High Heels und Herzklopfen

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Tragen Engel schwarzes Leder? fragt David sich nach einem leichten Motorradunfall: Eine Frau in einem atemberaubenden Lederoutfit kniet neben ihm! Doch David ist nicht im Himmel – zum Glück. Denn so kann er seine Retterin gleich zu einem heißen Rendezvous einladen …


  • Erscheinungstag 20.10.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751520393
  • Seitenanzahl 140
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Ein kräftiger Ruck, und die eng sitzende Designerjeans des Bikers ließ sich herunterziehen.

Brooke Winfield warf einen Blick auf die nichtssagende Beule zwischen seinen Beinen, die sie daran erinnerte, wie sie und ihre Schwestern mit Puppen gespielt hatten. Joey war immer die Erste gewesen, die Ken aus der Kleidung schälte. Dann ließ sie ihn den Barbiepuppen unanständige Angebote machen. Katie dagegen veranstaltete Discopartys für ihre Puppen. Und Brooke spielte fast überhaupt nicht. Sie war mehr damit beschäftigt gewesen, Puppenkleider zu entwerfen und Barbie und Ken in ihrem Traumhaus liebevoll ausgearbeitete Szenen aufführen zu lassen.

„Jetzt bin ich dreißig Jahre alt und ziehe immer noch Puppen an“, beschwerte sie sich bei der entblößten männlichen Schaufensterpuppe, während sie die Jeans zusammenlegte. Mit seiner jungenhaften Brust und der Adlernase sah er zu modisch für einen Biker aus. Das Lederstirnband und die Tattoos, die sie ihm auf die schlanken Unterarme gemalt hatte, waren nur äußerer Schein.

Brookes Blick streifte den Spiegel an der Schaufensterrückwand. Es war immer der äußere Schein, den Menschen zuerst wahrnahmen.

Ihr Aussehen war zu neunzig Prozent konservativ und zu zehn Prozent kreativ. Brooke wusste, dass es Zeit wurde, die Zahlen zu vertauschen. Sie hatte kürzlich beschlossen, dass sie es endgültig leid war, den Regeln und Erwartungen der Familie Winfield gerecht zu werden. Sie wollte nicht so enden wie ihre Mutter, die bis zu ihrem Tod die Wahrheit über ihr Vorleben geheim gehalten hatte, um sich den konservativen Werten ihrer angeheirateten Familie anzupassen.

Seufzend fuhr Brooke fort, die Schaufensterdekoration abzubauen. Die hatte wenigstens für Aufsehen gesorgt, obwohl sie nur die Illusion von Rebellentum vorgaukelte. Mit Jeans für dreihundert Dollar konnte niemand sein Leben verändern, schon gar nicht die trendbewussten Bostoner, die sich nichts dabei dachten, die Kreditkarte für ein modisches Kleidungsstück zu zücken, das sie vielleicht nur einmal tragen würden.

Sie schraubte die Puppe auseinander und hob den Torso und die Gliedmaßen auf den Rollwagen, dann kletterte sie wieder ins Fenster zurück. O. M. Worthington war ein historisches, höchst exklusives Kaufhaus in der Newbury Street, in dem sich seit der Ankunft der Mayflower nichts Nennenswertes verändert hatte. Alyce Simmons, die Chefin der Modeabteilung, hatte Brooke engagiert, um den langweiligen Laden den modernen Zeiten anzupassen. Über ihre erste Zusammenarbeit, ein Gaultier-Schaufenster mit viel Leder, hatten sowohl das Personal als auch die Kundschaft den Kopf geschüttelt. Der einzige Grund, warum sie damit durchgekommen waren, bestand darin, dass Old Man Worthington höchstpersönlich den Entwurf genehmigt hatte. Selbst als Achtzigjähriger sah er ein, dass der Laden eine jüngere Kundschaft ansprechen musste, um ein weiteres Jahrhundert bestehen zu können.

Als Nächstes zog Brooke eine weibliche Schaufensterpuppe aus. Sie begann mit der Perücke, einem schwarzen Bob.

Sie hätte nicht übel Lust gehabt, sich die Perücke über ihre langweiligen braunen Haare zu ziehen, die nach einem Zwölfstundentag immer noch zu einem ordentlichen Knoten frisiert waren.

Abgesehen vom Wachmann war sie allein im Kaufhaus. Vor dem Fenster zur Straße hingen hohe Vorhänge. Hier im Schaufenster konnte niemand sie sehen. Sie konnte tun, was sie wollte, ohne dass jemand es mitbekam.

Normalerweise erledigte sie ihre Arbeit so effizient wie möglich. Erst wenn jede Aufgabe auf ihrer Liste abgehakt war, würde sie nach Hause gehen und einen gemütlichen Abend genießen mit heißer Schokolade, Daunenhausschuhen und einer Folge Grey’s Anatomy. Und wenn sie dann immer noch nicht müde war, könnte sie ihre Aquarellfarben herausholen und an einer hübschen Landschaft oder einem Blumenstillleben arbeiten.

Wie langweilig!

„Also, warum nicht?“ Sie berührte ihre Haare. Tu wenigstens einmal in deinem Leben etwas Unerwartetes.

Die letzten Monate waren schwierig gewesen. Ihre Mutter war nach langer Krankheit gestorben. Ihre Schwester Katie hatte sich in den Mann verliebt, mit dem Brooke davor zusammen gewesen war. Brooke war gerade dreißig geworden und fand, dass ihr Leben weder herausfordernd noch aufregend oder gar prickelnd war.

So war sie zu der Entscheidung gelangt, sich etwas zu gönnen, neue Erfahrungen zu machen und sich vielleicht mit Männern zu treffen, die nicht aussahen, als wären sie den Seiten von Young Bostonian entsprungen. Aber alles, was sie bis jetzt getan hatte, war ein Aquarium mit tropischen Fischen zu kaufen und sich etwas widerwillig bereit zu erklären, Mitglied bei Martinis & Bikinis zu werden, einem leicht skandalös angehauchten Frauenklub.

Katie war den Martinis zuerst beigetreten, nachdem alle drei Winfield-Schwestern per Post Einladungen erhalten hatten. Sie war begeistert gewesen von der Idee der Martinis & Bikinis, Frauen zu ermutigen, aus sich herauszugehen. Indem sie Herausforderungen annahmen, wie beispielsweise seinem sexistischen Chef die Meinung zu sagen oder oben ohne in einem Cabrio zu fahren. Nach ihrem stürmischen Erfolg mit dem Klub hatte Katie ihre Schwestern dazu ermuntert, ebenfalls in sich die wilde Frau zu entdecken und von der Leine zu lassen. Sie behauptete, dass diese Erfahrung genau die kathartische Befreiung war, die sie brauchten.

Doch Brookes innere wilde Frau schlummerte noch. „Die Zeit ist um, Schwester. Heute Abend wirst du das Versprechen einlösen, das du den Martinis gegeben hast.“

Entschlossen setzte sich Brooke die Perücke auf, zerrte sie zurecht und beugte sich vor, um sich in dem Spiegel zu begutachten, den sie zerschmettert hatte, um aus den Scherben ein Stadtmosaik für die Auslage zu gestalten. Ihr Spiegelbild kam ihr fremd vor, aber die Veränderung war nicht radikal genug. Sie trug immer noch ihre Berufskleidung, bestehend aus Kaschmirtop, maßgeschneiderter Hose und flachen Lederpumps.

Brookes Blick schweifte zu der kahlköpfigen weiblichen Schaufensterpuppe, eingefroren in einer unartigen Pose mit herausgestrecktem Hinterteil, die Hände an der Ziegelsteinwand aus Styropor abgestützt, auf die Graffitis gesprüht waren. Das Minikleid enthüllte mehr, als es verbarg; das Mieder genauso. Schmale Lederbänder kreuzten sich über dem schlanken Bauch und den flachen, harten Brüsten.

Ein absolut ungehöriger Aufzug.

Brooke dachte nach. Wagte sie es? Nun, sie wollte es ja nicht kaufen, nur anprobieren. In null Komma nichts hatte sie die Schaufensterpuppe entkleidet. Aber dann ließ die Vorstellung, erwischt zu werden, sie innehalten.

Sei kein Feigling. Gut, sie kickte die Pumps von den Füßen, zog langsam den Reißverschluss ihrer Hose herunter und tröstete sich damit, dass niemand zusah – außer der Schaufensterpuppe.

Das Mantra der Martinis spornte sie an. Ich kann es tun. Ich kann mich trauen.

Katie hatte ihr Leben in nur einem Monat umgekrempelt. Brooke wollte denselben Sprung wagen.

„Ich versuche es“, murmelte sie. Zugegeben, sich heimlich zu verkleiden, war vergleichsweise harmlos. Aber es war ein Anfang, besonders für sie. Seit dem Tod ihrer Mutter vor drei Monaten hatte sie sich in das Vorstadthaus der Familie zurückgezogen. Brooke hatte Zeit gebraucht, um sich an den Verlust zu gewöhnen, an die Einsamkeit … und an die atemberaubende Enthüllung, dass ihre Mutter ein Baby zur Adoption freigegeben hatte, bevor Brooke und ihren Schwestern zur Welt gekommen waren.

Die Entdeckung, dass Lindsay Beckham ihre Halbschwester war, hatte Brooke wie ein Blitz getroffen. Sie kämpfte immer noch mit den Nachwirkungen, einschließlich der Frage, was das für ihr Selbstverständnis als älteste Winfield-Schwester bedeutete. Sie war immer die Verantwortungsbewusste gewesen, die ihr Bestes gegeben hatte, um dem Beispiel ihrer Mutter zu folgen und den hohen Erwartungen der Familie gerecht zu werden.

Entschlossen schob sie nun all diese Gedanken beiseite und zog ihren Pullover aus. Vor Aufregung bekam sie eine Gänsehaut, als sie das Minikleid über den Kopf streifte. Dabei rutschte ihr die Perücke über die Augen. Brooke schob sie zurück, zerrte das Kleid über die Hüften und spähte dann in den zerbrochenen Spiegel.

Oje! Wie lächerlich sie aussah. Das Gaultier-Kleid war weder dafür gedacht, zu Socken getragen zu werden, noch zu einem Büstenhalter und einem Slip, der aus mehr als einem unbedeutenden Streifen Stoff bestand. Um die volle Wirkung zu erzielen, müsste sie alles ausziehen.

Alles!

Ein kurzer Blick durch den Vorhang auf die Newbury Street beruhigte sie. Die vornehmen Geschäfte und schicken Galerien waren geschlossen. Brooke war allein und in Sicherheit. Ohne Slip und Socken, dafür in Stöckelschuhen, kehrte sie zum Mosaikspiegel zurück. Viel besser. Sie glättete die Lederriemen. Das Kleid hatte ihre Größe, war aber so eng geschnitten, dass es ihre Brüste zusammendrückte. Und ihre Beine schienen eine Meile lang zu sein.

Zufrieden mit ihrem Abbild, formte sie einen Kussmund. „Ja, Baby. Du bist Sex auf High Heels.“

Pah. Entnervt riss Brooke die Perücke wieder vom Kopf. Absurd. Sie hatte keinen Sex mehr gehabt, seit sie wieder nach Hause gezogen war. Und wenn sie sich selbst gegenüber aufrichtig war, fürchtete sie sich vor dem Tag, an dem sie an der Reihe war, eine Martini-Herausforderung anzunehmen.

Plötzlich wurde sie jäh aus den Gedanken gerissen, als ein Motor aufheulte und Reifen quietschten. Neugierig schaute sie durch die Öffnung zwischen den Vorhängen, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie ein rot-schwarzes Motorrad mit überhöhter Geschwindigkeit eine scharfe Wende auf der Newbury Street hinlegte. Glücklicherweise war die Straße fast leer.

Das Motorrad schoss mit schlingerndem Hinterreifen am Schaufenster vorbei. Der Fahrer versuchte gegenzulenken. Doch zu spät. Das Motorrad rutschte über die Fahrbahn und knallte gegen einen Laternenpfahl. Wie ein nasser Sack Zement schlug der Fahrer auf den Gehsteig auf. Sein Helm flog davon, sprang hart ein paar Mal auf und rollte weiter, bis er im Rinnstein zum Liegen kam.

Für ein paar Sekunden war Brooke zu betäubt, um zu reagieren. Ebenso der Fahrer. Dann hob er eine Hand, winkte Hilfe suchend und ließ sie wieder auf den Boden sinken.

Brooke hatte sich Gott sei Dank schnell gefangen. Sie wirbelte herum, sprang von der Schaufensterauslage und vergaß dabei, dass sie Stöckelschuhe trug, bis sie sich beim Auftreten so heftig die Knöchel stauchte, dass sie in die Knie ging.

„Gus!“ Sie kam schwankend auf die Beine und winkte in die Sicherheitskameras, während sie zum Ausgang sprintete. Falls der Nachtportier seine Runde machte, könnte er ihr Rufen hören. „Gus! Ich brauche Hilfe. Es gab einen Unfall.“

Gleich darauf knallte sie gegen die verschlossene Tür aus einbruchssicherem Glas. Brooke hatte hierzu keinen Schlüssel, da sie ständig den Diensteingang an der Rückseite benutzte.

Der altertümliche Aufzug ratterte zum Erdgeschoss. Gus musste auf dem Weg sein. Brooke rüttelte an den Klinken und versuchte, die Straße hinunterzusehen. Ein Taxi fuhr vorbei und verlangsamte, als es sich der Unfallstelle näherte. Gott sei Dank. Hilfe war gekommen.

Endlich hielt auch der Aufzug, Gus stieß das Gitter beiseite. „Bitte machen Sie schnell“, drängte Brooke, als der ältere Mann über den glänzenden Terrazzoboden eilte. „Es gab einen Motorradunfall. Schließen Sie die Türen für mich auf, dann rufen Sie einen Krankenwagen.“

„Ja, Miss Winfield.“ Warum bloß warf Gus ihr so einen seltsamen Blick zu, als er seine Schlüssel durchsah?

Hilfe, das Kleid. Schnell verschränkte sie die Arme und steckte die Hände in die Achselhöhlen. Jetzt war keine Zeit, sich über das knappe Kleidungsstück Gedanken zu machen. Zum Glück war Gus ein netter Kerl und würde sie nicht verraten.

Nachdem er die Tür aufgeschoben hatte, rannte sie hinaus. Das Taxi hatte am Bordstein angehalten. Der Fahrer kniete neben dem verletzten Mann, der sich aufzusetzen versuchte. „Es geht mir gut“, beharrte er und ruderte mit den Armen. „Lassen Sie mich in Ruhe.“

Sofort ging Brooke in die Knie. „Sie sind desorientiert“, besänftigte sie ihn und griff nach seiner Schulter, damit er liegen blieb. „Halten Sie still. Sie sind verletzt.“

Grob schob er ihre Hand weg. Sein Haar war dunkel und verstrubbelt, sein Gesicht blutverschmiert.

„Der Notruf ist besetzt“, rief Gus aus dem Laden. „Ich hänge in der Warteschleife.“

Der verstörte Blick des Unfallopfers heftete sich auf Brooke. „Bringen Sie mich hier weg“, bat er flehentlich.

„Natürlich“, sagte sie ruhig. Der arme Kerl war nicht bei Verstand. „Der Krankenwagen wird bald hier sein.“

Während Brooke neben dem Verletzten kniete, fuhren einige Fahrzeuge vorbei, aus denen die Fahrer gafften. Jedes Mal zuckte der Motorradfahrer zusammen und hob eine zittrige Hand, um sein Gesicht vor den neugierigen Blicken abzuschirmen. „Helfen Sie mir einfach aufzustehen“, bat er.

„Das wäre keine gute – oh.“ Sein Gewicht ließ Brooke aufstöhnen. Er hatte sich schwer auf ihre Schulter gestützt, als er auf die Füße kam. Sie erhob sich mit ihm gemeinsam und hielt ihn, indem sie die Arme um seine Jeansjacke und seinen festen Körper schlang, weil er schwankte. „Setzen Sie sich bitte. Sie können nicht klar denken. Sie brauchen einen Arzt.“

„Dann gehen wir doch zum Arzt.“ Er sah mit tranigem Blick auf das im Leerlauf stehende Taxi. „Das wird uns hinbringen.“

„Aber …“

In diesem Moment sprang ein Mann mit einer Kamera aus einem der vorbeifahrenden Autos und drängte sich durch die kleine Menge Schaulustiger, die sich versammelt hatte. Der Motorradfahrer wankte zum Taxi, zog Brooke mit sich und ließ sich stöhnend auf den Rücksitz fallen. Bevor sie es sich versah, fand sie sich in einer anrüchigen Position wieder, halb auf ihm liegend. Ein kühler Luftstoß zwischen ihren Beinen erinnerte sie zu allem Überfluss daran, dass sie absolut nichts unter dem Kleid trug. Entsetzt machte sie sich los und schaffte es, das Leder an ihren Schenkeln hinabzuschieben und dabei auch die Beine des Mannes ins Taxi zu befördern.

Völlig erschöpft legte er seinen Kopf auf den Rand des Sitzes, das Gesicht leichenblass unter den Blutspritzern. Stöhnend schloss er schließlich die Augen.

Der Fahrer setzte sich auch endlich hinters Lenkrad und reichte den Helm und die Schlüssel des Motorradfahrers nach hinten. „Wohin? Ins Mass General?“

Brooke zögerte in der offenen Tür des Taxis, den Helm an sich gedrückt. Sie sollte das Kaufhaus nicht in einem entwendeten Kleid verlassen. Aber der Mann brauchte Hilfe. Ein weiterer greller Fotoblitz half ihr bei ihrer Entscheidung, besonders, als der Fotograf sich fluchend und schiebend einen Weg zum Taxi bahnte, um aus einem besseren Winkel fotografieren zu können.

Sie glitt auf den Rücksitz und zog die Tür zu. „Zur Notaufnahme. Geben Sie Gas.“

Hinter David Carerras Augenlidern wirbelten Farben und Lichter durch die Dunkelheit. Er schwamm in einem psychedelischen Teich, der ihn in die Zeit zurückkatapultierte zu dem Badeloch daheim in Georgia. Er hatte gelernt, seinen Atem so lange anzuhalten, dass er mehrere Minuten lang in der grünen Finsternis der stillen Unterwasserwelt verharren konnte. Dort gab es nichts, das ihn verletzen konnte, außer den schnappenden Schildkröten, die fortglitten, sobald er sich ihnen näherte. Wenn er wieder an die Oberfläche kam, hatte er sich stundenlang auf dem Rücken liegend treiben lassen, bis Maribeth, die Lebensgefährtin seines Vaters, bemerkte, dass der Junge weg war, und anfing, seinen Namen zu kreischen.

Jaden. Jay-aaay-den. Komm jetzt ins Haus.

Galle stieg ihm hoch. Er kämpfte sich durch das trübe Wasser und spuckte das Gift aus, als er in die harte, kalte Welt zurückkehrte.

„Verflixt“, sagte eine entfernte Stimme. „Ich werde den Geruch nie herausbekommen.“

„Wie gefallen Ihnen zwanzig Dollar Trinkgeld?“, fragte eine zweite Stimme. Sie klang weiblich und nah.

„Fünfzig würden mir besser gefallen.“

„Fünfzig“, erklärte sie sich einverstanden.

David bewegte die Zunge auf der Suche nach lockeren Zähnen. „Autsch.“

Das Gesicht der Frau tauchte vor ihm auf. „Sie sind ja bei Bewusstsein. Wie ist Ihr Name?“

Jaden. Jaden David Jackson.

Sie tätschelte ihn. Hatte er gesprochen? „Ist schon gut“, sagte sie mit einer Stimme so sanft wie eine Brise, die durch Kiefern wehte. „Wir sind gleich im Krankenhaus. Dort wird man sich um Sie kümmern.“

„Krankenhaus?“

Sie beugte sich wieder über ihn. „Ihr Motorrad ist in der Newbury Street außer Kontrolle geraten. Sie sind in einem Taxi unterwegs zum Mass General.“

David strengte sich an, die Abfolge von Ereignissen zu ordnen. „Und wer sind Sie?“

„Brooke Winfield. Ich arbeite bei Worthington. Ich habe Ihren Unfall vom Schaufenster aus beobachtet.“

Er hatte keine Ahnung, was Worthington war, aber angesichts ihrer Kleidung musste es sich um den Straßenstrich handeln. Wenn sie sich noch einmal über ihn beugte, würde ihre Brustwarze aus dem Oberteil rutschen.

Er stöhnte deshalb besonders schmerzvoll, aber sie näherte sich ihm nicht noch einmal. Mist.

„Ich fühle mich besser“, log er.

„Können Sie sitzen?“

„Wenn Sie mir helfen.“ Ihre bloßen Arme umfingen ihn. Er legte sein Gesicht an ihre Halsbeuge und atmete den berauschenden Geruch von weiblicher Haut ein. Sein Geist wurde sofort ein paar Grade klarer.

Vielleicht war sie doch kein leichtes Mädchen. Dafür war sie zu … sauber.

Sie drückte ihre Handfläche gegen seinen Kopf und brachte ihn in eine aufrechte Position. Er nahm noch kurz die schwarze Nacht und die Neonlichter wahr, dann schloss er die Augen und überließ sich dem Rhythmus der Fahrt. Sein Magen rebellierte gegen den Benzingeruch.

„Besser?“, murmelte sie.

„Sicher.“ Er schielte und konzentrierte sich auf ihr Gesicht, um sich von dem Dröhnen in seinem Kopf abzulenken. Er hatte einen Unfall gehabt und erinnerte sich wieder daran: Er hatte das Hotel verlassen und eine Bar aufgesucht, wo er und Rick auf dessen gescheiterte Ehe angestoßen hatten. Ihre Anwesenheit sprach sich schnell herum, Paparazzi kreuzten auf, suchten nach ihm. Also hatte er sein Motorrad aufgedreht – Hauptsache er kam davon, egal wie gefährlich es war.

Er betrachtete Brookes lange, bloße Beine. „Wurden Fotos gemacht?“

„Ein oder zwei.“ Sie zerrte am Saum ihres Kleides, das an der Grenze zur Erregung öffentlichen Ärgernisses rangierte. „Sind Sie berühmt?“

„Berüchtigt.“ Er versuchte, sie anzugrinsen, aber es war zu anstrengend. Deshalb ließ er sein Gesicht wieder in ihre Halsbeuge sinken. Sie fühlte sich weich und seidig an.

„Wir sind da“, sagte der Taxifahrer, bremste ab und kurvte vor die Notaufnahme.

Sie schob seinen Kopf wieder hoch und lächelte aufmunternd.

„Können Sie gehen, oder soll ich einen Rollstuhl besorgen?“

Mit verschwommenem Blick studierte er seine Retterin. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht, glänzende Augen und rosa Lippen. Karamellfarbenes Haar schmiegte sich an ihre Wangen und umschmeichelte den anmutigen Hals, der nach Puder und Sonnenwiesen duftete.

Vom Hals aufwärts war sie ein rettender Engel. Darunter … zur Sünde geboren.

„Sie sehen nicht gut aus.“ Sie legte eine Hand auf ihre Brust, als sie sich von ihm entfernte. „Ich werde Hilfe holen.“

„Nein, nein, ich kann gehen.“ Er folgte ihr durch die Wagentür – zur Hölle, er wäre ihr überallhin gefolgt – und schwankte nur leicht, als er auf dem Asphalt stand. Die Lichter waren zu grell und die Geräusche zu laut. Er zuckte zusammen und hielt sich an Brooke fest.

In den High Heels war sie so groß wie er. Vielleicht größer. Sie musste sich ein bisschen zur Seite neigen, damit ihre Schulter unter seinen ausgestreckten Arm passte. Hinter ihnen war der Fahrer ausgestiegen, hatte den Wagen umrundet und die Tür geschlossen. Er räusperte sich, als er den Helm übergab.

Brooke nahm ihn an sich. „Ich fürchte, ich habe kein Geld dabei, aber wenn Sie mir Ihren Namen sagen würden …“

„Meine Brieftasche.“ Seine Stimme klang so kratzig, wie sein Gesicht sich anfühlte. „Hinten in meiner Hose.“

Sie griff um ihn herum und tastete nach seiner Brieftasche. Trotz seiner Schmerzen genoss er die Berührung.

Sie schlug das Geldfach auf und zögerte, als sie den dicken Packen Bargeld sah.

„Geben Sie ihm hundert.“ David deutete auf den Taxifahrer. „Danke für Ihre Hilfe.“

Ein Pfleger kam mit einem Rollstuhl aus der Notaufnahme. Brooke starrte immer noch in die Brieftasche. „David Carerra“, las sie von seinem Führerschein ab. „Ich fasse es nicht. Sie sind David Carerra, der Baseballspieler?“

Derweil kümmerte sich der Pfleger um David und half ihm in den Rollstuhl.

Als David bemerkte, wie Brooke ihn mit offenem Mund ansah, zuckte er zusammen.

Er wusste, er würde sie verlieren. „Ganz recht, David Carerra. Wie ich Ihnen sagte – ich bin berüchtigt.“

„Ist das wahr?“

Brooke schüttelte den Kopf. Sie war eingenickt. Den Helm an sich gedrückt, hatte sie sich in die Jeansjacke des Verletzten gehüllt und auf einen der harten Plastikstühle in der Notaufnahme gesetzt. Sie zog den Ärmel zurück, um einen Blick auf ihre Armbanduhr zu werfen. Neunzig Minuten war sie schon hier, und noch immer gab es keine Neuigkeiten über ihn. Eine Krankenschwester hatte ihr gesagt, dass sie warten sollte, aber wie lange?

„Jawoll, Sie dort. Ist das wahr?“, fragte der Mann, der ihr gegenübersaß. Sein Bartwuchs war ein paar Tage alt. Um sein linkes Handgelenk lag ein Eispäckchen, aus dem Wasser auf seine mottenzerfressene Trainingshose tropfte.

„Ist was wahr?“ Brooke setzte sich gerade hin.

„Sie sind mit David Carerra hier.“

Sie verzog das Gesicht, als ihr Blick auf den blutbefleckten Jackenärmel fiel. „Sieht so aus.“

„Dieser abtrünnige Mistkerl.“

Brooke schnürte sich der Hals zusammen. „Was?“

Der Mann zog das Eispäckchen fester um sein Handgelenk. „Die Red Sox hatten keine gute Saison.“

„Und Sie machen Carerra dafür verantwortlich?“ Brooke verfolgte Baseball nur flüchtig. Ihr verstorbener Vater war zu Spielen gegangen und hatte Joey oder Katie mitgenommen, aber Brooke war dazu nicht mehr eingeladen worden, nachdem sie einmal zu oft einen Skizzenblock mitgenommen und so ihr Desinteresse bekundet hatte.

Trotzdem kannte sie David Carerra. Er war der Spieler, dessen Homerun es zu verdanken war, dass die Red Sox in der letzten Saison die World Series gewonnen hatten.

Für einige Zeit war Carerra der Star der Stadt gewesen, ein langhaariger Rebell und ungewöhnlicher Held. Doch in der vergangenen Saison hatte sich die Meinung über ihn ins Gegenteil verkehrt. Obwohl er im Team befördert worden war und eine gute Leistung erbracht hatte, hatte er die Mannschaft mitten in einer Pechsträhne plötzlich verlassen. Danach waren die Sox noch weiter abgerutscht, ein tiefer, ärgerlicher Fall nach dem Vorjahressieg.

Nach Carerras Weggang hagelte es unter den Sportkolumnisten und Fans Spekulation und Gerüchte.

„Jedenfalls hat er seinen Verein nicht unterstützt“, sagte der Fremde. „Was ist los mit dem Kerl, dass er einfach aufhört? Doping? Alkohol?“ Er sah sie von oben bis unten an. „Sexsucht?“

Brooke zog die Jacke noch fester über ihrer Brust zusammen und warf dem Mann einen hochmütigen Blick zu, den sie ihrer Großtante Josephine abgeschaut hatte, die damit die Raumtemperatur um einige Grade sinken lassen konnte. „Das kann ich nicht beurteilen.“

„Ja, also, sagen Sie ihm, dass er einer Stadt den Rücken gekehrt hat, die ihm das nicht verzeihen wird.“

Wenn ich ihn jemals wiedersehe. Brooke schaute weg. Sie hatte Davids Brieftasche, seine Jacke, seinen Helm und die Schlüssel. Sie musste ihn wiedersehen.

Sie stand auf, unsicher auf den hohen Absätzen. Vielleicht sollte Carerra die ganze Nacht über im Krankenhaus bleiben, und man hatte vergessen, es ihr zu sagen.

Sie erreichte den Tresen, ohne sich einen Knöchel zu verstauchen, gerade als die Krankenschwester forteilte, um sich um eine Streiterei zu kümmern, die in einem der Untersuchungsräume ausgebrochen war. Zuerst brüllte ein Betrunkener, dann folgten ein Schrei und ein Krachen. Mehrere Pfleger in weißen Kitteln brachten schließlich einen Patienten heraus.

David Carerra. Jemand schob ihm ein Klemmbrett hin, und er kritzelte seine Unterschrift auf ein Papier. Dann sah er auf und erblickte Brooke.

Am Rande vernahm er, wie ihm eine Ärztin Anweisungen aufzählte, aber Carerra hörte ihr nicht zu. Im Moment war Brooke ihm wichtiger.

„Sieh an. Mein rettender Engel.“ Seine Stimme klang bleiern, und Brooke fragte sich, welche Medikamente er bekommen hatte. „Hallo, meine Hübsche.“

„Ich heiße Brooke.“ Aus grünen Augen sah er sie eindringlich an. Seine Pupillen waren stark geweitet. Selbst in seinem angeschlagenen, entwürdigenden Zustand war David Carerra männlicher, als sie verkraften konnte. „Brooke Winfield.“

Er lächelte mit nur einem Mundwinkel. Schief und großspurig. Klebrige Haarspitzen hingen über der breiten Bandage um seinen Kopf. „Ich erinnere mich.“ Sein Blick wanderte tiefer. „Besonders an das Kleid.“

Etwas befangen hielt sie den Jackenkragen fest. „Für gewöhnlich trage ich keine …“ Sie hielt inne. Er brauchte das nicht zu wissen. „Das ist Ihre.“

„Die Jacke? Behalten Sie sie.“

„Sie werden frieren.“

„Ich habe Schmerzmittel bekommen. Ich bin wohlig betäubt.“

„Mr. Carerra“, unterbrach die Ärztin und reichte ihm ein Rezept. „Sie könnten einige Tage lang Kopfweh haben, und Sie müssen Ihre Wunden gründlich reinigen.“ Sie warf Brooke einen flüchtigen Blick zu. „Ich entlasse ihn in Ihre Obhut. Unsere Tests zeigen keinerlei Hinweise auf eine Gehirnerschütterung, aber es wäre besser, wenn Sie ihn in den nächsten vierundzwanzig Stunden aufmerksam beobachten.“

Brooke blinzelte. „Ich?“

David hob die Hände in einer bittenden, herausfordernden Geste. „Engel?“

„Ich kann wirklich nicht …“ Brooke hielt inne, denn sie hörte sich genau wie Großtante Josephine an. Sie wusste zwar nicht, was sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen wollte. Aber so zu werden wie ihre überordentliche, tugendhafte Tante, war sicher der falsche Weg. So, wie sie gekleidet war, dazu noch mit dem rebellischsten schwarzen Schaf der Stadt im Schlepptau, konnte man nicht wissen, wie die Nacht enden würde.

„Danke.“ Sie nahm der Ärztin das Rezept ab. „Ich werde mich um ihn kümmern.“

Unzählige Kamerablitze blendeten David, kaum dass er einen Fuß vor die Tür des Krankenhauses setzte. Er zuckte zusammen und riss einen Arm hoch, um sich abzuschirmen. Nach Boston zurückzukehren war schon vor dem Unfall eine schlechte Idee gewesen. Jetzt würden die Presseheinis sich darin überbieten, sein verwüstetes Gesicht auf die Titelseiten zu bringen.

„Carerra!“, rief einer der kreisenden Geier. Er erkannte Bobby Cook, einen Möchtegern-Sportkolumnisten, der für den Insider schrieb, ein Schmierblatt, das lieber dreckige Nachrichten erfand, als über wahre Ereignisse zu berichten. Cook hatte in Davids Vergangenheit gewühlt, ohne zu wissen, dass es mehr als simplen Wühlens bedurfte, um etwas ans Licht zu bringen.

„Was ist heute Abend passiert?“, schrie ein Reporter. „Waren Sie betrunken?“

„Wo sind Sie gewesen?“

„Warum sind Sie zurückgekommen?“

„Wer ist die Biene?“

Die Fragen kamen in schneller Folge, David jedoch reagierte nicht.

„He, du lausiger Verräter“, brüllte jemand ganz hinten aus der Menge, wahrscheinlich ein Fotograf, der hoffte, damit eine Antwort zu provozieren. David kannte die Taktiken viel zu gut, um darauf hereinzufallen.

Er ergriff Brookes Hand und arbeitete sich durch die versammelten Journalisten. Sobald sie das wartende Taxi erreicht hatten, schob er Brooke hinein und folgte ihr so hastig, dass er fast auf ihrem Schoß landete. Ohne sich damit aufzuhalten, seine und ihre Gliedmaßen zu entwirren, zog er die Tür zu.

Gleich darauf fing David den Blick des Fahrers im Rückspiegel auf. „Geben Sie Gas.“ Der Mann grunzte, aber das Taxi fuhr mit einem Ruck an.

Autor

Carrie Alexander
Von Anfang an stand fest, dass Carrie Alexander einen kreativen Beruf ausüben würde. Bereits als Kind hatte sie eine überaus lebhafte Fantasie, dachte sich Geschichten aus und malte viel.

Schließlich wurde sie Bibliothekarin. Sie versuchte sich in ihrer Freizeit an Horrorgeschichten und malte in Öl. Damals entdeckte sie ihre erste...
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