine. Zu Hause.«

»Ich dachte, alle Drehbücher würden von Autorenteams geschrieben«, sagte sie.

»Nicht alle Drehbücher. Originalstoffe werden häufig von einem einzigen Autor geschrieben.«

»Wow. Ich wünschte, mir würde eine Möglichkeit einfallen, wie ich ›Beratende Chefköchin‹ sein könnte, anstatt Handlanger eines Irrsinnigen sein zu müssen. Erzählen Sie mal, wie ist es, alleine zu arbeiten? Zu Hause.«

Er holte tief Luft. »Die beste Beschreibung, die mir dazu einfällt, ist, angenehm. Ich bin ein bisschen introvertiert. Doch ich kann mich sehr gut selbst beschäftigen. Alles, was ich mag, kann man gut alleine machen. Ich angele – Fliegen fischen. Ich liebe es, zu bauen und herumzubasteln – im Moment gibt es zwar nichts zu tun, aber ich hacke Holz für den Winter. Ich schreibe schon seit der Junior High, jedoch habe ich viele Jahre gebraucht, bis ich mein erstes Drehbuch verkauft habe. Ich war nie gut in Dingen, bei denen alle Welt auf einen schaut. Bei so etwas würde ich lieber zu Hause bleiben. Der schönste Teil meines Lebens besteht aus Angeln und Daheimsein.« Dann grinste er. »Natürlich hasst meine Tochter Fisch, allerdings ist sie vierzehn – im Augenblick hasst sie sogar Luft.«

»Huch. Wie funktioniert das denn?«, fragte Kelly.

»Sie ist rebellisch, patzig, unsozial, experimentierfreudig und so respektlos.« Sein Lachen klang unbehaglich. »Hinter dieser Fassade ist sie ein kleines Mädchen, das seine Mutter vermisst und bei mir festsitzt. Sie ist ein sehr hübscher Teenager mit einem hohen IQ und wenig Selbstvertrauen. Obwohl ich alles versuche, kommen wir einfach nicht gut miteinander aus. Nächste Woche treffen wir uns mit einem Therapeuten, der sich auf verhaltensauffällige Teenager spezialisiert hat. Ich hoffe bei Gott, dass es klappt!«

»Aber Sie vertrocknen ja!«, sagte sie.

Vertrocknen? Lief runzelte die Stirn. Er betrachtete ihr Glas – zweiter Wodka, halb leer. Es war ein starker Drink und dennoch. Davon sollte sie noch nicht lallen. Er fragte sich, ob er sich das nur einbildete.

»Lallen Sie?« Es konnte nicht schaden, es genauer zu wissen.

»’türlich nicht«, antwortete sie. Aber ihre Lider hingen bereits tiefer, bevor sie die Augen wieder aufriss.

»Wie wollen Sie zu Ihrer Schwester kommen?«, erkundigte er sich.

»Ich lahre. Fahre. Ich habe alles, was ich brauche, im Auto, außer … Couch und Sesel.«

»Kelly«, sagte er, sich näher zu ihr beugend, behutsam. »Dieser Stress, über den Sie sprachen, Sie nehmen doch keine Medikamente dagegen, oder?«

»Hm. Nurn büschen was für den Blutdruck und gegen die Angst. Ich nehm aber keine Schlaftabletten, auf keinen Fall. Falls ich schlafe, träum ich nur wieder von allem!«

»Ich glaube, das ist eine gute Nachricht«, erwiderte er und schob den extra trockenen Martini sanft aus ihrer Reichweite.

»He!«

»Ich wette, auf diesen Tablettenschachteln stand auch was über Alkohol, den man während der Einnahme dieser Mittel nicht trinken soll«, sagte er. »Sie sind ein bisschen beschwipst.«

Autor

Robyn Carr
Die Autorin von über 20 Romanen erreicht mit ihrem Schreiben ein großes Publikum. Ihre Romane berühren, ob sie sie im Historischen Genre, den Liebesromanen oder Thrillern schreibt. Robyn Carr kommt ursprünglich aus Minnesota. Sie und ihre Familie haben viel von den USA gesehen, da ihr Ehemann in der Luftfahrt tätig...
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