Happy End am Valentinstag

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Valentinszauber
Blauer Himmel, glitzernde Schneekristalle und die behagliche Wärme eines Chalets. Sorrel könnte die Idylle genießen. Aber der aufregende Mann, mit dem sie hier übernachten wird, ist ihr entfernter Cousin Valentin! Dabei steht sie kurz vor der Hochzeit mit einem anderen! Sorrel schwankt zwischen Entsetzen und Faszination. Dass sie und der attraktive Millionär sich in der traumhaften Winterlandschaft verstörend nahe kommen, stürzt sie in einen tiefen Gewissenskonflikt. Doch dann stellt ein heißer Kuss von Valentin sie vor die Entscheidung, die nur ihr Herz treffen kann...

Entscheidung am Valentinstag
Als der erfolgreiche Geschäftsmann J.D. in ihrem Krankenhaus auftaucht, fühlt sich die schüchterne Ärztin Ella sofort zu ihm hingezogen. Doch er arbeitet für einen Konzern, der aus ihrem kleinen Hospital eine hochmoderne Klinik machen will, in der Profit an erster Stelle steht und nicht das Mitgefühl und Verständnis für die Patienten. Verzweifelt kämpft Ella gegen J.D.s Pläne, aber sie kann nicht verhindern, dass ihre Gefühle für ihn intensiver werden. Am Valentinstag muss er sich entscheiden: Wird J.D. erkennen, dass wahre Gefühle viel mehr wert sind als alles Geld der Welt?

Heisse Nacht in New York
Was für eine Nacht! Die zarten Berührungen prickeln auf Sarahs Haut, auf ihrem Mund spürt sie noch Hunters sanfte Lippen, und sie brennt vor Verlangen, dieses sinnliche Spiel zu wiederholen. Leider ist das ausgeschlossen – Sarah und der Milliardär leben zwar beide in New York, aber in ganz verschiedenen Welten. Als der Morgen graut, gehen sie wieder getrennte Wege. Doch kurz darauf wird der Kosmetikkonzern, für den Sarah als PR-Managerin arbeitet, aufgekauft. Und ihr neuer Boss ist niemand anders als Hunter Osland – der beste Liebhaber, den sie jemals hatte… …


  • Erscheinungstag 31.01.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783733786809
  • Seitenanzahl 480
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Penny Jordan, Mary J. Forbes, Barbara Dunlop

Happy End am Valentinstag

Mary J. Forbes

Entscheidung am Valentinstag

IMPRESSUM

BIANCA erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG,
20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Brieffach 8500, 20350 Hamburg
Telefon: 040/347-25852
Fax: 040/347-25991

© 2008 by Harlequin Books S. A.
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V., Amsterdam

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA
Band 1661 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Patrick Hansen

Fotos: Corbis

Veröffentlicht im ePub Format im 12/2010 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86295-340-0

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

1. KAPITEL

J. D. schlug die Augen auf und blinzelte in das Grau des anbrechenden Tages.

Einen Moment lang wusste er nicht, wo er sich befand. Dann fiel es ihm wieder ein. Er war in Walnut River, Massachusetts, seinem Geburtsort – und in dem Krankenhaus, in dem er zur Welt gekommen war.

Er stöhnte auf, als er sich an die Nacht erinnerte, die hinter ihm lag. Nichts als Schmerzen und unruhige Träume. Er lag im Bett, war an einen Tropf angeschlossen, und sein rechtes Knie …

Nein, daran wollte er jetzt nicht denken.

Draußen auf dem Korridor erwachte die Klinik. In seinem Kopf wirbelte alles durcheinander. Die Verwaltungsratssitzung des Walnut River General Hospital am Vorabend. Der Schneesturm. Sein Knie, das ein knackendes Geräusch von sich gegeben hatte, als er auf diesen verdammten vereisten Stufen ausgerutscht war. Und dann … oh, Mann … der stechende Schmerz.

War er ohnmächtig geworden? Er wusste es nicht. Er wusste nur noch, dass er wahnsinnige Schmerzen gehabt hatte.

Er hätte das Knie schon vor Jahren in Ordnung bringen lassen sollen. Hatte er denn nicht schon in der Schule beim Basketball gemerkt, dass damit etwas nicht stimmte? Als der Arzt ihm etwas von einem „Springerknie“ erzählte? Hatte er auf den Mann gehört? Nein. Stattdessen hatte er jahrelang rezeptfreie Schmerzmittel geschluckt. Und vor sieben Jahren hatte er auch noch das Schicksal herausgefordert, indem er sich sofort nach der Einstellung bei Northeastern Healthcare dem Basketballteam der Firma angeschlossen hatte.

Was warst du doch für ein arroganter Esel!

J. D. stöhnte erneut. Er verfluchte das Februarwetter. Er verfluchte Eis und Schnee und sich selbst, weil er in diesen winzigen Fleck auf der Landkarte von Massachusetts zurückgekehrt war. Und er verfluchte die Tatsache, dass er jetzt darauf warten musste, operiert zu werden – ausgerechnet von der allseits respektierten Dr. Ella Wilder. Dabei hatte er sich ausgerechnet mit der Familie Wilder gerade erst angelegt! Na ja, angelegt war vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Sein Auftrag bestand darin, sie – notfalls bei gutem Essen und edlem Wein – davon zu überzeugen, dass ihre Zukunft bei Northeastern Healthcare lag. Dass nur ein großer Klinikkonzern eine effiziente medizinische Versorgung garantierte, wie sie sich ein altmodisches kleines Krankenhaus wie dieses auf keinen Fall leisten konnte.

Wenn er seinen Job richtig machte, würde das Walnut River General in wenigen Monaten zu NHC gehören – wovon sowohl die Patienten als auch die Ärzte profitieren würden. Auch in Walnut River würden endlich moderne Zeiten anbrechen.

Aber erst musste er gesund werden. Und zwar schnell.

Sechs Stunden später wartete J. D. noch immer auf seine Operation. Ganz offenbar zeichnete sich dieses Provinzkrankenhaus nicht gerade durch Schnelligkeit aus. Aus seiner Nervosität wurde Besorgnis. Sicher, sie hatten ihm erklärt, dass die Notaufnahme überlastet war. Aber seit er hier war, hatte er noch keinen Arzt zu Gesicht bekommen.

Hör auf, dich verrückt zu machen, J. D. Dein Rollbett ist das dritte in der Warteschlange für den OP. Es wird nicht mehr lange dauern. Was ihn kein bisschen ruhiger machte.

Verdammt noch mal. Wussten diese Leute denn nicht, wie sehr er das Walnut River General hasste? Seine Mutter Grace Sumner war hier gestorben. An einem Blutgerinnsel im Gehirn, als Folge des Kaiserschnitts bei seiner Geburt. Das hatte jedenfalls sein Vater behauptet.

Man geht ins Krankenhaus, um zu sterben. Basta. So lange J. D. denken konnte, waren die Worte seines alten Herrn das Motto der Familie.

Ja, Grace war der Grund dafür, dass J. D. sein Knie nicht schon vor Jahren hatte behandeln lassen. Niemand würde ihn aufschneiden und tödliche Blutgerinnsel verursachen. Aber seit gestern Abend war ihm klar, dass er operiert werden musste. Es sei denn, er wollte für den Rest seines Lebens am Stock gehen und auch noch Arthritis bekommen, bevor er vierzig war.

Wo zum Teufel blieb diese Wilder? Er gab es nur ungern zu, aber wie sie ihn gestern Abend in der Notaufnahme berührt, mit ihm gesprochen, ihn angelächelt hatte …

„Mr. Sumner“, hatte sie ihn begrüßt. „Ich bin Dr. Ella Wilder. Wie ich höre, sind Sie auf einer Treppe gestürzt und haben sich das Knie verletzt.“ Am Kragen ihres weißen Kittels hing ein pinkfarbenes Stethoskop.

„Ich sollte das Krankenhaus verklagen“, knurrte er und funkelte sie mit halb geschlossenen Augen an. Mit einer Ärztin hatte er nicht gerechnet. Und schon gar nicht mit einer, die aussah wie ein französisches Topmodel.

„Das macht Ihr Knie auch nicht wieder gesund“, erwiderte sie und untersuchte sein Bein.

Der Sanitäter – hieß er nicht Mike O’Rourke? – hatte J. D. auf der verschneiten Treppe zum Parkplatz gefunden. In der Notaufnahme hatte der Mann die teure Hose aufgeschnitten, damit das Bein geröntgt werden konnte.

Ella Wilder streifte Latexhandschuhe über und tastete behutsam über die Schwellung. „Sagen Sie mir, wenn es wehtut.“

Er zuckte zusammen, und sie nickte. „Das müssen wir uns mit einer Magnetresonanztomografie genauer ansehen.“

„Glauben Sie, ich habe mir etwas gebrochen?“ Er versuchte, den Oberkörper aufzurichten.

„Nach den Röntgenbildern nicht. Aber ich brauche mehr Informationen über das Gewebe um und unter der Kniescheibe. Außerdem müssen wir ein Blutbild machen, um festzustellen, ob es Anzeichen für eine Arthritis gibt.“

„Arthritis?“ Er biss sich auf die Unterlippe, als sie das Gelenk bewegte. „Soll das heißen … ich werde alt?“

„Überhaupt nicht.“ Ihr schwarzes Haar streifte ihr Kinn, als sie die Handschuhe auszog. „Arthritis kann man in jedem Alter bekommen.“

„Großartig.“

„Warten wir ab, was die Tomografie ergibt. Wenn es das ist, was ich vermute, operieren wir Sie morgen, sobald die Schwellung abklingt.“ Ihr Lächeln war wie ein Sonnenstrahl, und eine Sekunde lang vergaß er die Schmerzen. „Bis dahin legen wir Sie ins Bett und geben Ihnen ein paar Tabletten.“

„Ich brauche keine Tabletten“, murmelte er. „Ich will nicht hierbleiben.“

Sie tätschelte seine Hand. „Glauben Sie mir, die Tabletten helfen Ihnen, das Pochen loszuwerden.“

Trotz der Schmerzen zog er einen Mundwinkel hoch. „Werden Sie mich behandeln?“

„Wenn es das ist, was ich vermute, ja.“

Er schloss die Augen. „Gut. Für Sie poche ich gern.“

Du meine Güte. Warst du gestern Abend nicht bei Sinnen, oder bist du einfach nur ein kompletter Idiot? J. D. konnte nicht fassen, dass er das tatsächlich gesagt hatte. Noch dazu zu einer Ärztin. Er musste sich bei ihr entschuldigen, möglichst noch vor der Operation. Dass jemand, der sauer auf ihn war, an ihm herumschnippelte, war das Letzte, was er brauchte.

Auf der anderen Seite des Warteraums für den OP hustete ein alter Mann rasselnd. Es klang beinahe, als wäre seine Lunge voller Kies. Wie aus dem Nichts erschien eine Krankenschwester, hob seinen Kopf an und fragte ihn, ob er Schmerzen hätte, ob jemand bei seiner Frau sei und ob sein Sohn noch bei der Zeitung arbeitete. J. D. stöhnte auf. Diese Art von Gespräch fehlte ihm gerade noch.

Er sah auf die Wanduhr. 12.33 Uhr. Vor achtzehn Stunden war er auf der Treppe zum Parkplatz ausgerutscht.

Noch nie in seinem Leben hatte er so untätig herumgelegen. Zugegeben, bisher kümmerten sie sich gut um ihn. Schwestern, Ärzte und Techniker waren freundlich und brachten ihm prompt, worum er bat. Zeitschriften, Wasser, Saft … alles bis auf einen frühen OP-Termin.

New York. Dort sollte er jetzt sein, in seinem eleganten Büro mit dem Kirschholzschreibtisch und der tüchtigen Sekretärin. Verdammt, er hatte sich doch nicht auf der Karriereleiter von NHC nach oben gekämpft, indem er auf der faulen Haut gelegen hatte!

„Hallo, Mr. Sumner“, sagte eine sanfte Stimme, bevor ein blauer Kittel und ihr Gesicht vor ihm auftauchten.

Was für eine attraktive Frau, dachte er. Und dann diese dunklen Augen … Ein Braun, das er nicht recht beschreiben konnte – bis ihm die Haselnüsse einfielen, die seine Sekretärin ihm zu Weihnachten geschenkt hatte.

„Wie fühlen Sie sich?“, fragte Ella Wilder. Natürlich ahnte sie nicht, was ihm gerade durch den Kopf ging. Heute Nachmittag steckte das pinkfarbene Stethoskop in einer Brusttasche.

„Ich langweile mich zu Tode“, knurrte er.

Sie lächelte. „Sie sind bald an der Reihe. Die Operation vor Ihrer dauert etwa eine halbe Stunde.“ Sie betrachtete sein mit Eis gekühltes Knie und markierte die Stelle, an der sie den Eingriff vornehmen würde. „Die Schwellung ist zurückgegangen. Das ist gut.“

Ihr Haar war dunkelbraun, und sie hatte sich die Locken hinter die Ohren gestrichen.

Sie stellte ihm noch einige Fragen. Nach der Verletzung, ob sein Name Jared Devlin Sumner war und ob er seine Medikamente genommen hatte.

„Das habe ich doch alles schon der Schwester gesagt“, knurrte er. Es ärgerte ihn, dass er noch nicht einmal in dieser Situation aufhören konnte, ihren hinreißenden Körper zu betrachten.

„Wir fragen lieber noch mal nach. Das ist Vorschrift“, erklärte sie und notierte etwas auf seinem Patientenblatt. „Haben Sie in Walnut River Angehörige, Mr. Sumner?“

„Nein.“ Nun ja, er hatte einen. Aber sein alter Herr ging niemanden etwas an. „Das hier ist doch keine große Sache, oder?“ Natürlich würde er es niemals zugeben, aber die Vorstellung, dass ein Messer in sein Fleisch eindrang, bereitete ihm höllische Angst.

Ihre Blicke trafen sich. „Es müsste alles gut gehen.“

„Müsste? Das klingt nicht sehr ermutigend.“ J. D. schluckte schwer.

Wieder das Lächeln. Er mochte ihren Mund. Den süßen kleinen Körper, die Augen … den tollen Mund … Verdammt, er mochte alles an ihr.

„Sie werden wieder gesund, Mr. Sumner.“

„Vielleicht verklage ich das Krankenhaus. Die Treppe hätte nicht vereist sein dürfen.“ Er klang wie eine der zerkratzten Schallplatten seines Vaters, bei denen dauernd die Nadel hängen blieb.

Sie zog eine dunkle Braue hoch. „Haben Sie Winterstiefel getragen?“

„Ich hatte festes Schuhwerk an.“

Die Braue blieb oben. „Nicht, soweit ich gestern Abend sehen konnte.“

In der Notaufnahme hatten sie ihm die fünfhundert Dollar teuren Gucci-Slipper ausgezogen. „Schon gut. Ich hab’s kapiert.“

Wieder tätschelte sie seine Hand. „Sie sind nicht der Erste, der unser Wetter unterschätzt hat.“

„Ich bin hier aufgewachsen.“ Warum erzählte er ihr das?

Dieses Mal zuckten beide Brauen hoch. „So?“

„Es ist lange her.“

„Vor meiner Zeit, was?“

Er lächelte. „Ich bin nicht viel älter als Sie, Doc.“ Er schätzte sie auf Anfang dreißig.

„Laut Ihrem Patientenblatt sind Sie sieben Jahre älter.“ Ihre Wangen verfärbten sich ein wenig, und sie schaute hastig zur Seite. „Wir sehen uns im OP.“

„Augenblick mal. Sie sind neunundzwanzig? Sind Sie eine richtige Ärztin?“

Sie schnaubte. „Ich habe meine Assistenzzeit im letzten Jahr abgeschlossen.“

„Kann ich Ihnen mein Knie anvertrauen?“

„Sie können mir vertrauen.“

„Wo habe ich das nur schon mal gehört?“

„Bis gleich, Mr. Sumner“, sagte sie und ging davon.

J. D. schluckte. In weniger als vierundzwanzig Stunden hatte er sie zwei Mal gekränkt, und jetzt sollte er sich unters Messer legen. Unter ihr Messer.

Und er hatte vergessen, sich bei ihr zu entschuldigen.

Kann ich Ihnen mein Knie anvertrauen? Die Worte gingen Ella nicht aus dem Kopf, während sie sich auf die Operation vorbereitete.

Du meine Güte, dachte sie, wenn der Mann wüsste, wie nahe mir seine Frage geht. Sie atmete tief durch und überprüfte die Instrumente, die die OP-Schwester bereitgelegt hatte. Du bist keine Assistenzärztin mehr. Du bist ausgebildete Chirurgin. Eine begabte Operateurin. Du weißt, was du tust.

Die Worte ihrer Therapeutin beruhigten ihr klopfendes Herz und die zitternden Finger. Noch mal tief Luft holen …

Sumner wurde hereingefahren, und sie sah ihm an, dass das Beruhigungsmittel wirkte.

Shelly, die zweite Schwester, ging noch einmal die Checkliste durch. Sie vergewisserte sich, dass es sich um den richtigen Patienten handelte, indem sie sein Armband, die Röntgenbilder, Einwilligungserklärungen und Laborergebnisse überprüfte. Dann stellte sich der Narkosearzt Brad dem Patienten vor.

Ella schaute sich auf dem Monitor seine Werte an.

„Wir können“, verkündete Brad. Sumner war in Vollnarkose.

„Dann lasst uns anfangen.“

Eine Stunde später streifte sie die Handschuhe ab und warf sie in den Abfalleimer. Sie hatte den beschädigten Knorpel repariert. Der Mann hatte Glück gehabt – die Kniescheibe hatte sich nicht verschoben, und das Gewebe war nicht ernsthaft verletzt. Aber der Sturz hatte den rechten Meniskus lädiert, und nachdem Ella gestern Abend die Röntgenaufnahmen und am Morgen die Tomografie-Aufnahmen studiert hatte, war klar gewesen, dass sich dieser Eingriff nicht vermeiden ließ.

Jetzt wurde der Patient aus dem OP gerollt. In einer Viertelstunde würde sie nach ihm sehen, aber erst mal brauchte sie einen Schluck Wasser. Der Stress der Operationen und das grelle Licht im Saal machten sie immer durstig. In dem kleinen Aufenthaltsraum der Ärzte saß ihr Bruder Peter mit einem Kaffee an einem der beiden Tische und las ein mehrere Seiten langes Schreiben.

„Hallo Peter.“ Sie holte die Flasche Wasser, die sie von zu Hause mitgebracht hatte, aus dem Kühlschrank.

Er warf ihr einen Blick zu. „Hi Ella.“

Sie setzte sich zu ihm, trank einen kräftigen Schluck und zeigte auf den Brief. „Was ist das?“

„Mal wieder die Gesundheitsbehörde. Sie behaupten, dass wir uns zu sehr auf die kostenintensive Betreuung, wie sie es nennen, konzentrieren. Und nicht genug auf die schnelle, effiziente Behandlung der Patienten.“ Er schob das Schreiben in die große braune Mappe mit der Aufschrift Dr. P. Wilder, Chefarzt. Darüber stand vertraulich.

„Darfst du mir das überhaupt erzählen?“, fragte sie und hoffte, er würde es verneinen. Sie hatte weder Zeit noch Lust, sich mit unsinnigen Anschuldigungen zu befassen. Sie kannte alle Gerüchte und Verdächtigungen und versuchte ganz einfach, sich auf die Arbeit zu konzentrieren.

Zu den Gerüchten hatte zweifellos auch die Auseinandersetzung zwischen Peter und seiner jetzigen Verlobten Bethany Holloway beigetragen – bevor die beiden sich ineinander verliebt hatten. Als Neuling am Walnut River General und im Verwaltungsrat hatte Bethany sich anfänglich für die Übernahme durch Northeastern Healthcare eingesetzt – bis Peter sie davon überzeugt hatte, dass NHCs finanzielle „Unterstützung“ dem alteingesessenen Krankenhaus die Seele nehmen würde.

Jetzt zuckte er mit den breiten Schultern. „Das Meiste weißt du ohnehin schon“, sagte er.

„Obwohl ich es nicht will“, erwiderte Ella ehrlich. „Politik war noch nie meine Stärke.“

Er lächelte nachsichtig. „Ella, du warst immer die Schlaueste von uns. Das wissen wir spätestens, seit du mit zwei Jahren Moms Kekse nachgezählt hast, um sicher zu sein, dass Anna auch einen abbekam.“

Anna war die Schwester, die vor etwa zehn Jahren auf Distanz zur Familie gegangen war. Ella rieb sich die Stirn. „Ich wünschte …“

„Was?“

„Ich wünschte, Anna würde uns endlich glauben, dass wir sie wirklich lieben.“

„Das muss sie ganz allein schaffen, Ella.“

Sie schwiegen einen Moment lang, und die alltäglichen Geräusche des Krankenhauses drangen herein. Auf dem Korridor quietschten die Reifen eines Medikamentenwagens, ein Rufgerät meldete sich, jemand von der Haustechnik klapperte mit seinen Schlüsseln. All das hatte eine beruhigende Wirkung auf Ella, seit sie als Kleinkind zum ersten Mal mit ihrem Daddy Dr. James Wilder die Klinik betreten hatte.

Manchmal vermisste sie ihn so sehr, dass es wehtat und sie nach Luft ringen musste.

Unwillkürlich dachte sie an den Mann, dessen Knie sie operiert hatte. J. D. Sumner, Manager von Northeastern Healthcare, war vor zwei Tagen aus New York gekommen, um den Verwaltungsrat für die Übernahme zu gewinnen. Ein Mann, der hier war, um das Lebenswerk ihres Vaters zu zerstören. So sah es jedenfalls Peter.

Ein Mann, der die grünsten Augen besaß, die sie je gesehen hatte – wie Moos an einem Baum im Wald.

Moos an einem Baum? Du meine Güte, Ella. Hast du den Verstand verloren?

Hastig verdrängte sie den albernen Vergleich. „Sumners OP ist gut verlaufen, aber er muss noch ein paar Tage an Krücken gehen.“ Ihre Lippen zuckten. „Allerdings traue ich ihm sogar zu, noch im Krankenhaushemd im Verwaltungsrat aufzutauchen.“

Peter grinste. „Das werde ich Beth sagen. Sie sammelt Informationen über ihn, um auf alles vorbereitet zu sein.“ Er tippte auf die Mappe.

„Ich muss nach ihm sehen“, sagte Ella.

Nach einem letzten Schluck Wasser stellte sie die leere Flasche in die Kiste neben dem Kühlschrank und ging hinaus. Sie konnte noch immer nicht glauben, dass sie ausgerechnet mit Sumner über ihr Alter und ihre Berufserfahrung gesprochen hatte. Zum Glück hatte sie ihm nicht noch etwas verraten – ich fühle mich im OP unsicher und gehe deshalb zu einer Psychotherapeutin in Springfield.

Gott bewahre.

Als Ella den Aufwachraum betrat, sah sie, dass ihr Patient langsam zu sich kam.

„Hey Doc“, murmelte er blinzelnd und mit schwerer Zunge, bevor ihm die Augenlider wieder zufielen.

Egal, welchen Auftrag der Mann hatte, wichtig war jetzt nur, dass sein Knie wieder gesund wurde. Sie lächelte mitfühlend und legte ihre kühlen Finger auf seine Stirn, während sie an seinem mit Sommersprossen übersäten Handgelenk nach dem Puls tastete. Sehr gut – er ging kräftig und gleichmäßig. Die Haut war etwas zu warm, aber das war so kurz nach einer Operation normal.

Gott sei Dank. Das war gut gegangen.

Hör auf, wie eine Assistenzärztin zu denken! Konzentrier dich auf deinen Patienten.

Genau das tat Ella. Er war groß, schlank und muskulös. Sie kannte die menschliche Anatomie in- und auswendig. Elf Jahre Schule, das lange Studium und die Assistenzzeit hatten ihr ein profundes Wissen verschafft. Abgesehen von dem lädierten Knie war Sumner kerngesund.

„Die Operation ist erfolgreich verlaufen“, sagte sie leise, und wie von selbst strich ihre Hand ihm das Haar aus dem Gesicht.

Es war dunkelbraun und dicht und fühlte sich herrlich an. Die Farbe erinnerte sie an einen Eichenwald im Herbst.

Schon wieder der Wald. Was war los mit ihr? Sie gehörte doch gar nicht zu den Leuten, die ständig in der Natur herumrannten!

„Fühlt sich gut an, Doc.“ Seine Stimme klang schon deutlicher. Langsam richtete er den Blick auf ihr Gesicht. „Ihre Finger sind schön kühl.“

Um Himmels willen, was fiel ihr ein? Rasch zog sie die Hand zurück, aber nicht bevor er matt lächelte und sie es tief im Bauch spürte. „Die Schwestern bringen Sie gleich in Ihr Zimmer zurück“, sagte sie. „Sie müssen die Kniestütze noch ein paar Tage tragen, um das Bein gerade zu halten. Außerdem möchte ich, dass Sie an Krücken gehen, bis Sie das Bein ohne Schmerzen belasten können.“

Er hatte Mühe, die Augen offen zu halten. „Kann ich einen Schluck Wasser bekommen? Mein Mund ist so trocken wie die Wüste von Arizona.“

„Die Schwester wird Ihnen etwas geben.“ Bei jedem anderen hätte Ella es selbst getan. Aber J. D. Sumner hatte etwas an sich, das sie verwirrte und ihren Bauch kribbeln ließ, sobald sie den Mann berührte. Gleich als er in die Notaufnahme gekommen war, schneebedeckt und mit schmerzverzerrtem Gesicht, hatte sie es gespürt. Glücklicherweise hatte sie es bei der Operation ignorieren können.

„Nein, Sie“, bat er. „Ich möchte, dass Sie …“

„Yolanda kann …“

„Bitte.“ Er griff nach ihrer Hand, und sie zuckte zusammen. „Sie.“

„Mr. Sumner, ich habe noch andere Patienten.“

„J. D. Ich heiße … J. D.“

In seinen Augen nahm sie die gleiche Nervosität wahr wie vor der Operation. Aus irgendeinem Grund hatte NHCs Spitzenmann Angst. Aber wovor? Vor Krankenhäusern im Allgemeinen? Hatte er sein Knie deshalb nicht schon vor Jahren behandeln lassen? Warum hatte er sein „Springerknie“ so lange ignoriert?

Wieder wurde ihr warm ums Herz. Ella wusste, wie ängstlich viele Patienten und ihre Angehörigen waren, und normalerweise gab sie sich alle Mühe, sie zu beruhigen. J. D. Sumner war keine Ausnahme.

„Na gut“, gab sie nach und nickte der Schwester zu, die gerade seine Füße zudeckte. Sekunden später reichte Yolanda ihr eine Plastikflasche Wasser, in der ein Strohhalm steckte.

Behutsam schob Ella eine Hand unter seinen Kopf und genoss es, erneut sein dichtes Haar zu spüren. Sie hob den Kopf etwas an, damit er den biegsamen Strohhalm in den Mund nehmen konnte. Die Lippen waren perfekt geformt, wenn auch trocken von der Narkose. Dunkle Stoppeln bedeckten das energische Kinn.

Als Kind musste er Sommersprossen gehabt haben.

Er trank vorsichtig und betrachtete sie dabei. Ihre Blicke trafen sich, und sofort fühlte sie wieder das Kribbeln im Bauch. Im Grün seiner Augen glitzerte es wie Goldstaub. Aber das Überraschendste waren die Wimpern – schwarz und lang, ein wenig geschwungen. Um das gleiche Ergebnis zu erzielen, müsste sie selbst eine spezielle Mascara verwenden.

„Danke“, sagte er heiser.

Sie nahm die Hand von seinem Hinterkopf und stellte die Flasche ab. „Gern geschehen. Yolanda wird sich jetzt um Sie kümmern.“

„Sehe ich Sie wieder?“

„In etwa einer Stunde. Bis dahin sollten Sie schlafen.“ Sie lächelte aufmunternd. Jedenfalls hoffte sie, dass es so wirkte. „Sie sind bald wieder auf den Beinen“, versprach sie und wandte sich ab.

„Doc? Das mit gestern Abend tut mir leid. Was ich gesagt habe, meine ich. Das mit dem Pochen.“

„Schon vergessen. Der Schmerz lässt einen manchmal die seltsamsten Dinge sagen.“ Das stimmte.

„Sie sind Peter Wilders Schwester.“

„Ja.“

Er lächelte schwach. „Sie sind viel hübscher als er. Aber … das wird mich nicht davon abhalten, die Interessen von NHC zu vertreten.“

Natürlich nicht. „Mr. Sumner, ich habe Wichtigeres zu tun, als mir den Kopf darüber zu zerbrechen, welche Asse Sie im Ärmel haben.“

„In Ihrem steckt ein süßer Arm.“

„Ich muss gehen“, sagte sie nur, aber sein Blick kam ihr vor wie eine körperliche Berührung.

„Die hübsche Lady errötet.“

Kopfschüttelnd verließ sie den Aufwachraum. Wie schaffte der Mann es bloß, ihr mit ein paar beiläufigen Worten die Sprache zu rauben? Mit einem einzigen Blick? Reiß dich zusammen, Ella. Du bist Ärztin, und er … er ist Patient!

Und der männlichste Mann, der ihr seit Jahren begegnet war.

Du meine Güte, allein die Länge seiner Wimpern bewirkte bei ihr Herzrhythmusstörungen. Ein Blick von ihm, und ihre Handflächen wurden feucht, als säße sie im neunten Schuljahr direkt hinter dem heißesten Jungen der Klasse! Dabei war sie dreißig und eine erfolgreiche Ärztin.

Und nicht zu vergessen, noch immer Jungfrau.

Der Gedanke, dass sich daran unter Umständen auch bis zu ihrem nächsten Geburtstag nichts ändern würde, war schrecklich.

Verdammt. Sie hätte sich vor vier Jahren mehr Mühe geben müssen, Tyler seine angebliche Impotenz auszureden. Und die Idee, dass er kein „ganzer“ Mann war, nur weil er im Rollstuhl saß. Aber als junge Assistenzärztin war sie viel zu beschäftigt gewesen, um zu verhindern, dass ihre Beziehung platonisch wurde. Erst später war ihr bewusst geworden, dass sie Tyler nicht so geliebt hatte, wie eine Frau einen Mann lieben sollte. Sie hatte ihn nur wie einen guten Freund geliebt.

Vielleicht, wenn sie Sex gehabt hätten … Nein, sie wollte sich nichts vormachen. Er war für sie nur ein Sicherheitsnetz gewesen. Sie war eine gute Ärztin geworden und hatte darüber die Frau in ihr vernachlässigt.

Trotzdem, hätten sie miteinander geschlafen oder wären sie auch nur auf andere Weise intim gewesen, dann wäre sie heute gelassener und selbstsicherer im Umgang mit den J. D.s dieser Welt.

Hübsch. Sein Wort ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie hatte sich nie für hübsch gehalten. Ihre Schwester war die Hübsche. Nein, mit ihrem hellblonden Haar und den strahlend blauen Augen war Anna sogar die Schöne.

Wenn J. D. Sumner erst Anna sähe, würde er Ella keines Blicks mehr würdigen. Ella mit ihren schlichten braunen Augen und dem glatten dunklen Haar, das sie kürzte, sobald es auf den Kragen ihres Kittels fiel.

Sei dankbar für das, was du hast, Ella.

Und sie war dankbar. Für vieles. Ihre Geschwister. Dieses Krankenhaus, das Lebenswerk ihres verstorbenen Vaters. Das Geld ihrer Familie, das ihr ein Studium ermöglicht hatte. Ihre Intelligenz.

Warum konnte sie nicht dankbar und hübsch sein?

Ella gab sich einen Ruck. Sie hatte keine Zeit für das hier – diese alberne Eitelkeit. Sie hatte das Genfer Gelöbnis abgelegt. Wichtig waren nur ihre ärztlichen Fähigkeiten. Sie konnte es sich nicht leisten, über J. D. und seine Erfahrungen mit schönen Frauen nachzudenken.

Das sagte sie sich zumindest … und zwar in jeder freien Sekunde ihres Dienstes.

2. KAPITEL

Um acht Uhr abends fuhr Ella ihren Toyota in die Garage und stellte den Motor aus. Hundemüde saß sie da und lauschte dem Ticken unter der Haube. Der Wagen war das letzte Geburtstagsgeschenk ihres Vaters gewesen, einen Monat vor seiner Pensionierung – und seinem viel zu frühen Tod.

Sie erinnerte sich an die große rote Schleife und die riesige Karte auf dem Fahrersitz. Alles Gute zum 29., Ella! In immerwährender Liebe, Dad.

Ihre Augen brannten. Nie wieder würde sie sich an seine breite Brust schmiegen, seine freundliche Stimme hören, die kräftigen Hände in ihrem Haar oder seine Arme um ihre Schultern fühlen.

Es war ihr schönster Geburtstag gewesen. Irgendwann in der Nacht hatte er ihren alten Chevy abholen lassen und den neuen Wagen in die Garage gefahren. Um fünf Uhr morgens, eine Stunde vor ihrem Dienstbeginn im Krankenhaus, hatte er an ihrer Haustür geläutet.

Ella sah noch, wie er auf der schmalen Veranda stand, einen Becher Kaffee in der einen Hand, eine Tageszeitung in der anderen. Und mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht.

Die aufgehende Sonne schien auf sein graues Haar, als er sie durch den kleinen Garten mit den großen alten Ahornbäumen zur Garage führte und sie bat, ihn zur Klinik zu fahren, weil er ein Taxi genommen hätte, um ihr zu gratulieren.

Und dann sah sie den kleinen blauen Toyota.

Oh, Daddy, ich hoffe, du weißt, dass ich dich wahnsinnig vermisse.

Seufzend drückte sie auf die Fernbedienung des Garagentors, bevor sie nach dem Behältnis mit der Muschelsuppe aus ihrem Lieblingsrestaurant griff und ausstieg. Wie immer, wenn sie Überstunden machte, war sie noch bei Prudy’s Menu vorbeigefahren.

Sie zog den warmen Mantel fester um sich und eilte durch den verschneiten, vom Mondschein erhellten Garten zur Hintertür. In dem heimeligen kleinen Häuschen mit den Fensterläden hatte ihre Großmutter mütterlicherseits zweiundsechzig Jahre lang gelebt. Vor drei Jahren hatte sie es Ella und Anna vererbt. Anna hatte es nicht gewollt, aber Ella war fest entschlossen, ihr die Hälfte auszuzahlen. Daher hatte sie ein Konto angelegt, auf das sie jeden Monat einen festen Betrag überwies.

Als sie die gemütliche Landhausküche betrat, begrüßte ein Miauen sie, schon bevor ein dreibeiniges graues Fellbündel um die Ecke bog. Vor einem Jahr hatte Ella das verletzte Kätzchen auf dem Seitenstreifen eines Highways gefunden und mit nach Hause genommen, um es gesund zu pflegen.

„Hey, Miss Molly.“ Sie drückte das Tier an sich. „Du riechst die Suppe, was? Aber ich glaube, wir geben dir lieber etwas Thunfisch.“

Es wurde neun, bis sie das Licht in der Küche ausschaltete und über den Flur ging, um ein Bad zu nehmen. Sie war wirklich müde.

Es war ein harter Tag gewesen. Auf dem vereisten Highway hatte es zwei Unfälle gegeben. Die Opfer waren mit gebrochenen Beinen, einer zertrümmerten Schulter und einer Wirbelfraktur eingeliefert worden. Dann war da noch der Mann, der den Schnee vom Dach geschaufelt hatte, auf seine Terrasse gestürzt war und sich beide Füße gebrochen hatte.

Und natürlich J. D. Sumner mit dem kaputten Knie.

Bevor sie nach Hause gefahren war, hatte sie noch mal nach ihm gesehen. Warum sie ihn als Letzten aufsuchte, war ihr schleierhaft. Normalerweise ging sie von Zimmer zu Zimmer, von Station zu Station.

Aber dieses Mal sah sie erst nach dem vom Dach gefallenen Mann, bevor sie zu Zimmer 239 zurückging – einem von nur drei Privatzimmern im Walnut River General.

Nur das Beste für den Manager von Northeastern Healthcare, dachte sie trocken.

Den Blick auf den kleinen, stumm geschalteten Fernseher gerichtet, Handy am Ohr, lag er im Bett, als sie eintrat.

„Endlich kümmert sich mal jemand um mich“, knurrte er, nachdem er das Telefonat beendet hatte. Seine sinnlichen Lippen zuckten, und unter den langen Wimpern blitzten die Augen. „Ich habe Sie auf dem Korridor gehört. Entweder hatten Sie Angst, zu mir zu kommen, oder ich bin Ihr Lieblingspatient, und Sie haben sich das Beste bis zum Schluss aufgehoben.“

Ella musste lachen. Sie konnte nicht anders. Obwohl er hilflos dalag, besaß der Mann ein unerschütterliches Selbstbewusstsein. Sie erklärte ihm, dass sein Zimmer in der Nähe des Ausgangs lag.

„Sie flunkern“, erwiderte er schmunzelnd.

Sie inspizierte die Wunde, überprüfte Blutdruck, Puls und Temperatur.

„Warum machen Sie die Arbeit der Schwester?“, hatte er sie gefragt.

Ja, warum eigentlich?

Genau das fragte Ella sich nun, als sie sich in das dampfende Badewasser legte und ihre Haare wusch.

Wie sollte sie J. D. das Lebenswerk ihres Vaters beschreiben? Einem Mann, der im Auftrag seines Konzerns im Walnut River General die Fließbandmedizin einführen sollte? Für NHC hatten Patienten keinen Namen, sondern nur eine Nummer, und sie wurden so schnell wie möglich wieder nach Hause geschickt.

Jedenfalls wurde das behauptet.

James Wilder war der Grund, aus dem Ella Medizin studiert hatte. Er war ihr Vorbild, und von dem, was er sie gelehrt hatte, würde sie niemals abrücken. Nicht einmal wenn der Verwaltungsrat das Übernahmeangebot von NHC akzeptierte. Trotzdem hoffte sie inständig, dass es nicht dazu kommen würde.

Das Wasser wurde kalt, und erschöpft stieg sie aus der Wanne. Von der Matte vor dem Waschbecken aus blinzelte Molly zu ihr hoch.

Ella lachte. „Ja, ich weiß. Kein atemberaubender Anblick.“ Nein, Anna war die Schönheitskönigin der Familie. Elegant, anmutig und begnadet. Oh, Anna, du fehlst mir so.

Seufzend zog sie den Stopfen, um das Wasser ablaufen zu lassen. Vielleicht würden sie beide sich eines Tages wieder nahe sein – wie Schwestern es sollten.

Das Telefon läutete. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte fast halb zehn, und der Anruf kam aus dem Krankenhaus. Obwohl sie keinen Bereitschaftsdienst hatte, nahm sie den Hörer ab. „Dr. Wilder.“

„Hier ist Lindsey.“

Die Nachtschwester.

„Ihr Patient Mr. Sumner reagiert allergisch auf das Demerol, glaube ich. Herzklopfen, Schweißausbrüche, Schwindelanfälle.“

Ella stand auf und griff nach ihren Sachen. Die Symptome hörten sich tatsächlich nicht gut an. „Temperatur und Blutdruck?“

„Zweiundfünfzig und siebzig zu sechzig. Es kann sein, dass er das Bewusstsein verliert.“

Verdammt. Im Aufnahmeformular stand nichts von Allergien. „Geben Sie ihm zwei Liter Kochsalzlösung. Sofort. Und holen Sie Dr. Roycroft.“ Roycroft hatte Nachtdienst. „Ich bin in ein paar Minuten da.“

Sie legte auf, zog hastig Jeans und Sweatshirt an und fragte sich nicht, warum sie an sein Bett eilte. Die Schwestern und die Ärzte, die Bereitschaft hatten, könnten sich um ihn kümmern.

Sie alle sind kompetent, Ella. Du hast es nicht mit einer alkoholkranken Schwester zu tun, die ihr Problem verdrängt.

Trotzdem durfte sie kein Risiko eingehen. Dieses Mal war sie verantwortlich, nicht eine OP-Schwester. Sie hatte die Medikamente verschrieben.

Auf der Fahrt fror sie, obwohl die Heizung im Wagen auf vollen Touren lief. Im Krankenhaus angekommen, rannte sie fast die Treppe zum zweiten Stock hinauf.

Ein Pfleger gab am Stationstresen gerade Daten in den Computer ein. „Ist Lindsey bei Mr. Sumner?“, fragte Ella ihn.

Der Mann schaute auf den Monitor. „Nein, aber dem Patienten geht es gut. Wir haben ihn stabilisiert, ihm ein frisches Nachthemd angezogen, das Laken gewechselt und ihn gewaschen.“

Sie überflog Sumners Patientenblatt. Puls und Blutdruck waren wieder normal. Die Infusion wirkte. „Danke. Wenn ich schon mal hier bin, kann ich auch nach ihm sehen.“ Sie eilte weiter.

Im Zimmer tauchte das Nachtlicht das Bett und seinen Umriss unter der Decke in bläuliches Licht. Das Bein ruhte auf mehreren Kissen. Er war noch wach.

„Hey Doc“, sagte er mit tiefer Stimme. „Haben Sie den weiten Weg gemacht, nur um mich zu sehen?“

Offenbar hatte er sich wieder erholt, denn sie hörte das Lächeln heraus und stellte sich vor, wie seine grasgrünen Augen funkelten.

„Wie fühlen Sie sich?“, fragte sie und tastete automatisch an seinem Fuß nach dem Puls. Er war gleichmäßig.

„Vor einer Weile war mir noch nicht so heiß.“

„Sie haben auf das Demerol reagiert. Ist das schon mal passiert?“

„Nein. Außer Aspirin oder so nehme ich keine Medikamente. Erst recht keine verschreibungspflichtigen. Ich brauche sie nicht.“

Sie sollte ihn nach seinem Springerknie fragen. Er musste irgendwann starke Schmerzen gehabt haben. Aber er war schläfrig und hatte für heute genug durchgestanden. „Vielleicht brauchen Sie ein Armband mit einer Allergiewarnung für Demerol.“ Sie legte eine Hand an seine Stirn. Die Haut war kühl. Er war okay. „Ruhen Sie sich aus, Mr. Sumner.“

„Sie können …“ Die Augen fielen ihm zu. „Sie können mich J. D. nennen.“

Ella ignorierte die Bitte. J. D. war viel zu persönlich. Es würde ihm einen Vorteil verschaffen, den sie ihm nicht gewähren durfte. „Schlafen Sie jetzt, Sir. Lassen Sie die Infusion und die Medikamente ihr Werk tun.“

„Sie haben mir Paracetamol gegeben.“

„Gegen die Schmerzen.“ Und das Fieber. „Ich komme morgen früh wieder.“

„Wann?“

„Gegen sieben.“

„Ich habe sofort auf den Notrufknopf gedrückt“, erzählte er, als wollte er sie nicht gehen lassen. „Ich war überrascht, dass sofort jemand kam.“

„So funktioniert unser Krankenhaus. Kein Notruf bleibt unbemerkt oder wird ignoriert. Bei uns steht die Betreuung der Patienten an erster Stelle.“

„Gut.“ Seine Stimme wurde leiser. „Schade, dass Sie keinen Dienst hatten. Ich hasse … Krankenhäuser.“

„Ich hoffe, Sie hassen unseres nicht zu sehr.“

„Nacht, Doc.“

„Gute Nacht.“

Sie kehrte zum Schwesternzimmer zurück und notierte ihre Beobachtungen auf dem Patientenblatt. Mehrere Minuten später war sie unterwegs nach Hause und packte das Lenkrad fester als nötig. Konnte sie die schrecklichen Erinnerungen an jene Operation in Boston jemals hinter sich lassen?

Ein Tag nach dem anderen, hatte der Therapeut ihr erklärt.

Sie konnte nur hoffen, dass bei J. D. Sumner nichts falsch gelaufen war.

Er hat jetzt schon Angst. Der Gedanke kam ungebeten.

Sicher, er wirkte selbstbewusst, aber sie hatte seine Nervosität schon in dem Moment gespürt, in dem Mike O’Rourke, einer der Sanitäter, ihn in die Notaufnahme gebracht hatte. Das war verständlich, kein Mensch freute sich darüber, ins Krankenhaus zu müssen, aber trotzdem …

Ella ließ die letzten beiden Tage Revue passieren. Die dauernden Fragen des Patienten, der ängstliche Unterton. Sein Wunsch, sie an seiner Seite zu haben. Und es war mehr als schlichte Anziehung. Er sah in ihr so etwas wie eine Lebensretterin. Warum?

Warum misstraute J. D. Sumner, Manager eines der größten Konzerne im Gesundheitswesen, allen Krankenhäusern?

Oder war es nur ihr Krankenhaus?

J. D. erwachte in kaltem Schweiß gebadet.

Das Nachthemd klebte an der feuchten Haut, und er brauchte einen Moment, bis er sich orientiert hatte.

Er lag im Krankenhaus, an einem Ort, an dem er seit seiner Geburt noch keine einzige Nacht verbracht hatte. Erst recht nicht zwei. Er schaute auf das Uhrenradio. Kurz nach Mitternacht. Er hatte weniger als zwei Stunden geschlafen. Sein Mund war trocken. Er griff nach dem Wasser und nahm einen Schluck. Das Eis darin war längst geschmolzen.

Jemand hatte den Rufknopf in Reichweite gelegt und ihn an der Seite des Betts befestigt. Er drückte auf das rote Licht – ein Mal, zwei Mal, drei Mal. Sein Körper begann zu zittern.

Zehn Sekunden später kamen leise Schritte näher. Eine Frau betrat das Zimmer.

„Doc?“, keuchte J. D. Ihr Gesicht war verschwommen.

„Ich bin Lindsey“, antwortete sie. „Die Nachtschwester. Geht es Ihnen gut, Mr. Sumner?“

„Ich bin klitschnass.“ Ihm klapperten die Zähne, und er musste heftig blinzeln. „Ich brauche den Doc“, sagte er mit schwerer Zunge.

Die Schwester trat ans Bett, strich an seinem Arm hinab und nahm seine kalten Hände zwischen ihre. „Ich hole Ihnen ein frisches Hemd und ein paar Extradecken“, versprach sie und verschwand.

J. D. fröstelte. So kalt war ihm nicht mehr gewesen, seit er als Kind den Transporter seines Dads frei schaufeln musste. Sein Vater war in einer bitterkalten Winternacht von der Straße abgekommen und in einer Schneewehe gelandet. „Ich erfriere“, hatte er zu seinem alten Herrn gesagt.

„Dann schaufelst du nicht kräftig genug“, hatte Pops entgegnet.

Erneut überlief ein Zittern J. D.s Körper.

Lindsey kehrte mit Decken und einer Flasche Wasser zurück, gefolgt von einem Pfleger.

„Gleich ist Ihnen wieder warm, Mr. Sumner“, sagte sie aufmunternd.

Behutsam half sie ihm aus dem Bett und auf einen Stuhl. Während Lindsey das Laken wechselte, zog ihr Kollege ihm ein frisches Nachthemd an. Kurz darauf lag er warm und trocken unter den Decken. Sein Knie schmerzte höllisch.

Er trank einen Schluck Wasser, und Lindsey nahm den Puls und schob ihm vorsichtig ein Digitalthermometer ins Ohr. Sie hatte ruhige Hände und eine tröstende Stimme. J. D. hatte Krankenhäuser immer für eine Art Gefängnis gehalten, in dem die unter Drogen gesetzten Insassen dem herzlosen Personal ausgeliefert waren, das sie gar nicht schnell genug wieder loswerden konnte.

Er kannte nur Kliniken, wie NHC sie betrieb.

Aus irgendeinem Grund sah er die Fließbandmedizin plötzlich in anderem Licht.

„Wie geht es dem Knie?“, fragte Lindsey.

„Das fühlt sich an, als wäre ein Lastwagen drübergefahren.“

„Wir geben Ihnen noch etwas gegen die Schmerzen.“

„Kommt meine Ärztin?“

„Wir haben sie angerufen, aber was Sie fühlen, ist nur das Demerol, das Ihr Körper langsam ausscheidet.“

Er nahm seine Tabletten, und die Schwester deckte ihn zu, als wäre er ein Kind. „Jetzt können Sie schlafen“, versprach sie sanft.

Fast rechnete er schon mit einem Gutenachtkuss auf die Stirn, doch sie trat zurück und klappte das Geländer wieder hoch. „Gute Nacht“, flüsterte sie.

J. D. war zu müde, um zu antworten. Das Schmerzmittel wirkte bereits, und sein letzter klarer Gedanke war, dass ihn noch nie jemand zugedeckt hatte.

Ganz sicher nicht sein alter Herr.

Als Ella im Morgengrauen zum Krankenhaus fuhr, hatte der Wind sich gelegt. Die Nacht war unruhig gewesen. Immer wieder war sie aufgewacht und hatte sich Sorgen um Sumner gemacht. Unsinnigerweise, denn Lindsey hätte sie bei einem Problem sofort verständigt. Sei nicht so streng zu dir, befahl sie sich. Wenn sie an die ungezählten schlaflose Nächte als Studentin und Assistenzärztin dachte …

Sie hielt auf dem Parkplatz und atmete tief durch. Wäre sie nicht so ehrgeizig gewesen, so versessen darauf, ihren Abschluss zu machen, hätte es nach Tyler vielleicht einen anderen gegeben …

Hör auf. Tyler war nun wirklich der Letzte, an den sie sich erinnern wollte. Tyler mit seinem brillanten medizinischen Verstand. Mit dem gebrochenen Körper nach dem Skiunfall in seinem ersten Jahr seiner Assistenzzeit. Tyler, den sie geliebt hatte, aber in den sie nicht verliebt gewesen war – bis er an einer akuten Lungenentzündung gestorben war. Danach hatte sie geweint und bereut und war beinahe verzweifelt.

Hast du um ihn oder um dich geweint, Ella?

Der Gedanke ließ sie erstarren, direkt vor der Garderobe.

Sei ehrlich. Tyler wollte nicht weiterleben. Sein Traum, Neurochirurg zu werden, war für immer zu Ende.

Na gut. Die Tränen galten eher mir selbst.

Ihr Gewissen quälte sie, während sie den Raum betrat, sich umzog und wieder zur kompetenten Ärztin wurde, die keine Zeit für schmerzhafte Erinnerungen an verpasste Chancen hatte.

Sie ging zum Schwesternzimmer und überflog die Berichte zu den sieben Patienten, für sie verantwortlich war. J. D. hatte anfänglich nicht gut geschlafen. Kalter Schweiß, Schüttelfrost, trockener Mund. 21.35 – Demerol abgesetzt, Paracetamol gegeben. 0.03 – Bettwäsche gewechselt. Patient hat mehrfach nach Dr. E.W. gefragt, hatte Lindsey notiert.

Dass seine Temperatur nach einer unruhigen Nacht stieg, war normal. Im Großen und Ganzen sahen seine Werte gut aus. Ihr Blick fiel auf mehrfach nach Dr. E.W. gefragt. Sie schaute zu Zimmer 239 hinüber, und ihr Herz schlug schneller. Es ging ihm gut. Der Rest der Nacht war ereignislos verlaufen. Sie fragte sich, ob er wach war, gefrühstückt hatte, auf sie wartete.

Wie gewöhnlich begann sie mit der Visite. Ella unterhielt sich mit jedem ihrer Patienten und machte ihm Mut. Das war es, was ihr Vater ihr beigebracht hatte. Der persönliche Kontakt machte das Walnut River General zu einem Krankenhaus, in dem die Patienten in Ruhe und umsorgt gesund werden konnten. Patienten sind Menschen. Fast konnte sie die eindringliche Stimme ihres Dads hören. Sie haben Gesichter und Namen. Sie sind nicht nur Fälle und Fachbegriffe.

Als sie J. D.s Zimmer betrat, war Ella, als sähe ihr Vater ihr lächelnd über die Schulter. „Wie geht es Ihnen heute Morgen, Mr. Sumner?“

Er saß aufrecht im Bett, das operierte Knie auf mehreren Kissen gelagert. Das Haar fiel ihm jungenhaft in die Stirn. Was für ein unglaublich attraktiver Mann, dachte sie.

Ihr ganze Ausbildung, die langen Nächte über dicken Lehrbüchern, mit Unmengen von schwarzem Kaffee … nichts davon hatte sie auf das hier vorbereitet. Auf J. D. Sumner.

Ihr stockte der Atem, als er lächelte. „Hey Doc. Können Sie mich hier rausholen?“

Unter dem Vorwand, sein Patientenblatt zu überfliegen, trat sie ans Bett. „Sie hatten eine harte Nacht.“

„Ich habe sie überstanden.“

„Mmm.“ Sie presste zwei Finger auf sein kräftiges, warmes Handgelenk. Herzschlag kräftig und langsamer als gestern. „Treiben Sie regelmäßig Sport, Mr. Sumner?“, erkundigte sie sich, während sie sein Knie auf Schwellungen oder Verfärbungen untersuchte.

„Warum nennen Sie mich nicht beim Vornamen?“, fragte er leise.

„Es ist besser so.“ Vornamen sind zu persönlich.

Er schmunzelte. „Aha … verstanden. Besser für Sie. Interessant.“

„Nicht interessant. Professionell.“

J. D. lachte. „Was für ein Wort aus dem Mund einer Ärztin dieses Krankenhauses. In meiner Welt heißt professionell effizient und tüchtig.“

„Und das sind wir nicht?“, entgegnete sie sanft.

„Oh, Sie sind professionell, verstehen Sie mich nicht falsch. Sie müssten nur etwas schneller werden und nicht so oft Händchen halten.“

Ella ignorierte die Kritik. „Ich muss jetzt den Verband wechseln. Nachher können Sie ein paar Schritte gehen. Und zu Ihrer Information, Professionalität steht bei uns ganz oben, vor allem bei der Betreuung der Patienten.“ Sie warf ihm einen strengen Blick zu. „Was Ihren Konzern nicht zu interessieren scheint, wie ich höre.“

„Meinen Konzern interessiert, dass Sie Ihr Krankenhaus modernisieren sollten. Warum mit alten Geräten und veralteten Methoden arbeiten, wenn Sie mühelos besser sein könnten?“

Sie warf den Verband in den Abfalleimer neben dem Bett. „Bewahre der Himmel, dass ich mich jemals in einer NHC-Klinik behandeln lassen muss. Ich wäre ein anonymer Fall, eine Nummer.“

„Man würde sich auf äußerst anspruchsvolle Weise um Sie kümmern.“

Sie schaute ihm die Augen. „Hat die medizinische Betreuung im Walnut River General bisher Ihren Ansprüchen nicht genügt, J. D.?“

Der Fehler wurde ihr erst bewusst, als sie seinen Namen bereits ausgesprochen hatte und den Patienten strahlen sah wie ein Kind am letzten Schultag.

„Das klingt schon besser“, sagte er. „Ein wenig kultiviert, ein wenig rauchig, ein wenig se…“

„Seien Sie still“, unterbrach Ella ihn scharf.

„Ich wollte sagen …“

„Tun Sie’s nicht.“

„… seriös.“ Er grinste. „Sie dachten, ich hätte etwas anderes im Sinn, nicht wahr?“

Trotz seiner Verletzung war der Mann beharrlich. Und er durchschaute sie mühelos. „Was Sie im Sinn haben, ist für mich nicht wichtig.“

„Tatsächlich?“

„Absolut. Mein Interesse an Ihnen, Mr. Sumner, ist eindeutig. Sie sind mein Patient. Sonst nichts.“

Er seufzte dramatisch. „Sie brechen mir das Herz, Ella.“

Du liebe Zeit. Sie zwang sich, daran zu denken, dass er als Vertreter von Northeastern Healthcare an der Sitzung des Verwaltungsrats teilgenommen hatte. Er konnte alles zunichtemachen, wofür das Walnut River General stand. Und das bedeutete, dass sie ihm auf keinen Fall vertrauen durfte.

Seine Flirtversuche waren reine Tarnung. Er verschleierte damit nur seine wahre Absicht: sie auszuhorchen, um ihr Krankenhaus übernehmen zu können. Das Krankenhaus, für das ihr Vater sein Leben lang mit Leidenschaft und Können gearbeitet hatte. Um das Thema zu wechseln, legte sie ihre Finger auf sein Knie und zeigte mit dem Kinn auf das s-förmige Muttermal an der Innenseite des Oberschenkels. „Woher haben Sie das?“

„Vermutlich von irgendeinem entfernten Vorfahren.“

„Haben Sie vielleicht doch Angehörige in Walnut River?“ Sie strich um die Kniescheibe herum.

„Warum fragen Sie mich das?“

„Ich habe noch einen Patienten mit so einem Muttermal.“

Sein Bein zuckte. „Vorsicht“, flüsterte er.

„Hat das wehgetan?“

„Es ist empfindlich.“

Sie beugte sich hinab und untersuchte den Bereich unterhalb des Gelenks. „Hmm. Das sollte es an dieser Stelle nicht sein. Es ist zu weit vom Einschnitt entfernt.“ Abgesehen von der Naht schien das Knie gut zu verheilen. Zum Glück gab es keinerlei Anzeichen für eine Blutvergiftung.

Ella drückte auf den Rufknopf. „Ich verschreibe Ihnen eine Salbe.“

„Jetzt?“, fragte J. D. mit plötzlichem Ernst. Er starrte auf das Knie, und man sah, dass er schluckte.

Einen Moment lang war sie versucht, sich selbst um ihn zu kümmern. „Es ist alles in Ordnung. Die Schwester übernimmt das, damit ich meine Visite fortsetzen kann.“

„Kommen Sie nachher wieder?“

June Agger, die seit zwanzig Jahren im Krankenhaus arbeitete, betrat das Zimmer. „Dr. Wilder?“

„Könnten Sie Mr. Sumners Operationswunde verbinden, June? Danke.“ Sie sah J. D. an. „Ich komme heute Abend wieder. Wir behalten Sie noch einen Tag hier, um sicherzugehen, dass Sie die neuen Medikamente vertragen. Falls Sie … falls Ihr Knie mich braucht, weiß June, wo ich zu finden bin. Bis dahin macht Ashley, unsere Physiotherapeutin, einige leichte Übungen mit Ihnen. Aber übertreiben Sie es nicht.“

„Doc“, rief er ihr nach, als sie an der Tür war. „Für mich kann der Tag gar nicht schnell genug vergehen.“

Bis sie zu ihm zurückkehrte.

Ella eilte über den Korridor. Kein Zweifel, der Mann war gefährlich.

Bis auf den Achtzigjährigen, der an dem winzigen Schreibtisch neben dem Eingang döste, war die Krankenhausbibliothek um drei Uhr nachmittags leer.

In einem blauen Frotteebademantel und an den Gehhilfen, die er von der Physiotherapeutin bekommen hatte, humpelte J. D. über den Parkettboden. Die Bücherei enthielt nur das Nötigste. In den zehn Regalen standen Romane, Nachschlagewerke und diverse Zeitschriften.

Der Raum lag an der nordwestlichen Ecke des Erdgeschosses und verfügte über eine bequeme Sitzecke mit Blick auf den verschneiten Garten.

Vorsichtig ließ J. D. sich in einen weichen Sessel sinken. Vor dem Fenster ragten verschiedene Bäume auf – Ulmen, Eichen und Ahorn. Vier Stunden vor seinem Unfall hatte er in einer Broschüre etwas über die Pflanzen New Englands gelesen. Bevor er sein Knie demoliert hatte.

Das Knie, das in diesem Moment mörderisch pochte. Ich habe es übertrieben, dachte er wütend. Hatte sie ihn nicht genau davor gewarnt? Sicher, aber er wollte endlich raus hier. Er wollte zurück in seinen Job, zurück nach New York. Er hatte genug von Walnut River.

Die Lautsprecherdurchsage war in der Bibliothek kaum zu hören. „Dr. Ella Wilder, Aufwachraum drei. Dr. Ella Wilder, Aufwachraum drei.“

Automatisch stellte er sich vor, wie sie zu dem Patienten eilte, eine Sorgenfalte zwischen den schmalen dunklen Brauen. Ihre pinkfarbenen Nike-Turnschuhe machten sicher kaum ein Geräusch auf dem gefliesten Boden. Er malte sich aus, wie sie eine schlanke Hand an die Stirn des Patienten legte, seinen Puls fühlte und ihn mit ihrer sexy Stimme beruhigte.

J. D. lächelte. Oh ja. Sexy. Sie hatte ihn heute Morgen sofort durchschaut. Mit ihrem scharfen Verstand, dem wachen Blick und dem wunderschönen Gesicht. Ella Wilder besaß eine Sinnlichkeit, die bei jedem Mann den Testosteronspiegel in die Höhe schießen ließ.

Leider waren solche Frauen nicht seine Liga. Er zog eher die forschen, aufdringlichen Typen an. Frauen, die wussten, wie man sich amüsierte, und auf ein kurzes Abenteuer aus waren. Die ihm gaben, was er brauchte, was er wollte. Ohne Romantik. Ohne Verpflichtungen, Versprechungen und Verstrickungen.

Der Gedanke deprimierte ihn. Draußen begann es zu schneien. Er wünschte, er könnte seine jämmerliche Herkunft genau so verschwinden lassen, wie der Garten draußen unter einer Schneedecke verschwand. Aber egal, wie diszipliniert und zielstrebig er durchs Leben ging und Karriere machte, die Vergangenheit holte ihn immer wieder ein.

Für eine Frau wie Ella Wilder, kultiviert und elegant, aus guter Familie mit altem Geld und Tradition, wäre er nichts als ein Ausrutscher, ein Fehltritt, den sie so schnell wie möglich vergessen würde.

Na ja, vielleicht war es höchste Zeit, etwas in seinem Leben zu ändern und aus sich einen anderen Mann zu machen.

Einen, der den Ansprüchen der attraktiven Ärztin genügte.

3. KAPITEL

Wann immer möglich, aß Ella mittags zu Hause. Dort war es still, und die ruhige Stunde half ihr, Energie und Konzentration zu tanken. Heute war mal wieder einer dieser Tage. Sie hatte J. D. nicht aus dem Kopf bekommen. Der Mann beherrschte ihre Gedanken, sobald sie ihnen freien Lauf ließ: wenn sie zehn Minuten Pause machte, wenn sie sich zwischen zwei Operationen umzog.

Für den Nachmittag war nur eine einzige OP angesetzt. Die achtzig Jahre alte Mrs. Shipman hatte sich das Radiusköpfchen am rechten Ellbogen verletzt. Ella freute sich auf die Aufgabe, aber nicht auf die Zeit danach – zu viele Stunden, in denen sie an J. D. Sumner denken konnte.

Molly begrüßte sie an der Hintertür, schnurrte glücklich und strich ihr um die Beine.

Als Ella gerade am Küchenfenster stand, ihr Sandwich mit Tomate und Hühnchensalat aß und überlegte, wann sie den Schnee von ihrem Gehweg schaufeln sollte, kam ihr Nachbar aus dem Haus und begann, seine Türschwelle zu fegen.

Und schlagartig begriff sie.

Jared Sumner. Der Mann war in Walnut River für seinen grünen Daumen bekannt. Er kümmerte sich um den Garten des Krankenhauses. Im letzten Sommer hatte sie ihn außerdem für ihr eigenes kleines Grundstück engagiert.

Sechs Monate zuvor hatte sie ihn mit einem Gehstock um sein Haus humpeln sehen, also war sie hinübergegangen, um sich nach seiner Gesundheit zu erkundigen. Der alte Mann hatte abgewinkt – bis unerträgliche Schmerzen ihn doch noch dazu brachten, sie um Hilfe zu bitten.

Im letzten Oktober hatte sie ihm eine künstliche Hüfte eingesetzt. Und ihn nach dem Muttermal an der Innenseite seines Oberschenkels gefragt.

Nach dem s-förmigen Muttermal, wie es ihr heute Morgen bei J. D. aufgefallen war.

Woher haben Sie das?

Vermutlich von irgendeinem entfernten Vorfahren.

Und dann war er zusammengezuckt. Obwohl es an der Stelle, die sie gerade berührte, gar nicht wehtun durfte. Das war doch wohl kein Trick gewesen, um sie abzulenken?

Über dem Spülbecken wischte sie sich die Krümel von den Fingern. „Bleib hier, Molly. Ich bin gleich zurück.“

Ella schlüpfte in den Mantel und eilte hinaus. Die Kälte raubte ihr fast den Atem, als sie über die schmale Straße und durch Mr. Sumners winzigen Garten rannte, der im Sommer ein einziges Blütenmeer war.

Dort musste J. D. als Kind gespielt haben – wenn der Mann mit dem Besen der war, für den sie ihn hielt.

Der alte Gentleman hob den Kopf, als sie näher kam. „Hallo, Mr. Sumner“, rief sie.

„Doc.“ Er richtete sich auf, stützte sich auf den Stiel und schaute ihr entgegen. „Fertig für heute?“, fragte er, und wie immer war ihm anzuhören, dass er aus Boston stammte.

„Ich muss in zwanzig Minuten wieder hin.“ Sie warf einen Blick auf den Besen. „Ich dachte, Sie haben einen Schüler, der Ihnen die Wege und Stufen fegt“, sagte sie ein wenig besorgt, denn sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie der alte Knabe ausrutschte und durch die Luft segelte.

Wie J. D.

„Ha“, grunzte er. „Der dämliche Junge hat keine Ahnung. Schaufelt den Schnee so dicht neben dem Weg zusammen, dass er wieder runterrutscht.“

Sie ging die Stufen hinauf. „Geben Sie mir den Besen, und gehen Sie rein, bevor Sie auf den Po fallen.“

„Auf meinen Hintern, meinen Sie wohl?“, knurrte er. Aber er lächelte dabei.

„Auf was auch immer.“ Sie nahm ihm den Besen ab und scheuchte ihn zur Tür. „Ich komme gleich nach.“

„Wozu?“

„Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen. So, jetzt stehen Sie mir nicht länger im Weg herum.“

„Ha! Vielleicht sollte ich abschließen. Hab’s nicht nötig, mich von einer Frau rumkommandieren zu lassen.“

„Ich kommandiere Sie nicht herum, ich mache mir nur Sorgen um Sie. Aber davon verstehen Sie nichts, was?“

„Sie haben eine viel zu spitze Zunge“, knurrte er und schloss die Tür vor ihrer Nase.

Ella fegte die Schwelle und die Stufen, dann schnappte sie sich den Schneeschieber, der an der Hauswand lehnte, und nahm den Weg in Angriff.

Die Tür ging wieder auf. „Machen Sie das ja ordentlich – sonst war es das letzte Mal.“ Die Tür fiel ins Schloss.

Alter Griesgram, dachte sie und musste lachen. Er war ihr Nachbar, seit sie im letzten Jahr in dieses Haus gezogen war, kurz nachdem sie ihre Assistenzzeit abgeschlossen hatte. Nach dem Tod ihrer Großmutter vor drei Jahren hatten Mieter darin gewohnt – und das Grundstück vernachlässigt.

Mr. Sumner senior hatte sich die Chance nicht entgehen lassen, ihren „Schweinestall“, wie er es nannte, in Ordnung zu bringen. Er war nicht billig, aber ein erstklassiger Gärtner wie er war jeden Cent wert.

Als sie mit dem Weg fertig war, stellte sie den Besen ab und ging zur Tür. Sie hatte noch genau fünf Minuten Zeit.

Als sie klopfte, öffnete er so schnell, als hätte er auf der anderen Seite gewartet.

„Danke“, sagte Ella und ging an ihm vorbei ins Haus. In der Küche war es so warm, dass ihre Wangen zu glühen begannen. Sie schaute in das tadellos aufgeräumte Nebenzimmer. Der Mann war daheim so ordentlich wie in ihrem Garten.

„Ich dachte, Sie müssen sich um Ihre Patienten kümmern“, sagte er missmutig. „Sie stehlen mir den Nachmittag.“

„Bitte schön. Fürs Schneeschaufeln.“

Er grunzte nur.

Sie schob die Hände in die Manteltaschen und musterte den alten Kauz. Abgesehen von der Größe und dem dichten silbergrauen Haar war er J. D. kein bisschen ähnlich. Hatte sie sich geirrt? Wenn sie ihn jetzt ausfragte, mischte sie sich in etwas ein, das sie nichts anging. Sie war die Ärztin der beiden Männer, nicht ihr Seelsorger, Psychologe oder Sozialarbeiter.

Aber da war das Muttermal.

Und der Nachname. Selbst den Vornamen hatten sie gemeinsam. Wie Vater und Sohn.

Sie schaute in seine blauen Augen. „Ich mache es ganz kurz, Mr. Sumner. Haben Sie noch Angehörige?“

Er runzelte die Stirn. „Was zum Teufel interessiert Sie das? Erst nehmen Sie mir den Besen weg, dann stürmen Sie in mein Haus, und jetzt fragen Sie mich auch noch Sachen, die nichts mit ärztlicher Betreuung zu haben.“

Sie gab nicht nach. „Haben Sie welche?“

„Wenn Sie wissen wollen, ob ich Kinder habe, lautet die Antwort Nein.“

„Keine Kinder?“

„Sind Sie taub, Doc?“

Die Anspannung wich aus ihren Schultern und wanderte in den Bauch. Der alte Mann log. „Ich habe im Krankenhaus einen Patienten. Sein Name ist J. D. Sumner. Er kommt aus New York City und …“

„Ich kenne niemanden in New York.“ Mit dem Gehstock in der Hand drehte er sich um und schlurfte zum kleinen Küchentisch aus den Sechzigerjahren, an dem zwei rote Kunststoffstühle standen.

Hatte J. D. mal dort gesessen?

Jared Sumner hängte den Stock über eine Lehne und setzte sich auf den Stuhl, von dem aus er in den Garten sehen konnte. Verblüfft stellte Ella fest, dass ihre Möbel exakt so standen wie seine.

„Fahren Sie in Ihr Krankenhaus zurück, Doc. Ich werde jetzt ein Nickerchen machen, wenn Sie nichts dagegen haben.“ Er starrte in seine verschneite kleine Welt hinaus und rieb sich die Hüfte.

Sie trat vor. „Haben Sie Schmerzen?“

„Ich werde es überstehen.“

Fast genau die Worte, die sie von J. D. gehört hatte.

„Sie haben nächste Woche einen Termin. Ich erwarte Sie in meinem Büro.“

Er drehte sich zu ihr, und sein misstrauischer Blick erinnerte sie an den von J. D., als er auf der Trage in der Notaufnahme gelegen hatte.

„Wenn ich Tabletten brauche, rufe ich Sie an.“

Störrischer alter Esel. „Tun Sie das“, erwiderte Ella. Sie sollte ihn in Ruhe lassen, aber sie brachte es nicht fertig. Sie musste es wenigstens versuchen. „Und falls Sie mehr über meinen anderen Patienten wissen wollen … er ist Mitte dreißig, hat dunkelbraunes Haar. Und …“ Sie machte eine Kunstpause. „Braune Augen.“

Keine Reaktion. Der alte Mann ignorierte sie.

„Na gut“, sagte sie. „Dann gehe ich jetzt.“ Doch als sie die Hintertür öffnete, hörte sie ihn ein Wort flüstern. Grün? Sie schaute über die Schulter, sah jedoch nur sein Profil, den Blick starr nach vorn gerichtet.

Ella seufzte. „Bis später, Mr. Sumner.“

Er bewegte sich nicht.

Leise schloss sie die Tür hinter sich und lächelte.

Von der Seite betrachtet war Jared Sumner das Ebenbild seines Sohns.

Eben hatte J. D. noch das Gefühl gehabt, dass seine Haut in Flammen stand. Jetzt kam es ihm so vor, als wäre er im Nordatlantik untergetaucht, und seine Zähne klapperten. Was zum Teufel war mit seinem Körper los? Er hatte die Übungen gemacht, die die Physiotherapeutin ihm beigebracht hatte, war fast den ganzen Tag auf dem Korridor herumgelaufen und hatte sich nur ausgeruht, wenn es zu sehr schmerzte.

Er warf einen Blick auf sein Mittagessen. Vor zehn Minuten hatte das Hühnchen noch ganz lecker gerochen. Bevor ihm heiß geworden war und die Migräne eingesetzt hatte.

Er zog sich die Decke bis unters Kinn und ließ die Augen zufallen. Vielleicht würde es ihm besser gehen, wenn er ein wenig schlief.

Wieder durchlief ihn ein Zittern. Verdammt. Was um alles in der Welt was los mit ihm? Er hatte sich doch nur das Knie angeschlagen, mehr nicht! Ein kleiner Unfall, das war alles.

Aber irgendwie fühlte es sich nicht danach an.

Er war immer ein Gesundheitsfanatiker gewesen. Er aß gesund, trieb täglich Sport, trank in Maßen und hatte regelmäßig Sex. Dass er keine Kontrolle über seinen Körper hatte, war bestimmt diesem Krankenhaus zuzuschreiben. Hatte sie bei der Operation einen Fehler gemacht? Wie der Quacksalber damals bei Mom? Hatte Dr. Ellas Skalpell etwas verletzt? War es unsteril gewesen? Er hatte von so etwas gelesen.

Deine Fantasie geht mit dir durch, J. D. Du weißt, dass sie ihren Job gut gemacht hat. Die Wunde war sauber und ordentlich. Er hatte sie sich jedes Mal angesehen, wenn der Verband gewechselt wurde.

Er konnte es kaum erwarten, entlassen zu werden. Morgen würde er von hier verschwinden, ob es ihr nun gefiel oder nicht. Er konnte sich nicht erinnern, jemals mehr als ein paar Stunden im Krankenhaus gewesen zu sein. Jetzt war er bereits zwei Tage hier, und seine Temperatur spielte verrückt.

Vielleicht sollte er eine Schwester rufen.

Wo war der Rufknopf?

Gott, war ihm kalt …

„Dr. Ella Wilder, Leitung eins. Dr. Ella Wilder, Leitung eins.“

Sie drückte auf den Knopf der Sprechanlage.

„Hier ist Lindsey aus dem ersten Stock.“

Die Nachtschwester begann ihren Dienst um fünf. Ella schaute auf ihre Armbanduhr. Dreizehn Minuten nach sechs. Sie hatte fast anderthalb Stunden am Schreibtisch gesessen. Kein Wunder, dass ihr die Schultern wehtaten.

„Mr. Sumner in 239 hat wieder leichtes Fieber“, fuhr Lindsey fort. „Mal schwitzt er, mal friert er. Ich glaube, er hat das Bein zu sehr belastet. Nicht, dass er es zugibt.“

„Ist das Knie geschwollen?“

„Ein bisschen. Und gerötet. Er fragt nach Ihnen.“

„Ich komme, sobald ich kann. Legen Sie das Knie hoch und in Eis. Erhöhen Sie die Antibiotika auf zehn Milligramm. Hat er gegessen?“

„Er sagt, er hat keinen Hunger.“

„Erst müssen wir das Fieber senken, dann füttern wir ihn. Danke, Lindsey.“

„Gerne. Und …“ Die Schwester zögerte. „Er will Sie unbedingt sehen.“

Ellas Herz schlug schneller. „Hat er gesagt warum?“

„Nein. Er wirkt nur etwas aufgebracht und scheint sich unwohl zu fühlen.“

„Hier oder in Krankenhäusern generell?“

„Das hat er nicht gesagt.“

„Na gut, ich bin gleich da.“

Ella beendete das Gespräch. Es kam nicht oft vor, dass einer ihrer Patienten so hohes Fieber bekam. Bestimmt hatte er es mit den Übungen übertrieben. Normalerweise erkundigte sie sich mittags und um sechzehn Uhr bei den Schwestern, wie es ihren Patienten ging. Es sei denn, sie stand im OP. Sie wusste, dass J. D. fest entschlossen war, das Walnut River General nach der Abendvisite zu verlassen.

Tja, J. D. Wie es aussieht, wirst du noch eine Nacht bei mir bleiben.

Wie ertappt schaute sie sich im Büro um, als hätte sie die Worte laut ausgesprochen. Sie musste nach Hause, ein heißes Bad nehmen und …

Ach, Ella, lass es. Sie griff nach einer anderen Patientenakte und machte sich an die Arbeit. Eine Viertelstunde später ging sie nach unten.

„Schläft er?“, fragte sie die Schwester.

„Nein. Er hat schon wieder nach Ihnen gefragt.“ Lindsey lächelte. „Ich glaube, er ist in Sie verknallt.“

Ella seufzte. „Das sind die Medikamente.“

„Vielleicht sollten wir ihm weniger geben, sonst gibt er keine Ruhe.“ Lindsey zwinkerte ihr zu.

Nirgendwo wurde so viel geredet wie in Krankenhäusern, das hatte Ella schon früh gemerkt. Vor allem über die Ärzte. Ihr Bruder Peter konnte ein Lied davon singen, seit er und Bethany ein Paar waren.

Die Gerüchteküche war auch der Grund, warum Ella sich im zwanzig Meilen entfernten Springfield eine Psychotherapeutin gesucht hatte. Die Vorstellung, dass man im Walnut River General über ihre Vergangenheit – jene schrecklichen Tage während ihrer Assistenzzeit in Boston – tuschelte, war unerträglich. Nicht mal ihre Familie wusste von den Schuldgefühlen und Albträumen, die sie seitdem verfolgten. Sicher, ihr war klar, dass sie den Vorfall nicht verursacht hatte. Dass die OP-Schwester Alkoholikerin gewesen war und vergessen hatte, ein Instrument zu sterilisieren. Dass die Frau deswegen ihren Job verloren hatte.

Aber wegen der Unachtsamkeit einer Schwester war ein kleiner Junge fast gestorben – ein kleiner Junge, für den Ella verantwortlich gewesen war. Sie hatte ihn mit einem Instrument operiert, auf das sie sich verließ und auf dessen Sauberkeit sie vertraute.

Seit einiger Zeit begannen ihre Ängste sich allmählich zu legen. In ihrem geliebten Walnut River General wurde sie langsam, aber sicher wieder zu der selbstbewussten Ärztin, die sie einmal gewesen war.

Ella griff nach J. D.s Patientenblatt, ignorierte Lindseys Kommentare und steuerte Zimmer 239 an.

„Endlich“, sagte er mit matter Stimme, als sie hereinkam.

Sie trat ans Bett, drehte sein Gesicht zu sich und leuchtete ihm in die Augen, um seine Reflexe zu prüfen. „Sie sind nicht mein einziger Patient, J. D.“

„Jetzt haben Sie mich schon wieder J. D. genannt.“

„Das wollten Sie doch, oder?“

„Ich will noch viel mehr.“

Sie griff nach der Armmanschette, die über seinem Kopf an der Wand hing.

„Und meistens bekomme ich es auch“, sagte er.

Ella legte ihm die Manschette um und pumpte sie auf. „Nicht alle haben so viel Glück.“

Sein Mundwinkel zuckte. „Reden wir über dasselbe, Doc?“

Oh, sie wusste genau, was er meinte. Erstaunlich, dass er bei dem hohen Fieber flirten konnte. Er war ein zielstrebiger Mann. „Tja, es gibt etwas, das Sie nicht bekommen werden“, entgegnete sie und nahm die Manschette ab.

„Sie?“

„Da Ihr Blutdruck zu hoch ist und Sie wieder Fieber haben, kann ich Sie erst morgen entlassen.“

„Sie wollen mich noch eine Nacht hierbehalten?“

Ella klappte das Geländer hoch. „Wie oft haben Sie das Bein heute belastet?“

„Ein paar Mal.“

„Öfter, als die Therapeutin empfohlen hat?“

Sein Blick wurde misstrauisch. Sie sah, wie rissig seine Lippen waren, und reichte ihm die Wasserflasche. „J. D., wissen Sie, wie man sich ausruht?“

„Natürlich. Das tue ich nachts.“

„Sie sollten es nicht nur nachts tun, sondern auch tagsüber. Nach einer Operation braucht der Körper Zeit, um sich zu erholen. Die Genesung erfordert Geduld – und Ruhe. Mit anderen Worten, ich möchte, dass Sie Ihre Arbeit vergessen. Schalten Sie den Blackberry aus. Die Übungen sollen lediglich eine Thrombose verhindern.“ Er kniff die Augen zusammen. „Aber wenn Sie zu viel tun, gefährden Sie den Heilungsprozess und werden nicht schneller zurück im Büro sein. Das Fieber ist ein Warnsignal Ihres Körpers. Bevor wir es nicht gesenkt haben, kann ich Sie nicht entlassen.“

Er nahm einen Schluck Wasser.

„Haben Sie mich verstanden?“, fragte Ella.

Er gab ihr die Flasche. „Ja.“

„Gut.“ Sie stellte das Wasser ab und reichte ihm den Lippenbalsam. „Sie müssen etwas gegen die rissigen Lippen tun, sonst platzen sie auf und bluten“, erklärte sie und entfernte die Eisbeutel. Das Knie war stärker geschwollen, als ihr gefiel, aber nicht so sehr, wie sie befürchtet hatte.

An seinem langen, schmalen Fuß tastete sie nach dem Puls.

„Wie ist er?“, fragte er, als sie fertig war.

„Achtundachtzig. Das ist bei Fieber normal.“

„Mein Ruhepuls ist vierundfünfzig.“

„Den werden Sie wieder haben, wenn Sie sich schonen.“ Sie lächelte aufmunternd. „Sie sind in Topform.“ Das stimmte. Kräftige Waden, breite Schultern, muskulöse Arme.

„Gehen Sie in ein Fitnesscenter?“, fragte sie.

„Ich hasse Fitnesscenter. Im Sommer laufe, wandere und rudere ich, im Winter unternehme ich Trekkingtouren.“ Stirnrunzelnd betrachtete er sein Bein. „Ich hatte gehofft, die Gegend zu erkunden, vielleicht am Fluss entlangzuwandern.“

„Keine anderen Sportverletzungen?“

„Nein.“ Er sah sie an. „Vielleicht sollte ich das Krankenhaus doch verklagen.“ Er rieb sich etwas Balsam auf die Lippen. „Weil ich auf die Bewegung in frischer Luft verzichten muss. Ganz zu schweigen von anderen Bedürfnissen.“ Er zog die Brauen hoch, und Ella musste sich beherrschen, um nicht die Augen zu verdrehen.

„Sie sind ein ziemlich berechenbarer Patient, Mr. Sumner.“

„Also wirklich, Doc. Nehmen Sie Rücksicht auf mein Selbstwertgefühl.“

„Das erholt sich schon wieder. Lindsey wird die Eisbeutel und den Verband wechseln. In einer halben Stunde.“ Sie holte ein Kissen aus dem Schrank in der Ecke. „Ich lasse Ihnen eine Suppe bringen, damit Sie etwas im Magen haben. Stützen Sie sich auf die Ellbogen.“ Er gehorchte, und sie tauschte das Kissen aus. „Besser?“, fragte sie, als er sich hinlegte.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Sie starrte auf das Kissen, an dem sie seine Körperwärme fühlen konnte. „Wir sehen uns morgen früh, J. D.“

„Ella“, sagte er leise. „Danke.“

Sie berührte die große Hand, die auf seinem Brustkorb ruhte. „Gern geschehen.“

Er umschloss ihre Finger. „Sehe ich Sie wieder?“

Sie missverstand ihn absichtlich. „Ich muss die Visite fortsetzen.“

„Danach, meine ich. Wenn ich entlassen bin.“

Sie zog die Hand aus seinem Griff. „Ich bin selten in New York.“

„Ich bleibe noch ein paar Wochen in Walnut River.“

„So? Also haben Sie hier doch Angehörige?“ Würde er es endlich zugeben?

„Lenken Sie nicht ab, Doc. Ich frage Sie gerade, ob Sie nach meiner Entlassung mit mir essen gehen.“

„Ich lenke nicht ab. Wir wollen nur sicher sein, dass …“

„Gehen Sie mit mir essen?“

Sie gab ihm das Wasser. „Lassen Sie mich darüber nachdenken.“

„Besser als ein glattes Nein, nehme ich an.“ Er trank einen Schluck, ohne sie aus den Augen zu lassen. „Ich rufe Sie heute Abend an.“ Er lächelte. „Sie stehen im Telefonbuch. Ich habe nachgesehen.“

Ella schüttelte den Kopf. „Ich frage mich, wie viele andere Schwestern und Ärztinnen Sie schon umworben haben.“ Im Auftrag von NHC.

„Keine.“

Sie lachte. „Haben sie etwa alle Ihrem Charme widerstanden?“

„Ich habe ihn gar nicht spielen lassen.“

„Die Frauen liegen Ihnen zu Füßen, was?“

Er lächelte verführerisch. „So ungefähr.“

„Gut zu wissen.“ Sie hob das Kinn. „Dann können Sie auf mich verzichten.“

Sein Lachen folgte ihr hinaus.

4. KAPITEL

J. D. schaute auf die Uhr. Zwanzig vor neun.

War Ella noch auf oder schon im Bett? Dass sie ihn für einen Schürzenjäger hielt, passte ihm gar nicht. Sicher, er hatte nichts gegen Abenteuer und ging mit Frauen aus, die ehrgeizig und mit ihrem Job verheiratet waren. Er konnte nicht anders. Schon früh hatte er gelernt, seine Emotionen für sich zu behalten.

Irgendwann in seiner Kindheit musste er sich mal behütet, vielleicht sogar geliebt gefühlt haben. Das half ihm, die Dinge locker zu sehen und flapsige Bemerkungen zu machen.

Und dämliche.

Die Frauen liegen Ihnen zu Füßen, was?

So ungefähr.

Als ob er ihr damit imponieren könnte.

Autor

Barbara Dunlop
Barbara Dunlop hat sich mit ihren humorvollen Romances einen großen Namen gemacht. Schon als kleines Mädchen dachte sie sich liebend gern Geschichten aus, doch wegen mangelnder Nachfrage blieb es stets bei einer Auflage von einem Exemplar. Das änderte sich, als sie ihr erstes Manuskript verkaufte: Mittlerweile haben die Romane von...
Mehr erfahren
Mary J Forbes
Mehr erfahren
Penny Jordan

Am 31. Dezember 2011 starb unsere Erfolgsautorin Penny Jordan nach langer Krankheit im Alter von 65 Jahren. Penny Jordan galt als eine der größten Romance Autorinnen weltweit. Insgesamt verkaufte sie über 100 Millionen Bücher in über 25 Sprachen, die auf den Bestsellerlisten der Länder regelmäßig vertreten waren. 2011 wurde sie...

Mehr erfahren