Historical Exklusiv Band 79

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DIE ENTFÜHRUNG DER FALSCHEN BRAUT von AMANDA MCCABE
London, 1591: Lord Edward Hartley hat die Falsche entführt! Statt mit der jungen Jane findet er sich mit deren Anstandsdame wieder …

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IM PALAST DES KALIFEN von ANNE HERRIES
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  • Erscheinungstag 01.10.2019
  • Bandnummer 79
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737153
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Amanda McCabe, Diane Gaston, Joanne Rock, Jeannie Lin, Michelle Willingham, Anne Herries

HISTORICAL EXKLUSIV BAND 79

1. KAPITEL

London, 1589

Die Leute sagen, sie ist eine Jungfrau, rein wie frisch gefallener Schnee.“

„Ach wirklich?“ Das Theater war von lautem Stimmengewirr erfüllt, sodass Lord Edward Hartley die geflüsterten Worte seines Freundes Robert Alden kaum verstehen konnte. Was er ihm damit sagen wollte, war jedoch unmissverständlich.

Dies war seine Chance, endlich Rache zu nehmen. Die angeblich reine und unberührte Jungfrau mit ihren blonden Locken und den großen blauen Augen, die von der Tribüne ihm gegenüber das Schauspiel verfolgte, würde ihm dabei helfen, seinem Leiden endlich ein Ende zu setzen.

Wenn er nur den Widerwillen unterdrücken könnte, der ihn bei diesem Gedanken überfiel. Grauste es ihn mehr vor dem Scheusal, das ihn zu dieser Verzweiflungstat trieb, oder vor ihm selbst, weil er eine derartige Niedertracht überhaupt in Erwägung zog?

Edward kämpfte gegen hartnäckige Gewissensbisse. Sir Thomas Sheldon war jedoch damals ohne Gnade seinem Bruder gegenüber gewesen. Und Edward war dazu ebenso imstande.

„Eben diese Reinheit ist es, die Sir Thomas an ihr schätzt“, sagte er.

„So heißt es im Allgemeinen“, antwortete Robert. Ihre Freundschaft war außergewöhnlich, lebten sie doch in zwei verschiedenen Welten. Edward diente Königin Elisabeth bei Hofe, wo er versuchte, die Position seiner Familie durch sein Geschick im Schwertkampf, eleganten Tanz und seine Erfolge bei Turnieren zu verbessern. Rob hingegen war Schriftsteller und Schauspieler, er war bestens vertraut mit Londons Halbwelt.

Doch Tavernen, Freudenhäuser und Spielhöllen scherten sich nicht darum, woher ihre Einnahmen stammten, und so verkehrten sie in denselben Kaschemmen. Sie sammelten und teilten auch wertvolle Informationen miteinander, die sie von Bekannten aus allen Gesellschaftsschichten bekamen. Auf diesem Wege hatte Rob herausgefunden, dass Sir Thomas Sheldon vorhatte, die sechzehnjährige Jungfer Jane Courtwright zu seiner strahlenden Braut zu machen.

Jane war normalerweise an den herrschaftlichen Sitz ihrer Familie am Ufer der Themse gebunden, nur selten sah man sie bei Hofe. Ihr Theaterbesuch an diesem Abend war ein glücklicher Zufall.

Sie war wirklich ein hübsches Mädchen, dessen war Edward sich wohl bewusst. In ihrem feinen Gewand aus blauem Samt erinnerte sie ihn an eine prächtig herausgeputzte Puppe. Ihre runden, sanften Wangen leuchteten rot vor Freude darüber, dass sie sich hier endlich einmal frei bewegen durfte, dass sie das Treiben auf der Bühne und die farbenprächtige Menge davor betrachten konnte. Das arme Lämmchen war ganz offensichtlich reif, von Sheldon zur Schlachtbank geführt zu werden. Damit wäre sie nur eines unter vielen Opfern seiner Gier.

„Was denken sich ihre Eltern nur dabei?“, sagte Rob. „Sheldon muss gut dreißig Jahre älter sein als sie und zweihundert Pfund schwerer. Sie wird in der Hochzeitsnacht zerquetscht werden.“

„Oder schon vorher. Sheldon zerstört Unschuld, wo immer sie ihm begegnet – das ist sein Metier“, antwortete Edward. Er dachte dabei nicht nur an die unglückliche Jane Courtwright, sondern auch an seinen Bruder Jamie, der der Welt genauso jung und naiv gegenübergestanden hatte wie sie, begierig darauf, sich ins Leben zu stürzen, ohne etwas von der Welt zu wissen. Bis Sheldon sein Leben zerstört hatte.

Edward musste genau das im Kopf behalten: seinen Bruder und die Vergeltung, die er Jamie schuldete. Er konnte sich kein Mitleid mit einem Mädchen erlauben. Sie würde die Grausamkeit der Welt in aller Härte kennenlernen, genau wie Edward.

„Ich kann mir vorstellen, was ihre Eltern bewegt“, fuhr er fort. „Es geht um Geld. Ich habe bei Hofe gehört, dass ihre Familie bankrott ist. Die Gastfreundschaft, mit der sie die Königin im letzten Sommer auf ihrem Landsitz unterhalten haben, hat sie den letzten Heller gekostet. Sheldon wird sich die Jungfräulichkeit ihrer Tochter eine hübsche Summe kosten lassen.“

Rob klopfte mit seinen von Tinte geschwärzten Fingern auf die hölzerne Balustrade ihrer Loge. „Er wäre sehr ungehalten, wenn die Gerüchte über ihre Unschuld … übertrieben wären. Mutter Nan, der das Freudenhaus am anderen Ende der Gasse gehört, meinte, er will nur junge, unschuldige Huren – oder zumindest solche, die Jungfräulichkeit gut spielen können. Dafür lässt er einiges springen.“

„Und was wäre ihm die Jungfräulichkeit einer Ehefrau wert?“

„Ich verstehe, worauf du hinauswillst“, sagte Rob. Er betrachtete das Mädchen prüfend. „Bringst du das übers Herz, mein Freund? Ich weiß, dass du auf eine solche Gelegenheit lange und geduldig gewartet hast, aber ich kenne dich. Du bist nicht wie Sheldon.“

Edward lachte verächtlich. „Das stimmt, ich habe nicht seine Vorliebe für frische Jungfräulichkeit. Sie ist ein überschätztes Gut. Aber Sheldon ist genauso bereit, für den Anschein von Unschuld zu bezahlen wie für ihre tatsächliche Unberührtheit. Ihm geht es vor allem um seinen guten Ruf. Ich werde dem Mädchen kein Haar krümmen, Rob. Ich will Sheldon nur einen Grund geben, sich mir endlich zu stellen. Das Mädchen wird ihn dann los sein.“

„Und dann wirst du ihn vor aller Welt demütigen, wirst ihm alles nehmen, was ihm lieb und teuer ist.“

„Genau“, sagte Edward nur. Allein dafür hatte er seit Jamies Tod gelebt – um sich endlich an Sheldon zu rächen. Im Vergleich damit war alles andere in seinem Leben bedeutungslos.

Rob schüttelte den Kopf. „Es ist dein gutes Recht, Sheldon bloßzustellen. Niemand, der die wahren Umstände kennt, würde versuchen, dich davon abzuhalten.“

Wenn es Sheldon nur nicht schon so lange gelungen wäre, seine schändlichen Machenschaften unter dem Deckmantel der Ehrbarkeit zu verbergen. Edward musste sichergehen, dass er Sheldons Ehre vollständig zerstören konnte. „Dann wird die Welt ihn endlich so sehen, wie er wirklich ist.“

„Hier in Southwark ist allgemein bekannt, dass er ein Betrüger ist. Er würde in einem Duell ebenso betrügen, wenn es dazu kommt. Wenn er dich tötet …“

„Auch dann wäre die Sache endlich ausgestanden. Ich wäre vom Angesicht der Erde verschwunden, und die Königin wäre untröstlich über den Verlust ihres Lieblingshöflings.“

„Ihres bevorzugten Anblicks meinst du.“

Edward lachte. „Er wird mich nicht töten. Ich bin jünger und stärker als er, und ich bereite mich seit Ewigkeiten auf diesen Tag vor. Wenn er bei Hofe einmal in Ungnade gefallen ist, wird er niemandem von uns mehr zu nahe kommen.“

Rob nickte, aber Edward konnte sehen, dass es ihm nicht gelungen war, seine Zweifel zu zerstreuen. Rob bevorzugte die direkte Konfrontation – ein Degen in einer dunklen Gasse, eine Schlägerei im Wirtshaus. Aber Edward musste sichergehen, dass Sheldon vor aller Welt als der Schurke dastand, der er war. Und der Weg zu diesem Ziel führte über Jane Courtwright.

Plötzlich schlug Rob mit der Faust auf die Balustrade. „Zum Teufel!“, rief er. „Der Dummkopf ruiniert schon wieder mein Stück.“

Ethan Camp, der Narr der Theatertruppe, wirbelte unter ihnen über die Bühne, dabei hielt er eine improvisierte Ansprache, anstatt den Text zu sprechen, den Rob für ihn geschrieben hatte. Rob sprang auf und hastete aus der Loge. Die Tür schlug er hinter sich zu. Edward war mit seinen düsteren Gedanken allein.

Er stützte die Arme auf die Balustrade und beugte sich vor, um Jane Courtwright gründlich zu mustern. Das White Heron Theatre war nach oben hin offen, sodass man den grauen Himmel sehen konnte. Jetzt war der Theatersaal voll von Besuchern der Nachmittagsvorstellung. Edwards Loge lag genau gegenüber von der von Mistress Courtwright im zweiten Rang, sodass er sie bestens im Blick hatte. Sie lachte über die Faxen des Narren, ihre Augen leuchteten, und sie rutschte aufgeregt auf ihrem hölzernen Sitz hin und her, während sie vor Begeisterung in die Hände klatschte.

Plötzlich legte ihr jemand eine Hand in einem hellgrauen Handschuh aus feinem Leder auf den Arm. Edwards Aufmerksamkeit richtete sich sofort auf ihre Begleiterin. Neben Jane saß eine Frau, die älter war als sie, aber noch immer jung. Sie trug ein einfaches, aber sehr vorteilhaft geschnittenes Mieder mit einem Rock aus grauem Samt, der mit goldenen Bändern umsäumt war. Ihr glänzendes rotbraunes Haar wurde von einem goldenen Netz zusammengehalten, auf dem ein hoher grauer Hut thronte. Ihr ovales Gesicht war blass mit hohen Wangenknochen, die von hellen Sommersprossen überzogen waren. Ihren braunen Augen schien nichts zu entgehen. Sie flüsterte Jane etwas ins Ohr, woraufhin diese sofort wieder still auf ihrem Platz saß.

„Teufel auch“, wiederholte Edward leise Robs Fluchen. Lady Elisabeth Gilbert – und sie schien die Anstandsdame des Mädchens zu sein! Wie sollte er bloß an ihr vorbeikommen?

Er war Lady Elisabeth einige Male bei Hofe begegnet. Sie war die Tochter eines Earls, die Witwe eines reichen Lords, und sie diente der Königin als Hofdame. Sie war zweifellos schön, viele Edelmänner hatten ihr Glück bei ihr versucht, hatten gehofft, das Bett mir ihr teilen zu dürfen. Was sie stattdessen bekommen hatten, waren Ohrfeigen oder ein Tritt in die Leiste gewesen.

Lady Elisabeth war eine uneinnehmbare Festung der Tugend. Trotz ihres wunderschönen Haares und ihres wohlgeformten Busens hatte Edward der Versuchung nie nachgegeben. Dazu war ihm seine eigene Gesundheit zu wertvoll.

Nun saß sie hier neben Jane Courtwright. Sie würde die Tugend ihres Schützlings gewiss ebenso streng hüten wie ihre eigene. Mit diesem Hindernis hatte er nicht gerechnet.

Gerade in diesem Augenblick ließ Lady Elisabeth den Blick durch das Theaterrund schweifen und sah ihn direkt an. Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung, aber sie hielt seinem Blick stand. Für einen kurzen Moment war ihr kühler, distanzierter Ausdruck verschwunden. Sie schien überrascht und nervös, ihre Wangen röteten sich leicht. Sie öffnete ihre vollen sinnlichen Lippen, beinahe hätte man ihre sprichwörtlich gewordene Tugendhaftigkeit vergessen können.

Edward stellte sich fast widerwillig vor, wie es wäre, diese Lippen zu küssen. Er malte sich aus, wie er seinen Mund auf ihren drückte und sie sich weich an ihn schmiegen würde. Wie wohl ihre Lippen schmeckten, und wie sie sich wohl anfühlte? Hinter ihrem eiskalten Äußeren verbarg sich mit Sicherheit eine lange unterdrückte Leidenschaft, die nur darauf wartete, endlich entfesselt zu werden …

Genauso plötzlich, wie er verschwunden war, kehrte ihr strenger Gesichtsausdruck jedoch zurück, und sie sah wieder so abweisend aus wie immer. Seine Vision von Elisabeth Gilberts nackter Schönheit verblasste.

Sie nickte ihm kurz zu und wendete sich ab. Jane Courtwright versuchte zu erkennen, wen ihre Begleiterin auf der anderen Seite des Theaters angesehen hatte, und blickte Edward neugierig an. Er lächelte ihr vielsagend zu. Mit diesem Lächeln hatte er bei Hofe schon bei vielen Damen Erfolg gehabt. Jane kicherte und errötete heftig, doch Elisabeth nahm sie am Arm, sodass sie sich abwenden musste.

Der Anfang mit dem Mädchen war gemacht. Seltsam nur, dass es nicht Jane Courtwright war, die er gern erobert hätte.

2. KAPITEL

Wer ist der Mann, Tante Bess?“

Lady Elisabeth Gilbert sah starr auf die Bühne hinunter und versuchte, den Mann zu ignorieren, der sie von der anderen Seite des Theaters her anstarrte. Sie war sich seiner Aufmerksamkeit durchaus bewusst; sie meinte, den Blick aus seinen grauen Augen auf ihrer Haut fühlen zu können, er prickelte und brannte wie Sonnenstrahlen im Sommer. Sie wollte von ihrem Sitz aufspringen und weglaufen, nur unter Aufbietung ihrer gesamten Willenskraft konnte sie ihre ruhige und gelassene Haltung bewahren.

Oder beobachtete er vielleicht eher Jane? Ihre hübsche und zierliche Nichte erregte überall Aufmerksamkeit, wohin sie auch ging, eine Aufmerksamkeit, die Jane selbst überhaupt nicht zu bemerken schien. Wahrscheinlich war sie der Grund dafür, dass Elisabeths Schwester und deren ungehobelter Ehemann das Mädchen zu Hause einsperrten. Elisabeth hatte ihre gesamte Überredungskunst aufbringen müssen, damit sie dem armen Ding diesen Theaterbesuch gestattet hatten. Jane war jetzt sechzehn; sie hatte es verdient, sich ein bisschen zu amüsieren, ehe sie in eine Ehe gedrängt wurde – wie sie selbst, als sie in Janes Alter gewesen war.

Doch die Qualen ihrer Ehe lagen jetzt hinter Elisabeth. Seit zwei Jahren war sie Witwe, seit sie dreiundzwanzig war. Janes Prüfungen hatten noch nicht einmal begonnen. Das arme, liebe Mädchen.

„Welcher Mann, Jane?“, fragte sie, als sie sicher war, dass ihr die Stimme nicht versagen würde. Edward Hartley verunsicherte sie immer wieder, Schande über ihn. Er war einfach zu attraktiv und brachte so ihren festen Entschluss, sich nie wieder mit einem Mann einzulassen, ins Wanken.

„Na, der in der Loge dort drüben natürlich! Der Mann, der dich die ganze Zeit anstarrt“, sagte Jane. „Er trägt ein prächtiges Wams. Kleiden sich bei Hofe alle so elegant?“

„Wenn sie reiche Angeber wie Edward Hartley sind, dann ja“, murmelte Elisabeth.

„Edward Hartley? Heißt er so?“

„Lord Edward Hartley. Er ist der Sohn des Earl von Pensworth.“

„Ein Earl! Und gut aussehend noch dazu.“ Jane kniff die Augen zusammen, die normalerweise so blau und weit wie der Sommerhimmel waren. „Du scheinst ihm zu gefallen, Tante Bess. Er schaut dich an wie ein Hungernder eine Lammkeule.“

Ach wirklich? Elisabeth widerstand der Versuchung, zu ihm hinüberzuschauen, um zu sehen, ob Jane recht hatte. Eine Lammkeule! „Er sieht alle Frauen so an. Er ist bei Hofe einer der notorischen Herzensbrecher.“

„Tatsächlich? Ich wünschte, ich könnte an den Hof kommen und mir das ansehen!“

„Es ist schrecklich langweilig bei Hofe, Jane. Es gibt nichts zu tun außer zu lesen, Karten zu spielen und sich den neuesten Klatsch und Tratsch anzuhören.“ Und Edward Hartley zu beobachten wann immer sie sicher war, dass er sie nicht dabei erwischen würde. Seiner Eitelkeit musste nicht noch mehr geschmeichelt werden. Die jungen Schönheiten des Hofes waren ohnehin alle hinter ihm her, in diese Schar wollte sie als vernünftige Witwe sich nicht einreihen.

Irgendwie kam sie sich nur so viel weniger vernünftig vor, wenn er zugegen war. Bei seinem Anblick fragte sie sich, wie es wohl wäre, das Bett mit ihm zu teilen anstatt mit ihrem alten, vertrockneten, zudringlichen Ehemann. Wie es wohl wäre, ihn zu küssen, ihn zu berühren, einen Liebhaber zu haben, den sie wirklich wollte? Mit seinem unbekümmerten Lachen löste er Gefühle in ihr aus …

So hatte sie sich noch nie zuvor gefühlt. Und ganz bestimmt nicht bei ihrem Ehemann, dessen unbeholfene Berührungen und sein Herumgestocher unter der Bettdecke hatten sie völlig kalt gelassen, manchmal war ihr dabei regelrecht elend geworden. Der Hofklatsch sagte jedoch, dass Lord Edward äußerst geschickt war.

Elisabeth warf ihm schnell einen verstohlenen Blick zu. Seine Augen waren jetzt auf die Bühne gerichtet, sodass sie ihn für einen kurzen Moment unbemerkt mustern konnte. Er galt zu Recht als einer der bestaussehenden Männer des Palasts. Und das, obwohl es dort vor gut aussehenden, eleganten Edelleuten nur so wimmelte. Er trug das glänzend braune Haar ein wenig zu lang, es hing ihm bis auf den Kragen seines purpurroten Wamses hinab. Sein Gesicht war scharf geschnitten und wirkte vornehm, obwohl er gebräunt war, als verbrächte er die meiste Zeit im Freien und nicht in den Gemächern des Palasts. Obwohl er glatt rasiert war, war der Schatten seines Bartes zu sehen. Sein weißer Perlenohrring stach deutlich von seiner dunklen Haut ab.

Sein Wams war modisch auf Figur geschnitten, sodass es seine breiten Schultern und seinen muskulösen Brustkorb betonte. Er war kein bleicher feister Höfling, sondern ein Krieger.

Wenn man den Gerüchten Glauben schenken durfte, verbrachte dieser Krieger viel Zeit auf dem Schlachtfeld der Liebe und machte Eroberungen in den Schlafgemächern.

Wie dem auch sei, Elisabeth konnte keine Romanze gebrauchen, genauso wenig wie Männer, die viel zu attraktiv und ganz offensichtlich sinnenfreudig waren – gleichgültig, was für Traumbilder ihr im Kopf herumspukten! Ihre Ehe war eine furchtbare Katastrophe gewesen, und nun war sie endlich frei, ihr Leben selbst zu gestalten.

Jedoch: Wenn sie die nötige Vorsicht walten ließe, wäre in ihrem Leben vielleicht Platz für Leidenschaft ohne Ehegelöbnis …? Nein, nicht für sie und schon gar nicht mit Edward Hartley.

„Wie kann es bei Hofe langweilig sein, Tante Bess?“, fragte Jane. Ihre Augen glänzten, während sie verträumt auf die Bühne hinunterschaute. Der Narr war von einem groß gewachsenen, wütend dreinblickenden Mann von der Bühne gezerrt worden. An seine Stelle waren die jungen Liebenden getreten, mit deren gemeinsamer Flucht die Handlung begonnen hatte. Sie hielten sich an den Händen und schauten einander tief in die Augen, während sie ihre ewige Liebe beschworen.

So etwas konnte nicht gut ausgehen.

„Du hörst immer nur die Geschichten von Bällen und Festumzügen, Jane, deshalb glaubst du, dass es bei Hofe jeden Tag so zugeht“, sagte Elisabeth. „Aber das stimmt nicht. Meistens versucht man nur, die Zeit totzuschlagen.“ Das musste auch der Grund für ihre lächerlichen Tagträume mit Edward Hartley in der Hauptrolle sein – sie langweilte sich ganz einfach. Sie musste wieder einmal auf Reisen gehen, das Haus neu herrichten, sich Ablenkung verschaffen.

„Es kann dort niemals so langweilig sein wie bei uns zu Hause“, sagte Jane und zog dabei einen Schmollmund. „Dort gibt es überhaupt nichts zu sehen oder zu tun. Niemanden, mit dem man reden kann. Wenn nicht –“

Jane unterbrach sich mitten im Satz. Sie war puterrot geworden.

„Wenn nicht was?“, fragte Elisabeth, die misstrauisch geworden war. Es sah ihrer Nichte gar nicht ähnlich, sich in Schwierigkeiten zu bringen – dafür wurde sie viel zu sehr behütet. Aber Langeweile konnte zu allerlei unliebsamen Situationen führen.

„Gar nichts, Tante Bess“, sagte Jane schnell. „Lass uns das Stück zu Ende ansehen. Ich möchte unbedingt wissen, was der gemeine Großvater als Nächstes im Schilde führt.“

Elisabeth nickte. Sie wollte das Mädchen in Ruhe die Komödie zu Ende anschauen lassen, doch anschließend wollte sie ein paar Antworten von ihr verlangen. Sie konnte nicht zulassen, dass Jane sich in Schwierigkeiten brachte.

Sie warf noch einen letzten Blick auf Edwards Loge, doch er war bereits verschwunden. Sein Platz war leer. Warum war sie deshalb enttäuscht? Mit einem Seufzer stützte sie den Arm auf die Balustrade und sah den Schauspielern zu. Es war ihr natürlich vollkommen gleichgültig, ob er da war oder nicht! Sie sah ihn oft genug bei Hofe, wo er den Damen schmeichelte und seine muskulöse Brust in seinem zu engen Wams präsentierte wie ein … ein Pfau.

Sie musste allerdings zugeben, dass diese Brust ein sehr schöner Anblick war. Schwertkampf, Fechten, Turniere – und Gerüchten zufolge auch Raufereien – hatten seine hochgewachsene Gestalt muskulös und hart gemacht, sodass er in seinen samtenen und ledernen Gewändern beinahe zu gut aussah.

Wie er wohl ohne sie aussah?

Hör sofort auf damit! befahl Elisabeth sich selbst. Sie ballte die behandschuhte Hand zur Faust und hieb mit ihr auf die hölzerne Balustrade, um sich in die Wirklichkeit zurückzuholen und nicht länger diesen albernen Fantasien nachzuhängen.

Wie Jane konzentrierte sie sich auf das Schauspiel und ließ sich von der Romanze und den wilden Auseinandersetzungen gefangen nehmen. Es war eine fesselnde Geschichte, sie stammte von dem berühmten Schriftsteller und Dichter Robert Alden und war voller tiefer Gefühle und Tragik, die zu Tränen rührte. Es endete mit einer schwungvollen Tanznummer. Eine Zeit lang hatte sie Edward Hartley sogar vollkommen vergessen.

Zumindest so lange, bis sie sich auf den engen Treppenstufen einen Weg durch die Masse von Menschen bahnen mussten, die alle gleichzeitig das Theater verlassen wollten. Jemand trat auf den Saum ihres Kleides und brachte sie damit ins Stolpern. Als sie vornüberfiel, geriet sie in Panik und streckte den Arm aus, um ihren Fall an der Wand abzufangen.

Statt der rau getünchten Wand jedoch traf ihre Hand auf den warmen Körper eines Menschen, der auf sicheren Beinen in der Menge stand. Starke Arme legten sich um sie, hoben sie auf und zogen sie aus dem Gewühl.

Ihr stockte der Atem. Elisabeth wurde fest an die hölzerne Vertäfelung einer Loge gedrückt, dabei hielt sie die Arme gezwungenermaßen um den Nacken des Mannes geschlungen. Im Zwielicht konnte sie das Gesicht ihres Retters kaum erkennen, nur den reichen Federschmuck seiner mit Perlen besetzten Kappe. Er hielt sie fest, als wöge sie nicht mehr als eine dieser Federn. Seine starken, muskulösen Arme hatte er dabei fest um ihre Taille geschlungen.

„Vielen Dank, Sir“, stieß sie hervor.

Er sah sie prüfend an – und es traf sie wie ein glühend heißes Eisen, als hätte ein Blitz das Schindeldach durchschlagen und wäre in sie hineingefahren. Derjenige, der sie dort festhielt, war niemand anderes als Edward Hartley. Sein muskulöser Körper wurde gegen sie gepresst. Seine grauen Augen glitzerten im Halbdunkel.

Sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Die Luft um sie herum schien Funken zu sprühen, dann wurde plötzlich alles still. Sie fühlte sich wie ein Vogel auf der Dachkante, zitternd vor Unsicherheit, ob er sich gleich in die Lüfte erheben oder zu Boden stürzen wird.

Sie fuhr ihm mit beiden Händen durchs Haar. Seidige Strähnen blieben dabei an ihren ledernen Handschuhen hängen, kringelten sich um ihre Finger. Er zog die Brauen zusammen, sein Kiefer zuckte unwillkürlich. Er hielt anscheinend ebenfalls den Atem an, als könne er die Spannung zwischen ihnen genauso spüren wie sie.

Langsam, ganz langsam ließ er sie auf den Boden sinken, dabei hielt er sie weiter eng an sich gedrückt. Sie nahm nur noch ihn wahr, seine Wärme, seinen frischen, maskulinen Duft, der sich in der Dunkelheit wie ein Mantel um sie legte.

Er neigte den Kopf zu ihr herunter, dabei lag ein Ausdruck um seinen Mund, als handele er gegen seinen eigenen Willen, könne aber nicht widerstehen. Sie waren einander in diesem Augenblick untrennbar verbunden. Sie fühlte es ebenso; sie konnte sich nicht von ihm abwenden.

Er streifte ihre Wange mit den Lippen, sein warmer Atem strich über ihre Haut. Sie seufzte tief und schloss die Augen, während sie sich ihm langsam näherte …

„Tante Bess! Wo bist du?“, hörte sie Jane draußen vor der Loge rufen. Es fühlte sich an, als hätte jemand sie mit eisigem Wasser übergossen, so plötzlich wurde sie aus der traumhaften Umarmung gerissen.

Entschlossen machte sich Elisabeth von Edward Hartley los. „Ich … Danke, Mylord“, flüsterte sie und eilte auf zitternden Beinen so schnell sie konnte zurück zu den Treppen.

Einen Augenblick lang stützte sie sich mit einer Hand an der Mauer ab, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Erst als sie sich gefangen hatte und wieder ruhiger war, wagte sie einen Blick zurück auf Edward, der noch immer im Türrahmen stand.

Er hatte ihr den Rücken zugekehrt und stand ganz still, den Unterarm an die Vertäfelung gelehnt. An seinem kleinen Finger steckte ein goldener Siegelring. Sie verspürte den Drang, zu ihm zurückzulaufen, um seine Lippen noch einmal auf ihrer Haut zu spüren.

„Tante Bess!“, rief Jane vom Fuß der Treppe. Elisabeth sah ein, wie unvernünftig sie sich aufführte.

Ich werde noch genauso albern wie die anderen Hofdamen werden, dachte sie niedergeschlagen. Sie musste diese Sehnsüchte sofort unterdrücken, ehe sie sich in ihnen verlor.

„Hier bin ich, Jane“, sagte sie und stieg eilig die Treppe hinab, die sich mittlerweile geleert hatte. Auf dem Treppenabsatz begegnete ihr ihre Nichte. Sie nahm Jane bei der Hand, und gemeinsam traten sie ins Tageslicht hinaus. Die Gerüche von Southwark – die stinkenden Abwassergräben und Kanäle, der beißende Qualm der Kamine, das Gedränge ungewaschener Leiber auf dem Vorplatz – ließen die Erinnerung an Edward verblassen und seinen Geruch verschwinden.

Beinahe.

Edward schloss die Augen und hörte, wie Elisabeth Gilbert vor ihm weglief und die Treppe hinunterhastete. All seine Sinne waren geschärft, auf einen einzigen Punkt konzentriert – sie. Er konnte das Rascheln ihrer Röcke hören, das Geräusch ihrer Schritte auf den Bodendielen und ihren leisen Atem. Er konnte immer noch den Rosenduft ihres Parfüms riechen, fühlte ihre weiche Haut noch immer unter seinen Händen.

Sein ganzer Körper war gespannt vor Verlangen, er sehnte sich danach, in ihrer Weichheit und Wärme zu versinken. Es war beinahe schmerzhaft, so sehr erregte sie ihn – ausgerechnet Elisabeth Gilbert, von allen Frauen auf der Welt!

Und sie hatte ihn auch gewollt, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, als sie sich selbst vergessen hatte – und vergessen hatte, wer er war. Er hatte es in ihren Augen gesehen, das Feuer in der Tiefe, hatte es in ihrem Körper gespürt. Als sie sich ihm zugeneigt hatte, mit leicht geöffneten Lippen …

„Himmel!“, murmelte er und schlug krachend mit der Faust gegen die Vertäfelung. Den Schmerz des Aufpralls spürte er kaum, so überwältigt war er von dem Verlangen nach ihr.

Wie hatte ihm nur bisher entgehen können, wie schön sie war? Welches Begehren sich hinter ihrer korrekten, eisigen Fassade verbarg?

Verdammt, eine solche Ablenkung konnte er gerade jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Nicht jetzt, wo er so kurz davor stand, endlich Rache zu üben.

„Hier bist du“, hörte er Rob Alden sagen. Die Stiefel seines Freundes klangen laut auf der Treppe, als er vom Schauspielerbereich hinter der Bühne zurückkam. „Bist du bereit für einen Besuch bei Mutter Nan? Ich habe gehört, sie hat ein neues Mädchen, das über ganz besonderes Talent verfügt …“

Wenn sich das nicht vielversprechend anhörte! Genau das brauchte Edward, um die Gedanken an Elisabeth Gilberts sanfte Lippen und ihre schlanke Taille zu vertreiben. Daran, wie sie ihn nackt in ihrem zerwühlten Bett erwarten oder vor ihm knien würde.

Mutter Nans Mädchen waren die hübschesten. Vielleicht hatte sie eine mit rotbraunem Haar und elegantem Auftreten. Doch wie sehr er sich auch bemühte, er wusste bereits, dass die Vorstellung von Elisabeth in seinem Bett ihn nicht loslassen würde. Sie war noch immer da, schaute ihn an, wartete, und kein Ersatz würde daran etwas ändern. Mutter Nan und ihre albernen Gänse würden ihn heute nicht zufriedenstellen.

„Vielleicht ein andermal, Rob“, sagte er und machte sich bereit zu gehen. „Ich habe noch ein paar wichtige Dinge zu erledigen.“

3. KAPITEL

Also, Jane. Erzähl mir, was vorgefallen ist.“

Elisabeth sah Jane eindringlich an, die sich auf ihrem Sitz in der Kutsche wand und ihre behandschuhten Finger anstarrte. „Ich … ich weiß nicht, was du meinst, Tante Bess.“

„Oh, meine Liebe, du bist eine furchtbare Lügnerin“, sagte Elisabeth mit einem Lächeln. Ihre Nichte verkehrte ganz offensichtlich nicht in höfischer Gesellschaft, in der das Verdrehen von Tatsachen und Täuschungen eine Kunstform waren. Dort würde niemand seine wahren Gefühle offenbaren, denn das wäre sein sicherer Untergang. Sie selbst war gezwungenermaßen äußerst geschickt darin geworden, Gelassenheit zur Schau zu stellen. Andernfalls hätte sie sich nie so schnell vom Zusammenstoß mit Sir Edward erholt.

Zumindest äußerlich war ihr nichts mehr anzumerken. Innerlich war sie jedoch noch immer aufgewühlt.

„Sag mir, Jane“, drängte sie. „Ist etwas passiert?“

Das Mädchen konnte ein Schluchzen nicht länger unterdrücken. „Oh, Tante Bess! Es ist das Schlimmste, das Furchtbarste passiert.“

Elisabeth war beunruhigt, sie nahm die Hand des Mädchens und drückte sie. Sie war selbst nicht mit Kindern gesegnet, daher war Jane fast wie eine Tochter für sie. Sie standen sich sehr nahe, und der Gedanke, dass ihrer Nichte etwas zustoßen könnte, war ihr unerträglich. „Bist du krank?“

Jane schüttelte den Kopf. „Wenn es nur das wäre. Nein, ich bin verliebt!“

Elisabeth hätte vor Erleichterung beinahe laut aufgelacht. Aber ihre Nichte blickte so unglücklich drein, dass sie sich das Lachen verkniff. Damit hätte sie alles nur schlimmer gemacht. „Jane, Liebling. Ist das alles?“

„Alles? Tante Bess, es ist schrecklich!“, rief sie. „Meine Eltern wollen, dass ich Sir Thomas Sheldon heirate. Sie hören mir nicht einmal zu, wenn ich sage, dass ich mich bereits mit Walter verlobt habe. Sie haben mich letzte Woche beim Abendessen auf Sir Thomas’ Anwesen zur Verlobung mit ihm gezwungen. Es war schrecklich!“

Sir Thomas Sheldon. Elisabeth überlief es eiskalt. Niemals! Selbst ihr Schwager konnte doch nicht derart grausam sein? Die liebe, unschuldige Jane, verheiratet mit Sheldon? Sein Ruf eilte ihm in ganz London voraus. Er war grausam und kaltherzig, selbst nach den Maßstäben des Hofes. Er zerstörte das Leben Unschuldiger und eignete sich Vermögen an, wo immer er konnte, er war bereits zwei Mal verheiratet gewesen und hatte seine beiden Ehefrauen beerdigt. Hinter vorgehaltener Hand hieß es, sie seien an den Folgen seiner Misshandlungen gestorben. Aber er war gerissen und hatte noch keines Verbrechens überführt werden können. Sein unermessliches Vermögen schützte ihn.

Jane durfte ihn nicht heiraten! Sie hatte recht – es war wirklich entsetzlich.

„Er hat ihnen eine Menge Geld für meine Hand geboten“, berichtete Jane schluchzend. „Und Walter …“

Elisabeths Gedanken kreisten noch immer darum, dass ihre Nichte an einen Lustmolch und Betrüger verschachert werden sollte. „Wer ist Walter?“

Ein Funke Hoffnung ließ Janes Miene sich aufhellen, sie lächelte. „Walter Fitzsimmons. Oh, Tante Bess, er ist ein wunderbarer Mann! Er ist der Neffe des Viscount of Carrick, und er hat eine gute Position und eigene Ländereien – wenn er auch nicht so wohlhabend ist wie Sir Thomas. Ich habe Walter in der Stadt kennengelernt, als Mama mich eines Tages allein mit meiner Zofe hatte gehen lassen. Seitdem haben wir uns heimlich getroffen. Er sieht gut aus, und er ist so gut zu mir! Er will mich heiraten, und ich bin sicher, dass wir zusammen glücklich wären.“

„Aber deine Eltern sind dagegen?“

„Sie wollen Walter nicht einmal kennenlernen, und sie wollen mich nicht einmal anhören!“ Schluchzend sank sie an Elisabeths Schulter zusammen. „Walter wird bald auf eine Reise nach Frankreich und Italien gehen, und wenn er zurückkommt, bin ich bestimmt schon verheiratet. Oh, Tante Bess, was soll ich nur tun?“

Elisabeth streichelte sanft die zuckenden Schultern ihrer Nichte. „Ganz ruhig, Liebes, weine doch nicht. Es wird sich alles zum Guten wenden.“

„Aber wie? Ich werde sterben, wenn ich Sir Thomas wirklich heiraten muss! Wie er mich ansieht, das ist so – widerlich.“

Elisabeth konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie sich in Janes Alter gefühlt hatte, voller romantischer Hoffnungen und Träume. Und sie wusste auch noch genau, wie es sich anfühlte, wenn diese Träume im Bett eines alten Mannes zerbrachen. Die Seele eines Mädchens starb langsam ab, Tag für Tag, Stück für Stück, bis nur noch Kälte übrig war.

Sie hatte keinen Walter gehabt, der sie hätte retten können; sie hatte sich nur auf sich selbst verlassen können. Sie hatte überlebt, aber Jane war zerbrechlicher. Und Thomas Sheldon war ein echter Schurke.

Elisabeth drückte das Mädchen fest an sich, während sie fieberhaft nach einer Lösung suchte. Jane war wie eine Tochter für sie, sie würde sie retten, und wenn sie es dazu mit der ganzen Welt aufnehmen musste.

„Du sagst, der junge Walter wird bald nach Frankreich fahren?“, fragte Elisabeth zögernd.

„Ja, in nicht einmal einer Woche“, flüsterte Jane.

„Ich nehme an, er hat einen Pass für sich selbst und mindestens einen Dienstboten?“

Jane setzte sich langsam auf, sie blinzelte durch die Tränen hindurch. „Ich … Ich nehme es an.“

In Elisabeths Kopf begann sich ein Plan abzuzeichnen, der wahrscheinlich einem Theaterstück ähnelte. Er war riskant und gefährlich, aber er konnte gelingen.

„Dann hör mir gut zu, Jane“, sagte sie und fasste ihre Nichte dabei fest an den Schultern. „Ich werde deine Mutter überreden, dich ein paar Tage bei mir übernachten zu lassen, ehe Walter aufbricht. Nimm alles Geld und allen Schmuck, den du auftreiben kannst, und wir werden dir die Kleider eines Pagen besorgen müssen. Sende eine Nachricht an Walter. Er soll sich bereit machen, auf mein Wort hin zu fliehen.“

„Ich habe es von einem Freund gehört, der in den Diensten ihres Vaters steht“, sagte Rob Alden und ließ sich gegenüber von Edward auf der Bank in der Taverne nieder. „Sie besucht ihre Tante, die ein Haus an der Themse besitzt, es steht schon eine Kutsche bereit.“

„Verdammt, Rob, kennst du eigentlich jeden in London?“, fragte Edward. Er schenkte aus dem großen Krug, aus dem er bereits getrunken hatte, Bier in einen Becher und schob ihn seinem Freund hinüber.

Rob lachte. „Einem Mann in meiner Stellung können alle Verbindungen nützlich sein. Aber alles Weitere überlasse ich dir.“

Ihm überlassen. Edward nahm einen großen Schluck aus dem Bierkrug. Er hatte so lange auf diesen Moment gewartet, und nun war er zum Greifen nah. Er musste zuschlagen.

„Die Tante mit dem Haus an der Themse“, sagte er, „ist nicht zufällig Lady Elisabeth Gilbert, oder doch?“

„Eben dieselbe. Kennst du sie?“

Er kannte sie nicht so gut, wie er es sich gewünscht hätte. Er sah sie vor sich, wie er sie im Theater in den Armen gehalten hatte, wie sie ihn mit glühenden Augen angesehen hatte, als er sie in einem unvorbereiteten Moment erwischt hatte. Es war vollkommen absurd, sich nach Elisabeth Gilbert zu sehnen, wie er es tat! Die kühle, gelassene, unberührbare Witwe. Er hatte einfach zu lange keine Frau mehr gehabt, das war alles.

„Es wird nicht einfach, ihr das Mädchen zu entziehen“, sagte Edward.

„Ist sie so ein Drachen?“

„Aus deren Fingern Eiszapfen wachsen.“

„Nun gut, mein Freund könnte sich für eine hübsche Summe dazu überreden lassen, den Kutscher aufzuhalten“, schlug Rob vor. „Ein schneller Austausch, wenn Miss Courtwright anhält, um eine Erfrischung zu sich zu nehmen …“

Edward hätte beinahe laut gelacht. Er stand bei Hofe, insbesondere unter den Hofdamen, im Ruf, ein Draufgänger zu sein, aber er hätte sich niemals vorgestellt, dass er einmal so tief sinken könnte, eine junge Dame zu entführen. Es gab viel zu viele, die freiwillig mit ihm gingen, um zu solchen Mitteln zu greifen. Aber er würde tun, was zu tun war – damit sein Bruder endlich in Frieden ruhen konnte.

„Rob“, sagte er. „Ich glaube, das ist der Anfang eines ausgezeichneten Plans.“

4. KAPITEL

Elisabeth schlug die Kapuze zurück, damit sie besser aus dem Fenster der Kutsche sehen konnte. Das Schiff mit Jane und ihrem zukünftigen Ehemann an Bord legte ab und machte sich auf den Weg flussabwärts in Richtung Meer. Wenn ihre Eltern merkten, dass Jane verschwunden war, würden sie sich bereits auf dem Weg nach Frankreich befinden, und die Eheschließung wäre längst vollzogen.

Und sobald Elisabeth selbst sicher zurück bei Hofe war, würde sie von nichts mehr wissen.

„Wir sind dreist getäuscht worden“, flüsterte sie und versuchte dabei, so schockiert und entsetzt wie möglich zu klingen. Dann lachte sie und schickte dem Schiff eine Kusshand hinterher. „Gott schütze dich, meine liebe Nichte. Mögest du dein Glück finden.“ Sie deponierte den kleinen Stapel Papiere, die Jane ihr überlassen hatte, zu ihren Füßen unter dem Sitz. Jane hatte sie gebeten, sie sicher aufzubewahren. Sie hatte sie von Sir Thomas’ Schreibtisch genommen, als sie mit ihren Eltern zu der schicksalhaften Verlobungsfeier in seinem Hause gewesen war. Jetzt war Elisabeth zu müde, um einen Blick auf die Papiere zu werfen.

Sie lehnte sich in die weichen Sitzpolster zurück und schloss die Augen. In den letzten Tagen war sie fieberhaft tätig gewesen. Sie hatte Pläne geschmiedet und Verabredungen getroffen, dabei war sie bis eben nicht sicher gewesen, dass ihre Scharade funktionieren würde. Jetzt, da Jane in Sicherheit war, fühlte Elisabeth sich sehr erschöpft.

Draußen war es inzwischen dunkle Nacht, höchste Zeit also, dass sie sich auf den Heimweg machte. Es würde so still zu Hause sein, wenn Jane nicht mehr bei ihr war. Ihr ganzes Leben würde jetzt sehr ruhig verlaufen. In Ruhe und Frieden und – Langeweile?

Plötzlich hörte sie einen lauten Schlag über sich, die Kutsche geriet ins Wanken. Erschrocken öffnete Elisabeth das Fenster und lugte nach draußen.

„Ist alles in Ordnung?“, rief sie. Sie konnte in der Dunkelheit eben noch die Silhouette des dick eingemummten Kutschers erkennen.

„Es ist alles in Ordnung, Madam“, sagte er mit rauer Stimme.

„Dann fahren wir jetzt nach Hause“, sagte sie. Sie lehnte sich wieder zurück, und die Kutsche setzte sich langsam in Bewegung.

Das gleichmäßige Schaukeln machte Elisabeth schläfrig – nach einiger Zeit wurde sie jedoch plötzlich hellwach und versuchte zu erkennen, wie weit sie gekommen waren. Alles, was sie draußen erkennen konnte, waren jedoch die Umrisse von Bäumen im Mondlicht. Sie sah keinen Menschen, keine Fackeln und keine Häuser.

Sie waren nicht mehr in London.

Eine Welle von Panik überkam Elisabeth. Sie wurde entführt! Sie pochte an die Tür und rief: „Halten Sie sofort an! Drehen Sie um!“

Die Kutsche beschleunigte jedoch das Tempo und holperte so heftig über die unebene Landstraße, dass Elisabeth aus ihrem Sitz geschleudert wurde. Sie schrie aus voller Kraft und trat gegen die Tür, aber sie war gefangen. Selbst wenn sie es schaffte, die Tür zu öffnen, würde sie sich bei dieser rasanten Fahrt in den sicheren Tod stürzen.

Plötzlich überkam sie Furcht davor, dass das immer noch besser sein könnte, als das, was sie am Ende der Reise erwartete.

„Wie ist das möglich?“, seufzte sie, während sie sich zurück in den Sitz hievte. Sie hatte die schrecklichen Geschichten von Entführungen und Vergewaltigungen gehört. Aber normalerweise traf es junge Erbinnen, die dazu gezwungen werden sollten, ihre Entführer zu heiraten, sodass diese an ihr Vermögen herankamen.

Sie war doch keine Jungfrau mit großem Familienvermögen.

Vergeblich schrie sie, bis sie keine Stimme mehr hatte. Schließlich kam die Kutsche auf einer Lichtung tief im Wald zum Stehen. Die plötzliche Stille war beinahe noch unheimlicher als die rasante Fahrt. Was mochte sie hier erwarten?

Elisabeth zog ihren Umhang fest um sich und rückte so weit zurück in die Sitzpolster, wie sie konnte. Sie hatte sich nie für feige gehalten; um in der gnadenlosen höfischen Gesellschaft voranzukommen, musste man stark sein. Doch jetzt zitterte sie wie Espenlaub.

Jäh wurde die Tür der Kutsche aufgerissen, und in der Öffnung stand eine hochgewachsene, schwarz gewandete Gestalt. Im bleichen Licht des Mondes konnte sie nur seine Silhouette erkennen. Sein Gesicht war mit einem Tuch verhüllt. Aber sie konnte sehr wohl erkennen, wie breit seine Schultern und wie lang und kräftig seine Beine waren. Sie würde ihn weder bekämpfen noch vor ihm weglaufen können.

Sie war entschlossen, es dennoch um jeden Preis zu versuchen.

„Mein aufrichtiges Bedauern für die unbequeme Reise, Madam“, sagte er mit heiserer Stimme. Seine geschliffene Aussprache verriet seine edle Herkunft. Das war kein normaler Räuber oder Hafenarbeiter. „Ich fürchtete, Ihr würdet meine Einladung andernfalls ausschlagen.“

Elisabeth holte tief Atem und nahm all ihren Mut und ihre Würde zusammen. „Was hat das alles zu bedeuten?“, fragte sie gebieterisch. „Ich bestehe darauf, dass Ihr mich sofort nach London zurückbringt.“

„Leider ist das nicht möglich“, antwortete der Mann. „Aber Ihr habt nichts zu befürchten. Es wird euch kein Leid geschehen.“

Kein Leid? Was dachte sich der Kerl, was ihre Entführung war? Ein Auflodern von Wut verdrängte ihre Furcht. „Dreckiger Bastard!“, rief sie. Sie stürzte sich so plötzlich auf ihn, dass er nicht mehr ausweichen konnte. Ihre Fingernägel bohrten sich in seine Wangen, und sie riss ihm das Tuch vom Gesicht. Sie umklammerte seinen Hals fest mit beiden Armen, dabei wand sie sich und trat nach ihm.

„Furie!“, brüllte er, umschlang mit eisernem Griff ihre Taille und hob sie vom Boden auf.

Im Mondlicht konnte sie sein Gesicht sehen. Erschrocken erkannte sie ihren Entführer als Lord Edward Hartley.

In ihre Furcht und ihre rasende Wut mischten sich unerwartet fremde und vollkommen unangemessene Gefühle.

Erregung. Begehren.

„Ihr!“, rief sie atemlos. „Edward Hartley. Es heißt, Ihr seid ein Unhold, wie er im Buche steht, aber das hätte ich Euch nicht zugetraut.“

Er starrte sie an. Die Kratzer, die sie ihm zugefügt hatte, stachen von seinem Gesicht ab, das plötzlich bleich geworden war. Er war schockiert. „Bei allem, was mir heilig ist. Das kann nicht sein.“

5. KAPITEL

Fahrt zur Hölle! Lasst mich sofort frei! Die Königin wird von diesem Vorfall erfahren, das versichere ich Euch.“

Edward schritt nervös in dem kleinen Landhaus auf und ab. Er wollte seine Wut an irgendetwas auslassen, mit der Faust auf etwas einschlagen oder die Wand eintreten – er hätte alles darum gegeben, die Zeit zurückdrehen und seinen Irrtum korrigieren zu können. Doch er durfte sich jetzt nicht von seiner Wut leiten lassen, er musste ruhig und sachlich nachdenken, wie er diesen Schlamassel bereinigen konnte.

Elisabeth Gilberts laute Rufe aus der Schlafkammer störten ihn beim Nachdenken. Sie hämmerte mit den Fäusten gegen die alte, verwitterte Holzvertäfelung und schrie aus vollem Halse.

Als er erkannt hatte, dass sie die falsche Frau entführt hatten, dass sich Elisabeth Gilbert in seiner Gewalt befand und nicht Jane Courtwright, hatte er ihr seinen Umhang über den Kopf geworfen und sie in das kleine Haus getragen. Aber es war bereits zu spät – sie hatte ihn erkannt. Er hatte an ihrem Blick gesehen, dass sie wusste, wer er war, noch bevor sie seinen Namen ausgesprochen hatte.

Die Beute war ihm entwischt, wer weiß wohin, die Gelegenheit zur Rache hatte sich in Luft aufgelöst – und nun musste er sich mit Elisabeth Gilbert herumschlagen. Selbst unter günstigeren Umständen war sie weder folgsam noch still.

Er war ein verdammter Narr gewesen, ein Dummkopf, wenn er geglaubt hatte, dass der Plan aufgehen würde.

„Ich habe Euch gleich erkannt“, rief sie durch die Tür. „Ich verlange zu wissen, was diese Schurkerei zu bedeuten hat!“

Das war ihm in diesem Moment selbst nicht mehr ganz klar, für einen Augenblick hatte er beinahe vergessen, wie der ursprüngliche Plan ausgesehen hatte. Er musste schnell etwas unternehmen, ehe die ganze Sache in einer Katastrophe endete und alles verloren war.

Also ging Edward zur Tür und warf entschlossen den Riegel zurück. Er öffnete die Tür so schwungvoll, dass Elisabeth auf das Bett geschleudert wurde. Fackelschein fiel auf sie, sodass er sah, dass ihr Haar sich aus dem Netz gelöst hatte und wie eine dunkle Wolke auf ihre Schultern fiel. Ihr Umhang lag zusammengeknüllt am Boden, und ein Ärmel ihres Kleides war zerrissen. Darunter kam ein leinenes Unterkleid zum Vorschein. Auf einer ihrer blassen Wangen zeichnete sich ein deutlicher Schmutzstreifen ab.

Ihre Augen waren weit aufgerissen vor Furcht. Sie sah nicht länger wie eine ruhige, gefasste Hofdame aus, die unerschütterlich mit kühler Miene durch die Säle von Whitehall schritt. Sie sah sehr jung und verletzlich aus – und wunderschön.

Die Furcht in ihren Augen traf ihn wie ein Pfeil. Sein Gewissen regte sich. Das hatte es seit einer Ewigkeit nicht mehr getan.

Er kümmerte sich jedoch nicht um die Reue, die in ihm aufstieg. Er wappnete sich innerlich gegen sie und diese ganze verfahrene Situation und lehnte sich mit unbewegter Miene an den Türrahmen. Die Arme vor der Brust verschränkt, sah er Elisabeth dabei zu, wie sie langsam aufstand.

Sie schluckte schwer, ihr zarter weißer Hals zitterte, als sie das Kinn hob, um ihn wütend anzusehen. Sie weigerte sich aufzugeben, so sehr sie auch in die Ecke gedrängt war.

Diese Unerschrockenheit machte sie umso schöner.

„Was hat das alles zu bedeuten?“, sagte sie. „Habt Ihr vor, ein Lösegeld für mich zu erpressen? Habt Ihr Spielschulden, die Ihr nicht bezahlen könnt, eine Mätresse, die sich ein neues Spielzeug wünscht, das Ihr Euch nicht leisten könnt?“

So dachte sie also von ihm. Nach allem, was ihm im Leben schon begegnet war, und nach dem, was er um Jamies willen hatte erleiden müssen, hatte Edward geglaubt, nichts könne ihn mehr treffen. Doch die Verachtung in Lady Elisabeths Stimme berührte ihn seltsam.

Sie machte ihn aber auch wütend.

„Ich bin kein Tagedieb, Lady Elisabeth“, sagte er. „Es handelt sich hier um einen Irrtum, den ich sofort korrigieren werde.“

„Einen Irrtum?“ Sie lachte verächtlich. „Der große Lord Edward Hartley, Liebling des Hofes, hat sich geirrt?“

Ein Lächeln umspielte ihren Mund – diese vollen roten Lippen, die ihrer kühlen Haltung so deutlich widersprachen. Die Lippen, die er in seiner Vorstellung geküsst, geschmeckt, genossen hatte. Ihr Lächeln brachte ihn aus der Fassung.

Er sprang auf sie zu und packte sie bei den Schultern, zog sie auf die Füße und drückte sie an sich. Ihr Lächeln verschwand, doch zu seinem großen Erstaunen versuchte sie nicht, sich aus seinem Griff zu befreien. Sie lehnte sich an ihn, ihre Hände strichen dabei über seine Brust.

„Ihr seid die falsche Frau“, sagte er heiser.

Die falsche Frau?

Elisabeth starrte Edward ungläubig an. Sie war entführt und vor Angst beinahe verrückt geworden, war schockiert von seinem Auftauchen – ihr Geist konnte mit den widersprüchlichen Gefühlen kaum Schritt halten. Und alles, weil er die falsche Frau erwischt hatte?

Sie wurde von einer rasenden Wut erfasst – seltsamerweise war sie aber vor allem wütend, weil sie nicht diejenige war, die er wirklich gewollt hatte.

Im flackernden Licht der Fackeln versuchte sie seine Gesichtszüge zu deuten. Seine Miene, seine eleganten edlen Züge, die sie so widerwillig bewunderte, waren zu einer kalten, harten Maske erstarrt. Er hielt sie an sich gedrückt und gab nicht nach. Er hielt ihre Schultern fest gepackt, so als könne er sie nicht loslassen, aber sie hätte sich selbst dann nicht bewegen können, wenn sie es gewollt hätte. Sie war von seinen hellgrauen Augen in den Bann gezogen worden.

Sein schwarzes Wams war geöffnet, unter Samt und Leder kam ein Hemd zum Vorschein, dessen Bänder sich gelöst hatten. Darunter sah sie seine glatte gebräunte Haut. Elisabeth grub langsam die Finger in das weiche Leinen, sie spürte die Wärme seiner Haut unter ihren Händen. Er zog die Augenbrauen zusammen, und sie sah, wie sich seine Halsmuskulatur bewegte. Er umfasste ihre Schultern noch fester.

Also war sie ihm auch nicht vollkommen gleichgültig. Sie lächelte, als sie das erkannte.

Die Dunkelheit dort draußen, das merkwürdige kleine Haus mitten im Wald und seine Nähe schnitten sie von der wirklichen Welt ab, ihr normales Leben hatte plötzlich keine Bedeutung mehr. Ihre seltsame Lage verstellte ihr den Blick auf die Zukunft, ließ die Sorgfalt und die Vorsicht, mit der sie ihr bisheriges Leben geführt hatte, von ihr abfallen. Sie lebte nur noch in diesem Moment und hatte das Gefühl, eine vollkommen andere zu sein.

Vielleicht war die falsche Frau in anderer Hinsicht genau die richtige.

Sie ließ den Blick über seinen Hals schweifen, über die bloße Haut, die unter seinem offenen Hemd zum Vorschein kam. Eine Schweißperle glänzte unter der Wölbung seiner Brustmuskeln wie ein Edelstein, und sie beugte sich vor, um ihre salzige Süße mit der Zungenspitze einzufangen. Der Geschmack erinnerte sie an die Sommersonne, und sie wusste, dass sie ihn küssen musste. Ihre Wut war verflogen und hatte einer wilden Woge von Lust Platz gemacht.

Sie war wirklich nicht sie selbst in dieser Nacht.

Kaum hatte sie mit den Lippen seine Haut berührt, als Edward einen tiefen und wilden Laut ausstieß und sie von sich fort schob. Doch er ließ sie nicht aus seinem Griff. Seine Hand packte ihre Schulter nur fester, und er drehte sie herum, um sie gegen die Wand zu pressen. Er war ihr so nah, dass sie sein Feuer und seine rohe Kraft spüren konnte.

Sie hörte ein heftiges Krachen über dem Kopf und dachte für einen Augenblick, der Laut käme von ihrem Herzen. Doch dann erkannte sie, dass der Donner von draußen kam, ein Gewitter zog auf. Die hohen schmalen Fenster wurden von zuckenden Blitzen erleuchtet.

Der Sturm ihrer Gefühle stand dem jedoch in nichts nach.

Elisabeth hielt ganz still, sie wagte kaum zu atmen, während sie zu Edward aufsah. Seine hellen grauen Augen glommen vor Wut und Leidenschaft; seine Hände waren rau, sie verletzten sie beinahe, so fest hielt er sie an den Schultern. Sie wusste, dass jetzt der Moment gekommen war, um davonzulaufen, aber sie konnte sich nicht bewegen. Sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden.

Er schien von ihr genauso gefangen zu sein wie sie von ihm. Sie spürte seine Anspannung und seinen schweren Atem. Sie starrte seinen Mund an, die sinnlichen Lippen, und sie wollte sie spüren. Als sie sich an ihn schmiegte, wurde sein Griff sanfter. Er ließ die Hände langsam an ihren Armen hinabgleiten und verschränkte seine Finger mit ihren. Dabei hielt er sie genau dort an der Wand an sich gedrückt.

Er öffnete leicht die Lippen, als er sich zu ihr hinunterbeugte. Elisabeth erschauerte und presste sich an ihn. Sie war seine Gefangene, aber sie würde ihn auch zu ihrem Gefangenen machen.

Endlich küsste er sie, liebkoste die weiche, zarte Haut direkt unter ihrem Ohr, berührte diese empfindliche Stelle sanft mit der Zunge.

Ihr stockte der Atem angesichts der heißen Welle reinen Verlangens, die sie überkam. Ihre Finger umklammerten die seinen, und sie schloss die Augen. Seine warmen Lippen glitten sanft ihren Hals hinab. Er biss ihr spielerisch in die Schulter, sie konnte dabei seinen Atem auf ihrer Haut fühlen, und ihr wurden die Knie weich.

Er hielt sie aufrecht, indem er ihre Taille umfasste. Er hielt sie gegen die Wand gedrückt, und sie schlang die Beine um seine Hüften, damit sie nicht fiel. Der Raum drehte sich um sie. So hatte sie sich noch nie gefühlt. Schwach und mächtig zugleich.

Ihre Lippen trafen sich, grob und voll drängendem Verlangen. Sie spürte den Druck seiner Zunge und öffnete hungrig die Lippen. Sie vergrub ihre Finger in seinen Haaren, um ihn noch näher bei sich zu spüren.

Er stöhnte auf, als ihre Zunge neckend die seine berührte, und sein Verlangen steigerte ihre eigene Lust. Ungeduldig schob sie sein Hemd zur Seite, um seine nackte Haut spüren zu können. Er fühlte sich an wie warme Seide, die über Stahl gespannt war. Sie spürte sein raues Brusthaar und eine Narbe an der Schulter unter ihren Fingern. Sie fühlte seinen Herzschlag, schnell und lebendig.

Es war so lange her, dass sie sich lebendig gefühlt hatte. Sie erwiderte seinen Kuss mit der ganzen Leidenschaft, die sie so lange unterdrückt hatte, trunken von dem Wunder, das sie gerade erlebte. Sie spürte sich wieder! Er ließ sie sich wieder spüren.

Erneut küsste er sie leidenschaftlich. Sein Kuss hatte nichts Gekünsteltes, wie sie es von einem Höfling erwartet hätte. Sie spürte nur das gleiche ungezähmte Verlangen, das auch sie empfand. Sie verlor sich in ihm.

Er löste die Lippen von ihrem Mund und küsste ihre Wange und ihr Kinn, dann ihren Hals, wo der Kragen ihres Kleides ihre Haut verdeckte.

„Ihr seid sicherlich hierhergeschickt worden, um mich in den Wahnsinn zu treiben“, murmelte er.

„Dann sind wir mit Gewissheit beide wahnsinnig“, flüsterte Elisabeth.

Er schlang die Arme enger um sie. Ihre Röcke fielen zur Seite, und genau über ihrem Strumpfband konnte sie seine Erregung spüren. Er wollte sie also ebenso sehr wie sie ihn.

Er küsste sie noch einmal mit dem gleichen heißen Verlangen, sodass sich wieder alles um sie herum drehte. Dieses Mal jedoch drehte es sich tatsächlich, denn sie sanken miteinander aufs Bett. Dabei spreizte sie die Beine, und er kam dazwischen zu liegen, schwer und verführerisch.

Im Strudel ihrer Küsse nahm sie zuerst nur am Rande wahr, dass er mit der Hand über ihre Hüfte strich und nach ihren Röcken griff. Er schob sie höher, bis er fingerfertig ihr Strumpfband lösen und ihre nackte Haut berühren konnte.

Die gegenseitige Berührung ihrer nackten Haut fühlte sich wunderbar an. Elisabeth schlang die Beine enger um seine Hüften. Sie fühlte den rauen Wollstoff seiner Hosen und erschauerte vor Begehren.

Er berührte ihren Hals mit seinen Lippen, und sie lehnte den Kopf zurück, um ihn so nah wie möglich an sich heranzulassen. Mit den Fingerspitzen zeichnete er den Schwung ihrer Lippen nach und öffnete dann ihr Mieder, um das dünne Hemd darunter zu enthüllen.

Sie konnte seine Wimpern spüren, als er mit der Zunge dem Rand ihres Hemdchens bis in die Vertiefung zwischen ihren Brüsten folgte. Sie fühlte, wie er mit den Zähnen diese empfindliche Stelle berührte und sie dann aber sanft dort küsste. Ihre Brust, ihr ganzer Körper war gespannt und schwer vor Erregung. Ihr Verlangen wurde so stark, dass es beinahe schmerzte.

Er fuhr mit den Fingern unter den Rand ihres Hemds und zog es herunter, um ihre Brust zu befreien.

Elisabeth öffnete die Augen vor Überraschung über den kühlen Luftzug auf ihrer Haut, sodass sie sah, mit welch brennendem Verlangen Edward sie betrachtete.

„Du bist so wunderschön“, sagte er mit heiserer Stimme. Die vertrauliche Anrede kam ihm wie selbstverständlich über die Lippen, fühlte sich gut und richtig an. „Wie kann es sein, dass du das vor der Welt verbirgst?“

Er beugte sich zu ihr hinunter und umspielte eine ihrer Brustspitzen mit seinen Lippen.

Sie schrie auf und krallte die Finger in sein Haar, um ihn so nahe wie möglich an sich zu ziehen. Doch er entwand sich ihrem Griff, legte den Kopf an ihre Schulter und liebkoste noch einmal ihre Oberschenkel mit seinen Händen. Mit einer Fingerspitze strich er suchend über ihren Schoß, bis er zu ihrer intimsten Stelle vorstieß, und sie stöhnte laut vor Verlangen, als er sie dort berührte.

„Jetzt, ja“, flüsterte sie.

„Ich hatte gehofft, dass du das sagst“, antwortete er. Zärtlich neckte er sie weiter, während er die Knöpfe seiner Hose öffnete. Dann endlich kam er zu ihr und drang in sie ein.

Als Elisabeth sich verspannte, hielt Edward einen Moment inne. Sie war schon lange nicht mehr mit einem Mann zusammen gewesen und hatte sich dabei noch nie so gefühlt wie in diesem Moment. Langsam verebbte die Anspannung und wich der reinen Lust, die sich glühend und schwer in ihr ausbreitete, bis Elisabeth nichts anderes mehr empfand. Sie schlang die Beine fest um seine Hüften und bog den Rücken durch, um Edward tiefer in sich spüren zu können.

Er zog sich langsam, Stück für Stück, zurück, bis sie ihn beinahe gar nicht mehr fühlen konnte. Sie protestierte leise, bis er wieder zurückkam, tiefer und fester als zuvor.

Elisabeth biss sich auf die Lippe, um nicht laut aufzuschreien, aber der Laut entfuhr ihr in einer Welle von Leidenschaft. Sie fühlte sich, als fiele sie in ein Feuer, das aber nicht brannte, sondern um sie herum Funken reiner, wunderbarer Lust versprühte. Edward bewegte sich schneller, entschlossener und härter. Die Welt um sie herum versank, und sie hörte ein Summen in der Luft, das lauter und lauter wurde, bis die Ekstase sie überwältigte.

Sie gab sich den Kaskaden ihres Höhepunktes hin, fühlte sich, als würde sie zu den Sternen emporgetragen, in eine wunderbare, unendliche Weite, in der sie zu schweben schien.

Über ihr spannte sich Edward an und stieß einen lautlosen Schrei aus. Sie fühlte, wie die Muskeln seiner Schultern unter ihrer Berührung zuckten, und er legte den Kopf in den Nacken, auf dem Gesicht einen Ausdruck animalischer Lust.

Befriedigt sank er neben ihr aufs Bett, ihre Arme, Beine und Kleider waren ineinander verschlungen. Elisabeth fühlte den sanften Strom seines Atems an ihrem Hals, warm und rhythmisch, ihre eigenen Atemzüge hingegen gingen noch immer schnell und unregelmäßig. Ihr Herz pochte laut in ihren Ohren, während sie fühlte, wie sie langsam auf die Erde zurücksank.

Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie sich so herrlich erschöpft gefühlt.

Elisabeth öffnete die Augen und sah hinauf zu den Balken der niedrigen Decke. Edwards Atem wurde ruhiger, als würde er neben ihr in den Schlaf hinübergleiten, die Wirklichkeit kehrte langsam zurück. Aber dafür war sie nicht bereit. Jetzt noch nicht. Jetzt sehnte sie sich danach, im Schlaf und im Dunkel der Nacht alles andere zu vergessen.

Sie strich ihre Kleider glatt, um ihre nackte, prickelnde Haut zu bedecken, und streckte den Arm nach den Decken aus. Die Kälte der Nacht umfing sie, und sie konnte hören, wie der Regen von außen gegen die Wände des Häuschens peitschte. In der Ferne vernahm sie Donnergrollen. Ohne die Augen zu öffnen, griff Edward nach ihrer Hand und hielt sie, als wolle er sie auch in seinen Träumen noch festhalten.

„Wenn wir bloß nie wieder aufwachen müssten“, flüsterte Elisabeth. Dann schloss sie die Augen und schlief ebenfalls ein.

6. KAPITEL

Edward lehnte sich an den Türrahmen der Kammer und sah Elisabeth an, die noch immer schlief. Sie sah so jung und unbefangen aus, so verletzlich. Ihr dunkles Haar war in weichen Wellen über das Kissen ausgebreitet, und ihre Lippen, dunkelrot von seinen Küssen, waren leicht geöffnet, als ob sie im Schlaf flüsterte.

Der Raum roch nach dem Kaminfeuer und der klaren Luft nach einem Gewitterregen und nach ihrem Rosenduft. Die Aromen hüllten ihn ein und zogen ihn zu ihr zurück, zurück in die Lust, die sie so überraschend miteinander gefunden hatten.

In Wirklichkeit hatte er sich noch nie so gefühlt wie in der letzten Nacht, mit keiner anderen Frau. Für einen Augenblick hatte er alles andere vergessen. Er hatte nur noch sie gesehen.

Er hatte sogar vergessen, warum sie beide hier waren – wegen seines Racheplans. Die Entführung, die so ein furchtbarer Irrtum gewesen war.

Er wusste, dass er sie gehen lassen musste und dass sie ihn noch mehr verabscheuen würde als zuvor, sobald sie seinen ursprünglichen Plan erst in vollem Umfang durchschaut hätte. Er musste gnadenlos sein, musste diese störenden Gefühle verdrängen und seine kühle Beherrschung wiederfinden. Es gab keinen Platz für sie in seinem Leben. Außerdem durfte er ihr nicht noch mehr schaden.

Edward beförderte sein achtlos abgestreiftes Wams mit einem Fußtritt unter das Bett und schloss leise die Tür, um die schlafende Schöne nicht zu stören. Er trat aus dem Haus in den verwilderten Garten, wo der Regen seinen Kopf und seinen nackten Oberkörper kühlte. Die nadelspitzen Tropfen waren eiskalt und hart, doch das kümmerte ihn kaum. Er wollte sich von der Vergangenheit, seinem Schmerz und seiner Schuld reinwaschen.

Er breitete die Arme aus und legte den Kopf in den Nacken, um in den grauen Himmel hinaufzusehen. „Es tut mir leid“, rief er zum Himmel und zu seinem armen Bruder hinauf. Und gleichsam rief er es auch sich selbst zu. „Ich habe versagt.“

Und nun würde er Elisabeth Gilbert gegenüber ebenfalls versagen. Er schloss die Augen und nahm alle seine kalte und entschlossene Härte zusammen. Die Härte, die ihn all diese Jahre am Leben gehalten hatte. Sie war alles, was er brauchte, alles, was jetzt nötig war, um Elisabeth Gilbert von hier fortzuschicken.

Die Tür des Häuschens quietschte in den Angeln. Er öffnete die Augen. Sie war da; er konnte ihre Anwesenheit spüren. Langsam drehte er sich um und sah sie, wie sie unter dem schmalen Sims stand, das kaum Schutz vor dem Regen bot, ihr weißes Hemd wie ein Seezeichen im Sturm. Sie sah ihn ruhig an, ihre Miene war blass und ausdruckslos.

Dann streckte sie wortlos die Hand nach ihm aus. Er wusste, dass er sich abwenden und weglaufen sollte, weg von dem Häuschen und weg vor ihr. Doch alles in ihm drängte ihn, die Hand zu ergreifen, die sie ihm anbot. Langsam ging er durch den regennassen Garten auf sie zu und nahm ihre Hand in die seine.

Es fühlte sich an, als würde er aus den Tiefen des Meeres zurück an die Oberfläche und ins Licht gezogen. Sie schloss ihre Finger fest um die seinen und zog ihn hinter sich her zurück in die Stille und Dunkelheit des Hauses.

Als Elisabeth erwachte, wusste sie für einen Moment nicht, wo sie sich befand. Sie lag nicht im mit Brokat verzierten Bett ihrer Gemächer bei Hofe. Das kleine dunkle Zimmer, in dem sie sich befand, war auch nicht ihr eigenes Schlafgemach in ihrem Haus an der Themse. Es gab nur ein winzig kleines Fenster, durch das ein wenig Licht auf die einfachen, abgenutzten Möbelstücke fiel, die sie umgaben. Das Geräusch, mit dem der Regen die Mauern peitschte, war der einzige Laut, der zu hören war.

Sie setzte sich erschrocken auf – doch dann fiel es ihr wieder ein. Alles fiel ihr wieder ein. Sie war entführt und an diesen Ort gebracht worden … dann hatte sie sich der Liebe mit Edward Hartley hingegeben. Oh, ja, an diesen Teil konnte sie sich besonders gut erinnern. An jeden wunderbaren Moment. Jeden Kuss und jede Berührung und jedes Stöhnen.

Elisabeth legte das erhitzte Gesicht in ihre Hände und sank zurück auf das zerwühlte Bett. Zum Glück war er jetzt verschwunden, die Tür der kleinen Kammer war geschlossen, und sie war mit dem Strudel ihrer Gefühle allein.

Sie war nicht sie selbst gewesen, sie war eine andere geworden: frei und offen und sinnlich. Sogar jetzt noch wartete diese Fremde, die einen Teil von ihr ausmachte, in ihrem Inneren und seufzte bei dem Gedanken an die erlebte Lust.

Und das alles nur wegen Edward Hartley und seinen gemeinen, geheimnisvollen Plänen. Er hatte sie entführt! Sie sollte nach einem Weg suchen, ihm zu entkommen, sie müsste ihn verabscheuen.

Doch genau das brachte sie nicht über sich.

Sie öffnete die Augen und starrte die Decke an, und vor ihrem inneren Auge sah sie sein Gesicht. Er hatte so schrecklich … traurig ausgesehen. Seine schönen grauen Augen waren erfüllt gewesen von Dunkelheit und überwältigenden Gefühlen, die er normalerweise hinter der Maske des Lebemanns, des fröhlich rücksichtslosen Höflings verbarg. Sie konnte sie nur sehen, weil sie selbst ebenfalls ein geheimes Doppelleben führte.

„Das kann nicht sein“, hatte er gesagt, als er sie aus der Kutsche gehoben und ihr Gesicht gesehen hatte. Was hatte das zu bedeuten? Hatte er eine andere Frau hierherbringen wollen?

Sie wusste, dass sie nicht von hier weggehen konnte, ehe sie eine Antwort auf diese Frage bekommen hatte. Nicht ehe sie herausgefunden hatte, ob sie ihm irgendwie dabei helfen konnte, diese tiefe Trauer für immer zu vertreiben.

Elisabeth schlug die Decken zurück und schlüpfte aus dem Bett. Im Zwielicht fand sie eine Bürste auf dem Tisch und versuchte, damit ihr wirres Haar zu ordnen, dabei zog sie ein paar Haarnadeln heraus, die sich in den Strähnen verfangen hatten. Sie drückte gegen die Tür und fand sie unverschlossen, sodass sie vorsichtig in das größere Zimmer des Häuschens spähen konnte.

Es war leer, das Feuer im Kamin war bis auf die Glut heruntergebrannt. Die Tür ins Freie war geschlossen. Hatte er sie hier allein zurückgelassen? Das würde er sicher nicht tun. Sie konnte spüren, dass er noch ganz in der Nähe war.

Sie schlich barfuß über die groben Bodendielen zur Tür und öffnete sie vorsichtig. Es regnete noch immer heftig, draußen war alles grau und kalt. Edward stand im Garten, mitten im Unwetter. Er war nur halb angezogen, hielt die Arme ausgebreitet und den Kopf in den Nacken gelegt, als würde er zum Himmel hinaufschreien. Das Wasser lief in kleinen Bächen über seine nackte Haut.

Er sah aus wie ein heidnischer Gott, der die Elemente beherrscht. Aber als er sich zu ihr umdrehte, konnte sie wieder die Trauer in seinen Augen sehen.

Elisabeth schluckte die Tränen hinunter, die in ihr aufsteigen wollten. Ohne ein Wort hielt sie ihm eine Hand entgegen.

Einen Moment lang fürchtete sie, er könne sie ausschlagen, er könne sich umdrehen und das zarte Band zwischen ihnen zerreißen.

Doch dann kam er auf sie zu, ergriff ihre Hand und ließ sich von ihr zurück ins Haus führen. Wortlos schloss Elisabeth die Tür, um das Unwetter auszusperren, und griff nach einem achtlos weggeworfenen Umhang, den sie ihm um die Schultern legte. Sie wischte ihm sanft die Regentropfen aus dem Gesicht – und empfand ein wildes, ungestümes Verlangen danach, ihn zu küssen und ihn festzuhalten, bis sein geheimnisvoller, beinahe spürbarer Schmerz verschwunden war.

Die unerwartete Zärtlichkeit, die sie ausgerechnet für Edward Hartley empfand, verwirrte Elisabeth so sehr, dass sie sich abwenden und auf einen wackligen Stuhl setzen musste, der an der Wand stand. Der Stuhl war eines der wenigen Möbelstücke in diesem Raum, abgesehen von einem Tisch, auf dem ein großer Korb stand und der von zwei Bänken flankiert wurde. Die Fensterläden waren geschlossen, doch durch die unebenen Bretter, aus denen sie zusammengezimmert waren, konnte sie es draußen blitzen sehen. Das Gewitter war noch lange nicht vorüber.

Edward schürte die Glut, bis wärmende Flammen aufloderten. Elisabeth sah ihn aufmerksam an, während er an der Feuerstelle stand, seine hochgewachsene Gestalt als Silhouette im Feuerschein. Er hatte den Umhang wieder abgelegt, und sein nackter Oberkörper glänzte im Widerschein der Glut. Er hatte sich das nasse Haar aus dem Gesicht gestrichen, und sein Perlenohrring funkelte; er erinnerte als einziges noch an den Höfling, den sie früher gekannt hatte.

Er sah nicht länger aus wie ein Edelmann mit Modebewusstsein, elegant und rücksichtslos, sondern wie ein Stammeshäuptling aus der Vorzeit, roh und wild. Dieser Anblick, der Edward Hartley, den niemand sonst jemals zu sehen bekam, erfüllte sie mit dem gleichen Verlangen wie zuvor.

Ganz bestimmt sah sie auch nicht aus wie sie selbst. Eher wie ein gerupftes Huhn, zerknittert und müde, wie sie war; nur im Unterkleid, mit bloßen Füßen und wirrem Haar. Sie verbarg ihre staubigen Zehen unter dem Stuhl und sah Edward wachsam an, als er der Feuerstelle den Rücken kehrte und auf sie zukam, um neben ihr niederzuknien.

Er nahm ihre Hand und küsste sanft ihre Finger. Dann drehte er die Handfläche nach oben und küsste die Innenseite ihres Handgelenks, genau dort, wo ihr Puls wild unter ihrer Haut pochte.

„Es tut mir leid, Elisabeth“, sagte er mit tiefer, rauer Stimme. „Ich wollte dich nie in diese alte Auseinandersetzung mit hineinziehen. Sobald der Sturm vorüber ist, lasse ich dich nach London zurückbringen.“

Nach London zurück, in ihr altes Leben, als ob nichts geschehen sei … War es das, was sie wollte? Gestern, in all ihrer Angst und Wut, hatte sie natürlich an nichts anderes denken können. Im Laufe der Nacht hatte sich jedoch in ihr etwas Entscheidendes verändert, etwas, das eine tiefe Wahrheit enthüllte. Nichts konnte jemals wieder so werden, wie es vorher gewesen war.

Sie legte ihm sanft die freie Hand auf den Kopf. Sein Haar fühlte sich feucht und seidig an. Sie ließ ihre Finger an seiner Wange hinabgleiten. Er spannte den Kiefer an, sein Körper wurde steif, aber er entzog sich ihr nicht.

„Sag mir, warum ich in Wirklichkeit hier bin“, forderte sie. „Ich muss es wissen.“

Er sah sie düster an, seine grauen Augen verdunkelten sich. „Also gut“, sagte er. „Das ist das Mindeste, was ich dir schuldig bin.“ Er setzte sich neben ihr auf den Boden, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und zog die Knie an, sodass er seine Unterarme daraufstützen konnte. Seine lederne Hose spannte sich um seine muskulösen Beine.

„Ich werde es niemandem erzählen“, versprach Elisabeth. „Geheimnisse scheinen an diesem Ort hier gut aufgehoben zu sein.“

Edward sah sie mit unergründlicher Miene an. Ein kleines, freudloses Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Hast du Geheimnisse, Elisabeth?“

Jetzt hatte sie eines – ihre Gefühle für ihn, die immer stärker wurden. „Es gibt niemanden, der sich im Leben nichts zuschulden kommen lässt.“

„Mein Bruder war vollkommen unschuldig. Und deshalb bin ich hier.“

„Dein Bruder?“, sagte sie überrascht. Sie hatte noch nie von einem zweiten Sohn der Familie Hartley gehört.

„Jamie. Er war jünger als ich, und es hat auf dieser Welt nie einen so freundlichen und herzensguten Menschen gegeben wie ihn“, fuhr Edward fort. Aus seinem Tonfall hörte Elisabeth deutlich die Liebe zu seinem Bruder heraus – und schrecklichen Schmerz. „Aber er war auch zu vertrauensselig. Deshalb ist er gestorben.“

„Das tut mir leid“, sagte sie sanft. Sie wollte ihn berühren, ihn in den Armen halten, doch er schien plötzlich wie von einem Eisschild umgeben. Weit weg. Als habe er sich in seiner Trauer und seiner Wut verloren. „Wie ist er umgekommen?“

„Auf einer Reise in die Neue Welt, einer von Raleighs Plänen für eine neue Kolonie, die es mit denen der Spanier aufnehmen sollte. Jamie ist an Bord an einem Fieber gestorben. Wir haben erst Monate später von seinem Tod erfahren.“

Elisabeth nickte mitfühlend. Sie hatte grauenerregende Geschichten von den Bedingungen an Bord der Schiffe gehört, die auf lange, gefährliche Entdeckungsreisen gingen. Männer wie Raleigh und Drake machten ein Vermögen auf solchen Reisen, aber viele andere mussten qualvoll sterben, an Krankheiten oder durch Ertrinken. „Wie ist er an Bord eines solchen Schiffes gekommen? Und was hat sein Tod mit dem zu tun, was hier passiert ist?“

„Er hat diese Reise angetreten, weil er den Großteil seines Vermögens verloren hatte. Er hatte sich von einem Mann, den er für seinen Freund hielt, zu einem abenteuerlichen Plan überreden lassen. Dann war Jamie zu beschämt, um unserem Vater gegenüberzutreten und seinen Fehler einzugestehen, und er dachte, er könnte sich sein Geld zurückholen, indem er auf diese Reise ging. Er hielt den besagten Mann noch immer für seinen Freund und glaubte, sein Verlust sei die Folge eines Unglücks gewesen. Der Schurke hat Jamie dazu überreden können, sein restliches Geld in diese Kolonie zu investieren – und selbst ins Ausland zu reisen, um das Projekt zu überwachen. Jamie war abgefahren, noch ehe meine Familie etwas davon erfahren hatte. Uns wurde das alles erst später aus seinen Aufzeichnungen offenbart.“

„Wie furchtbar!“, rief Elisabeth. Sie hatte von solchen kriminellen Fallenstellern gehört, die sich die Unbedarftheit anderer zunutze machten, und es hatte sie stets zutiefst empört. „Was ist mit dem Schurken passiert? Hat man ihn gehängt für das, was er getan hat?“

„Nein, das hat man nicht getan, denn wie viele Schurken versteht er sich sehr gut darauf, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen“, antwortete Edward langsam. „Er ist vielmehr sehr reich geworden mit seinen Betrügereien. Und er ist mit Jane Courtwright verlobt.“

„Sir Thomas Sheldon!“, stieß Elisabeth hervor. Seltsamerweise war sie nicht überrascht – sie traute dem Mann mit seiner Gier und seinem Ehrgeiz alles zu. Zum Glück war Jane jetzt vor ihm sicher. Wenn nur Jamie Hartley ihm auch hätte entkommen können …

Dann jedoch traf sie die Erkenntnis, was dies alles für sie selbst bedeutete, wie ein Blitz. Oh, nein. Das konnte nicht wahr sein. „Du wolltest Jane entführen, um an Sheldon Rache für deine Familie zu nehmen!“

Edward nickte nur. „So lautete der Plan. Er wäre vor aller Welt bloßgestellt worden, Mistress Courtwright hätte unter meinen Freunden einen besseren Ehemann finden können, und Jamie könnte endlich in Frieden ruhen. Doch dann …“

„Dann hast du stattdessen mich getroffen“, presste Elisabeth mit brüchiger Stimme hervor. Sie wusste nicht, was sie denken oder fühlen sollte. Wut und Verwirrung sowie eine seltsame Erleichterung kämpften miteinander. Die arme Jane wäre vollkommen verängstigt gewesen, wenn man sie entführt hätte – zumindest so lange, bis sie herausgefunden hätte, was der Grund dafür war und dass sie aus Sheldons Fängen befreit war.

Aber was, wenn Sheldon wieder intrigieren würde, und dieses Mal wäre Edward sein Opfer?

Während sie auf ihn hinabsah, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Er sah zu ihr auf und lächelte sie an. Plötzlich sah er wieder aus wie der ruchlose Höfling, der nichts bereute. Ganz so, als hätte er ihr nicht gerade eben seine wohlgehüteten Geheimnisse verraten und ihr Leben für immer verändert. Er griff nach ihrem nackten Fuß und küsste ihren Knöchel.

„Stattdessen habe ich dich gefunden“, sagte er. „Und das ist nicht gerade ein Unglück gewesen, oder?“

Fasziniert sah sie dabei zu, wie Edward weiter ihren Fuß und ihren Knöchel liebkoste. Sie fühlte sich kitzlig, und wohlige Schauer rannen ihr über den Rücken.

Elisabeth schloss die Augen und legte hingebungsvoll den Kopf in den Nacken, als er mit einer Reihe von Küssen einen Bogen von ihrem Fuß zu ihrem Knie und dann weiter zu ihrem Schenkel beschrieb. Er fuhr mit der Hand ihren Schenkel entlang und schob ihr Hemd zur Seite.

„Edward …“, flüsterte sie. Wie konnte das nur so schnell geschehen, dass sie bei seiner Berührung alles andere vergaß?

„Schhh, Elisabeth“, flüsterte er, die Lippen an ihrer Haut. „Lass mich dich nur berühren, bitte.“

Er bat sie? Elisabeth versuchte, nicht laut aufzuschreien, als er sich vor ihr aufrichtete und ihr die Beine spreizte. Er schob ihr Hemd weiter nach oben und legte seine Hand an ihre Hüfte, um sie zu sich heranzuziehen. Sie erstarrte fast vor Schreck, als sie seinen Atem in dem feuchten, dunklen Dreieck zwischen ihren Schenkeln fühlte.

„Edward!“, rief sie, als es sie heiß und kalt überlief. Sie bäumte sich auf, aber er ließ ihre Hüften nicht los.

Und sie wollte auch nicht, dass er sie losließ.

Er kam näher und küsste sie dort. Mit der Zunge berührte er ihren empfindsamsten, geheimsten Punkt. Er half mit den Fingern nach, damit er noch tiefer in sie vordringen und sie küssen konnte.

Elisabeth schob die Finger in sein Haar, um ihn fest an sich zu pressen. Verdammt sollte er sein, aber das fühlte sich wundervoll an! Er wusste ganz genau, wo er sie kräftiger berühren, wo er sanfter sein und wo er länger verweilen musste. Sie waren einander so nah, noch näher als bei der Vereinigung ihrer Körper, und sie fühlte sich so … so …

So offen. Sie wollte sich der Lebendigkeit öffnen, die seine Berührung ihr schenkten.

Er ließ von ihr ab und küsste stattdessen die Innenseite ihrer Oberschenkel. Er erhob sich und zog sie an sich, um sie auf den Mund zu küssen, heiß und voller Begehren, das auch sie für ihn empfand. Er schmeckte nach Regen und Minze und, erschreckenderweise, nach ihr. Ohne den Kuss zu unterbrechen, hob er sie hoch in seine Arme und trug sie zurück in die Kammer mit dem Bett.

Alles um sie herum war warm und verschwommen, als er sie auf das Lager sinken ließ. Er legte sich auf sie, und sie hob ihre Beine höher, um ihn zu empfangen.

Sie griff mit beiden Händen nach ihm, wollte die Wärme seiner Haut spüren und die Wölbungen seines Körpers nachzeichnen. Es fühlte sich so lebendig an, so wirklich und wahr! Und sie fühlte sich ebenfalls lebendig, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben.

Er strich mit dem Mund über ihre Lippen, über ihre Wangenknochen, ihre geschlossenen Augen, dann konnte sie es nicht länger erwarten. Sie tastete mit den Fingern nach den Knöpfen seiner Hose. Er war hart und bereit, und sie öffnete die Schenkel weiter als stumme Einladung. Mit einer schnellen Drehung der Hüfte drang er tief in sie ein.

Sie schlang die Beine um ihn und bewegte sich im gleichen Rhythmus wie er. Sie verloren sich, fanden sich wieder und wurden gemeinsam immer schneller. Sie grub die Fingernägel in seinen Rücken, um ihn bei sich zu halten.

Elisabeth fühlte brennendes Verlangen und griff danach mit aller Macht. Sie flog hoch und höher, bis sie schließlich schwebte – zusammen mit ihm.

Bald stieß er einen wilden Schrei aus und spannte alle Muskeln an. Ein Beben lief durch ihn, bis er schließlich erschöpft neben ihr niedersank.

Elisabeth konnte weder denken noch sprechen, geschweige denn sich bewegen. Sie zitterte vor der Macht ihrer Gefühle und hielt ihn verzweifelt umschlungen, während sie auf die Erde zurück und in einen tiefen Schlaf sank.

7. KAPITEL

Edward sah Elisabeth dabei zu, wie sie die Vorräte in dem Korb sortierte, die Robert ihnen hiergelassen hatte, und Brote, Käselaibe und Weinkrüge auf dem Tisch verteilte. Sie summte eine leise Melodie, während sie arbeitete und lächelte, als sie das Obst probierte. Sie hatte ihr Hemd wieder übergezogen und sich eine Decke wie einen Mantel umgehängt. Ihre dunklen Locken hatte sie mit einem Band zurückgebunden, und ihre Wangen leuchteten rosig.

Sie sah geradezu lächerlich glücklich aus – und er hatte noch nie etwas so Schönes gesehen. Bei ihrem Anblick musste er ebenfalls lächeln, und zum ersten Mal seit langer, langer Zeit fühlte er so etwas wie Zufriedenheit.

In all den Jahren nach Jamies Tod, in denen er nach Rache und Karriere gestrebt hatte, war er innerlich wie tot gewesen. Kalt und taub, hatte er nur für den Tag gelebt, an dem er endlich Rache nehmen konnte.

Jetzt war die Wärme zu ihm zurückgekehrt wie die Sommersonne nach einem langen, kalten Winter, nur indem er Elisabeth ansah. Wie war das nur geschehen? Er hatte sich noch nie in seinem Leben nach solcher Nähe gesehnt, hatte sie nie vermisst, aber jetzt war sie hier, zum Greifen nah.

Was sollte er jetzt tun? Würde er – konnte er – dieses kostbare Geschenk behalten, das ihm so unerwartet in den Schoß gefallen war? Oder sollte er sie wieder verlassen und seinen langen, zerstörerischen Feldzug fortsetzen?

Elisabeth schaute ihn über die Schulter hinweg an und lächelte noch mehr. Er lächelte zurück, er konnte nicht anders, nicht wenn sie ihn so ansah.

„Was für eine luxuriöse Gefangenschaft!“, sagte sie fröhlich. „Schinken, Käse, Wein und feines weißes Brot. Ich bezweifle, dass die Gefangenen im Tower von London auch nur halb so gut versorgt werden.“

Edward lachte. „Ich bin ein fürsorglicher Gefängniswärter. Ich könnte es nicht ertragen, wenn einer meiner Gefangenen unter meiner Aufsicht leiden müsste.“

„Das habe ich bereits gemerkt.“ Elisabeth steckte sich ein kleines Stück Brot in den Mund, während sie ihn gedankenverloren ansah. „Ich bin versucht, für immer in diesem Gefängnis zu bleiben.“

Diese Versuchung war ihm nicht fremd. Dieses winzige Häuschen hatte ihm einen Augenblick des Friedens in einem Leben verschafft, das von Kriegen bestimmt war. Aber sie würden nicht mehr lange bleiben können. Er fühlte bereits, wie ihre Zeit ablief, so verzweifelt er auch versuchte, sie anzuhalten.

Er streckte Elisabeth seine Hand entgegen und winkte ihr, zu ihm herüberzukommen. Als sie ihre Finger mit den seinen verschränkte, zog er sie auf seinen Schoß und legte beide Arme um sie.

Elisabeth lachte und schmiegte sich an ihn. „Ich fürchte nur, wir können nicht für immer hierbleiben“, sagte sie, als könne sie seine Gedanken lesen.

„Nein, nicht mehr lange. Man wird nach uns suchen.“ Edward küsste sie auf die Schläfe, dabei sog er ihren Rosenduft tief ein. Er wollte diesen Moment im Gedächtnis behalten, wollte sich daran erinnern, wie sie sich anfühlte und wie sie duftete, wie sie aussah, wenn sie sich an ihn lehnte.

„Und du musst deinen Plan bis zum Ende verfolgen“, setzte sie hinzu.

„Das werde ich. Ich werde Sheldon mit seinen Machenschaften nicht einfach davonkommen lassen.“

„Natürlich nicht. Aber er sollte dich nicht genauso hereinlegen wie deinen Bruder.“ Sie nestelte an seinem Hemd herum, dabei hatte sie eine kleine Falte auf der Stirn, als dächte sie angestrengt nach. „Du bist ganz gewiss nicht der Einzige, dem er Schaden zugefügt hat. Es muss noch mehr Opfer geben, sogar unter den Menschen, die wir kennen, bei Hofe.“

Edward verfiel auf ihre Bemerkung hin eine Weile in Schweigen. „Was willst du damit sagen?“

„Vielleicht ist Jane nicht die einzige Person, mit deren Hilfe du ihn entlarven könntest.“ Sie richtete sich in seinen Armen auf, ihre Augen funkelten vor Aufregung, als sie ihn ansah. „Wir müssen diese anderen Opfer finden und uns mit ihnen verbünden, um Sheldon das Handwerk zu legen. Wenn er meine arme Nichte und deinen Bruder benutzt hat, dann würde er …“ Sie unterbrach ihre Rede plötzlich.

„Würde er was?“, fragte Edward. Auch wenn ihre Worte konfus waren, war ihm eine Idee gekommen, während sie gesprochen hatte. Eine Verschwörung, um Sheldon das Handwerk zu legen – das könnte funktionieren, falls sie andere Geschädigte finden konnten. Er wusste, dass es sie geben musste; sie schämten sich vermutlich nur, genau wie Jamie, auf diesen Schurken hereingefallen zu sein. Scham verhalf Grausamkeit wie der von Sir Thomas Sheldon zum Erfolg, und sie blühte und gedieh in der Dunkelheit.

Sie mussten Licht in die Sache bringen.

„Jetzt fällt es mir wieder ein“, sagte Elisabeth. „Die Papiere!“

„Papiere?“

„Meiner Nichte ist es gelungen, am Abend der furchtbaren Verlobungsfeier einige Dokumente aus Sheldons Haus zu entwenden. Sie kann nicht besonders gut lesen, deshalb war sie sich nicht ganz sicher, was der Inhalt ist, aber sie hat sie mitgenommen, um etwas gegen ihn in der Hand zu haben.“

Da schau einer an – die niedliche kleine Jane Courtwright hatte also am Ende doch etwas von ihrer Tante. „Wo sind sie jetzt?“

„Unter dem Sitz in der Kutsche. Sie hat sie mir gegeben, bevor sie mit ihrem Schatz durchgebrannt ist. Vielleicht steht irgendetwas darin, das uns helfen kann?“

„Möglicherweise. Und ich habe Freunde in der Stadt, die uns sicher auch unterstützen können. Ich bin mir sicher, dass sie mit Freuden sähen, wenn sie Sheldon endlich los wären, immerhin macht er ihnen ihr Geschäft streitig.“ Edward war überzeugt, dass Robert Alden bei jedem Plan mitmachen würde, und der hatte ausgezeichnete Verbindungen zur Londoner Halbwelt.

Vielleicht würde dieser Plan funktionieren.

Elisabeth gab ihm einen Kuss und rief: „Wie aufregend!“

„Oh, nein“, erwiderte Edward. Er schloss sie fester in die Arme, wie um sie zu beschützen, um sie vor Sheldon und dessen Machenschaften abzuschirmen. „Du wirst an den Hof zurückkehren und ganz schnell vergessen, was passiert ist.“

„In mein langweiliges Leben zurückkehren? Wie könnte ich?“, protestierte sie. „Außerdem wollte Sheldon meiner Nichte etwas zuleide tun. Ich will ihm ebenfalls das Handwerk legen.“

„Ich will dich nicht in Gefahr bringen“, sagte Edward heiser, während er sie an sich drückte. „Ich habe in meinem Leben schon genügend Menschen verletzt.“

„Du wirst mich beschützen, das weiß ich. Aber ich will helfen.“ Sie streckte die Hand aus, um sein Gesicht zu berühren, und sah ihn dabei ernst an. „Ich werde sehr vorsichtig sein. Ich weiß, was dafür nötig ist. Und ich habe mich seit langer Zeit nicht mehr so lebendig gefühlt.“

Als sie ihm in die Augen sah, begriff Edward, dass er es zum ersten Mal in seinem Leben mit jemandem zu tun hatte, der genauso willensstark war wie er selbst. Elisabeth würde nicht nachgeben – genauso wenig wie er. Er würde einfach so dicht wie möglich in ihrer Nähe bleiben müssen, um sie zu beschützen. Für immer.

Diese Vorstellung gefiel ihm außerordentlich gut.

„Unter einer Bedingung“, stimmte er zu.

Elisabeth hob die Augenbrauen „Und welche?“

„Dass du bei mir bleibst“, antwortete er. „Darauf muss ich bestehen.“

„Warum?“, fragte sie misstrauisch. „Damit du mich einschließen und vor Sheldon verstecken kannst?“

„Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht“, erwiderte er scherzhaft. „Aber das wäre einer der Vorteile, wenn ich dein Liebhaber wäre …“

Elisabeth versetzte ihm spielerisch einen Klaps auf die Schulter, und er lachte. Nie hätte er gedacht, dass er einmal so unbekümmert mit einer Frau zusammen sein konnte. Doch jetzt, mit Elisabeth, wollte er nichts mehr als das. Er hatte endlich einen Geist gefunden, der dem seinen ebenbürtig war, eine Frau mit hitzigem Temperament, und zusammen könnten sie ein Leben voll Abenteuer führen. Wenn er sie überreden konnte, bei ihm zu bleiben.

„Ich will mit dir zusammen sein, weil ich mich in dich verliebt habe“, gestand er ein. „Und ich will nie wieder ohne dich sein. Wir könnten zusammen ein herrliches Leben führen. Voller Aufregung und Abenteuer …“

Elisabeth war so überrascht, dass sie beinahe von seinem Schoß gerutscht wäre. Doch er hielt sie fest, ließ sie nicht los. „Du … liebst mich?“, flüsterte sie.

„Es ist absurd, ich weiß. Ich wusste bisher nicht einmal, was Liebe ist. Aber jetzt weiß ich es, deinetwegen und der Zeit wegen, die wir hier zusammen verbracht haben.“

Tränen traten ihr in die Augen, sie lachte und weinte abwechselnd. „Ich … ich liebe dich auch, Edward. Und ich werde bei dir bleiben, wenn du mir versprichst, mich nie wieder einzusperren und mich nie wieder zu belügen. Ich will nicht, dass es wieder so wird wie in meiner ersten Ehe. Ich will mit dir zusammen Abenteuer erleben.“

„Das verspreche ich“, sagte er. „Das heißt, solange ich nicht mit dir zusammen eingesperrt bin …“

Dann küsste er sie hart und leidenschaftlich. In diesem Kuss lag die ganze Kraft seiner Liebe, von der er nie gedacht hatte, dass er zu ihr fähig sei. Sie waren jetzt zusammen – sie würden nie wieder allein auf der Welt sein. Das war die beste Form von Freiheit.

Elisabeth legte die Arme um ihn, ihre Finger mit seinen Haaren verwoben, als sie seinen Kuss erwiderte. Er fühlte die Verheißung auf ein neues Leben durch sie – ein Leben mit ihr, seiner Geliebten.

– ENDE –

1. KAPITEL

London, Juni 1812

Unzählige Lichter funkelten in den Ulmen der Vauxhall Gardens, und zwischen den Wasserspielen und Kaskaden, in den Kolonnaden und Laubengängen tummelte sich in dieser Nacht der Masken eine bunt gemischte Menschenmenge.

Inmitten dieser Wunder stand mit wild klopfendem Herzen Margaret Leigh. Sie war hergekommen, um einen Herrn zu treffen, einen Herrn, der für ihre Gesellschaft zahlen wollte.

„Willst du es wirklich tun, Maggie?“ Ihr Cousin runzelte kritisch die Stirn. „Es widerspricht dem Anstand.“

Sie warf ihm einen amüsierten Blick zu. „Ausgerechnet du sprichst von Anstand?“

Henry war schon immer das schwarze Schaf der Familie gewesen. Sohn eines Schulmeisters und Neffe eines Pastors, lief er dennoch, kaum dass ihm der Flaum wuchs, davon und schloss sich einer Theatertruppe an, um Schauspieler zu werden. Inzwischen allerdings war von der Familie kaum noch jemand da, der ihn deswegen hätte verurteilen können; nur Margaret und ihr jüngerer Bruder lebten noch.

Henry nickte und winkte verächtlich ab. „Ach, zum Teufel mit dem Anstand! Das Leben ist zu kurz, um sich nicht zu vergnügen, so gut man kann.“

Margaret stieß nervös den Atem aus. „Nun, zurzeit kann ich mir weder Vergnügen noch Anstand leisten.“

Voller Mitgefühl schürzte Henry die Lippen. Da er enge grüne Hosen und ein grünes Wams trug und dazu Hörner auf dem Kopf, wirkte er mit diesem Ausdruck ausgesprochen komisch.

Margaret unterdrückte ein Lachen.

Derzeit trat Henry in einigen kleinen Rollen im Covent Garden Theater auf. Das Kostüm des Puck, das er trug, stammte von dort, und für Margaret hatte er ein Feenkleid ausgeborgt – ein Gewand in zartestem Rosa aus vielen Lagen hauchfeinen Schleierstoffs, sodass sie dahinzugleiten schien, anstatt zu schreiten. Noch nie hatte sie eine so wunderschöne Robe getragen.

„Da sind wir“, rief Henry, als sie die Pavillons am South Walk vor sich sahen.

Margaret, Tochter eines verarmten Geistlichen, und ihr Cousin Henry, ein unbekannter Schauspieler, sollten bei dem Duke of Manning zu Gast sein. Derselbe hatte für das Maskenfest mehrere nebeneinanderliegende mit Blumen und bunten Seidenbahnen geschmückte Logen gemietet. Schon drängten sich darin die Gäste. Die meisten Herren trugen schwarze Dominos, die Damen jedoch glänzten mit den unterschiedlichsten Kostümen, vom ländlichen Milchmädchen bis zur ägyptischen Pharaotochter. Margarets besagter Gentleman hatte arrangiert, dass ihr Treffen inmitten der Freunde des Dukes stattfand.

Reuig lächelnd sah Margaret ihren Cousin an. „Wenn unsere Eltern uns jetzt sehen könnten.“

Henry lachte. „Wahrscheinlich drehen sie sich im Grabe um. Ich höre förmlich deinen Vater.“ Er gestikulierte, als stünde er predigend auf einer Kanzel. „Ich aber sage euch, dass ihr nicht Umgang pflegen sollt mit Ehebrechern …“

Margaret stiegen Tränen in die Augen. „Du klingst wahrhaftig wie er.“

„Mein schauspielerisches Talent …“, meinte Henry sachlich.

Vor gerade einmal zwei Monaten war ihr Vater unverhofft an einem Schlaganfall dahingeschieden, und immer wieder einmal überkam sie zu den unmöglichsten Zeiten die Trauer. Er war aus seiner Generation der Letzte gewesen. Nun sind wir Waisen, dachte sie.

Henry setzte ein aufmunterndes Lächeln auf und stieß sie kameradschaftlich an. „Ich wage zu behaupten, dass dein Vater den Duke of Manning nicht als anständige Gesellschaft für dich betrachtet hätte.“

„Und seinen Freund auch nicht.“ Den Herrn, mit dem sie sich treffen wollte.

Der berüchtigte Duke of Manning war mit der Gemahlin des Earl of Linwall durchgebrannt, lebte nun mit ihr zusammen und hatte mit ihr mehrere Kinder gezeugt. In dieser Loge hier waren der Duke und seine Lady leicht zu erkennen. In Kostüme des vergangenen Jahrhunderts aus schimmernden Brokatstoffen gekleidet, begrüßten sie ihre Gäste.

„Für ein Paar, das in Sünde lebt, sehen sie außerordentlich glücklich aus“, meinte Margaret.

„In der Tat. Der Lohn der Unanständigkeit.“ Henry nahm sie beim Arm und zog sie mit sich.

Sie wiesen dem Lakaien am Eingang der Loge ihre Einladungen vor und wurden eingelassen. Margaret musterte all die schwarzen Dominos. Seiner sei rot abgefüttert, hatte er ihr geschrieben.

Doch sie konnte kein Rot entdecken.

Sie erinnerte sich an die Anzeige in der Times.

Gesucht – gebildete Dame vornehmer Abstammung als Gesellschafterin. Wohlhabender Gentleman bietet großzügige Vergütung.

Margaret hatte darauf geantwortet. Sie antwortete auf jede Anzeige, in der eine Gouvernante oder Gesellschafterin gesucht wurde. Andere Berufe gab es für Frauen ihres Standes kaum. Bisher hatte sie keinen Erfolg gehabt. Als daher der in der Anzeige erwähnte Gentleman einen Lakai mit einer schriftlichen Antwort schickte, stieg ihre Hoffnung.

Und zerschellte sofort wieder.

Die Gesellschaft, die der Herr suchte, war anderer Natur, als sie es sich vorgestellt hatte. Er suchte eine Mätresse.

In seinem recht geistreichen Antwortbrief klang unterschwellig schmerzlich empfundene Einsamkeit an. Margaret antwortete ihrerseits, obwohl es höchst unschicklich war. Sie schrieb eine höfliche Absage.

Er schrieb zurück.

Wieder und wieder schrieb er, charmante Briefe, voller Esprit und verzweifelter Einsamkeit, in denen er sie zu überreden suchte. Jedes Mal sagte sie ihm ab, doch bald schon war es täglich ihre größte Freude, seinen Lakai mit einem Schreiben eintreffen zu sehen. Sie konnte seine Briefe gar nicht schnell genug lesen.

Schließlich schlug der Gentleman eine Zusammenkunft vor, für die er ihr zwanzig Pfund zahlen würde. Das Treffen, bot er an, sollte auf ebendiesem Maskenfest in Vauxhall stattfinden.

Autor

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