Historical Exklusiv Band 136

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DIE PIKANTE WETTE DES MARQUESS von LAURA MARTIN

Eine wagemutige Wette: Das nächste Mädchen, das er auf dem Jahrmarkt sieht, will der Marquess of Essex zur perfekten Debütantin machen. Die Auserwählte ist jedoch ein temperamentvoller Wildfang! Wird er diese unzähmbare Schönheit wirklich zum Saisonauftakt als anmutige Ballkönigin in seinen Armen halten?

DEBÜTANTIN IN GEHEIMER MISSION von BRONWYN SCOTT

Schon als er den Rücken der exotischen Debütantin sieht, stockt Baron Pendennys der Atem: Wie gern würde er ihre verführerische alabasterfarbene Haut streicheln und mit seinen Lippen ihre zarten Schultern liebkosen! Aber schon mit dem ersten Kuss bringt er sich in Lebensgefahr, denn Lilya hütet ein dunkles Geheimnis …


  • Erscheinungstag 08.11.2025
  • Bandnummer 136
  • ISBN / Artikelnummer 9783751531917
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Laura Martin, Bronwyn Scott

HISTORICAL EXKLUSIV BAND 136

Laura Martin

1. KAPITEL

Lina Lock duckte sich, um unter dem ausgestreckten Arm ihres Onkels davonzuhuschen. Normalerweise war sie schnell genug, um dem schwerfälligen Mann zu entkommen.

Aber an diesem Tag hatte Onkel Tom dem Alkohol entsagt, der sein Gehirn sonst meist benebelte und seine Bewegungen verlangsamte. Unsanft hielt er seine Nichte am Handgelenk fest. „Eine Woche, Lina. In einer Woche will ich mein Geld haben.“

„Du wirst es bekommen“, beteuerte sie und versuchte erfolglos, sich aus seinem harten Griff zu befreien.

„Glaub mir, du wirst mich bezahlen, auf die eine oder andere Art.“ Bevor er sie losließ, verstärkte er noch einmal warnend den Druck seiner Finger. Zweifellos würde Lina am nächsten Morgen Blutergüsse am Handgelenk haben.

Dann wandte er sich ab, und Lina fühlte Panik in sich aufsteigen. Sie hatte keine Wahl. Irgendwie musste sie das Geld beschaffen, das sie ihm schuldete. Allerdings hatte sie keine Ahnung, wie ihr das gelingen sollte. Während er davoneilte, wunderte sie sich wieder einmal über seine verstohlenen Blicke, die er nach allen Seiten warf. Gewiss, er war stets geheimnistuerisch und unleidlich gewesen. Doch so offen wie diesmal hatte er sie noch nie bedroht. Ehe er sich anders besinnen und ihre Schulden sofort einfordern konnte, floh sie in die andere Richtung.

Nicht zum ersten Mal verfluchte sie ihr impulsives Wesen, ihr Unvermögen, Nein zu sagen, wenn sie unmittelbar herausgefordert wurde. Wäre sie nur ein wenig bedachtsamer und vorsichtiger gewesen, hätte sie sich nicht in diese schreckliche Lage gebracht.

„Gibt’s wieder Ärger mit Tom?“, erklang Rauls Stimme.

„Nichts, womit ich nicht umgehen könnte“, log sie, lächelte ihren Bruder strahlend an und eilte an ihm vorbei.

Von der Summe, die sie dem Onkel schuldete, wusste Raul nichts und auch nichts von der idiotischen Wette, die sie in diese Notlage gebracht hatte. Oft genug hatte er sie vor ihrer eigenen Dummheit gerettet. Diesmal musste sie sich ohne seine Hilfe aus der Affäre ziehen.

Geld. Lina brauchte Geld. Irgendwie musste sie in einer Woche zehn Pfund auftreiben. Zehn Pfund – was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Noch nie im Leben hatte sie so viel Geld gesehen und den Betrag trotzdem leichthin vorgeschlagen, als ginge es nur um ein paar Shilling. Zusammen mit Onkel Tom war sie am Rand einer Wiese voller wilder Pferde vorbeigekommen. In ihrem unbeirrbaren Selbstvertrauen hatte sie gewettet, sie könnte eines der edlen Tiere heranlocken, sich auf seinen Rücken schwingen und von einem Ende der Weide zum anderen reiten. Dann würden die zehn Pfund ihr gehören.

Nicht nur ihre verdammte Impulsivität hatte sie dazu bewogen, Onkel Toms Hand zu schütteln und die Wette damit zu besiegeln, sondern auch die Chance, die der Gewinn ihr bieten würde. Zehn Pfund – die ersehnte Möglichkeit, ein neues Leben zu beginnen und zur Abwechslung endlich einmal das zu tun, was sie wollte …

Während sie sich einen Weg durch die Menschenmenge bahnte, hörte sie Sabinas Ruf. „Komm und hilf mir mal, Lina!“

Die ganze Familie arbeitete auf dem Pottersdown-Jahrmarkt. Zu den älteren Männern, die ihre Werkzeuge schärften und ihre handgeschnitzten Möbelstücke zum Verkauf anboten, zählte auch Onkel Tom. Die älteren Frauen türmten Gläser mit Marmeladen und andere Köstlichkeiten auf wackeligeTische. Raul und einige junge Männer hatten bereits ihre Instrumente gestimmt und spielten zum Tanz auf.

Mit einem bezaubernden Lächeln und klimpernden Wimpern köderte Sabina ihre Kundschaft: Die jungen Bewohnerinnen von Pottersdown, die erfahren wollten, was die Zukunft ihnen bringen würde.

„Eigentlich hatte ich vor, den Tanz zu eröffnen“, schwindelte Lina.

„Lügnerin! Hier stehen die Mädchen Schlange, du musst mir ein paar abnehmen.“

„So gut wie du bin ich aber nicht …“

„Unsinn, du verstehst es geradezu großartig, Menschen zu durchschauen.“

Da hatte Sabina recht. Was Lina jedoch nicht besaß, war Geduld. Und genau die brauchte man, wenn das zehnte junge Mädchen in Folge bei der Prophezeiung, ein hochgewachsener, dunkelhaariger und mysteriöser Mann werde kommen und sie mit sich nehmen, fast in Ohnmacht fiel.

„Und was am wichtigsten ist – es wird besser bezahlt als die Tanzerei“, betonte Sabina.

Nachdenklich blickte Lina zu Onkel Tom hinüber, der gerade ein kunstvoll geschnitztes Tischchen polierte. Mit der Wahrsagerei würde sie keine zehn Pfund verdienen. Doch es wäre ein Anfang, bis ihr eine lukrativere Möglichkeit einfallen würde.

Sabina führte eine junge Frau hinter einen der Wandschirme und überließ Lina die nächste Kundin.

Wie exquisit diese Dame gekleidet war … Lina musste den Wunsch bezwingen, die feine Seide ihres Kleids zu berühren. „Möchten Sie wissen, was die Zukunft Ihnen bringt, Miss?“

Lachend zog die Dame am Ärmel eines Gentleman, der einige Schritte entfernt stand und mit jemandem plauderte, ihre Augen sprühten vor Begeisterung. „Das weiß ich. Aber ich will herausfinden, was meinen lieben Bruder erwartet.“

Der Mann wandte sich sichtlich widerstrebend um, musterte Lina von Kopf bis Fuß und hob skeptisch eine Braue.

„Oh, bitte, Alex!“, bettelte seine Schwester. „Nur zum Spaß!“

„Verschone mich mit diesem Unsinn!“, murrte er und wollte die Unterhaltung fortsetzen, die sie gerade unterbrochen hatte.

„Komm schon, Alex, tu mir den Gefallen!“

Er seufzte, so wie es nur ein Bruder tun kann, der schon lange gegängelt wird, und zog eine Grimasse. „Also gut, bringen wir’s hinter uns, Miss, beeindrucken Sie mich mit Ihrer weisen Vorausschau.“

Verärgert über seinen sarkastischen Ton, schenkte Lina ihm ihr süßestes Lächeln. „Bitte, hier entlang.“ Sie führte die Geschwister hinter einen Wandschirm, und sie setzten sich an einen kleinen Tisch. Dann beobachtete sie, wie der Mann eine schwere Börse aus der Innentasche seines Gehrocks zog.

Nachdem er ihr das Honorar gegeben hatte, steckte er die Börse wieder ein. Das Klirren der Münzen beschleunigte Linas Puls. Trotz des schlechten Rufs, der dem fahrenden Volk in England und ganz Europa anhaftete, hatte sie noch nie auch nur einen einzigen Penny gestohlen. „Nur weil die Leute behaupten, wir seien Diebe, heißt das keineswegs, dass wir’s sind“, hatte ihre Mutter ihr immer wieder eingeschärft. Und obwohl Lina alle Tricks eines Taschendiebs beherrschte –sie war von Raul seit ihrem zweiten Lebensjahr ausgebildet worden –, hatte sie diese Fähigkeit niemals angewandt.

„Zunächst befassen wir uns mit der Gegenwart.“ Durch ihre langen, gesenkten Wimpern beobachtete sie den Gentleman. „Würden Sie mir Ihren vollen Namen verraten?“

„Heißt das etwa, Sie haben gar keine magischen Kräfte?“

„Ich sage meinen Kunden die Zukunft voraus, nicht ihre Namen.“ Mit einem Lächeln milderte sie ihren frostigen Tonfall.

„Lord Whitemore. Alexander Whitemore, Marquess of Essex.“

Ein Aristokrat. Vermutlich würde er die Münzen in seiner Börse gar nicht vermissen, würde sie sie stehlen. Für ihn wären sie nur Wechselgeld.

„Welch ein einflussreicher Gentleman Sie sind, Lord Whitemore …“ Lina verlieh ihrer Stimme jenen sanften, träumerischen Klang, der die Kundschaft stets zu faszinieren schien. „Und Sie tragen eine große Verantwortung. Sie müssen sich um Ihr Landgut kümmern – und um ihre Schwester.“

„Da siehst du, wie fabelhaft sie ist“, wisperte die junge Dame in sein Ohr.

„Unsinn. Jeder, der auch nur ein halbes Hirn besitzt, weiß, dass ein Mann mit Titel Ländereien besitzt. Und dass ich dein Bruder bin, hast du ja laut genug verkündet.“

„Möchten Sie herausfinden, was die andere Hälfte meines Gehirns zu bieten hat?“, fragte Lina.

Seufzend wandte er sich wieder zu ihr.

„Sie sind reizbar und oft missgelaunt, Sir.“ Mit dieser Feststellung entlockte sie Lord Whitemores Schwester ein Kichern. „Aber ich glaube, das ist nur eine Fassade, hinter der Sie sich verschanzen, um Menschen auf Abstand zu halten. Es hängt mit einem Liebeskummer in Ihrer Vergangenheit zusammen, mit einer Frau …“ Lina machte eine kurze Pause, sie konnte nicht anders, sie musste ihrem Instinkt folgen. „Die sich in die gütige, freundliche Seite Ihres Wesens verliebt hatte?“

„In der Tat“, murmelte er. Zum ersten Mal blickte er Lina richtig an.

„Sie ist fortgegangen – Ihre Ehefrau?“ Aufmerksam beobachtete sie seine Reaktion. Ein Zucken über seinem linken Auge gab ihr einen Hinweis. „Nein, es war Ihre Verlobte.“

„Eigentlich dachte ich, Sie würden mir die Zukunft voraussagen.“

„Ihre Vergangenheit wirkt sich auf Ihre Zukunft aus.“

„Fahren Sie einfach fort“, verlangte der Marquess missmutig.

„Offenbar langweilen Sie sich“, entgegnete Lina.

„Woran haben Sie das nur erkannt?“, fragte er bissig.

„Um den jetzigen Moment geht es nicht, sondern um Ihr Leben, Sir. Sie stecken fest, gehen auf einem ausgetretenen Weg, den Sie nicht verlassen können.“ Nun ergriff sie seine Hand. Die Stirn dramatisch gerunzelte, studierte sie die Linien auf seiner Handfläche, obwohl die ihr rein gar nichts über sein Schicksal verrieten. Die Kunst einer Wahrsagerin bestand darin, die Gesichtsausdrücke und Reaktionen der Menschen zu deuten. „Bald wird eine Veränderung eintreten – ein großes Abenteuer, eine neue Liebe. Jemand wird Sie herausfordern, Sir.“

„Siehst du, Alex, es gibt noch Hoffnung!“

Der vernichtende Blick, den Lord Whitemore seiner Schwester zuwarf, wurde nicht milder, als er sich wieder Lina zuwandte. „War das alles?“, fragte er und stand auf.

Aus den Augenwinkeln sah sie die Umrisse der Börse in der Innentasche seines Gehrocks. Gleich wäre die Chance verpasst, ihre Schulden zu bezahlen. Lina zögerte, spürte einen schmerzhaften Stich in ihrem Herzen und wusste, sie würde nie mehr dieselbe sein, wenn sie diesen Mann bestahl.

„Bitte empfehlen Sie uns Ihren Freunden.“ Sie erhob sich ebenfalls, gab vor, über eine Baumwurzel zu stolpern, und stieß gegen Lord Whitemores Körper. Dabei schob sie eine Hand in seinen Gehrock, ihre Finger umschlossen weiches Leder. Nur eine Sekunde lang zögerte sie, bevor sie ihre Hand zurückzog und die Brust seiner Lordschaft tätschelte. „Verzeihen Sie, wie ungeschickt von mir …“ Ihre Blicke trafen sich, und sie musste den Blick senken, weil sie ihm anmerkte, dass er ihre Absicht durchschaut hatte.

Nur seine Verwirrung, als er seine immer noch gefüllte Börse an ihrem angestammten Platz ertastete, linderte Lindas Scham ein wenig.

„Langeweile – das ist dein Problem, Whitemore“, sagte Mr. Richard Pentworthy, Alex’ Schwager.

Alex nahm einen großen Schluck Apfelwein und musterte die Menschenmenge auf dem Jahrmarkt. Sein Schwager hatte recht, er langweilte sich. Sein Leben war gut, sogar höchst komfortabel, aber er vermisste Aufregungen, Abenteuer und Herausforderungen. Nachdem er sein Erbe bereits im zarten Alter von neunzehn Jahren angetreten hatte, konnte er seine Ländereien mittlerweile mit geschlossenen Augen und mit hinter dem Rücken verschränkten Händen verwalten. Seine einzige Schwester war gut verheiratet und die Mutter zweier kerngesunder Kinder. Ihm selber fehlte allerdings ein Erbe. Leider erschienen ihm die jungen Ladys, die auf Bällen und anderen gesellschaftlichen Ereignissen mit ihm flirteten, entsetzlich langweilig. Der Gedanke, er müsste eines dieser Mädchen heiraten, war unerträglich.

Einzig der Kauf eines vielversprechenden neuen Pferdes vermochte es, seinen Puls ein wenig zu beschleunigen. Oder der siegreiche Kampf um Macht und wechselseitigen Respekt, wenn er ein besonders temperamentvolles Jungpferd zuritt.

„Worüber redet ihr zwei?“, rief Georgina und eilte zu den beiden Männern.

An die unbezähmbare Neugier seiner Schwester war Alex gewöhnt, seit ihre Eltern diese Eigenschaft in ihrem fünften Lebensjahr bemerkt hatten.

„Soeben habe ich angemerkt, dass dein Bruder gelangweilt ist“, berichtete Richard.

„Und einsam“, ergänzte sie.

„Er braucht eine Ehefrau.“

„Eine, die ihm gewachsen ist und ihn herausfordert.“ Sie kräuselte die Lippen. „Wie wäre es mit Annabelle Mottrem?“

„Zu zurückhaltend“, erwiderte ihr Gemahl. „Und ihre Nase ist zu lang. Er wünscht sich eine zumindest halbwegs attraktive Kandidatin. Eventuell Caroline Woods?“

Georgina schlug unsanft auf seine Schulter. „Unmöglich, die ist bösartig wie eine ausgehungerte Katze.“

„Aber hübsch.“

Ehe sie protestieren konnte, hob Alex abwehrend eine Hand. „Ich brauche keine Ehefrau. Also versucht erst gar nicht, mich mit irgendwem zu verkuppeln.“

„Wir wollen nur, dass du glücklich bist“, murmelte Georgina. „Seit …“

„Nein!“, unterbrach er sie schroff. „Sprich ihren Namen nicht aus!“

Seine Schwester seufzte. „Seit sie dich verlassen hat, weigerst du dich, andere Frauen auch nur anzuschauen.“

Das stimmte nicht. Alex lächelte die jungen Damen an, plauderte und tanzte mit ihnen. Jahraus, jahrein lauschte er dem leeren Geplapper der Debütantinnen über das Wetter, die neueste Mode oder – bestenfalls – über eine Oper, die sie gesehen hatten. Vielleicht war es ja unvernünftig von ihm, sich mehr zu erhoffen, einen aufregenden Flirt und Humor, geistreiche, amüsante Debatten, knisternde Anziehungskraft. Das alles hatte Victoria ihm geboten, und mit weniger wollte er sich nicht begnügen. Die Trennung hatte ihm das Herz gebrochen. Auch jetzt, drei Jahre später, war es noch immer nicht vollends verheilt. Aber immerhin hatte sie ihn mit ihrem schnellen Verstand und ihrer scharfen Beobachtungsgabe amüsiert und verzaubert.

„Du brauchst einen Erben“, fügte Georgina im Flüsterton hinzu.

„Aber vorzugsweise einen mit zumindest durchschnittlicher Intelligenz“, murmelte Alex.

„Wie Unrecht du den Debütantinnen tust!“, tadelte sie ihn empört. „Von klein auf bläut man uns Frauen ein, Männer würden sich zurückhaltende, fügsame Gemahlinnen wünschen, ohne eigene Meinung über Politik oder anderen Themen, die als unweiblich gelten. Würdest du dir die Mühe machen, zwei oder drei junge Damen näher kennenzulernen, wärst du verblüfft über ihre vielfältigen Interessen.“

„Keinesfalls möchte ich eine Frau heiraten, die sich einbildet, sie müsste den gesellschaftlichen Konventionen entsprechen, um mir zu gefallen.“

„Ich glaube, du willst überhaupt nicht heiraten“, warf Richard Pentworthy ein.

Alle drei versanken in ein kurzes Schweigen, weil sie die Wahrheit in diesen Worten spürten. Dann räusperte sich Alex. „Um diese sinnlose Diskussion zu beenden, behaupte ich, jede x-beliebige junge Frau auf diesem Jahrmarkt in eine perfekte Debütantin verwandeln zu können. Ein paar elegante Kleider, eine Lektion in Manieren und Unterricht in den gängigen banalen Konversationsthemen, mehr ist nicht nötig. All das würde natürlich ich als ihr Gönner übernehmen.“

Seine Schwester schüttelte empört den Kopf. „Habe ich dir jemals gesagt, wie schrecklich arrogant du bist?“

„Schon des öfteren.“

Richard hob eine Hand. „Moment mal, ich habe eine großartige Idee! Wie wäre es mit einer Wette?“

Mit einem unguten Gefühl musterte Alex seinen Schwager, und als er Georginas Augen aufleuchten sah, wuchs sein Argwohn. „Wie meinst du das, Pentworthy?“

„Du hast sechs Wochen Zeit, um eine dieser Landpomeranzen in eine perfekte Debütantin zu verwandeln – bis zum ersten Ball der Londoner Saison. Wenn sie diese Prüfung besteht, ein volle Tanzkarte vorweisen kann und keinen Skandal verursacht, hast du gewonnen.“

„Und was hätte ich davon?“ Alex wusste, dass er diesen Vorschlag ablehnen sollte. Doch er war einfach unfähig, einer Herausforderung zu widerstehen.

„Wenn du gewinnst, werden Georgina und ich in deiner Gegenwart nie wieder von den Vorzügen der Ehe sprechen. Und wir werden nicht mehr versuchen, dich zu verkuppeln.“

Alex spürte, wie sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen. Er könnte dann Dinner-Einladungen annehmen, ohne fürchten zu müssen, neben einer jungen Dame sitzen zu müssen, die von ihm umworben werden wollte.

„Und wenn er die Wette verliert?“, fragte seine Schwester.

„Dann muss er sich ernsthaft nach einer Ehefrau umsehen.“

Herablassend winkte Alex ab. Gewiss, es stand viel auf dem Spiel, und deshalb durfte er die Wette nicht verlieren. Aber er zweifelte nicht dran, dass er gewinnen würde. Die meisten jungen Frauen, die den Pottersdown-Jahrmarkt besuchten, entstammten dem Landadel. Selbst wenn er Pech haben sollte und die Wahl auf eine Dienstmagd oder eine Verkäuferin fiel – in sechs Wochen müsste es ihm gelingen, ihr die grundlegende Etikette für einen Ball einzutrichtern.

„Wer von uns sucht das Mädchen aus?“, erkundigte er sich.

„Das überlassen wir dem Zufall“, entschied Richard. „Sobald wir uns geeinigt und die Hände geschüttelt haben, soll es die nächste Frau im passenden Alter sein, die an uns vorbeigeht.“

„Und wenn sie nicht mitmachen will?“

„Dann musst du sie dazu überreden, Whitemore. Auch das gehört zur Wette.“

„Und du darfst ihr kein Geld anbieten“, fügte Georgina rasch hinzu.

Alex zögerte nur kurz, dann nickte er. Natürlich könnte die Frau sich weigern, an dem etwas fragwürdigen Vorhaben teilzunehmen. Oder ihre Familie würde es vielleicht verbieten. Aber er war charmant und wortgewandt und verstand es, Menschen zu überzeugen. Außerdem – welcher jungen Frau würde es nicht gefallen, in einem traumhaften Kleid einen eleganten Ball zu besuchen, in Begleitung eines Marquess.

„Einverstanden.“ Als er seine Hand ausstreckte, juchzte seine Schwester vor Freude und schlug ein. Auch seinem Schwager drückte er die Hand. Dann drehten sie sich alle drei um und hielten nach der nächsten geeigneten jungen Frau Ausschau.

Zuerst sah er einen grellbunten Rock. Erschrocken ließ er seinen Blick nach oben wandern und fand seine Angst bestätigt. Neben ihm brach Georgina in hysterisches, höchst undamenhaftes Gelächter aus. Richard kicherte und fragte leise: „Gibst du auf?“

Alex schüttelte den Kopf, obwohl er ahnte, welch eine gewaltige, mühsame Aufgabe es sein würde, den hübschen Wildfang in ein Mitglied des Landadels zu verwandeln.

Zigeuner hatten einen schlechten Ruf, der zum großen Teil unberechtigt war, das wusste Alex. Aber die junge Frau, die gerade auf ihn zukam, würde sich beim Tanz um ein offenes Feuer bedeutend wohler fühlen als beim Walzer in einem Ballsaal.

2. KAPITEL

Misstrauisch blickte Lina den Gentleman vor ihr an. „Ich soll was machen?“

Bevor er seine Erklärung wiederholte, seufzte Alex und blickte über seine Schulter zu seiner Schwester, die neben ihrem Mann auf einer Bank saß. Die beiden konnten ihr Amüsement kaum verbergen.

„Also, ich bin Lord Whitemore.“

„Das wusste ich bereits.“

„Dort drüben sitzen meine Schwester und ihr Ehemann. Die zwei bilden sich ein, ich müsste heiraten und jede Menge Kinder bekommen.“

„Wie reizend“, sagte Lina. „Aber ich verstehe nicht, was das mit mir zu tun hat.“

„Nun, ich habe mit meiner Schwester und meinem Schwager eine Wette abgeschlossen, die ihnen hoffentlich verwehren wird, sich jemals wieder in mein Liebesleben einzumischen. Bei dieser Wette geht es um Sie, Miss.“

Seit Lina von einem schmächtigen Mädchen zu einer hübschen jungen Frau erblüht war, hatte sie schon viele unanständige Angebote erhalten – von Angehörigen des reisenden Volks ebenso wie von Kunden, denen sie auf den Jahrmärkten schöne Augen machte. Wie sie oft genug festgestellt hatte, ließen sich die Männer am besten mit einem süßen Lächeln und einem blitzschnell erhobenen Knie abwehren, das sie in die tieferen Körperregionen ihrer Verehrer rammte. Danach musste sie natürlich sofort flüchten.

Während sie ihre Lippen zu genau diesem Lächeln verzog, verengten sich die Augen des Marquess. Hastig wich er zurück. „So meine ich es nicht, Miss! Großer Gott, für was für einen Mann halten Sie mich?“

„Wir haben uns erst vor einer knappen halben Stunde kennengelernt. Keine Ahnung, was für ein Mann Sie sind, Lord Whitemore. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, ich habe zu arbeiten.“ Sie eilte davon und tauchte in der Menschenmenge unter, ohne einen Blick zurück zu werfen. Zweifellos würde sie den Gentleman abschütteln können. Am frühen Nachtmittag herrschte immer dichteres Gedränge auf dem Jahrmarkt, und sie konnte sich zwischen all den Besuchern verstecken.

Doch kurz darauf erklang eine leise Stimme neben ihrem linken Ohr: „Wie flink Sie auf den Beinen sind.“

Lina zuckte zusammen, als Lord Whitemores warmer Atem ihren Hals kitzelte. „Das musste ich mir angewöhnen, um lüsternen Männern zu entrinnen“, entgegnete sie, als sie sich zu dem jungen Gentleman umwandte.

„Sie wollen mein Angebot nicht einmal erwägen, Miss, und das verstehe ich. Aber ich befinde mich in einer ziemlich üblen Notlage. Diese Wette darf ich nicht verlieren. Sonst würde meine Schwester mir noch vor dem Ende der Saison irgendeine alberne Braut aufzwingen, und das wäre die reine Hölle.“

Wider Willen musterte sie ihn fasziniert. Vorhin, beim Weissagen, war er gelangweilt und desinteressiert gewesen, doch seine kaum zu zügelnde Energie war hinter dieser Fassade trotzdem spürbar gewesen. Später hatte sie ihn mit seinem Schwager scherzen und lachen sehen – und hatte plötzlich herausfinden wollen, was seine Augen so lebhaft funkeln ließ, was ihn bewegen mochte, seinen Kopf so übermütig in den Nacken zu werfen. Jetzt stand er ihr gegenüber, und sie wusste, es wäre ratsam, einfach das Weite zu suchen und nicht zurückzuschauen. Stattdessen fragte sie: „Worum geht es genau bei der Wette?“

„Kommen Sie, trinken Sie ein Glas Wein mit mir, und ich erkläre Ihnen alles.“

„Worum geht es bei der Wette?“, wiederholte sie, ohne sich zu rühren.

Lord Whitemore hob die Brauen, bevor er antwortete. Offenbar war er nicht daran gewöhnt, dass seine Wünsche missachtet wurden. Aber sie gab nicht nach und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Nun, ich machte eine abfällige Bemerkung über die Gesprächsthemen von Debütantinnen“, begann er schließlich zu erklären. „Und ich behauptete, ich könnte jede junge Frau binnen sechs Wochen in eine akzeptable Debütantin verwandeln, ganz egal, aus welcher gesellschaftlichen Schicht sie stammt.“

„Dazu hat Ihr Schwager Sie herausgefordert?“

„Genau.“

„Und die Wahl fiel auf mich?“

Er schnitt eine etwas gequälte Grimasse. „Nicht direkt … Es sollte die erste Frau im heiratsfähigen Alter sein, die an uns vorbeigehen würde.“

„Also bin ich die Glückliche? Was passiert, wenn ich Ihren Vorschlag ablehne?“

„Dann verliere ich die Wette.“

„Warum sollte mich das kümmern?“

Lina beobachtete seine zuckenden Mundwinkel.

„Natürlich ist das für Sie nicht von Interesse. Trinken Sie trotzdem ein Glas Wein mit mir, dabei besprechen wir die Einzelheiten.“

Um etwas Zeit für ihre Entscheidung zu gewinnen, blickte sie über ihre Schulter. Sie musste arbeiten, das Geld verdienen, das sie Onkel Tom schuldete. Seit sie laufen konnte, trat sie auf Jahrmärkten auf, und das ewige Einerlei ödete sie an. Sie erwartete mehr von ihrer Zukunft, als ständig durchs Land zu reisen und die immer gleichen Possen zu vollführen. Sie wollte lieber aufregende Abenteuer erleben, und vielleicht was das hier ihre Chance.

Sie wandte sich wieder Lord Whitemores zu, doch der schlenderte bereits zu dem Zelt, in dem der regionale Apfelwein ausgeschenkt wurde. Erbost schaute sie ihm nach und murmelte einen Fluch. Wann würde er merken, dass sie ihm nicht folgte? Keiner ihrer Verwandten würde sich so arrogant benehmen, schon gar nicht, wenn er sich einen Gefallen von ihr erhoffte. Dieser Aristokrat brauchte sie – und glaubte, sie würde wie ein fügsames Hündchen hinter ihm herlaufen.

Sie raffte die Röcke, sprang über eine Pfütze und eilte durch die Menschenmenge zu dem Podium, auf dem die Musiker fröhliche Melodien spielten. Sie gesellte sich zu den Mädchen, die vor ihnen standen, und lächelte voller Genugtuung. Denn in diesem Moment würde der Marquess das Apfelweinzelt allein erreichen.

Raul zupfte an seinen Gitarrensaiten und klopfte mit einem Fuß auf den Holzboden, um für die anderen Musiker den Takt anzugeben. Bei Linas Anblick wies er mit dem Kinn zur leeren Tanzfläche, einer kleinen Wiese, die vor dem Podest mit Seilen abgesperrt war.

So ging es auf jedem Jahrmarkt zu: Anfangs wanderten die Besucher umher, begutachteten die Stände und kauften, was ihnen gefiel, tranken Apfelwein und wurden schließlich von der Musik angelockt. Sehnsüchtig starrten die Mädchen die jungen Männer am gegenüberliegenden Rand der Wiese an und hofften, die würden sie auffordern. Doch vor einem so großen Publikum wollte natürlich niemand als Erster das Tanzbein schwingen. Und da kam Lina ins Spiel. „Bist du bereit?“, rief sie einem Burschen zu, mit dem sie vermutlich entfernt verwandt war.

John war nur ein paar Jahre älter als sie, und mit seinem dichten schwarzen Haar und den dunkelbraunen Augen war er sehr beliebt bei den Mädchen, wo immer die Truppe auch Station machte. In jedem Dorf eröffnete er zusammen mit Lina das Tanzvergnügen, dann trennten sie sich, um andere Partner und Partnerinnen aufzufordern. Sobald Raul die beiden entdeckte, gab er seinen Musikern ein Zeichen, das Tempo zu steigern.

Lina tanzte für ihr Leben gern. Völlig im Bann der Musik musste sie nicht über ihre Schritte nachdenken. Wie aus eigenem Antrieb bewegten sich ihre flinken Füße, immer schneller drehte sie sich zusammen mit John im Kreis.

Während ihr Bruder den Rhythmus drosselte und die Melodie verklang, näherte sich Lord Whitemore.

„Jetzt bin ich an der Reihe“, befahl er und ergriff ihre Hand. Gleichzeitig winkte John ein Dorfmädchen zu sich, und so warteten nun zwei Paare auf den nächsten Tanz.

„Sosehr ich Ihre Hartnäckigkeit auch bewundere“, begann Lina und entzog dem Marquess ihre Hand, „ich muss arbeiten.“

„Animieren Sie die Leute zum Tanzen?“

„Genau“, bestätigte sie, als die Musiker wieder spielten.

„Dabei kann ich Ihnen helfen.“ Ehe sie es verhindern konnte, umfing er ihre Taille. Etwas zu fest presste er Lina an sich und wirbelte sie auf dem Rasen umher.

„Ich brauche Ihre Hilfe nicht.“

„Ist es nicht erfreulich, wenn die Menschen einander beistehen?“ Er grinste und entblößte dabei schneeweiße Zähne.

Aus den Augenwinkeln sah sie den prüfenden Blick ihres Bruders, seine gerunzelte Stirn. Fast unmerklich schüttelte sie den Kopf. Das hätte ihr gerade noch gefehlt – dass Raul über einen Landadeligen herfiel, um die Ehre seiner Schwester zu verteidigen. Dann würde der Friedensrichter von Pottersdown ihre Truppe verjagen, bevor der Jahrmarkt richtig angefangen hatte.

„Fünfzehn Pfund“, erklärte sie.

Lord Whitemore war ein ausgezeichneter Tänzer. Geschickt dirigierte er sie über den Platz. „Fünfzehn Pfund?“

„Das ist mein Preis.“

„Nun, da gibt es ein kleines Problem.“

„Glauben Sie, ich bin keine fünfzehn Pfund wert?“, zischte sie.

„Sogar zehnmal so viel, meine Liebe. Aber es gehört zu den Bedingungen der Wette, dass ich Sie nicht bezahle.“

„Aus welchem Grund sollte ich Ihr Angebot denn sonst annehmen?“

„Aus reiner Herzensgüte?“

Lachend verdrehte sie die Augen. „So ein gutes Herz habe ich nicht. Wenn ich sechs Wochen bei Ihnen verbringe, um die perfekte Debütantin zu werden, kann ich nicht arbeiten und verliere eine Menge Geld.“

Obwohl die letzten Takte bereits verklungen waren, hielt er Lina immer noch, allerdings etwas lockerer. Dann schob er sie auf Armeslänge von sich und betrachtete sie nachdenklich. „Wenn ich Sie auch nicht bezahlen darf – gegen Geschenke wäre nichts einzuwenden.“

Ihre Gedanken überschlugen sich, neue Hoffnung stieg in ihr auf. Sicher würde Onkel Tom nicht protestieren, wenn sie ihre Schulden mit Juwelen oder anderen Wertgegenständen beglich. „Was genau müsste ich tun?“

„Sie würden sechs Wochen lang bei mir wohnen …“ Als sie empört nach Luft schnappte, hob er beschwichtigend die Hand. „Natürlich in Gegenwart einer Anstandsdame. Ihr guter Ruf wird gewahrt.“

„Trotzdem wird mein Bruder Raul dagegen sein.“

„Jeder verantwortungsvolle Bruder einer jungen Dame würde gewiss Einwände erheben. Also werde ich von Mann zu Mann mit dem Ihren reden und ihm versichern, dass Ihnen in meinem Haus nichts Ungehöriges widerfahren wird.“

Skeptisch seufzte sie. Bei den Roma herrschten strenge Sitten, obschon die meisten Menschen das fahrende Volk wegen seiner unkonventionellen Lebensweise für unmoralisch hielten. Doch dem war nicht so. Zum Beispiel musste ein Mädchen bis zur Hochzeitsnacht unberührt bleiben. „Und was wird in diesen sechs Wochen geschehen?“

„Sie werden lernen, sich in der gehobenen Gesellschaft zu benehmen, zu tanzen, Konversation zu machen.“

„Wie kompliziert …“, spöttelte sie.

„Ja, Sie können tanzen und reden. Aber wissen Sie, wie man Walzer tanzt? Wie Sie vornehme und einflussreiche Damen mit bescheidener Zurückhaltung beeindrucken? Wie man Ladys und Gentlemen korrekt anspricht?“

„Ist das denn so wichtig?“

„In der Oberschicht zweifellos. Fragen Sie mich nicht, warum. Ohne all diese Formalitäten wäre das Leben viel amüsanter.“

„Also lerne ich gute Manieren, Walzer tanzen und über banales Zeug zu reden. Sonst noch etwas?“

„In sechs Wochen besuchen wir zusammen einen großen Ball, auf dem Sie eine Prüfung bestehen müssen. Wenn Sie eine volle Tanzkarte vorweisen und sich so tadellos wie die anderen Debütantinnen benehmen, gewinne ich die Wette.“

„Und ich kehre zu meiner Familie zurück.“

„So ist es. Wenn ich Sie auch nicht bezahle – Sie dürfen all die neuen Kleider und die anderen Geschenke behalten.“

Damit müsste Onkel Tom zufriedenzustellen sein, dachte Lina. „Gut, ich bin einverstanden.“

Verwirrt rang sie nach Atem, als Lord Whitemore sie hochhob und lachend im Kreis herumwirbelte.

„Falls Raul mich nicht daran hindert“, gab sie zu bedenken.

„Das wird kein Problem sein, meine Liebe.“

3. KAPITEL

„Sie wollen was mit meiner Schwester machen?“, fragte Raul und ballte die Fäuste, hob sie aber vorerst noch nicht.

Alex stand ihm etwas abseits vom Getümmel gegenüber und setzte automatisch jenes Lächeln auf, das er oft geübt hatte und das er stets nutzte, wenn er Vertrauen erwecken wollte. Doch diesmal schien es seine Wirkung zu verfehlen. „Ich möchte sie zu einer Lady erziehen, zu einer perfekten Debütantin, um es genau auszudrücken.“

„Wollen Sie Lina heiraten?“

„Großer Gott, nein!“ Um seine etwas zu schroffen Worte abzuschwächen, hob Alex besänftigend eine Hand. „Ganz sicher wird Ihre Schwester irgendwann eine wunderbare Ehefrau sein, an der Seite des richtigen Mannes. Aber darum geht es hier nicht.“

In knappen Worte erläuterte er die Einzelheiten der Wette und die Rolle, die Lina dabei spielen sollte.

„Und so etwas amüsiert Ihresgleichen?“ Raul schüttelte den Kopf. „Wissen Sie nichts Besseres mit Ihrer Zeit anzufangen?“

Bei dieser Beleidigung zuckte Alex zusammen. „Moment mal, ich verwalte ein Landgut von fast tausend Morgen mit einem Dutzend Höfen! Über zweihundert Leute leben auf meinem Grund und Boden. Außerdem trainiere ich Rennpferde.“ Als er einen gewissen Respekt in Rauls Miene las, fügte er etwas freundlicher hinzu: „Auch ich habe eine Schwester. Ständig mischt sie sich in mein Privatleben ein. Aber ich hoffe, sie wird mich nie wieder mit ihren albernen romantischen Ideen belästigen, wenn ich meine anderen Aufgaben sechs Wochen lang etwas vernachlässige, um diese Wette zu gewinnen.“

„Linas Leumund …“, begann Raul.

„Da haben Sie nichts zu befürchten.“ Besänftigend klopfte Alex den Arm des Rom. „In den nächsten beiden Wochen wird meine Schwester bei mir wohnen, eine verheiratete Lady von untadeligem Ruf, also eine geeignete Anstandsdame. Für die Zeit danach werde ich meine verwitwete Tante einladen.“

„Und was wird bei alldem für Lina herausspringen?“

„Die Bedingungen der Wette verwehren es mir bedauerlicherweise, Ihre Schwester zu bezahlen. Aber ich darf Ihr Geschenke machen. Die müssten sie für ihre Mühe und die Zeit entschädigen, die sie mir opfern würde.“

„Komm mal her, Lina!“, forderte Raul seine Schwester auf, die an einem Tisch in der Nähe saß. Lina lachte und scherzte gerade mit einigen Dorfbewohnern, doch sie gehorchte sofort und eilte herbei.

„Willst du das wirklich machen?“, fragte er.

„Warum nicht? Nach all der Tanzerei und Wahrsagerei wäre es eine erfreuliche Abwechslung. Und ich wäre ja bald wieder bei euch.“

„Großartig!“, rief Alex begeistert und streckte seine rechte Hand aus, damit ihr Bruder einschlagen konnte.

Stattdessen schaute Raul die Hand nur kurz an, bevor er kameradschaftlich auf Alex’ Schulter schlug. „Bei einem solchen Abkommen schütteln wir uns nicht die Hände.“ Lächelnd zeigte er erstaunlich weiße Zähne. „Wir kämpfen.“

„Nein, Raul!“, protestierte Lina.

„Wenn man den Charakter eines Mannes einschätzen will, gibt es keine andere Möglichkeit.“

„Hör mal, man wird uns aus Pottersdown rauswerfen …“

Nun steckten die Geschwister verschwörerisch ihre Köpfe zusammen und tuschelten. Alex konnte nur ein paar Wortfetzen verstehen.

„Sonst lasse ich dich nicht gehen, Lina“, verkündete Raul nach einer immer hitziger werdenden Diskussion.

Sie zuckte mit den Achseln und wandte sich Alex zu. „Er will mir Ihnen kämpfen, Lord Whitemore. Jetzt liegt die Entscheidung bei Ihnen.“

Alex musste nur wenige Sekunden überlegen. Wenn Raul auf diese Weise herausfinden wollte, was für einem Mann er seine Schwester anvertraute, musste er das akzeptieren. „Also gut, kämpfen wir.“

„Wunderbar, Sir! In zehn Minuten, hinter dem Weinzelt.“ Während Raul davonschlenderte, pfiff er fröhlich vor sich hin.

Alex reichte Lina seinen Arm. Voller Vorfreude führte er sie über den Jahrmarkt, endlich wieder von dem Gefühl erfasst, wirklich lebendig zu sein. So viele Monate lang hatte er nichts erlebt, hatte einfach nur seine Pflichten erfüllt. Bestenfalls beim Zureiten heißblütiger Pferde ging sein Puls etwas schneller und seine Muskeln spannten sich an. Oder wenn eines seiner Rennpferde die Ziellinie in neuer Bestzeit überquerte.

Diese Leere in seinem Leben hatte er absichtlich erzeugt, das wusste er. Seit Victoria sich vor drei Jahren von ihm getrennt und sein Herz gebrochen hatte, ließ er nichts und niemanden mehr an sich heran, um nicht noch einmal verletzt zu werden. Inzwischen war sein Herz genesen, doch er hatte verlernt, all die aufregenden Freuden zu genießen, die das Leben erst lebenswert machten.

„Wie soll ich Sie nennen?“, fragte Lina, während sie über den Platz spazierten.

„Meinen Namen kennen Sie. Lord Whitemore.“

Sie stöhnte und verdrehte die Augen, als sie ihn ansah, eine von vielen Eigenheiten, die er ihr abgewöhnen musste, wenn sie zu den untadeligen Debütantinnen der Saison zählen sollte. „Ich meine Ihren Vornamen. Muss ich Sie etwa mit Lord Whitemore ansprechen?“

„Allerdings, das ist die korrekte Anrede.“ Alex hatte sich stets für besonders unkonventionell und zwanglos gehalten. Doch jetzt, in Linas Nähe, fühlte er sich fast altmodisch.

„Und wie nennt man Sie in Ihrem näheren Bekanntenkreis?“

„Versprechen Sie mir, diesen Namen niemals zu benutzen?“

„Großes Ehrenwort.“

„Alex. Eigentlich Alexander. Aber ich bevorzuge Alex.“

„Muss ich knicksen, wenn ich Sie begrüße?“

„Das alles erörtern wir später“, entschied er. „Wahrscheinlich werde ich einen ganzen Vormittag benötigen, um Ihnen klarzumachen, wie man einen Gentleman auf die richtige Weise begrüßt.“

„Oh, ich kann es kaum erwarten.“

Sie hatten ihr Ziel erreicht, und Lina führte ihn hinter das Weinzelt zu einem teilweise abgeschirmten kleinen Platz. Alex ließ seine Schultern rollen, um und die Gelenke zu lockern, bevor er sein Halstuch abnahm, den Gehrock auszog und beides ins Gras legte. Während er die Hemdsärmel hochkrempelte und so seine gebräunten Unterarme zeigte, bemerkte er Linas prüfenden Blick.

In diesem Moment schlenderte eine Männergruppe heran.

„Bereit für eine Abreibung?“, höhnte einer der Älteren.

„Achten Sie nicht auf diesen Kerl, Sir!“, rief Lina. „Mein Bruder kämpft auf faire Art und Weise, nicht wie dieser verschlagene Feigling da.“

„Hüte deine Zunge, Lina, oder du wirst es bitter bereuen.“

Alex trat vor und stellte sich zwischen den älteren Mann und Lina. Da sie in den nächsten sechs Wochen unter seiner Obhut stehen würde, musste er wohl oder übel die Rolle ihres Beschützers spielen. Also durfte er diesem Kerl nicht gestatten, sie so ungehörig zu behandeln.

„Kann ich dich keine fünf Minuten aus den Augen lassen, ohne dass du eine Streiterei anzettelst, Tom?“, schimpfte Raul und stellte sich neben seine Schwester.

Der ältere Mann warf Alex einen feindseligen Blick zu. Dann drängte er sich durch die Zuschauermenge, die sich erstaunlich schnell versammelt hatte, und blieb im Hintergrund stehen.

„Sind Sie bereit, Sir?“, fragte Raul.

„Wann immer Sie es wünschen.“

„Wir kämpfen, bis das erste Blut fließt.“

Alex nickte zustimmend. Offenbar zog es der muskulöse Mann vor, ein Abkommen oder eine Meinungsverschiedenheit mit den Fäusten zu klären.

Im Internat hatte Alex boxen gelernt und auch später einige Kämpfe ausgefochten. Durch seine Arbeit mit den Pferden war er körperlich gut in Form und flink auf den Beinen. Wenn er auch nicht erwartete, diesen Kampf zu gewinnen, so hoffte er doch, wenigstens seinen Stolz zu retten. Zudem ging es hier nicht um Sieg oder Niederlage. Nicht seine Kampfkraft sollte geprüft werden, sondern sein Charakter – seine Bereitschaft, sich zu behaupten, statt feige davonzulaufen.

Die beiden Männer begannen, sich langsam zu umkreisen. Alex blendete das Gemurmel des Publikums aus und konzentrierte sich ganz auf seinen Gegner. Plötzlich sauste Rauls Faust nach vorn, ein eher harmloser Schlag, der offenbar nur Alex’ Reaktion testen sollte und den er mühelos parierte. Mit ein paar raschen, auf den Körper gezielten Schlägen entlockte er dem Mann nur ein Seufzen. Er wich zurück, umkreiste Raul erneut, und diesmal griff er zuerst an – mit einem Hieb auf das Gesicht, dem Raul erst im allerletzten Moment auswich.

Doch die Faust streifte ihn seitlich am Kopf, und der Aufprall brachte Alex ein wenig aus dem Gleichgewicht. Das nutzte sein Widersacher sofort aus und ließ eine Reihe gezielter Trommelschlägen los. In die Defensive gezwungen, musste Alex sein Gesicht mit beiden Armen schützen.

Hinter sich hörte Alex anschwellendes Stimmengewirr. Da ahnte er, dass sein Gegner im Vorgefühl des sicheren Sieges seine Deckung vernachlässigen würde. Einen Hieb steckte Alex noch ein, bevor er einen linken Hacken vortäuschte und dann rechts attackierte. Ehe Raul reagieren konnte, traf ein harter Schlag seine Wange, gefolgt von einem linken Haken aufs Kinn.

Fast gleichzeitig landete Rauls Faust auf der Schläfe seines Angreifers. Alex spürte einen brennenden Schmerz an der Augenbraue, ein warmes Rinnsal.

Beide Männer traten zurück, berührten ihre Gesichter, sahen rote Tropfen auf ihren Fingern.

„Blut!“ Grinsend wischte Raul über seine aufgeplatzte Unterlippe. „Für einen feinen Pinkel kämpfen Sie gar nicht mal schlecht. Und jetzt trinken wir was.“

Alex ließ sich ins Weinzelt führen. Mehrere Zuschauer begleiteten ihn, wollten seine Hand schütteln und klopften ihm lobend auf die Schulter. Er sah sich um. Lina war nirgendwo zu entdecken. Offenbar besaß sie das Talent, blitzschnell zu verschwinden, in der Menschenmenge unterzutauchen. Weil sie ihr Leben lang auf Jahrmärkten gearbeitet hatte? Im Moment war das ein verdammtes Ärgernis, denn er wollte ihr Abkommen besiegeln – und vielleicht auch ein wenig Bewunderung in ihren Augen lesen.

„Werden Sie gut für sie sorgen?“, fragte Raul, nachdem sie den ersten Schluck Apfelwein getrunken hatten.

„Als wäre sie meine eigene Schwester“, versprach Alex.

„Dann habe ich nichts mehr dagegen. Allerdings verstehe ich nicht, wie Sie Lina dazu gekriegt haben. Schon immer hat sie die vornehmen Leute gehasst …“ Nach einer kurzen Pause lachte Raul, hob seinen Becher und stieß mit Alex an. „Aber ich finde Sie gar nicht so übel.“

„Was für ein für dich bequemes Arrangement du da ausgehandelt hast, du elende Hure! Wie schamlos, sich auf diese Weise mit einem Gentleman einzulassen.“

Lina schauderte und wich vor Onkel Toms übel riechendem Atem zurück. „Ich bin keine …“ Doch sie verstummte, weil es sinnlos war, mit ihm zu streiten.

„Gibst du mir mein Geld schon heute?“

„Er bezahlt mich nicht.“

„Du wirfst dich also umsonst weg? Deine liebe Mutter wird sich im Grabe umdrehen.“

„Da er mir Geschenke versprochen hat, kann ich meine Schulden bald begleichen.“

„Ich will keine Geschenke, sondern Geld.“

„Wenn ich die Geschenke verkauft habe, kriegst du das Geld.“

„Am Wochenende läuft die Frist ab, Lina.“

„So schnell wird das nicht gehen. Wahrscheinlich erst in sechs Wochen.“

„Aber ich brauche das Geld jetzt!“

In Toms Stimme schwang etwas mit, das beinahe wie Panik klang und Lina beunruhigte. Nach kurzem Zögern schlug sie vor: „Wenn du dich sechs Wochen lang geduldest, gebe ich dir zwölf Pfund statt zehn.“

Die Stirn gefurcht, starrte er sie an. „Fünfzehn in vier Wochen.“

Nervös schluckte sie. Dann nickte sie, weil sie keine Wahl hatte. Hoffentlich würde der Marquess sie großzügig beschenken.

„Und ich will Informationen“, fügte Onkel Tom hinzu.

„Was für welche?“

„Raul hat mir erzählt, du würdest bei diesem reichen Schnösel wohnen. Also kannst du herausfinden, wie sein Haus gesichert ist und wo es etwas zu holen gibt.“

„Ich werde nicht für dich stehlen!“

„Das musst du nicht, nur einige kleine, nun ja, Hinweise geben. Innerhalb der Familie.“

Entschieden schüttelte sie den Kopf.

„Darauf bestehe ich, Lina. Entweder fünfzehn Pfund in vier Wochen und ein paar kleine Informationen. Oder du bezahlst zehn Pfund an diesem Wochenende.“

Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, das Bild vom enttäuschten Gesicht ihrer Mutter zu verdrängen, das vor ihrem inneren Auge aufstieg. Dann nickte sie.

„Braves Mädchen. In ein paar Tagen sehen wir uns wieder.“

4. KAPITEL

Das Gras unter ihren Füßen war nass, als Lina eine Wiese überquerte und die Böschung zur Straße hinaufstieg. Ein Bauer hatte sie auf seinem Karren von Pottersdown ins Dorf Hilstone mitgenommen. Dort hatte ihr eine freundliche Ladenbesitzerin erklärt, über Wiesen und Felder würde sie nur zwanzig Minuten bis Whitemore House brauchen.

Aber Lina trödelte, pflückte Wildblumen und steckte sie in ihr Haar, machte Rast auf einem Baumstumpf und hielt ihr Gesicht in die Sonne, zog sogar die Schuhe aus, um ihre Füße ins kühle Wasser eines plätschernden Bachs zu tauchen. Und so war aus den zwanzig Minuten eine gute Stunde geworden. Noch länger durfte sie ihre Ankunft nicht hinauszögern, also ging sie weiter.

Warum sie so nervös war, wusste sie nicht. Das hatte sie doch herbeigesehnt: eine Gelegenheit, ihr Leben zu ändern, etwas anderes zu machen, woanders zu sein, wenigstens für kurze Zeit. Ihr ganzes zwanzigjähriges Leben war sie umhergereist, war im Sommer auf Jahrmärkten aufgetreten und hatte in den langen Wintermonaten jede sich bietende Arbeit angenommen. Doch seit einiger Zeit wünschte sie sich, mehr von der Welt kennenzulernen, aufregende Abenteuer zu bestehen. Aber nun ängstigte sie all das Neue, das auf sie zukam. Hätte sie doch besser in ihrer vertrauten Umgebung bleiben sollen?

Wie auch immer, für solche Fragen war es zu spät, das Abkommen besiegelt. Vor einem schmiedeeisernen Tor mit Gitterstäben hielt sie kurz inne und betrachtete die Zufahrt, die zwischen gepflegten Rasenflächen nach links bog. Das Haus war nicht zu sehen.

Schließlich öffnete sie das Tor. Mit heftig klopfendem Herzen betrat sie das Grundstück von Whitemore House und folgte der breiten Straße. Als das auf einem Hügel gelegene Anwesen in Sicht kam, blieb sie verblüfft stehen. Noch nie hatte sie ein so großes Haus gesehen, nicht einmal in den Städten London und York, die sie mit Raul besucht hatte. Dieses symmetrische Bauwerk aus schönem Sandstein bestand aus einem Haupthaus und zwei Flügeln.

Die Zufahrt wand sich um den Hügel herum. Nach zehn Minuten erreichte Lina den vorderen Eingang und zupfte ihr Kleid zurecht, während die Tür bereits aufschwang. Ein Mann in mittleren Jahren begrüßte sie mit einem verkniffenen Lächeln. „Miss Lock, nehme ich an?“

Weil ihr Mund staubtrocken war, nickte sie nur.

„Folgen Sie mir.“

Der verächtliche Unterton in seiner Stimme befreite Lina von ihrer Nervosität. Denn das war genau der Grund, warum sie die Aristokraten nicht mochte. Diese arroganten feinen Pinkel behandelten alle Menschen unterhalb ihres erhabenen Standes bestenfalls wie ein Ärgernis, schlimmstenfalls wie leblose Gegenstände, die man benutzte und dann beiseiteschob.

Selbst ihre Dienstboten waren unhöflich. Sie trat über die Schwelle und schaute sich in der riesigen Eingangshalle mit glänzendem Marmorboden um. In mehreren Wandnischen standen kunstvolle Statuen.

„Sind Sie ein Familienmitglied?“, fragte sie und drehte sich zu dem hochgewachsenen Mann um.

„Gewiss nicht, ich bin Lord Whitemores Butler.“

„Also ein Dienstbote. Seltsam …“

Die Brauen leicht erhoben, blickte er aus seiner imposanten Höhe auf sie herab. „Was ist seltsam?“

„Nun, ich dachte immer, Diener müssten höflich sein. Aber Sie sind so ruppig wie eine Kuh, die eine Woche lang nicht gemolken wurde.“

„Verzeihen Sie …“, stammelte er und erbleichte. „Hier wird man eine solche Ausdrucksweise nicht dulden, Miss Lock.“

„Oh, da irren Sie sich. Überlegen Sie mal, ich bin ein geladener Gast, und Sie sind ein Mitglied der Dienerschaft.“

„Von Ihrer Unverschämtheit wird der Marquess erfahren!“, stieß er hervor.

„Was hat dieses Aufhebens zu bedeuten, Williams?“, fragte eine sanfte weibliche Stimme. Lord Whitemores Schwester trat aus einer der vielen Türen, die in die Halle führten.

„Bitte, verzeihen Sie …“

Mit einer lässigen Geste brachte sie den Butler zum Schweigen und umarmte Lina. „Kommen Sie, sicher sind Sie müde von der Reise. Ich habe den Tee auf der Terrasse servieren lassen. Natürlich im Schatten, weil ich auf meinen Teint achten muss.“

„Danke – Lady Whitemore?“, erkundigte sich Lina, erfreut über die herzliche Begrüßung.

„Ach herrje, wir wurden einander noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Lady Georgina Pentworthy, Alex’ leidgeprüfte und ihm treu ergebene Schwester.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Lady Pentworthy.“

„Nennen Sie mich Georgina.“

Sie durchquerten einen Raum, dessen Wände komplett von Bücherregalen bedeckt waren. So etwas hatte Lina noch nie gesehen. Unwillkürlich blieb sie stehen und musterte die edlen Lederrücken der unzähligen Bände. Welch ein Unterschied zu ihrer sorgsam gehüteten Sammlung von drei zerlesenen Büchern …

„Ich bin so froh, dass Sie hier sind!“ Georgina drückte Linas Arm und zog sie weiter. „In den nächsten Wochen werden wir jede Menge Spaß haben.“

„Wäre es für Sie nicht besser, ich hätte das Angebot Seiner Lordschaft abgelehnt? Dann hätten Sie die Wette sofort gewonnen.“

„Sagen Sie das bloß nicht meinem Bruder, die Wette ist mir ziemlich egal. Mir geht es vor allem um die Reise.“

„Welche Reise?“

Auf der Terrasse setzten sie sich an einen Tisch, der für die Teestunde mit feinem Porzellan und allerlei Köstlichkeiten gedeckt war. Erstaunt überlegte Lina, ob Georgina ihre Ankunft zu diesem Zeitpunkt erwartet hatte.

„Seit fünf Jahren vergräbt sich Alex in seiner Arbeit.“ Georgina goss duftenden, bernsteinfarbenen Tee in hauchdünne Tassen. „Deshalb hoffe ich, Sie werden ihn von hier weglocken.“

Lina nahm einen Schluck Tee und inspizierte sehnsüchtig eine Platte mit kleinen Kuchen, die verführerisch aussahen.

Erleichtert atmete sie auf, als Georgina zwei Stück auf ihren Teller legte und ihr bedeutete, sich ebenfalls zu bedienen. „Und wie soll ich das anstellen?“ Diese Wette wurde immer komplizierter. Erst Onkel Toms Forderungen, jetzt noch die mysteriösen Pläne der jungen Lady …

„Nun, er soll mal nicht nur an seine Arbeit denken, sondern sich für etwas Neues interessieren. Um Sie auf den Ball vorzubereiten, muss er mit Ihnen für mehrere Tage nach London fahren, einkaufen gehen – und an gesellschaftlichen Veranstaltungen teilnehmen. Das tut er zwar gelegentlich, allerdings nur halbherzig, und er kehrt möglichst schnell auf sein Landgut zurück.“

„Und wie könnte ich das ändern?“ Lina biss in den Kuchen und schloss die Augen. Noch nie in Leben hatte sie etwas so Köstliches gegessen.

„Einfach durch Ihre Anwesenheit.“

Lina verspürte ein wachsendes Unbehagen, da ihr bewusst wurde, welche Verantwortung sie trug. Gewiss, sie wollte ihr Bestes tun, denn sie mochte diese warmherzige, ungekünstelte junge Lady, die sie nicht herablassend, sondern wie eine Freundin behandelte. Nicht wie einen Neuankömmling, der nichts zu bieten hatte außer ein paar extravaganten Tanzschritten und dem Talent, leichtgläubigen Mädchen Lügen zu erzählen …

Offenbar erriet Georgina ihre Gedanken. „Bitte, sorgen Sie sich nicht, Lina. In den ersten zwei Wochen werde ich Ihnen beistehen. Und danach werden Sie meinen Bruder um den Finger wickeln.“

Da war Lina sich nicht so sicher. Ja, sie war schlagfertig und wortgewandt und manchmal sehr risikobereit und temperamentvoll. Aber Lord Whitemore war intelligent genug, um ihre üblichen Tricks zu durchschauen und sich von ihr nicht manipulieren zu lassen.

Als zwei Kinder über den Rasen zur Terrasse rannten, stand Georgina auf und lachte. Zuerst umarmte sie einen etwa fünfjährigen Jungen, dann ein kleineres Mädchen, das unsicher hinter ihm her stolperte und trotzdem zu schnell für die sichtlich erschöpfte, atemlose Kinderfrau war.

„Oh, meine Lieblinge, wie ich euch vermisst habe!“ Georgina herzte und küsste die beiden. „William, Flora – schaut mal, wir haben einen Gast. Das ist Miss Lina Lock. In den nächsten Wochen wird sie bei eurem Onkel wohnen.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Miss Lock.“ Mit einer förmlichen Verbeugung schien William sich in einen Miniatur-erwachsenen zu verwandeln.

Kichernd und etwas wackelig knickste Flora, dann errötete sie und versteckte sich hinter den Röcken ihrer Mutter.

„William ist fünf, Flora fast drei“, erklärte Georgina und wandte sich ihrem Sohn zu. „Was glaubst du, wo dein Onkel ist?“

Statt zu antworten, stürmte der Junge zurück auf den Rasen.

„Pferde – bei den Pferden“, piepste Flora und rannte ihrem Bruder nach, zur Verzweiflung der Nanny.

„Wollen wir ihn suchen?“, schlug Georgina dem Hausgast vor.

Erfreut nickte Lina. Sie liebte Pferde, liebte das Rauschen des Windes in ihrem Haar, das Gefühl grenzenloser Freiheit, wenn sie über die Wiesen galoppierte. Ihre Familie besaß leider nur langsame, kräftige Zugpferde, die vor die schweren Reisewagen gespannt wurden und sich nicht wirklich zum Reiten eigneten. Vermutlich würde Lord Whitemore ihr nicht erlauben, eines seiner edlen Tiere zu reiten.

„Reitet Ihr Bruder gern, Georgina?“, fragte sie möglichst beiläufig.

Georgina hatte sich bei Lina untergehakt, während sie den Kindern über den Rasen zur Seite des Hauses folgten.

Neugierig warf sie Lina einen kurzen Blick zu. „Sehr gern.“

Sie durchquerten einen gepflegten Rosengarten und spazierten eine schmale Allee entlang, bevor sie den Stallhof betraten.

„Wenn Sie meinen Bruder suchen, hier werden sie ihn oft finden – oder irgendwo anders in der Nähe seiner geliebten Pferde.“ Anmutig hüpfte Georgina über einen kleinen Misthaufen. Dann führte sie Lina am Stall und an verschiedenen Nebengebäuden vorbei zu einer eingezäunten Weide, hinter der sich weite Felder erstreckten.

Während sie darauf zugingen, bewunderte Lina einen prachtvollen Hengst, der sich immer wieder aufbäumte oder aufstampfte. Sein schönes kastanienrotes Fell glänzte im Sonnenschein. Im Moment wirkte er nicht besonders glücklich. Lauthals schnaubte er und warf den Kopf hoch.

In ihrem Augenwinkel erschien jemand, der sie von dem edlen Tier ablenkte, als er die Koppel durchquer...

Autor

Bronwyn Scott
<p>Bronwyn Scott ist der Künstlername von Nikki Poppen. Sie lebt an der Pazifikküste im Nordwesten der USA, wo sie Kommunikationstrainerin an einem kleinen College ist. Sie spielt gern Klavier und verbringt viel Zeit mit ihren drei Kindern. Kochen und waschen gehören absolut nicht zu ihren Leidenschaften, darum überlässt sie den...
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