Historical Saison Band 117

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LADY ROSE WILL NICHT HEIRATEN von LOUISE ALLEN

Marcus Cranford, Duke of Northminster, hat ein Problem: Die unkonventionelle Lady Rose will ihm ihr Schloss, an dem ihm aus familiären Gründen sehr viel liegt, partout nicht verkaufen. Da kommt dem Duke die rettende Idee: Er bietet Rose die Ehe an! Allerdings hat die widerspenstige Schönheit schon sieben Gentlemen vor ihm abgewiesen …

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  • Erscheinungstag 31.05.2025
  • Bandnummer 117
  • ISBN / Artikelnummer 9783751531962
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Louise Allen, Eleanor Webster

HISTORICAL SAISON BAND 117

Louise Allen

1. KAPITEL

Chalton Castle, Wiltshire – 3. Juni, 1817

Prinzessin Rosalinda saß in ihrem Turm und blickte über die azzurblauen (azzur…?) Wellen des Flusses hinweg zum anderen Ufer. Inbrünstig hoffte sie, der Gefangenschaft bei ihrem bösartigen Onkel (Stiefvater??), dem König, endlich zu entrinnen. Wann würde der edle Ritter (Prinz??) erscheinen und sie von der grausamen Kandarre erlösen?

Lady Katherine Trafford saugte am zerkauten Ende ihres Bleistifts und starrte das Notizbuch an, das geöffnet auf einem Brett über ihren Knien lag. „Wie schreibt man Kandare? Und glaubst du, ich sollte an dieser Stelle Rosalindas lange flachsblonde Locken erwähnen? Oder erst später, wenn der wackere Sir Marmaduke sie zum ersten Mal erblickt?“

„Mit einem r. Und azurblau mit einem z.“ Lady Chloe, ihre ältere Schwester, war neben ihr stehen geblieben und hatte die Zeilen gelesen. Ein paar nestwarme Eier steckten in den Taschen der gestärkten Schürze, unter der sie ein geblümtes Musselinkleid trug. „Rosalinda und Marmaduke? Bist du dir da sicher, Kat?“

„Meine Heldin soll Rose gleichen, aber das ist noch nicht romantisch genug“, erklärte Kat ernsthaft. „Und Marmaduke klingt glamourös. Oder nicht? Was meinst du, Rose?“

Lady Rose Trafford stand ein paar Stufen höher auf der morschen Wendeltreppe eines kleinen Turms – einer Ruine, deren halbe Außenwand fehlte. „Was soll ich wozu meinen?“ Neugierig schaute sie auf ihre jüngeren Halbschwestern hinunter.

„Ist Marmaduke der passende Name für einen Helden?“

„Eher für einen Küchenkater. Allerdings wäre Oswald noch schlimmer. Geht es um deinen neuen Roman, Kat?“

„Ja, und der wird uns ein Vermögen einbringen“, kündigte Kat zuversichtlich an. „‚Der Ritter und die gefangene Prinzessin‘ – so lautet der Titel. Vielleicht werde ich ihn zum Prinzen ernennen. Was machst du da oben, Rose? Ein günstiges Plätzchen. Wenn ein heldenhafter Ritter herangaloppiert, um dich zu retten, könntest du einen Schal voller Pailletten schwenken und ihm den Weg weisen.“

„Das wäre schwierig, weil ich keinen Schal voller Pailletten besitze. Außerdem wäre ich keine romantische Heldin, weil ich gerade überlege, ob wir Fischernetze im Burggraben anbringen sollten.“ Die Brauen zusammengezogen, spähte Rose in das schlammige grüne Wasser, das von einer kleinen Entenprozession aufgewirbelt wurde. „Leider haben wir keine Zeit, um da unten mit Angelruten zu sitzen und zu hoffen, irgendwas würde anbeißen. Einige Netze könnten was fangen – eventuell einen Karpfen, der nach Schlamm schmeckt.“

Ihren zweigeteilten Rock gerafft, enthüllte sie Stiefel und Breeches. Vorsichtig stieg sie von ihrem bevorzugten, aber gefährlichen Aussichtspunkt hinab.

„Höchste Zeit fürs Frühstück! Und so sehr ich’s auch bedaure, Kat, ich entdecke keine besonderen Männer. Nur Billy Austin, der gerade seine Ackergäule zur Schmiede bringt … Und dieser hochnäsige Baines führt eine Ziege an einem Strick herum. Den muss ich am letzten Markttag bei der Witwe Lambton gekauft haben. Was ich ganz sicher nicht zu unserer Brücke reiten sehe, ist ein heldenhafter Ritter. Geschweige denn einen Prinzen.“

Northminster Castle, Wiltshire – der Landsitz des Duke of Northminster –am selben Tag

„Wo ist mein Schloss?“ Der fünfte Duke of Northminster ließ einen gebräunten Finger über eine Reihe geöffneter Mappen auf dem Bibliothekstisch hinweggleiten. Alle waren sorgfältig mit den Namen seiner soeben geerbten Liegenschaften gekennzeichnet. An seiner linken Hand funkelte ein burmesischer Rubin im Sonnenlicht wie ein bedrohliches Auge. „Auf diesen Landkarten und Dokumenten sehe ich’s nicht.“

„Eh – hier, Euer Gnaden.“ Mr. Barclay, sein Gutsverwalter, zeigte mit einer vagen Geste auf einen Fensterschlitz hoch oben in der Bibliothekswand.

„Nicht das Schloss, Barclay. Und da wir gerade beim Thema sind – welcher vermaledeite Idiot hat eine Bibliothek in einem runden Turm eingerichtet? Nein, antworten Sie nicht, ich vermute, das ist um 1570 herum passiert … Eigentlich wollte ich mich über Chalton Castle informieren.“

Marcus unterzog Barclay immer noch einer gründlichen Musterung, wie alle seine neuen Angestellten und Dienstboten. Obwohl der Mann einem nervösen Maulwurf glich, konnte er sich wenigstens behaupten, wenn er unter Druck stand. Wahrscheinlich hatte er das bei seiner Tätigkeit für die beiden letzten Dukes gelernt.

„Oh, das wurde im Vorjahr verkauft, Euer Gnaden.“

„Verkauft?“ Die Augen verengt, hob Marcus den Kopf, und der Verwalter schluckte merklich. „Unveräußerliches Erbgut darf nicht verkauft werden.“ Mit Schiffsimporten und Zollbestimmungen, etwa für Seide, kannte er sich besser aus. Aber was das Erbe von Grundbesitz anging, konnte nicht der geringste Zweifel bestehen.

„Natürlich haben Sie recht, Euer Gnaden. Allerdings wurde Chalton Castle aus irgendwelchen Gründen nicht in die unveräußerliche Erbmasse einbezogen. Und so haben der dritte sowie der vierte Duke das gesamte veräußerliche Vermögen verkauft.“

„Wann?“

„Im Lauf der letzten sieben Jahre, Euer Gnaden. Wie Sie wissen, gab es gewisse – Schwierigkeiten. Und so musste aus – eh – verschiedenen Gründen Geld beschafft werden.“

Genau genommen die Schulden meiner Verwandten, ergänzte Marcus. Allem Anschein nach hatten Vater und Sohn gleichermaßen einer fahrlässigen Extravaganz gefrönt.

„Hören Sie auf, mich bei jeder Antwort ‚Euer Gnaden‘ zu nennen.“ Nun schlug er einen etwas milderen Ton an. „Sonst komme ich mir wie ein Erzbischof vor.“

Natürlich war der arme Teufel nicht schuld an der Misere. Ein Gutsverwalter musste Befehle befolgen. Oder er würde seine Stellung verlieren. Und es war nicht illegal, veräußerlichen Familiengrundbesitz zu verkaufen.

Marcus furchte die Stirn und studierte die Dokumente etwas genauer. „Warum waren die verkauften Liegenschaften nicht als unveräußerlich klassifiziert?“

„Alle außer Chalton waren erst vor Kurzem erworben worden, Euer Gn… eh … Sir. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, vom zweiten Duke. Hauptsächlich waren es kleine Farmen oder Landparzellen. Wie ich annehme, sollten sie irgendwann in die unveräußerliche Erbmasse aufgenommen werden. Hingegen wurde Chalton Castle bereits im fünfzehnten Jahrhundert angeschafft. Schon damals soll sich das Schloss in miserablem Zustand befunden haben, und die landwirtschaftliche Nutzung des Guts spielte keine Rolle. Aus irgendwelchen Gründen wurde es dem unveräußerlichen Besitz niemals hinzugefügt.“

„Isabelle de Chalton übernahm es 1491“, erläuterte Marcus. „Nur die Wachtürme waren halbwegs instand. Der Bauer, der das Land pachtete, verband die Türme mit einem Haus und renovierte die Ruine. Als ich das Anwesen zuletzt sah, zerbröckelten die Außenmauern. Aber der Burggraben existierte immer noch …“

Gedankenverloren erinnerte er sich an Sonnenschein auf grünem Wasser, an den dunklen Schatten der Brustwehr. Für einen kurzen Moment verspürte er wieder den jungenhaften Wunsch, fischen zu lernen, mit Pfeil und Bogen zu jagen. Wie wundervoll war es gewesen, sich in der magischen Welt von edlen Rittern und aufregenden Kämpfen zu verlieren …

„Also kannten Sie Chalton Castle recht gut, Sir?“

„Ja, sehr gut“, bestätigte Marcus. „Kaufen Sie es zurück, Barclay. Das Schloss mitsamt dem Land. Bieten Sie fünf Prozent über dem damaligen Kaufpreis an, das müsste genügen.“ Der Frieden nach der Waterloo-Schlacht hatte die Sehnsucht nach dem beschaulichen Alltag eines Landwirts geweckt. Und ein Farmer würde sein Grundstück sehr gern mit Profit verkaufen.

„Das Land kann ich sicher für Sie einhandeln, Sir. Aber das Schloss …“ Skeptisch schüttelte der Verwalter den Kopf. „Da dürfte es Schwierigkeiten geben. Die Käuferin schien ganz bestimmte Pläne zu schmieden.“

„Eine Frau hat Chalton gekauft? Vermutlich eine Farmerswitwe?“

„Nein, Sir, eine alleinstehende junge Dame, Lady Rose Trafford. Sie hat mir erklärt, sie würde ein Zuhause brauchen, auch für ihre Schwestern. Das erschien mir eigenartig, weil sie eine Tochter des verstorbenen Earl Wighton ist. Ich würde es verstehen, wenn eine ältere ledige Dame in ein Stück Land investiert. Aber Lady Trafford …“

„Ich werde selber mit ihr reden“, beschloss Marcus. In der Tat, ziemlich mysteriös, denn junge, unverheiratete Aristokratinnen pflegten keine heruntergekommenen Schlösser mit ein bisschen Ackerland zu kaufen. Er nahm eine alte Ausgabe des Adelslexikons aus einem Regal und blätterte darin, bis er den Namen Lady Rose Trafford fand.

Geboren 1792, Tochter des zweiten Earl Wighton. Keine Schwestern. Allerdings hielt er eine verjährte Ausgabe des Lexikons in der Hand. Da seine verblichenen Verwandten nichts von Büchern gehalten hatten, war die Bibliothek sträflich vernachlässigt worden.

Jetzt musste Lady Rose fünfundzwanzig sein. Einfach lächerlich, dass sie das ziemlich verfallene Chalton Castle erstanden hatte. Wahrscheinlich war sie eine verwöhnte, exzentrische junge Dame, die wegen eines Familienstreits schmollte. Oder sie wollte auf einem Fantasie-Bauernhof Marie Antoinette spielen. Wenn ihr Bruder das gestattete, musste er den Verstand verloren haben.

Die beiden Schlösser lagen nur acht Meilen auseinander. Als Marcus seinen nervösen Fuchs zum Chalton Castle lenkte, entsann er sich, wie oft er früher an einem Tag hin und her geritten war. Zum letzten Mal vor fünfzehn Jahren …

Auch die Stallungen seines Cousins zweiten Grades hatte er geerbt, mit allem Drum und Dran. Von Pferden hatte William einiges verstanden, was ihn nicht sympathischer machte. Bei der letzten Begegnung war William Cranford der Earl of Milbrook gewesen, zweiundzwanzig Jahre alt, so arrogant und selbstverliebt, wie es nur der verhätschelte Erbe eines Herzogtums sein konnte.

Seine skandalösen Affären mit verheirateten Frauen, zwei spektakuläre Duelle, wilde Extravaganzen und verrückte sportive Exzesse, von monströsen Wetten begleiten, hatten seinen rasanten Weg durch die Klatschspalten aller Londoner Zeitungen gekennzeichnet. Bis zu einer tödlichen Idiotie.

Im Vorjahr, seit sechzehn Monaten ein Duke, hatte er seine Kumpane zu einem mitternächtlichen Hindernisrennen herausgefordert. Alle waren betrunken gewesen, und Williams Pferd hatte im Ruf gestanden, niemandem außer ihm zu gehorchen. Daran erinnerte Marcus sich etwas grimmig, während der Fuchs sich eifrig bemühte, ihn abzuwerfen. Offenbar hatte sein Cousin nicht nur auffällige, sondern auch unmanierliche Pferde bevorzugt, die ihm in ihrer Wesensart ähnlich gewesen waren.

Auf halber Strecke des Hindernisrennens hatte der Hengst des Duke abrupt vor einem Graben gescheut. William war über den Kopf des Tiers hinweggeflogen und im Schlamm gelandet, das Gesicht im Schmutz, mit gebrochenem Genick.

Prompt hatte der Tod eines unverheirateten Duke ohne Brüder viele Leute bewogen, in ihren Adelslexika zu blättern und den glücklichen Erben des erlauchten Titels, der vernachlässigten Landsitze und leeren Bankkonten zu suchen.

Ursprünglich ein Earl, war der erste Duke von König George I. in den höheren Adelsrang erhoben worden – aus Gründen, über die ein Mantel des Schweigens gebreitet wurde. Er hatte vier Söhne gezeugt, der älteste zwei. Aber Lord Arthur, Williams einziger Onkel, war mehrere Jahre vor dem Tod seines älteren Bruders, des dritten Duke, unverheiratet gestorben. Also ging das Erbe auf die Nachfahren des zweiten Sohnes über, Lord Francis. Doch der bekam nur Töchter. Der dritte Sohn, Colonel Lord Ludovic Cranford, erlitt 1746, bei der Schlacht von Culloden, eine intime Verletzung und war zeugungsunfähig. Demzufolge fiel der Titel an Marcus’ Großvater, Lord Maurice Cranford. Von den jüngeren Söhnen, noch dazu eines vierten Sohnes, wurde erwartet, dass sie selbst für ihren Lebensunterhalt sorgten. Und so arbeitete Marcus’ Vater, Mr. Gregory Cranford, im Londoner Büro der East India Company. Er heiratete die Tochter eines ländlichen Vikars und hinterließ ihr bei seinem Tod im Jahr 1798 bescheidene Ersparnisse. Wenig später kehrte sie mit ihrer Tochter ins Haus ihres Vaters zurück.

Sein Sohn Marcus verbrachte fünf Jahre in der Obhut seines Onkels, des dritten Duke, als dessen Mündel. Mit fünfzehn wurde er als Bürogehilfe zur East India Company geschickt.

Zeitweise in Indien, hatte er im Lauf der Jahre eine riskantere Karriere als sein Vater gemacht, mehrmals mit den Gefahren des Subkontinents konfrontiert. Seinem Unternehmungsgeist und einem Gespür für gute Geschäfte verdankte er profitable Erfolge. Schließlich erwirtschaftete er beträchtliche Firmenanteile. Stets mit Arbeit eingedeckt, beachtete er den Brief nicht, der an einem hektischen Montagmorgen auf seinem Schreibtisch lag. Erst am Abend las er das Schreiben, das vom College of Arms stammte – einer königlichen Institution von Waffenoffizieren, für Ahnenforschung zuständig. Wie er völlig verblüfft erfuhr, war er der fünfte Duke of Northminster.

Nachdem er seine Kompagnons informiert hatte, erwarteten sie einen Freudentaumel und wurden enttäuscht. Marcus war nicht beglückt, er resignierte. Sich selber vermochte er nicht zu enterben, und er verabscheute jede Form von Unzulänglichkeit. Jetzt war er ein Duke. Und er wollte ein guter Duke sein. Schlechter als seine zwei Vorgänger konnte er kaum werden, was er seinen Geschäftspartnern, Mr. Richard Farthing und Mr. Arnold Gregg, klargemacht hatte. In Zukunft mussten sie etwas mehr Verantwortung übernehmen. Und wegen ihres größeren Anteils an den Firmenprofiten nahm er an, sie müssten die veränderte Situation – im Gegensatz zu ihm selber – höchst erfreulich finden.

„Ich dachte, du stellst ein paar Hundert Leute ein, die sich um die Landsitze und alles andere kümmern“, bemerkte Arnold, während sie mit Brandy auf das neue Abkommen anstießen. „Jetzt hast du nichts mehr zu tun, außer die St. James’s Street entlangzuschlendern und imposant auszusehen. Bei deinem Schneider wirst du wahre Unsummen ausgeben – und das Londoner Gesellschaftsleben in vollen Zügen genießen.“

„Nach dieser Devise haben meine Verwandten ihren Lebensstil gestaltet. Um ihn zu finanzieren, verschleuderten sie die Einnahmen aller Landgüter, ohne auch nur einen Penny zu investieren“, hatte Marcus erbost entgegnet. Mittlerweile hatte er die Rechnungsbücher studiert, und er war immer noch schockiert über die Inkompetenz seines Onkels und seines Cousins.

Während er den Fuchs zu gemäßigtem Trab zwang und über einige Feuchtwiesen ritt, fragte er sich, ob es richtig gewesen war, das Erbe der heruntergewirtschafteten Landgüter anzunehmen. Damit bewies er keinen guten Geschäftssinn, und sein instinktiver Wunsch, eine neue Blüte dieser Ländereien zu erzielen, verblüffte ihn. Vielleicht war er im Grunde seines Wesens doch aristokratischer veranlagt, als er es vermutet hatte.

Oder er war einfach nur ein sentimentaler Narr, weil es um Chalton ging. Jetzt tauchte das Schloss oberhalb der Wiesen auf, und sein Herz pochte sofort schneller. Von nostalgischen Gefühlen überwältigt, zügelte er das Pferd und rang um sein inneres Gleichgewicht.

Die alte Festung sah ganz anders aus als das sonnige Paradies in seiner Erinnerung. Schon damals war sie eher klein gewesen, hatte ein seichtes, von einem Fluss geteiltes Tal beherrscht. Zur Linken lag der Burggraben, rechts die dörfliche Wassermühle. Ursprünglich hatte eine Außenmauer den Innenhof mit den Stallungen, Wohn- und Küchenbauten umgeben. An einem Ende hatte die längst entschwundene „Große Halle“ gestanden.

Langsam ritt er näher heran. Früher hatten zwei stattliche Türme den Eingang flankiert. Etwa zur Hälfte existierten sie noch und schirmten ein Cottage ab, an der Stelle des einstigen Fallgitters und Torbogens, vom ersten Tudor-Pächter errichtet. Dieser Mann hatte eine permanente Brücke über den Burggraben gebaut, die zu einem Loch in der Mauer führte, dem Tor seines Bauernhofs. Nur von fünf kaum bedrohlichen Gitterstäben verteidigt …

Auf diesem Gatter kauerte eine kleine Gestalt. Sie konnte unmöglich Lady Rose sein, das merkte Marcus sofort, als er über die Brücke ritt. Das Mädchen war zehn, höchstens zwölf Jahre alt. Unter den Röcken des Kindes enthüllten baumelnde Füße mehrfach geflickte Strümpfe und derbe Schuhe. Wahrscheinlich hatte eine ältere Schwester das fadenscheinige Kleid abgelegt und den Saum gekürzt.

Unter dichten braunen Locken starrte die ungewöhnliche Wächterin den fremden Reiter misstrauisch an, bis er sein Pferd zügelte. „Halt! Wer sind Sie?“

„Marcus Cranford, Duke of Northminster.“

Sichtlich verblüfft riss das Kind die Augen auf. „Freund oder Feind?“

Die Stimme zeugte von einer gewissen Bildung. Sicher gehörte dieses schäbig gekleidete Bauernmädchen nicht zu den Trafford-Schwestern?

„Ein Freund, der etwas geschäftlich mit Lady Rose Trafford besprechen muss.“

„Dann kommen Sie herein.“ Die Kleine sprang vom Gatter und öffnete es. „Da drüben finden Sie meine Schwester“, erklärte sie und zeigte auf einen der baufälligen Türme. „Rose! Da ist ein Duke, der dich sehen will! Kein Ritter!“

Der schrille Ruf bewog den Hengst zu einem Luftsprung, bevor er in den Hof stürmte und sich kaum zügeln ließ.

„Guten Morgen“, grüßte eine klare Stimme, in der dezente Belustigung mitschwang.

Marcus wandte sich zu einer blonden jungen Frau, die ungehörigerweise schutzlos auf den Turmstufen saß. Offenbar benutzte sie einen Teil der ruinierten Wand als Schreibtisch. Denn sie schloss einen Aktenordner und legte einen Bleistiftstumpf auf das Brett. Kritisch musterte sie den Besucher. Blaue Augen bekundeten milde Verachtung.

Mit einiger Mühe brachte er den widerspenstigen Fuchs unter Kontrolle. „Diesen peinlichen Auftritt dürfen Sie mir nicht vorwerfen. Niemals würde ich ein so verflixtes Tier kaufen. Marcus Cranford“, stellte er sich vor und lüftete seinen Hut. „Spreche ich mit Lady Rose Trafford?“

Sie nickte. „Sind Sie der Bruder des Mannes, der mir das Schloss verkauft hat?“

„Mein Cousin zweiten Grades.“ Nicht zum ersten Mal verspürte er das Bedürfnis, sich von dem unliebsamen Verblichenen zu distanzieren.

Inzwischen war ihm das kleine Mädchen gefolgt, das ihn eingelassen hatte, und mehrere Leute gesellten sich hinzu. Noch ein brünettes Mädchen schlenderte vom anderen Ende des Hofs herüber, älter als das Kind, eine fleckenlose weiße Schürze über dem Kleid. Ein junger Bursche führte eine Ziege an einem Strick heran und hielt Maulaffen feil.

Lady Rose traf keinen Anstalten, aufzustehen oder Marcus in das Cottage zu bitten. Schweigend starrte ihn das Publikum an, und nach einer Weile öffnete sich die Tür des kleinen Hauses. Auf der Schwelle erschien eine stämmige ältere Frau mit einer blutverschmierten Schürze, die Ärmel an kräftigen Armen hochgekrempelt, ein großes Messer in der Hand, dessen Klinge gleißendes Sonnenlicht widerspiegelte.

„Verzeihen Sie, Lady Trafford“, bat Marcus in wachsendem Unbehagen. Sogar in den wilderen Teilen der Gewürzinseln wäre er freundlicher empfangen worden.

„Natürlich hätte ich Sie brieflich auf meinen Besuch vorbereiten müssen. Ich will Ihnen ein Geschäft vorschlagen. Vielleicht könnte ich mit Ihrem Verwalter oder Anwalt reden?“

„Ich habe keinen Verwalter, und mein Anwalt hält sich derzeit in London auf. Also müssen Sie mit mir verhandeln, Euer Gnaden.“

Mit einer Frau? Undenkbar …

„Ich möchte dieses Schloss und das Land ringsum kaufen. Wenn Sie mir die Adresse Ihres Anwalts geben, werde ich ihm schreiben.“

„Dann würde er mir schreiben, ich würde zurückschreiben und das Angebot ablehnen, er würde Ihnen schreiben – und so weiter. Völlig sinnlos würden wir Zeit und Papier verschwenden.“

„Sie haben meinen Vorschlag noch gar nicht gehört, Lady Trafford.“

„Das ist nicht nötig, Chalton Castle ist unverkäuflich. Darf ich Ihnen meine Schwestern vorstellen, Sir?“ Sie deutete auf die brünette junge Frau mit der weißen Schürze und das Kind, das ihn in den Hof geführt hatte. „Chloe und Kat ... Auch weiterhin werden wir hier wohnen.“

Bisher hatte er es höflich unterlassen, Lady Rose zu inspizieren. Aber jetzt starrte er sie verwirrt an. Ein dicker hellblonder Zopf fiel über eine Schulter ihrer Männerjacke aus grobem Wollstoff. Unter feingezeichneten Brauen, etwas dunkler als das Haar, erwiderten kühle blaue Augen seinen Blick. Die vollen Lippen lächelten nicht.

Irgendwie erinnerte sie ihn an die schwedischen Seefahrer, die ihm auf seinen Reisen manchmal begegneten – freimütige Augen in Meeresfarben, sehr attraktive, ausdrucksstarke Gesichtszüge und eine kompromisslose Einstellung.

Eine unkonventionelle Schönheit, dachte er. Selbstsicher und eigenwillig – eine Herausforderung, die das Blut eines Mannes erhitzte … Doch dieses Gefühl schien nicht auf Gegenseitigkeit zu beruhen.

Marcus war es nicht gewöhnt, von Frauen so arrogant gemustert zu werden. Oder vielleicht war Lady Rose einfach nur desinteressiert. Natürlich wäre es falsche Bescheidenheit, würde er vorgeben, er wüsste nicht, wie gut er aussah. Und so geringschätzig wie in diesem Moment war er noch nie betrachtet worden.

„Unverkäuflich? Und wenn ich die Summe verdopple, die Sie für das Schloss bezahlt haben?“ Diese absurde Offerte sprach er nur aus, um diese entnervende Person zu provozieren.

„Auch dann.“ Sie stand auf, und er sah verstört, dass sie einen zweigeteilten, weit schwingenden Rock trug. Darunter erblickte er enge Breeches über wohlgeformten Beinen und hohe Stiefel, bevor der braune Köper wieder herabfiel.

Irgendwie gelang es ihm, keine Miene zu verziehen. Falls die verdammte Frau ihn schockieren wollte, war es ihr gelungen. Doch das wollte er sich nicht anmerken lassen.

„Lady Rose …“ Er neigte den Kopf und setzte seinen Hut wieder auf. „Wahrscheinlich habe ich Sie mit meinem Anliegen überrumpelt. Nun werde ich Sie verlassen, damit Sie mein Angebot in Ruhe erwägen können, und ich hoffe, bald von Ihnen zu hören.“

„Darauf sollten Sie nicht warten, Euer Gnaden. Dieses Schloss, meine kostbare Mitgift, soll nicht zur Handelsware herabgewürdigt werden.“

„Guten Tag, Madam.“ Marcus schwenkte den Fuchs herum und ritt in gemäßigtem Tempo aus dem Hof. War das Pferd genauso erschrocken wie er?

Ihre Mitgift? Hatte Lady Rose Trafford ihm soeben einen Heiratsantrag gemacht?

2. KAPITEL

„Rose?“ Ausnahmsweise vergaß Chloe ihre übliche damenhafte Pose und starrte die Halbschwester an, die Augen weit aufgerissen. „Was um alles in der Welt hast du gemeint? Deine Mitgift?“

Vorsichtig stieg Rose die wackeligen Holzstufen zum Gras hinunter. Aus unerklärlichen Gründen fühlten sich ihre Knie zittrig an. Einen zweigeteilten Rock und Breeches in ihrem eigenen Bauernhof zu tragen, war völlig in Ordnung. Aber in dieser Aufmachung einem Duke gegenüberzutreten – jedem Mann – war skandalös. Wie leichtfertig … Wäre sie einfach sitzen geblieben, hätte er gar nichts bemerkt. Doch sie war nervös und verängstigt gewesen. Um das zu verbergen, hatte sie vor lauter Aufregung ihre unschickliche Kleidung vergessen und dem Duke of Northminster einen Blick auf ihre Beine gestattet.

„Das wisst ihr doch“, entgegnete sie. „Chalton Castle ist unser aller Mitgift – unser einziger Besitz. Deshalb habe ich es gekauft. Ein Stück Land verliert niemals seinen Wert. Und die Farm ernährt uns, während wie hier wohnen. Was ich zu diesem arroganten Duke sagte … Damit wollte ich die Ablehnung seines Angebots nur vereinfachen. Natürlich hätte ich ihm niemals die Wahrheit über unsere Situation verraten.“

Nicht dass die Ruine und das kleine Grundstück besonders wertvoll waren … Warum der Duke ihr das Doppelte des Kaufpreises zahlen wollte, den sie für das Schloss ausgegeben hatte, verstand sie nicht. Seine kalten grauen Augen hatten nicht den geringsten Hinweis auf seine Beweggründe geliefert – und dennoch irgendwie einen beunruhigenden Schauer über ihren Rücken gejagt. Ein sehr imposanter Mann, den sie geärgert hatte …

Wie auch immer, jetzt lebte sie mit ihren Halbschwestern auf Chalton Castle, das alle ernährte. Es gab genug Eier und Milch, sie bauten reichlich Gemüse an, der Esel und die Kuh grasten. Vorerst war das Dach stabil, und sie mussten keine Miete zahlen. Falls ihr nichts Besseres einfiel, wenn Chloe das heiratsfähige Alter erreichte, würde sie versuchen, den gemeinsamen Bruder Charles in die Enge zu treiben und zu beschämen. Eigentlich müsste er seinen zwei älteren Schwestern eine Saison in London ermöglichen und ihnen eine Mitgift zur Verfügung stellen. Sollte er sich weigern, konnte sie das Schloss immer noch verkaufen und Chloes Debüt finanzieren.

Charles, Earl Wighton, entstammte wie Chloe und Kat der zweiten Ehe des Vaters – dessen lang ersehnter Sohn und Augapfel. Nach Roses Ansicht ein fauliger Apfel, maßlos verwöhnt und deshalb verdorben.

Vor zwei Jahren hatte Charles, eben erst neunzehn geworden, sein Erbe angetreten, nachdem der Vater und dessen zweite Gemahlin innerhalb weniger Tage einem Grippeausbruch erlegen waren. Nicht nur den Titel des Earl hatte er geerbt, sondern auch – wie er es sah – die Last von drei Schwestern, die er versorgen musste.

Nach seiner freimütig geäußerten Ansicht hatte Rose mit ihren dreiundzwanzig Jahren bereits zu den alten Jungfern gezählt. Während ihrer drei Saisons hatte sie mehrere Heiratsanträge abgelehnt. Ihre Gründe – zu alt, zu lasterhaft, zu langweilig – hielt Charles für alberne Ausreden. Gewissermaßen, hatte er verkündet, sei sie zur alten Jungfer geboren.

Chloe würde in achtzehn Monaten debütieren, Kat war noch ein Kind. Und so hatte Charles beschlossen, die Mädchen vor dem Beginn einer fernen Zukunft zu ignorieren. Rose vermutete, bis dahin würde er sein beträchtliches Vermögen verprassen und nichts für seine Schwestern bewahren. Deshalb musste sie für die beiden sorgen.

An sich selber wollte sie nicht denken. Chloe und Kat standen an erster Stelle. Von ganzem Herzen liebte sie die Mädchen – ein Gefühl, das rückhaltlos erwidert wurde. Zu dritt hatten sie eine Familie außerhalb der Region gegründet, die durch das kühle Desinteresse des Vaters entstanden war.

„Du hast den Duke schockiert“, konstatierte Chloe – die Einzige der drei Trafford-Ladys, die eine gute Partie machen könnte. Vorausgesetzt, sie wurde bei ihrem Debüt mehreren respektablen Gentlemen präsentiert. Sie war hübsch, besaß ein charmantes und zugleich ernsthaftes Wesen und wusste sich damenhaft zu benehmen, trotz der täglichen Beschäftigung mit Hühnern und Gemüsebeeten. „Als du aufgestanden bist, hat er nach Luft geschnappt. Dann riss er sich zusammen und starrte dich arrogant an. Übrigens sieht er sehr gut aus“, fügte sie nachdenklich hinzu, „auf eine bezwingende Art.“

„Wie der Held Marmaduke in meinem Roman“, meinte Kat. „Groß und stark. Ein Mann, der alle Schurken und Drachen besiegen kann. Aber ein Duke kann nicht Marmaduke heißen, das klingt idiotisch. Also muss ich den Namen ändern.“

„Dieser Duke heißt Marcus“, murmelte Rose und wünschte, die beiden hätten nicht so nachdrücklich auf die Vorzüge des Besuchers hingewiesen. Die waren ihr viel zu betörend – und irritierend aufgefallen. In letzter Zeit gerieten nur selten attraktive Männer in ihr Blickfeld.

Ja, er sieht umwerfend aus, gestand sie sich ein und verdrängte die Erinnerung an stramme Schenkel in engen Breeches, die das Pferd kraftvoll gebändigt hatten. Und er war eigensinnig, offenbar gewöhnt, seinen Willen stets durchzusetzen. Aber warum wollte ein Mann, der halb Wiltshire besitzen musste, das kleine, heruntergekommene Chalton Castle kaufen?

„Duke Marcus der Kühne – einfach fabelhaft!“, entschied Kat enthusiastisch. „Marcus der Große. Duke Marcus Maximumus?“

„Was für ein lächerlicher Name!“, erwiderte Chloe. „Meinst du Maximus?“

„Nein, Maximumus klingt besser.“

Rose überließ die beiden ihrer Diskussion und ging zur Köchin Dorothy, die immer noch in der Küchentür stand, Messer in der Hand.

„Wer war das, Mylady?“, fragte sie. „Der gefiel mir gar nicht. Viel zu hochmütig.“

„Der Duke of Northminster. Er will mein Schloss kaufen, und ich teilte ihm mit, es sei unverkäuflich.“

„Warum ist er so braun gebrannt? Normalerweise sehen Gentlemen nicht so aus. Nun, wahrscheinlich war er an Bord eines Schiffs. Wie auch immer, er wird kein Nein akzeptieren. Zum Dinner gibt’s Hasenpastete. Ist Ihnen das recht?“ Ohne eine Zustimmung abzuwarten, stapfte sie in die Küche zurück.

Die Schwestern waren mit zwei Dienstmädchen und Jack Baines im Schloss eingetroffen. Den Gärtnergehilfen hatte Charles gefeuert, weil der junge Bursche so verantwortungslos gewesen war, einen Rechen auf dem Rasen vor dem Haus liegen zu lassen. Darüber hätte der Earl stolpern und auf die Nase fallen können.

Nach einer Woche waren die Dienstmädchen verschreckt geflohen. Nur einen Tag später tauchte Dorothy Hedges im Chalton Castle auf. Sie hatte ein Gespräch der Mädchen belauscht, bevor sie in die Postkutsche gestiegen waren. Nun betonte sie, drei junge Ladys dürften nicht allein leben. „Das schickt sich nicht“, fügte sie hinzu, nahm eine weiße Schürze aus ihrem großen Korb, streifte sie über und verknotete die Bänder. „Sicher wird der Vikar meinen guten Charakter bestätigen. Jahrelang habe ich im Grange gearbeitet. Doch die alte Mrs. Giddings ist letzte Woche gestorben. Ich bin eine respektable Witwe, das bin ich!“, betonte sie, während Rose sie anstarrte, ausnahmsweise sprachlos. „Was haben Sie diesen beiden unnützen Stadtpüppchen gezahlt, Mylady? Glauben Sie mir, ich bin dreimal so viel wert. Plus Kost und Logis.“

Schließlich hatten sie sich auf eine einmonatige Probezeit geeinigt, und seither blieb Mrs. Hedges bei den Trafford-Ladys. Rose hatte eine Köchin, eine Haushälterin und eine Bewacherin eingestellt, alles in einer Person, und dankte dem Schicksal, das die Frau zum Chalton Castle geführt hatte.

Rose nahm den Kaufvertrag aus ihrer Dokumentenkassette und studierte ihn noch einmal. Hatte sie vielleicht etwas übersehen? Nein, ihre Erinnerung täuschte sie nicht. Sie hatte das Schloss und das Landgut dem inzwischen verstorbenen Duke abgekauft. Aber obwohl seinem Nachfolger keinerlei Rechte zustanden, hatte sie das unangenehme Gefühl, Dorothy könnte recht behalten, und er würde sich nicht so leicht abweisen lassen.

Beklommen überlegte Rose, wie schwer es ihr fallen würde, sich gegen einen solchen Mann zu behaupten. Dann schüttelte sie ärgerlich den Kopf. Wie lächerlich! Er war kein Verbrecher, sondern ein Aristokrat. Und er hatte keine beängstigenden Drohungen ausgestoßen. Sie musste einfach nur bei ihrem Nein bleiben, bis er seine Bemühungen aufgab. Oder bis er ihr ein absurd hohes Angebot machte, das sie guten Gewissens annehmen konnte. Da gab es allerdings ein Problem. Viel zu deutlich hatte sie die Macht seiner Persönlichkeit und seine Willenskraft gespürt. Und ihre eigene Schwäche.

So groß und stark war er ihr im Sattel seines unmanierlichen Pferdes erschienen – so überwältigend maskulin. Und so attraktiv mit den markanten Zügen, der geraden Nase, dem energischen Kinn, mit den stahlgrauen Augen, die durch seine gebräunte Haut noch intensiver gewirkt hatten. Als er seinen Hut abgenommen hatte, war ihr sein dichtes, welliges schwarzes Haar aufgefallen.

Wie sein gebräuntes Gesicht verriet, musste er sich oft im Freien aufhalten. Und er schien keineswegs dem Müßiggang zu frönen – im Gegensatz zu seinem verblichenen Cousin, der diversen Klatschgeschichten zufolge ein verschwenderischer Geck und Genussmensch gewesen sein musste.

Ebenso wenig war er der heldenhafter Ritter, den Kat erträumte und der heranreiten sollte, um sie alle zu retten. So, wie der fünfte Duke aussah, würde er eine tugendhafte Maid wohl eher über seinen vorderen Sattelbaum werfen und mit ihr davongaloppieren. Danach wäre ihre Tugend nicht mehr der Rede wert. Rose lächelte wehmütig. Was für aufregende Fantasiebilder … Im wirklichen Leben würde sie jeden Mann erdolchen, der so etwas versuchte. Sogar, wenn es der irritierende, attraktive Duke wäre …

„Kein Glück, Sir?“ Aubrey Farthing, der neue Sekretär, stand hinter dem Schreibtisch auf, als Marcus das Arbeitszimmer betrat.

„Ist das so offensichtlich?“ Marcus warf seine Reitpeitsche und den Hut auf den nächstbesten Stuhl und zog seine Handschuhe aus.

„Nun, Ihre Miene lässt keinen erfolgreichen Geschäftsabschluss vermuten.“ Aubrey war der jüngere Bruder eines von Marcus’ Partnern, ein ehemaliger Schreiber in der East India Company. Er war sehr tüchtig, konnte gut mit Zahlen umgehen und besaß einen sympathischen trockenen Humor. Außerdem tat er, was der neue Duke wollte, statt die Regeln der Konvention zu beachten. Die nahm er nicht ernst, was er stets mit lässiger Missachtung bewies, wenn er sich einen vernichtenden Blick des Butlers Heathcote einhandelte. Nur weil er den Hausherrn nicht mit „Euer Gnaden“ anredete …

„Lady Rose Trafford lehnte mein Kaufangebot ab. Obwohl ich die Summe verdoppelte, die sie für das Schloss bezahlt hatte.“ Marcus ging zu einer Wand, an der die Landkarten seiner Güter hingen.

„Immerhin hat Mr. Barclay positive Reaktionen der Farmer gemeldet, die all die anderen unveräußerlichen Liegenschaften erworben hatten.“ Aubrey beugte sich über eine Liste, die auf dem Tisch lag. „Zweifellos möchte Lady Rose ihren Anwalt konsultieren, bevor sie sich auf das Angebot einlässt. Von einer jungen Dame darf man kein Verständnis für geschäftliche Dinge erwarten.“

„So jung, wie Sie glauben, ist sie nicht mehr. Fünfundzwanzig, dem Adelslexikon zufolge. Und wie eine Dame erschien sie mir nicht, eher wie ein Wildfang. Sie saß auf zerbröckelndem Mauerwerk – und sie trug Breeches.“

„Breeches?“ Verwirrt zog der normalerweise phlegmatische Sekretär die Brauen hoch.

„Unter einem zweigeteilten Rock.“ Marcus ignorierte den beschleunigten Puls, den diese Erinnerung bewirkte. Nur weil Lady Rose sich nicht wie eine Aristokratin benahm, standen ihm keineswegs so ungehörige Gedanken zu. „Kategorisch wies sie mich ab – unterstützt von einer kräftig gebauten, mit einem Messer bewaffneten Dienerin, einem kleinen Mädchen, das vor dem Tor der mittelalterlichen Festung Wache hielt, einem jungen Ziegenhüter und einigen Hühnern.“

Aubrey begann zu grinsen. „Offenbar haben Sie’s mit einer ziemlich originellen Lady zu tun, Sir.“

„Originell? Inwiefern? Das frage ich mich“, seufzte Marcus. „Zum Abschied teilte sie mir mit, das Schloss sei ihre Mitgift. Fast hätte ich das für einen Heiratsantrag gehalten.“

„Nun, vielleicht war’s das. Ziemlich drastisch, wegen einer verfallenen Festung und ein paar Morgen Land zu heiraten … Immerhin ist sie die Tochter eines Earl.“

Blicklos starrte Marcus vor sich hin. „Was meine unerwartete Dynastie angeht, muss ich irgendwann was unternehmen. Die Mitglieder des College of Arms erbleichten, nachdem ich mich nach der Erbfolge erkundigt hatte. Offenbar bin ich der einzige lebendige Cranford. Wie dem auch sei – ich weigere mich, eine unkonventionelle Hühnerfarmerin in Breeches zu ehelichen, die mich offenkundig hasst. Obwohl sie auch noch eine Ziege zu besitzen scheint.“

Das war zu viel für seinen Sekretär. Aubrey bekam einen Hustenanfall und floh aus dem Arbeitszimmer, kehrte wenig später zurück und entschuldigte sich mit einem Krümel im Hals. „Wie möchten Sie in dieser Angelegenheit verfahren, Sir?“

„Mit einer freundschaftlichen Annäherung hatte ich keinen Erfolg.“ Marcus setzte sich an seinen eigenen Schreibtisch am anderen Ende des Raums und zog ein Papier zu sich heran. „Mal sehen, was Formalitäten bewirken.“

„Wie viel wollen Sie zahlen, Sir?“

„Was immer nötig ist.“

„Natürlich möchten Sie Chalton Castle zurückgewinnen, denn es befindet sich schließlich seit dem fünfzehnten Jahrhundert im Familienbesitz“, bekundete Aubrey taktvoll sein Verständnis für die unkluge Extravaganz.

Wie lange es den Cranford schon gehört, ist mit egal. Marcus tauchte eine Feder ins Tintenfass. Aber es stört mich, dass ein selbstsüchtiger Verschwender das Familienerbe geopfert hat, um seinen Luxus zu finanzieren. Mein Schloss!

Für einen kurzen Moment schwebte die Feder über dem Papier, dann begann er zu schreiben.

„Wir haben Post!“ Kat schwenkte einen Brief durch die Luft und rannte in die Küche, wo gerade das Frühstück angerichtet worden war, und setzte sich.

„Wir?“ Abrupt stellte Rose die Teekanne auf den Tisch. In letzter Zeit enthielten Briefe nur selten gute Neuigkeiten.

„An dich adressiert. Edles Bütten. Gibst du mir den Brief, wenn du ihn gelesen hast? Wenn das Papier nicht auf beiden Seiten beschriftet ist …“

Rose nahm ihrer Schwester das Schreiben aus der Hand. Beim Anblick des großen roten Siegels wuchs ihre Sorge.

Nicht von Charles. Dieses Wappen kannte sie nicht. Eine zusammengerollte Schlange. Oder ein Drachen.

„Mach den Brief auf!“ Ungeduldig hüpfte Kat hin und her.

Rose breitete das dicke Papier auf dem Tisch aus und strich es glatt. Zwischen dem Marmeladenglas und dem Brotkorb wirkte die markante Handschrift völlig deplatziert.

Madam, begann sie zu lesen, morgen – am 5. Juni um zwei Uhr nachmittags – möchte ich mir erlauben, Sie noch einmal zu besuchen und den Verkauf von Chalton Castle und des dazugehörigen Grundstücks erneut mit Ihnen besprechen. Falls dieser Zeitpunkt Ihnen und Ihrem Anwalt missfällt, schlagen Sie bitte einen anderen vor. Ich will die Angelegenheit möglichst bald regeln. Selbstverständlich akzeptiere ich jeden vernünftigen Kaufpreis, den Sie mir nennen werden. Sollten Sie Hilfe bei der Suche eines geeigneten Wohnsitzes für Sie und Ihre Schwestern benötigen, werden mein Sekretär und mein Verwalter Ihnen beistehen.

Mit vorzüglicher Hochachtung, Ihr gehorsamer Diener Northminster.

„Mein gehorsamer Diener! Also wirklich! Noch nie hat dieser Mann irgendwem gedient! Geschweige denn gehorsam!“

„Von wem ist der Brief?“, fragte Chloe und warf Kat, die sich neugierig über das Büttenpapier beugte, einen strengen Blick zu.

„Natürlich von diesem unerträglichen Duke. Er will sich erlauben, mich morgen Nachmittag noch einmal zu besuchen. Wahrscheinlich möchte er mich mit Formalitäten einschüchtern, nachdem ein zwangloser Versuch erfolglos war.“ Rose gab ihr den Brief und stieß erbost ihren Löffel ins Marmeladenglas.

„Du könntest die Summe, die du bezahlt hast, verdreifachen“, empfahl ihr Chloe. Die Stirn gerunzelt, überflog sie das Schreiben. Und das Angebot des Duke annehmen, mit seiner Hilfe einen neuen Wohnsitz zu finden …

„O nein!“, jammerte Kat und sank auf einen Stuhl. „Ein anderes Schloss werden wir nicht finden. Und dieses ist perfekt. Ich will hierbleiben!“

Rose versuchte nachzudenken. „Bis zu deinem Debüt müssen wir sparen, Chloe. Für ein respektables Haus in London, für das nötige Personal … Wenn wir jetzt woandershin ziehen, brauchen wir Geld für unsere Lebenshaltungskosten, die wir uns hier auf der Farm ersparen.“

„In etwa einem Jahr wird Charles sicher merken, wie wichtig es wäre, mein Debüt zu finanzieren“, wandte Chloe ein. „Ja, ich weiß, er hat sich schrecklich benommen. Einfach niederträchtig, dass er sich über die Weiberbande beschwerte, die ihm auf der Tasche lag! Und dich so grässlich zu beschimpfen, weil du bei deinen Saisons keinen passenden Ehemann kennenlernen konntest! Aber inzwischen müsste er sich an seine Position eines Earl gewöhnt haben. Er ist älter geworden und sicher vernünftiger – verantwortungsbewusster …“ Seufzend schnitt sie eine Grimasse, als würde sie erkennen, wie unwahrscheinlich das war.

„Und Schweine lernen fliegen“, konterte Rose. „Leider wird Charles immer ein verwöhnter Egoist bleiben und sein Vermögen für Amüsements vergeuden, bis nichts mehr übrig ist. Und was dein Debüt betrifft – damit warten wir noch zwei Jahre, weil es zu grausam wäre, das einer Siebzehnjährigen zuzumuten.“

„Hast du es so sehr verabscheut?“, fragte Chloe bestürzt.

„Alle drei Saisons – ja.“ Rose verteilte gleichmäßig Marmelade auf einer Toastscheibe und zerschnitt sie in vier akkurate Dreiecke. „Am schlimmsten war die erste. Diese beängstigenden Schirmherrinnen des Almack-Clubs und ihre übertriebenen Ansprüche, die jungen Männer, die sich für Himmelsgeschenke hielten, die bissigen, klatschsüchtigen Matronen, die uns Mädchen mit Argusaugen beobachteten und auf jeden noch so geringfügigen Fehler warteten …“ Schaudernd biss sie in ein Marmeladendreieck.

„Gewiss, das klingt grauenhaft“, meinte Chloe. „Allerdings verstehe ich nicht, warum du erfolglos warst. Die Gentlemen müssen blind oder dumm gewesen sein.“

„Ich bekam sieben Anträge“, erklärte Rose in ruhigem Ton, „und ich wollte keinen der betreffenden Gentlemen heiraten.“

Sieben? Ach, du meine Güte! Also deshalb war Charles so wütend und warf dir vor, du hättest zu viel Geld verschwendet. Was ihn nichts anging. Damals war Papa noch am Leben.“

Rose biss ins zweite Toaststück. Sieben Heiratsanträge. Aber nicht der erhoffte, ersehnte, erträumte. Sieben Männer hatten sie zur Frau nehmen wollen, doch keiner hatte intensivere Emotionen gezeigt als eine milde Anerkennung ihrer Herkunft.

Und wie hätte ich einen dieser Gentlemen heiraten können, obwohl ich einen anderen liebte? Captain Christopher Andrewes

Nur selten gestattete sie sich, an seinen Namen zu denken. Sie hatte seine Gefühle und Absichten missverstanden. Alles an dieser Beziehung. An eine große, wundervolle Romanze hatte sie geglaubt. Doch für ihn war es nur Freundschaft gewesen – die perfekte Methode, an die Frau heranzukommen, die er liebte, Roses beste Freundin.

Ganz offenkundig vermochte sie nicht zu begreifen, was Männer empfanden. Das hatte sie nach dieser bitteren Enttäuschung erkannt. Welch ein furchtbarer Irrtum – so nahe war sie einer entsetzlichen Demütigung gewesen, denn sie hätte Christopher beinahe ihr Herz offenbart.

Seither akzeptierte sie, dass sie ihrem Urteil nicht trauen durfte, wenn es um tiefere Gefühle der Männer ging. Was keineswegs bedeutete, sie würde deren Ambitionen, Beweggründe, Stärken oder Schwächen falsch einschätzen …

Sie nahm einen Schluck Tee. „Wenn wir das Chalton Castle verlassen, haben wir nicht nur das Problem eines neuen Hauses. Hier beachtet uns niemand. In einer respektableren Gegend müssten wir uns entsprechend kleiden, gesellschaftliche Kontakte pflegen, Leute einladen, und so weiter. Oder die Klatschbasen verbreiten üble Gerüchte über uns. Das können wir uns nicht leisten. Wenn es an der Zeit ist – wenn wir wieder in der Gesellschaft auftauchen, muss der Eindruck entstehen, wir hätten die letzten Jahre auf einem von Charles’ entlegenen Landsitzen verbracht.“

„Und was wirst du dem Duke sagen?“, erkundigte sich Kat, die das Gespräch ihrer älteren Schwester wie ein Federballspiel verfolgte und aufmerksam von einer Seite zur anderen schaute.

„Was immer er mir anbietet, werde ich ablehnen.“

„Du könntest ihn heiraten, Rose“, schlug Chloe in sanftem Ton vor. „Zweifellos braucht er eine Ehefrau. Gestern blätterte ich im Adelslexikon des Vikars, als ich ihm die Eier brachte. Darin steht nur ein einfacher Mr. Cranford. Ledig. Doch diese Ausgabe des Buchs stammt aus dem Vorjahr, und ich glaube nicht, dass er inzwischen geheiratet hat.“

Entschieden schüttelte Rose den Kopf. „Die Frau dieses Mannes zu werden, ist das Letzte, was ich …“

„O nein, Chloe!“, mischte Kat sich ein. „Einen einfachen Duke darf Rose nicht heiraten. Denn sie ist eine Prinzessin, in diesem Schloss gefangen, bis ein Prinz kommt und sie rettet. Neulich habe ich entschieden, ein einfacher Ritter wäre ihrer nicht würdig. Und während ich über meinen Roman nachdachte, las ich andere Geschichten. Da retten die Dukes niemals vornehme junge Damen aus höchster Not, normalerweise sind sie die Schurken.“

„Wenn hier jemand gerettet werden muss, will ich das erledigen“, stieß Rose grimmig hervor. „Und falls Northminster in den Burggraben stürzt, soll er sich selber retten.“

3. KAPITEL

Sorgfältig überlegte Marcus, wie er ein zweites Mal an Lady Rose herantreten sollte. Auf ihrem eigenen Grund und Boden fühlte sie sich offenbar sicher und machtvoll genug, um ihn herauszufordern. Und sie hatte es genossen, ihn zu schockieren. Zudem war seine Ankunft auf dem verdammten Pferd äußerst ungünstig gewesen.

Lady Roses Selbstbewusstsein würde sie bei Verhandlungen stärken, also musste er ihre innere Kraft schwächen. Zu ihrer edlen Herkunft bildete die unschickliche Aufmachung einen skandalösen Kontrast. Zweifellos würde sie ihm auch bei seinem zweiten Besuch in Breeches begegnen und hoffen, ihn erneut zu verwirren.

Zum Entzücken seines neuen Kammerdieners kleidete er sich mit erlesener Eleganz. Der Dienstbote des verstorbenen Duke hatte sein Entsetzen über die entwürdigende Zumutung, einen Emporkömmling aus der Geschäftswelt umsorgen zu müssen, nicht verhehlt. Schon nach wenigen Tagen war er entlassen worden.

Bettany, der neue Mann, hatte höchstens milde geseufzt, um Marcus’ Garderobe zu missbilligen. Die Erläuterung, an Bord eines Schiffs auf hoher See brauche man bequeme, zweckmäßige Kleidung, beeindruckte ihn nicht. „Jetzt sind Sie nicht mehr auf hoher See, Euer Gnaden“, erwiderte er und wählte einen Frack mit passender Kniehose. Nachdem er seinem Herrn beim Ankleiden geholfen hatte, steckte er eine Rubinnadel in die Krawatte und reichte ihm eine goldene Taschenuhr.

Vor dem Tor des Northminster Castle wartete die blank polierte Kutsche mit dem besten Gespann aus den Cranford-Stallungen.

Die Kutsche hielt vor dem schmalen steinernen Steg, der anstelle der ursprünglichen Zugbrücke zum wuchtigen, mit Nägeln beschlagenen Tor von Chalton Castle führte. Tudor, vermutete Marcus. Während der Jahre, in seiner Kindheit auf Chalton verbracht, hatte er die Architektur des Schlosses nicht beachtet. Wie er nun feststellte, füllte das Haus – im sechzehnten Jahrhundert halb aus Holz, halb aus Stein errichtet – die Lücke zwischen den beiden Wachtürmen. Ein unsinniger Stil – jedoch hob er im Mittagssonnenschein die irreale, märchenhafte Aura der kleinen Festung hervor, die sich im Wasser des Burggrabens spiegelte …

„Sir?“

Gerade noch rechtzeitig verhinderte Marcus ein verwirrtes Zusammenzucken. Er hatte vergessen, dass Aubrey in der Kutsche neben ihm saß. Geduldig wartete der Kutschlakai vor dem Wagenschlag.

Jetzt waren Geistesgegenwart und absolute Konzentration erforderlich. Tagträume mussten vermieden werden. Marcus bedeutete dem Lakaien, die Kutschentür zu öffnen, und stieg aus, gefolgt von Aubrey, der eine Aktenmappe umklammerte.

„Das Schloss sieht besser aus, als ich es erwartet hatte“, bemerkte Marcus, um seine Zerstreuung zu erläutern. Natürlich musste sich ein Duke vor seinem Personal niemals rechtfertigen. Er sollte sich endlich abgewöhnen, dies oder jenes mit Angestellten und Dienstboten genauso ernsthaft zu diskutieren wie mit seinen Geschäftspartnern.

„Ja, Sir. Anscheinend hat es schon vor mehreren Jahren einen gewissen Verfallsstatus erreicht und wurde seither auf diesem Niveau erhalten.“ Aubrey schnaufte amüsiert. „Oh, ziemlich pittoresk. Viele Landeigner würden ein Vermögen zahlen, um etwas als romantischen Blickfang in ihre Parks transportieren zu lassen.“

Der Lakai hatte bereits die Brücke überquert und betätigte den Türklopfer, einen massiven Eisenring. Wenig später wurde das Tor von der Köchin geöffnet, die sich diesmal nicht mit einem bedrohlichen Werkzeug bewaffnet hatte. Über ihrer stämmigen Gestalt prangte eine blitzsaubere weiße Schürze, ein ebenso blendend weißes Häubchen bedeckte das Haar.

„Lady Rose erwartet Sie, Eurer Gnaden“, erklärte sie und trat beiseite, um Marcus und den Sekretär einzulassen. „Wenn Sie mir zum Salon folgen würden …“ Sie führte die Besucher durch einen kurzen Gang, den eine Holzwand an einer Seite um die Rundung eines Turms bildete.

Zum Salon? In Marcus’ Kindheit hatte das Erdgeschoss dieses linken Turms die Zentralküche und einige Lagerräume enthalten, des zur Rechten einen Wohnraum.

Die Frau öffnete eine Tür und verkündete: „Seine Gnaden, der Duke of Northminster, und sein Diener.“

Marcus hörte seinen Sekretär wieder schnaufen. Ob Aubrey belustigt oder beleidigt war, ließ sich nicht erkennen.

Aufmerksam ließ Marcus seinen Blick durch Lady Roses Salon schweifen.

Teppiche bedeckten den Steinboden. An den gläsernen Fensterschlitzen prangten leuchtend blaue Vorhänge. Die alten Eichenmöbel schimmerten blank poliert. Auf einem breiten Sofa vor dem Kamin saßen drei junge Ladys.

Höflich erhoben sie sich und knicksten, als Marcus und Aubrey den Raum betraten. „Gute Tag, Euer Gnaden“, grüßten sie im Chor.

Das glatte blonde Haar zu einem schlichten Chignon hochgesteckt, trug die älteste Lady ein elegantes grünes Kleid mit edler alter Spitze am Ausschnitt und an den Manschetten. Freundlich lächelte sie Marcus an. In ihren blauen Augen las er unverhohlenes Amüsement über die Überraschung, die er angesichts ihrer korrekten Aufmachung offenbar viel zu deutlich zeigte, „Lady Rose …“ erwiderte er und verneigte sich.

An ihrer Seite stand die zweitälteste Schwester, die er wiedererkannte, obwohl sie diesmal keine Schürze trug. „Lady Chloe.“

Also musste das einfach gekleidete Kind mit den braunen Zöpfen auf den Schultern das kleine Monstrum sein, das ihn neulich vor dem Burgtor so dreist herausgefordert hatte. „Lady – Kat?“

„Katherine“, verbesserte das Mädchen ihn grinsend.

„Darf ich den Damen meinen Sekretär vorstellen? Mr. Aubrey Farthing.“

Alle drei knicksten wieder, und Lady Rose bat lächelnd: „Nehmen Sie Platz, Gentlemen. Dürfen wir Ihnen Tee anbieten?“

„Das wäre wundervoll. Vielen Dank.“

Lady Katherine verließ das Zimmer – wahrscheinlich, um in der Küche den Tee zu bestellen.

Nachdem die anderen sich gesetzt hatten, begann der Sekretär, wie er zuvor angewiesen worden war, Konversation zu machen, lobte das milde Wetter und die schöne Landschaft. Schweigend schaute Lady Chloe auf ihre ineinandergeschlungenen Finger hinab, und Lady Rose plauderte wortgewandt mit Aubrey, als hätte sie niemals eine Ziege gesehen oder auf einer zerbröckelnden Mauer gekauert.

Marcus inspizierte den Raum ein zweites Mal, registrierte die geschmackvolle, aber abgenutzte Einrichtung. Auf Sofas und Sesseln kaschierten Kissen die vermutlich fadenscheinigen Bezüge. Die ausgefransten Kanten der Teppiche ließen sich allerdings nicht verbergen.

Was bewog die Töchter eines Earl, in gepflegter Armut eine heruntergekommene alte Festung zu bewohnen und eine Farm zu betreiben? Das alles fand Marcus immer rätselhafter.

Die Köchin trug ein beladenes Teetablett herein und stellte es auf einen Tisch, gefolgt von Kat, die eine Platte mit kleinen Kuchen daneben platzierte.

Während alle am Tisch saßen, an ihren Teetassen nippten und Kuchen verspeisten, wurde die belanglose Konversation fortgesetzt. Schließlich wandte Lady Rose sich an ihre jüngere Schwester. „Dorothy würde sich sicher über deine Hilfe freuen, Kat.“

Zu Marcus’ Verblüffung stand das Mädchen sofort auf und knickste, stellte das benutzte Geschirr auf das Tablett und trug es hinaus. Auch Lady Chloe erhob sich. Einen Nähkorb in der Hand, setze sie sich ans andere Ende des Zimmers.

Offenbar hatte Lady Rose diese Besprechung sorgsam inszeniert. Seinen formellen Brief – eine versteckte Drohung, die seinen Statuts und Einfluss hervorhob – beantwortete sie mit dem Hinweis, auch sie entstammte einer aristokratischen Familie und lasse sich von seinem hohen Rang nicht einschüchtern.

„Sie möchten mir ein Angebot unterbreiten, Euer Gnaden?“, begann sie und nickte ihm gönnerhaft zu, als wollte sie einen Kaufmann auffordern, seine Waren zu präsentieren.

Lächelnd genoss Marcus das Geplänkel, das ihm beinahe wie die Herausforderung eines Flirts vorkam. Lässig lehnt er sich auf seinem Stuhl zurück. „So ist es, und wir würden uns viel Zeit ersparen, wenn Sie mir einfach einen Preis nennen.“

„Castle Chalton ist unverkäuflich, und ich hatte gehofft, das hätte ich Ihnen bereits bei unserer ersten – Begegnung klargemacht.“ Auch Lady Rose lächelte, die Hände anmutig im Schoß gefaltet. Ein zauberhaftes und ziemlich falsches Lächeln …

„Nun, ich …“

„Warum braucht ein Duke mehr als ein Schloss?“

Das war keine unhöfliche, auch keine geplante Unterbrechung. Und sie passte nicht zur vorbereiteten Taktik der Lady. Sie war einfach nur neugierig.

„Wieso wollen Sie ein halb verfallenes Schloss erwerben?“, fuhr sie fort. „Nach allem, was ich höre, ist Northminster Castle wundervoll. Und Ihre Ahnen fanden Castle Chalton offenbar bedeutungslos. Sonst hätten sie es in die Liste der unveräußerlichen Liegenschaften aufgenommen.“

„Ein Versäumnis, das korrigiert werden muss. Seit 1491 befand sich das Schloss im Besitz meiner Familie“, erklärte Marcus lässig. An seiner Seite schwieg Aubrey, in Geschäftsverhandlungen geschult.

„Und es widerstrebt Ihnen, auf etwas zu verzichten, das Ihnen vermeintlich zusteht. Auf der Jagd müssen Sie ein wahrer Satan sein, und ich bedaure den Fuchs.“

„Ich jage nicht.“

„Wirklich nicht?“

„Seien Sie versichert, ich habe keine Zeit zu verschwenden.“

„Ach ja, Sie waren bis vor Kurzem im Handelswesen tätig. Das hatte ich vergessen.“

Ganz bestimmt nicht. Vielmehr nahm Marcus an, sie hätte gründliche Erkundigungen über ihn eingezogen. Seine Geschäfte zu erwähnen – das hatte fast beleidigend geklungen. Fast alle Mitglieder der Aristokratie würden ein kaufmännisch erworbenes Vermögen für ehrenrührig halten. Trotzdem schien Lady Rose nicht zu glauben, er müsste sich seiner Firma schämen. In diesen schönen blauen Augen las er Vorsicht und Feindseligkeit, aber keine Verachtung.

Diese Augen Plötzlich stieg ein unangenehmes Gefühl in ihm auf, das bei solchen Verhandlungen fehl am Platz war – und insbesondere im Salon einer Dame. Er schlug di...

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