Historical Saison Band 66

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EIN GENTLEMAN UND HERZENSBRECHER von TYNER, LIZ
Er ist nicht nur ein attraktiver, sondern auch ein ehrbarer Mann - davon ist Rebecca überzeugt. Hingebungsvoll pflegt die Pfarrerstochter den Fremden, den sie nach einem Überfall im Wald gefunden hat. Nach seiner Genesung macht Fenton Foxworthy ihr einen Antrag. Sie jubelt Ja - bis ihr gewahr wird, dass er sie getäuscht hat …

SKANDAL UM MISS ISABELLA von BEACON, ELIZABETH
Nie zuvor war Miss Isabella Alstone so sehr versucht, alle Regeln des Anstands zu brechen! Als ein verführerischer Mann sie vor dem Ballsaal in seine Arme zieht, schwinden ihr schier die Sinne. Doch dann erfährt Isabella, wer sie so betört hat: Wulf FitzDevelin. Der verbannte Halbbruder des Mannes, den sie heiraten soll …


  • Erscheinungstag 20.08.2019
  • Bandnummer 0066
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737405
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Liz Tyner, Elizabeth Beacon

HISTORICAL SAISON BAND 66

1. KAPITEL

Auf der Treppe vor dem Schlafzimmer polterten Schritte. Fenton Foxworthy setzte sich im Bett auf, die Decke rutschte ihm zur Taille hinab. Als die Tür aufflog, inspizierte er zuerst die Hände des Besuchers. Keine Waffe. Dann musterte er das Gesicht seines Cousins. Die übliche grimmige Miene.

„Untersteh dich zu fluchen, Andrew!“, mahnte Foxworthy. „Diese vulgären Wörter ertrage ich nicht.“

„Warum so tugendhaft?“

„Weil ich mich gerade auf dem Weg der Besserung befinde.“

„Höchste Zeit. Wie grauenhaft du aussiehst! Als hättest du eine Woche lang nicht geschlafen.“

„Wenn meine Züge eine gewisse Müdigkeit aufweisen, bestürmen mich die Damen mit Ratschlägen, die meinem Wohlbefinden nützen könnten. Also kann ich nicht klagen.“

„Soeben habe ich von deiner letzten kleinen Eskapade gehört.“

Foxworthy nickte. „Ein denkwürdiger Moment …“ Allerdings erinnerte er sich nicht an irgendwelche besonderen Ereignisse. Auf der Soiree hatte er sehr oft getanzt. Das wusste er noch. Er hatte beschlossen, mit jeder der anwesenden Damen zu tanzen und dabei ihre Vorzüge einzuschätzen.

Dann hatte Lady Havisham – ein Energiebündel, das ihm bis zum Ellbogen reichte – arroganterweise behauptet, sie könne ihn unter den Tisch trinken. Eine Herausforderung, da er schon etwas angeheitert gewesen war … Schließlich hatte er nach seiner peinlichen Niederlage ihren grauen Scheitel geküsst. Und sie hatte betont, so einen Enkel wie ihn würde sie sich wünschen.

Stöhnend berührte er seine Stirn. „Diese Frau muss den Brandy in ihr Retikül gegossen haben.“

„Du hast jemandem einen Heiratsantrag gemacht.“

„Tatsächlich?“ Foxworthy schaute seinem Cousin forschend in die Augen. War das ernst gemeint? „Lady Havisham? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie dumm genug war, Ja zu sagen.“

„Erinnerst du dich nicht?“ Erbost trat Andrew gegen einen Bettpfosten. „Erinnerst du dich nicht?“

„Im Moment nicht.“ Als Fox aus dem Bett stieg, fuhr ihm ein stechender Schmerz durch sein rechtes Knie. Langsam hinkte er zum Toilettentisch und trat etwas stärker mit dem linken Bein auf.

„Millicent Peabody. Auf einem Knie. Vor sechs Zeugen.“

„Ach ja!“ Fox lächelte. Jetzt fiel es ihm wieder ein. „Sehr romantisch. Ich wünschte nur, ich hätte ihr eine rote Rose überreicht. Aber der Heiratsantrag war nicht geplant.“ Und er hätte nicht auf das vermaledeite Knie fallen sollen.

„Warum hast du’s bloß getan?“

Fox betrachtete sein Spiegelbild. „So, wie ich aussehe, könnte ich einen Drink gebrauchen.“

„Warum hast du Mrs. Peabody vor all den Leuten um ihre Hand gebeten?“

„Millicent Peabodys Ehemann hat sich so abscheulich benommen. Erst verkündete er im Spielsalon, seit seine Frau die Kinder bekommen habe, sei sie nicht mehr attraktiv. Aber Mrs. Peabody ist bildhübsch und ihr Gemahl zu töricht, um das zu merken. Statt die Vorzüge seiner Gattin zu würdigen, steigt er jeder aufgeputzten Dirne in der Stadt nach.“

„Unsinn!“ Andrew verengte die Augen zu Schlitzen. „Diesen Unfug hast du nur getrieben, damit du in den Klatschspalten brillieren kannst. In deinem Spatzenhirn bildest du dir ein, du müsstest Lord Byron Konkurrenz machen.“

„Übertrumpfen! Ich will Byron übertrumpfen!“ Fox grinste verträumt. „Mit diesem speziellen Heiratsantrag habe ich sogar eine Debütantin zu Tränen gerührt.“

„Fox …“, begann Andrew mit leiser Stimme und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie oft hast du verheirateten Frauen solche Anträge gemacht?“

„Auf die Quantität von Heiratsanträgen kommt es nicht an, nur auf die Qualität.“

Nun hob Andrew die Stimme. „Wie oft hast du verheirateten Frauen in der Öffentlichkeit solche Anträge gemacht?“

„Natürlich kann ich ledigen Frauen keine Heiratsanträge machen, weil sie ganz verzweifelt wären, wenn ich nicht vor dem Traualtar erscheinen würde. Deshalb ist es vernünftiger, wenn ich mich an Ehefrauen halte.“

„Das sehen die betreffenden Ehemänner vielleicht etwas anders.“

Fox zog ein Hemd an. „Ja, darüber dachte ich kurz nach, aber ich fand es nicht so wichtig.“

„Nun, diese Ansicht scheint Mr. Peabody nicht zu teilen. Er fühlt sich entehrt und will dich erschießen. Falls es ihm gelingt, wird man dich erneut in den Zeitungen erwähnen. Ein guter Plan. Den hättest du schon vor Jahren verfolgen sollen.“

Fox spähte über die Schulter. „Sei versichert, mein Hinscheiden wird die Titelseiten tagelang beherrschen.“

„Vielleicht sollte ich meiner Frau vorschlagen, dein Ableben in einer Karikatur zu verewigen, eventuell auch deine Ankunft im Jenseits, wo du unverzüglich neue Opfer für deine Heiratsanträge suchen wirst.“

„Vorausgesetzt, dort drüben finde ich geeignete Ehefrauen.“ Fox goss Wasser in die Schüssel auf dem Waschtisch und warf ein Flanelltuch hinein, wrang es aus und rieb sich damit übers Gesicht. „Sieh nur zu, dass Beatrice mein Lächeln richtig hinkriegt. Die Nachwelt sollte sich an mich erinnern, wie ich tatsächlich war.“

„Mit all deinen Falten?“

Foxworthy klopfte sich die Wangen und trat wieder vor den Spiegel. Keine einzige Falte. Nicht einmal um die Augen herum. Er betrachtete sich etwas genauer. Nichts. Die Karikatur einer Person. Hastig wandte er sich vom Toilettentisch ab.

„Auf deinen Streifzügen durch die Hautevolee hast du die Ladiess scharenweise um dich versammelt“, stellte Andrew fest. „Als wolltest du ihren Ehemännern beweisen, wärst du ihnen zuvorgekommen, hätten ihre Frauen dich gewählt.“

„Gewiss, das wäre geschehen. Aber mit mir hat es nichts zu tun. Nur mit dem Vorteil meines Erbes.“

„In London gibt es drei Gentlemen, die in aller Öffentlichkeit gedroht haben, dich zu umzubringen. Sogar den Galgentod würden sie dafür in Kauf nehmen.“

„Das sagen sie nur, weil man’s von ihnen erwartet. Mit solchen Prahlereien wollen sie sich wichtigmachen.“ Fox schloss die Augen. Die Ehefrauen waren wankelmütig, die Ehemänner – feige. Seufzend hob er die Lider. Wie langweilig war das alles …

„Hast du die Frau vergessen, die dich beinahe vor den Traualtar gezerrt hätte, als du noch ein halbes Kind warst?“, fragte Andrew. Dann ergriff er eine Weste, die der Kammerdiener über einem lackierten Kleiderständer drapiert hatte, und warf sie seinem Cousin zu.

Fox fing sie auf und schnitt eine Grimasse. „Zum Glück verlor sie ihr Interesse an mir. Das Beste, was mir je passiert ist.“

„Damals. Jetzt trifft das nicht mehr zu.“

„Glaub mir, ich empfinde nichts für sie“, erwiderte Fox. „Ich habe ihr den nettesten Ehemann gewünscht, den man mit Geld kaufen kann. Und falls du vermutest, ich wäre mit der Hälfte aller Londoner Ladies so gut wie verheiratet – die sehe ich nur selten. So machen es auch meine Eltern, und die führen eine sehr glückliche Ehe.“

Andrew beobachtete ihn nachdenklich. „Da draußen gibt es viele anständige Frauen. Aber du verdienst keine.“

„Stimmt …“ Fox unterbrach sich, als es an der Tür klopfte. „Herein!“, rief er. Ein Lakai erschien mit einem Silbertablett, auf dem zwei Briefe lagen.

Nachdem Fox eine der Nachrichten geöffnet hatte, seufzte er. Lady Havisham warnte ihn vor Peabodys Zorn über den Heiratsantrag. Im zweiten Brief kündigte sein Vater einen Besuch an, weil er Foxworthys neues Pferd begutachten wollte.

„Demnächst werde ich das Landgut meines Vaters besuchen“, sagte Fox. „Er hält sich gerade in Bath auf, wo er einen neuen Vikar zu finden hofft. Danach wird er hierherkommen. In der Nähe des Landsitzes gibt es einen Pub, den ich vermisse.“ Er warf die Papiere auf das Tablett zurück. „Legen Sie die Briefe zu den anderen auf den Schreibtisch“, wies er den Lakaien an, der gehorchte und sich dann entfernte. „Sicher ist eine Flucht aufs Land das Beste, was ich im Moment tun kann. Papa wird sich wohl kaum über meine Heiratsanträge amüsieren. Zu schade, dass ich ein gewisses Quantum Alkohol nicht so gut vertrage wie Lady Havisham. Das Ale in dem Pub wird meinen Magen stärken.“

Andrew nickte. „Zumindest solltest du’s versuchen. Ich werde im White’s Club erwähnen, du würdest dich auf den Landsitz begeben. Vielleicht wird vor deiner Rückkehr jemand anderer die allgemeine Aufmerksamkeit fesseln.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Ganz London weiß, wie rachsüchtig Peabody sein kann.“

Gleichmütig winkte Fox ab und blickte wieder in den Spiegel.

Was für seelenlose Augen … Als würde ihn nichts und niemand interessieren. Mein Cousin irrt sich, entschied er. Nicht die Ehe an sich missfiel ihm, sondern die ganze Welt. Leider gab es keine andere.

„Lass dich auf dem Land nicht wegen eines idiotischen Heiratsantrags umbringen“, mahnte Andrew.

„Das verspreche ich dir. Vorerst werde ich die Öffentlichkeit meiden – und nie wieder eine Frau bitten, mich zu heiraten. Es sei denn … Lady Havisham. Die mag ich sehr gern.“ Fox lachte leise. „Und ich glaube, ihr bedeutet ihr Ehegelübde nicht so viel.“

„Meinst du das ernst?“

„Nehme ich irgendwas ernst?“

„Wahrscheinlich den Geschmack von Brandy.“ Andrew seufzte und verließ das Zimmer.

Ein paar Sekunden lang starrte Fox die geschlossene Tür an. Nicht einmal sein Cousin war ihm allzu wichtig. Sie waren zusammen aufgewachsen und hatten zahlreiche Abenteuer gemeinsam bestanden. Aber jetzt waren sie erwachsen, Andrew hatte geheiratet, und sie lebten in verschiedenen Welten.

So schnell wie möglich wollte Fox aus der Stadt fliehen. Die Heuchelei und das alberne Getue der Hautevolee ödeten ihn an. Ganz besonders sein eigenes unaufrichtiges Lächeln, das ständige spielerische Bestreben, in den Zeitungen erwähnt zu werden. Plötzlich sehnte er sich geradezu nach dem ländlichen Herrenhaus, das einer Gruft glich. Hauptsächlich, weil er seinen Vater nicht antreffen würde. Er beschloss, eine Kiste Brandy vorauszuschicken. Vielleicht zwei. Oder drei.

Am nächsten Morgen ignorierte Foxworthy das elegante seidene Jackett, das der Kammerdiener bereitgelegt hatte, und betrat die Ankleidekammer. Dort fand er den etwas abgenutzten braunen Reitanzug, der sich besser für eine Reise aufs Land eignete.

Statt die Kutsche vorfahren zu lassen, ging er in den Stallhof, wo er seinen Hengst satteln ließ. Er tätschelte Rusty den Hals, stieg auf und nahm von einem Reitknecht die Zügel entgegen.

Schon nach kurzer Zeit lag London hinter ihm. Sonnenstrahlen wärmten ihm das Gesicht. Während er die Landstraße entlangritt, sah er Dienstboten mit Körben unter den Armen dahinwandern. Nur selten begegnete er einer Kutsche.

Nach der Abzweigung der schmaleren Straße, die durch einen Wald zum Landsitz seines Vaters führte, beobachtete er, wie die Sonne hinter immer dunkleren Wolken verschwand. Da er hoffte, sein Ziel vor dem drohenden Regenguss zu erreichen, spornte er Rusty zu einem schnelleren Kanter an. Kalter Wind blies ihm ins Gesicht.

Erstaunt entdeckte er ungewöhnliche Spuren auf der Straße. Hier schien neuerdings dichterer Verkehr zu herrschen.

Ein Mann stand etwas weiter vorn am Straßenrand, einen breitkrempigen Hut tief in die Stirn gezogen. In einer Hand hielt er ein Pferd am Zügel, in der anderen einen Stock. „Ahoi!“, rief er. Seine Kleidung – maßgeschneidert … Diese goldenen Knöpfe hatte Fox schon einmal gesehen.

Aus dem Wald näherten sich donnernde Hufschläge. Ehe er seinen Hengst wenden konnte, traf ein Knüppel die Kruppe des Tieres. Rusty ging durch, galoppierte auf den elegant gekleideten Kerl zu, der zur Seite sprang und seinen Stock schwang.

Ein kraftvoller Schlag, bei dem der Stock entzweibrach, schleuderte Fox aus dem Sattel. Als er auf dem Boden landete, sah er das Gesicht des Mannes, der hinter ihm herangeritten war. Der andere stürmte zu ihm, die zwei Teile des Stocks in den erhobenen Fäusten.

Dass die zwei Angreifer ihre Gesichter nicht mit Tüchern verhüllt hatten, war kein gutes Zeichen.

Langsam schob Rebecca den Zweig eines Dornbusches beiseite, ganz vorsichtig, um sich nicht in die Finger zu stechen. Dann trat sie ein paar Schritte vor, ließ den Zweig los, der zurückschnellte und ihren Arm streifte. Der Henkel des Korbs, der an ihrer Ellbogenbeuge hing, verrutschte ein wenig, und die Eier darin bewegten sich. Aber sie zerbrachen nicht, von einem Tuch geschützt.

Sie inspizierte ihren Arm. Nur ein kleiner Kratzer, kein Blut. Sie setzte ihren Weg fort, lauschte dem Zwitschern eines Buchfinks. Sicher würde Mrs. Berryfield sich über die Eier freuen. Und Mrs. Berryfields Kinder würden eifrig in den Korb greifen, um herauszufinden, was Rebecca sonst noch mitgebracht hatte. Nichts. Bloß Eier. Natürlich würden sie enttäuscht sein. Aber ihre Mutter müsste eigentlich dankbar lächeln. Vielleicht würde sie sogar versprechen, am nächsten Sonntag den Gottesdienst zu besuchen.

Seit es so kalt geworden war, gab es kaum noch Eier. Rebecca ging zu den Bäumen auf der anderen Seite, um sich vor dem Wind zu schützen. Bald würde es zu regnen anfangen, und davor wollte sie daheim sein. Deshalb nahm sie die Abkürzung durch den Wald, dann würde sie den Pächter am entfernten Rand des Landguts, das dem altem Earl gehörte, etwas früher erreichen.

Und da sah sie eine Gestalt am Boden. Braunes Haar. Verkrümmt lag der Mann im Gras, mit dem Gesicht nach unten. Blut. Getrocknetes Blut …

Wie gelähmt blieb Rebecca stehen. Noch ein Begräbnis, das ihr Vater vorbereiten musste? Mr. Greaves oder Mr. Able? Die einzigen Männer mit braunen Haaren.

Leise stöhnte der Tote. Da konnte sie sich wieder bewegen. Sie ließ den Korb fallen und trat näher zu dem verletzten Mann. „Mr. Greaves? Mr. Able?“ In ihren eigenen Ohren klang der Ruf viel zu schrill.

Er rührte sich nicht.

Oh Gott, sie hatte Mr. Renfro vergessen, den Vater von acht Kindern.

„Mr. Renfro?“, stieß sie hervor.

Keine Regung.

Sie musste ihn umdrehen. Und obwohl Mr. Renfro nicht tot war, schreckte sie vor einer Berührung zurück, denn er roch meistens schlimmer als ein schweißnasser Ackergaul.

Wie konnte Mrs. Renfro diesen Mann ertragen? Seine nackten Füße hatten sich im hohen Gras verfangen. Offenbar waren ihm seine Stiefel gestohlen worden.

Noch immer sangen die Vögel, ringsum raschelten die Zweige im Wind.

Ein Mann durfte eine Frau nur anfassen, wenn er mit ihr verheiratet war. Aber für die Frauen galten solche moralischen Gesetze selbstverständlich nicht, wenn die Männer ihre Hilfe brauchten.

Die Zähne zusammengebissen, kniete Rebecca sich ins Gras, holte tief Luft und zerrte an der Schulter des Mannes. Damit erreichte sie immerhin, dass er die Beine ausstreckte, und sie sah seine ganze Gestalt. Keinesfalls Mr. Greaves oder Mr. Able. Nicht ganz so groß wie Mr. Renfro, der sich bücken musste, wenn er durch eine Tür ging.

Sie beugte sich hinab. Trotz der verschmutzten Kleider roch er auch nicht wie Mr. Renfro. Zögernd berührte sie die Haut an seinem Hals. Kalt.

Mit einer Hand umklammerte sie sein Hemd an der Schulter, mit der anderen die Taille und zog an ihm, bis er sich bewegte und auf den Rücken fiel.

Rebecca sank nach hinten auf die Fersen und schloss die Augen. Zweimal musste sie tief durchatmen, bevor sie den Mann wieder anschauen konnte. Seine Nase und sein Kinn waren vollkommen ramponiert und saßen irgendwie schief, vermutlich von einem wuchtigen Schlag.

Nein, dieses Gesicht gehörte weder Mr. Renfro noch Mr. Greaves oder Mr. Able. Er trug nur das Leinenhemd und Breeches. Ebenso wie die Stiefel war ihm auch das Jackett gestohlen worden. Oder man hatte es ihm weggenommen, damit er in der Kälte erfror.

Plötzlich flatterten seine Lider, ein Auge öffnete sich zu einem schmalen Schlitz. Ob er sie sah, wusste sie nicht. Dann tastete er nach ihrem Handgelenk. Was sollte sie tun? Sie drückte seine Finger und spürte, wie er den Druck erwiderte.

Aber seine Hand erschlaffte sofort wieder.

„Ich muss Hilfe holen“, erklärte sie. „Sorgen Sie sich nicht, ich komme gleich mit einem Wagen zurück.“

Da drückte er ihre Hand noch einmal. Nur widerstrebend ließ sie ihn allein. Jetzt hatte er beide Augen ein wenig geöffnet, und sie hätte schwören können, er hätte ihr zugezwinkert, bevor er die Lider wieder senkte.

Er durfte nicht zwischen den Dornbüschen sterben. Auch nicht im Pfarrhaus – obschon so etwas nicht zum ersten Mal geschehen würde. Sie stand auf, zog ihren Mantel aus und breitete ihn über den reglosen Körper des Mannes.

Während sie davoneilte, flüsterte sie ein Gebet. Gewiss war es am besten, wenn sie zu Mr. Renfros Haus rannte. Er würde den Fremden auf seinen Wagen heben und zum Pfarrhaus bringen, zu ihrem Vater.

2. KAPITEL

Lag er in einem Bett oder in einem Sarg?

Irgendetwas summte. Bienen oder Fliegen. Nein, die Stimme einer Frau – einer aufgeregten Frau. Fox versuchte gar nicht, die Augen zu öffnen und seine Umgebung zu erkunden. Wegen seiner qualvollen Schmerzen war es ihm egal, wo er sich befand oder welche Leute ihn in ihrer Gewalt hatten. Falls sie ihn töten wollten, hoffte er, sie würden sich beeilen.

Nun begann die Frau wieder zu sprechen, dann hörte er die Stimme eines offenbar alten Mannes, die sorgenvoll klang. Weder zornig noch bedrohlich.

„Wer er ist, habe ich herausgefunden“, sagte der Mann. „Ich teilte den Dienstboten im Haus des Earls mit, in unserer Gegend würden Verbrecher frei herumlaufen und ich würde ihr Opfer beherbergen.“

„Wer ist er?“, fragte die Frau.

„Das wollte Mrs. Pritchett mir eigentlich nicht verraten. Doch dann erzählte sie, der Earl habe ihr geschrieben, sie solle ein Zimmer für – einen neuen Vikar herrichten. Und sie erwähnte, den würde sie jeden Tag erwarten.“

„Oh Vater …“ Offenbar erschüttert, verstummte sie.

„Schon gut, Rebecca. Der Earl will nur das Beste. Reg dich nicht auf.“

„Ich rege mich nicht auf.“

Danach schwiegen sie. Nur das Rascheln von Kleidern war zu hören. Jemand bewegte sich, hielt neben Fox inne.

„Sind Sie der neue Vikar?“, erkundigte sich die Frau in sanftem Ton. Trotz des Dunkels, das ihn einhüllte, wusste er, dass sie sich zu ihm herabneigte. Im stieg der Geruch von Flieder und frisch gekochtem Haferbrei in die Nase.

Diese Frau kannte er nicht. Aber nicht einmal der Duft des Flieders linderte die Schmerzen in seinem Gesicht. Vor allem die Augen taten verdammt weh, und er konnte sie nicht öffnen.

Er wollte sich ausruhen. Das musste er ihr sagen, doch seine Stimme gehorchte ihm nicht. Das Atmen fiel ihm schwer. Sogar seine Gedanken bereiteten ihm Höllenqualen. Er ballte die Hände, bekam Bettzeug zu fassen. Einfach nur Ruhe …

„Sind Sie der neue Vikar?“, wiederholte die Frau.

Ruhe. Er brauchte Ruhe. Die verwehrte ihm sein schmerzender Körper. Irgendwie brachte er einen gurgelnden Laut hervor.

„Er hat Ja gesagt“, entschied die Frau.

Für wen sie ihn hielt, interessierte ihn nicht. Noch nie hatte er so schreckliche Qualen erlitten. Nicht einmal, wenn er nach durchzechten Nächten erwacht war und sich mit Brandy wiederbelebt hatte.

Ja, er würde diese Leute um Brandy bitten. Hundert Pfund würde er für einen guten Brandy zahlen, der den Blutgeschmack aus seinem Mund spülen und ihm helfen würde, Vergessen zu finden.

„Schon vor einiger Zeit hat Seine Lordschaft gemeint, ich solle in Pension gehen. Und wir wussten, er würde einen neuen Vikar suchen, Becca.“ Die Männerstimme … „Das war einer der Gründe, die ihn zu seiner Reise bewogen hatten. Also mussten wir mit der Ankunft dieses Mannes rechnen.“

„Ja, natürlich.“

Die Frau beugte sich wieder herab, stieß gegen das Bett und erzeugte Schmerzen, die Foxworthy direkt ins Gehirn schossen. Vor einer Weile hatten sie ihn entkleidet, gewaschen und in ein Hemd gesteckt. Was sie ihm zu trinken gegeben hatten, bewirkte einen bitteren Geschmack in seinem Mund, mit dem metallischen Gefühl des Blutes vermischt.

Bevor er in schwarzem Nichts versunken war, hatte er das Geräusch des Knüppels gehört. So kraftvoll in sein Gesicht gedroschen … Ein grausiger, knackender Lärm … Diese Erinnerung wetteiferte mit den Schmerzen.

„Soll ich ihm etwas Milch einflößen, Papa?“

Nein, wollte Fox schreien. Brandy.

„Schütt etwas Milch auf ein Flanelltuch, und träufle sie ihm in den Mund.“

Fox hob eine Hand und spreizte seine gebogenen Finger. Keine Milch.

„Vater, ich glaube, ich weiß, was er will. Schau doch, seine Finger scheinen ein imaginäres Glas zu umfassen.“

„Er ist nicht durstig.“

„Irgendwas sollte er trinken.“

„Lass ihn in Ruhe. Wahrscheinlich bringt er ohnehin nichts hinunter. So, wie ich seine Geste deute, möchte er nichts.“

„Vielleicht würde es ihm gefallen, wenn ich ihm etwas aus dem Gebetbuch vorlese.“

„Ja.“ Die Männerstimme entfernte sich. „Tu das.“

Wieder ein Rascheln, Fliederduft. Ohne die Augen zu öffnen, griff Fox nach der Frau. Aber seine Finger schlossen sich um etwas anderes – ein Buch.

„Oh Vater, er will das Gebetbuch haben!“ In diesen Worten schwang ein freundliches Lob mit.

So ähnlich würde meine Stimme klingen, wenn ich mich für ein Quantum Brandy bedanken könnte.

„Auch mir haben diese Schriften sehr oft segensreichen Trost gespendet, mein Kind.“

Nun raschelten die Kleider erneut, ein Stuhl wurde neben das Bett gerückt. „Am besten fange ich mit den Januar-Gebeten an und fahre fort, bis zu diesem Monat. Die erbaulichsten Stellen werde ich dem Vikar ganz langsam vorlesen.“

Es war Herbst.

Und ich bin in der Hölle.

Musste er für alle Sünden büßen, die er jemals begangen hatte? Wie lange würde ihn sein jämmerlicher Zustand hier festhalten?

Nachdem die Frau ihren Vortrag begonnen hatte, wurde sie von ihrem Vater unterbrochen. „Anscheinend kämpft er zu wenig um sein Leben. Wenn er – es nicht schafft, wird er an einen besseren Ort gelangen.“

Nein. Nein. Ich ziehe London vor. Das ist gut genug. Sogar wundervoll. Das Beste, was die Welt zu bieten hat, konnte ich genießen. Und es war ein Fehler, diese großartige Stadt zu verlassen …

Foxworthys Hand glitt seitwärts, und er krallte seine Finger in die Bettdecke, wollte das beklemmende Gefühl abwehren, ins Nichts zu schweben.

„Nun werde ich die Gemeinde auf die Gefahr hinweisen, die von diesen Banditen ausgeht“, erklärte der alte Mann.

„Hast du den Dienstboten mitgeteilt, dass der neue Vikar bei uns ist, Papa?“

„Ja.“ Ein tiefer Seufzer erklang. „Und ich habe betont, vorerst sei er nicht transportfähig. Und dass du gut für ihn sorgst. Immerhin verstehst du genauso viel wie ein Apotheker von diversen Heilmitteln.“

„Das habe ich von Mutter gelernt.“

„Hast du es gemerkt, Becca? In seiner Not streckte der arme Mann seine Hand nach dem Gebetbuch aus – nach göttlichem Trost. In diesem geschundenen Körper schlägt ein frommes Herz. Nun kann ich meinen Ruhestand frohen Mutes antreten, denn ein edler Mensch wird mich ersetzen. Allerdings nehme ich an, ich werde noch viele Gottesdienste abhalten müssen.“

„Oh ja, Vater, und du solltest deinen Nachfolger in seine Aufgaben einweisen. Sicher wirst du ihm eine wertvolle Hilfe sein.“

Nun entstand ein längeres Schweigen, dann ertönte die Männerstimme direkt neben dem Bett. „Ich freue mich schon sehr auf Ihre erste Predigt, Vikar.“

Die Augen immer noch geschlossen, atmete Fox langsam ein und aus. Ja, eine ganz besonders eindrucksvolle Predigt würde er über eines der interessantesten Gebote halten: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau.

Schritte entfernten sich.

„Verriegle die Tür hinter mir, Becca. Denn diese Schurken dürfen nicht hier eindringen, um ihr mörderisches Werk zu vollenden.“

Eine Tür fiel ins Schloss, und Fox hörte, wie ein Riegel vorgeschoben wurde.

3. KAPITEL

Während Fox döste, schwebten immer wieder Worte aus dem Nebel heran, der seine Sinne betäubte. Noch mehr Gebete, eine sanfte Stimme, die allmählich müde klang. Schließlich wurde das Buch mit einem Knall geschlossen.

Der Vortrag war etwa so vergnüglich gewesen wie die Lektüre der Briefe, die sein Vater ihm regelmäßig schickte. Wenigstens hatte die Frauenstimme ihn nicht ermahnt, eine tugendhafte junge Dame zu heiraten, die keine äußeren, sondern innere Vorzüge aufweisen müsse.

Irgendwann scharrten Stuhlbeine auf einem unebenen Holzboden, jemand bewegte sich, ein Luftzug wehte das bereits vertraute Fliederaroma zum Bett. Foxworthy wollte sich der Frau zuwenden. Doch sein Kopf war zu schwer.

Sie beugte sich zu ihm, schob ihm eine Haarsträhne aus der Stirn, kühle Finger streiften seine Haut.

„Nachdem ich Ihnen das Blut aus dem Gesicht gewaschen habe, sehen Sie besser aus.“

Seine Augen blieben geschlossen, und er erinnerte sich an den rauen Lappen, mit dem sie seine Wangen abgerieben und die Schmerzen verstärkt hatte.

Federleicht streichelte sie die Haut neben seinem Ohr, mit allen Sinnen konzentrierte er sich auf die Wärme ihrer Hand.

„Einen ganzen Tag lang haben Sie geschlafen, Sir.“ Sie strich ihm eine Haarsträhne hinters Ohr, dann verharrten ihre Finger auf seiner Schläfe. „Seit Sie nach dem Gebetbuch griffen.“

Er wartete. Warum rührte sie sich nicht mehr?

„Jetzt sollten Sie aufwachen.“

Fox wollte sie weitersprechen hören. Sofort.

„Wenn Sie Ihre Augen nicht bald öffnen, fürchte ich, Sie werden nie mehr erwachen. Und das wäre bedauerlich.“

In meiner Macht steht es nicht.

„Sie müssten rasiert werden, Sir. Vielleicht könnte mein Vater das machen. Aber manchmal zittern seine Hände etwas zu heftig.“

Als er sich eine Rasierklinge an seinem Hals vorstellte, würgte er einen gutturalen Laut hervor.

Vergeblich zwang er sich, die Lider zu heben.

„Ganz ruhig“, murmelte sie, berührte irgendetwas an seinem Hals und lockerte es. „Das habe ich gar nicht bemerkt. Offenbar haben sich die Bänder am Ausschnitt Ihres Nachthemds zusammengezogen, direkt über den Verletzungen.“

Rings um ihn wurde die Decke zurechtgezupft, und er keuchte.

„Oh, verzeihen Sie, Sir, ich wollte Ihnen nicht wehtun.“ Nun glitten die Fingerspitzen wieder über seine Wangen, glätteten abwechselnd seine Brauen. „Die einzigen unversehrten Teile Ihres Gesichts.“

Diesmal hielten die Finger nicht inne. Fox entspannte sich und genoss die Liebkosungen.

Dann pressten sich kühle Lippen auf seine Stirn – süße weiche Weiblichkeit.

„Hoffentlich können Sie gut schlafen, Sir.“

Nein, ich schlafe niemals gut.

Er verlagerte die Füße und erzeugte neue Schmerzen. Dann versuchte er seine linke Hand zu ballen. Das misslang ihm, und er erinnerte sich an den Schlag, den er mit seiner linken Faust abgewehrt hatte.

Jedenfalls glaubte er jetzt, dass er laufen könnte. Seine Beine ließen sich bewegen.

Würde er sprechen können? Er versuchte es. Erfolglos, seine Kehle schmerzte zu grausam.

Wenn die Frau ihm eine Feder in die Hand drückte, würde er es vielleicht schaffen, etwas zu schreiben. Ohne die Augen zu öffnen? Unter einem seiner Lider zuckte ein schwacher Lichtschimmer. Als Fox sich konzentrierte, nahm er die Konturen der Decke auf seiner Brust wahr.

Möglichst ausdrucksvoll bewegte er seine rechte Hand, als würde er schreiben.

Doch die Frau hielt sein Handgelenk fest. „Strengen Sie sich nicht an, Sir.“

Wie sollte er seinen Wunsch bekunden, man möge ihn auf den Landsitz seines Vaters bringen? Das schlichte, kratzige, viel zu enge Nachthemd, in das er gesteckt worden war, müsste dem alten Earl gefallen. Nun, die Dienstboten würden sicher etwas Komfortableres finden.

Fox bemühte sich erneut, die Augen zu öffnen. Schließlich flackerten die Lider, und es gelang ihm, die Augen offen zu halten. Trotzdem sah er nur Schatten. Und einen Busen.

So gut er es vermochte, kämpfte er gegen die trägen Lider an. Und da belohnte ihn ein zauberhafter Anblick. Zwei reizvolle Schönheiten, direkt vor ihm. Wie erfreulich … Und dann regten sie sich. Nicht auf die erhoffte Weise, sie verließen seinen Gesichtskreis.

„Gepriesen sei der Herr!“, rief die Frau und klatschte in die Hände. „Endlich sind Ihre Augen offen, Sir!“

Verdammt. Seine Lider senkten sich. Verdammt.

In seiner Fantasie erschien, was er soeben gesehen hatte. Verblichener, oftmals gewaschener Stoff. Anschmiegsam nach häufigem Gebrauch. Genau das, was er betrachten wollte, wenn er aufwachte. Jetzt drängte es seinen ganzen Körper, vollends zu erwachen, und das tat er auch.

Fox konnte nicht lächeln, es tat zu weh. Der Schicksalsgöttin musste er danken, denn offenbar hatte sein wichtigstes Körperteil keinen Schaden genommen – und damit meinte er nicht seinen Kopf.

Erleichtert atmete er auf und genoss die Erinnerung an verführerische Brüste.

„Oh …“ Die Frau setzte sich wieder auf den Stuhl neben dem Bett und betupfte sein Gesicht mit einem feuchten Tuch. „Sorgen Sie sich nicht, nur weil Ihre Lider manchmal zucken, Sir. Das war immer so, wenn ich mit Ihnen gesprochen habe. Deshalb weiß ich, dass Sie mir zuhören.“

Er drehte den Kopf zur Seite. Wie aus eigenem Antrieb öffneten sich seine Augen wieder, und er sah das Gebetbuch in der freien Hand der Frau.

Mit seiner linken Hand griff er danach, und die Frau überließ es ihm, half ihm sogar, das Buch auf seine Brust zu legen. Entschlossen hielt er es fest. Sie müsste das Werk der Gauner vollenden, um es ihm zu entreißen. Eine zweite fromme Lektion würde er nicht verkraften.

Becca beobachtete ihn. Wie fest er das Gebetbuch umklammerte … Ihre Brust verengte sich. Inzwischen erschrak sie nicht mehr, wenn sie sein geschundenes Gesicht sah, denn sie hatte sich an den Anblick der Blutergüsse und Schürfwunden gewöhnt. Ihre Mutter hatte ihr einmal die Geschichte eines Mädchens erzählt, das sich in ein Ungeheuer verliebte. Und jetzt verstand sie auch, warum die Frauen im Dorf die Grobheiten ihrer Ehemänner erduldeten. Weil sie das weiche Herz hinter der harten Fassade erkannten.

So fest wie möglich presste sich der neue Vikar das Gebetbuch an die Brust. Offensichtlich bedeutete es ihm sehr viel.

Sie biss sich auf die Unterlippe, dann strich sie über seine Hand. Langsam ließ sie ihre Finger von einem Knöchel zum anderen gleiten. Eine starke Hand. Nicht rau von körperlicher Arbeit. Statt für ertragreiche Ernte auf Feldern zu sorgen, hütete er das Seelenleben der Menschen.

Während er das Buch umfasste, hob er seine Finger, sodass sie ihre berührten. Vereint ruhten die Hände auf dem Gebetbuch. Nur selten war Rebecca einem Mann so nahe gewesen, und dieses Mal stockte ihr der Atem.

Sie rang nach Luft und beugte sich noch tiefer zu ihm hinab. „Geht es Ihnen gut?“

Langsam bewegte er den Kopf. Aber er drückte ihre Hand nicht. Und sein Blinzeln sollte sicher kein Ja bekunden.

„Nein, wahrscheinlich nicht, nachdem Sie so schwer verletzt wurden.“

Nun drückte er ihre Hand. Zweifellos eine Zustimmung. Rebeccas Herz pochte schneller. Gewiss ein Ausdruck ihrer Dankbarkeit, weil sie den armen Mann nicht sterben sehen musste. Das würde sie kaum ertragen.

Sie schob ihren Stuhl näher zum Bett. „Stört es Sie, wenn ich mit Ihnen rede?“

Ganz behutsam drückte er ihre Finger.

Rebecca konnte nicht widerstehen, sie musste den Druck erwidern. So groß fühlte sich seine Hand an, verglichen mit ihrer. Das gefiel ihr. Mit ihrer anderen Hand tätschelte sie seine Fingerknöchel.

Da spürte sie, wie er sich entspannte. Allmählich waren sie einander nicht mehr so fremd.

„Ich heiße Rebecca Whitelow“, begann sie, „und ich bin dreiundzwanzig Jahre alt. Als ich zwanzig war, starb meine Mutter. Noch immer vermisse ich sie jeden Tag. Ihr zu Ehren versuche ich täglich etwas Gutes zu tun. Nur nicht am Sonntag. Denn da soll man ruhen.“ Leise lachte sie, denn sie merkte, wie komisch das klang.

Sie strich das Kissen neben seinem Kopf glatt, dann sprach sie weiter.

„Von meinen guten Werken oder meinem Ruhetag erzähle ich niemandem. Sonst würde ich die Gefühle der Leute verletzen. Natürlich sollen sie nicht glauben, sie wären verpflichtet, meinem Beispiel zu folgen.“ Nun berührte sie wieder das Kissen. „Ich tue sehr gern Gutes. Aber genauso gern ruhe ich mich am Sonntag aus, das ist etwas Gutes, das ich mir selbst gönne.“ Ihre Hand war seinem Kopf so nahe, dass sie der Versuchung erlag, sein Haar zu glätten, obwohl es nicht gekämmt werden musste.

Inzwischen hatte sich sein Griff um das Gebetbuch gelockert. Aufmerksam betrachtete Becca sein Gesicht. Nein, er schlief nicht, er beobachtete sie.

„Mein Vater meint, die meisten Menschen würden viel Zeit vergeuden, indem sie auf irgendwas Wunderbares warten“, erklärte sie. „Deshalb übersehen sie wichtige Kleinigkeiten, etwa das Unkraut im Garten des Nachbarn, das sie jäten könnten.“ Sie rümpfte die Nase.

Offenbar hörte er ihr interessiert zu. Sie neigte sich näher zu seinem Gesicht. Ja, er konnte sie sehen. Jedes Mal, wenn sie sich bewegte, folgte ihr sein Blick. Deutlich erkannte sie, wie er sich anstrengte, seine Sinne beisammenzuhalten, wie er um seine Wahrnehmung rang.

„Glauben Sie, mein Vater hat mich zu Recht auf den Wert kleiner Bemühungen hingewiesen? War es richtig, mir beizubringen, man sollte seine Fähigkeiten nicht für die großen Kämpfe reservieren, sondern auch im Alltag nutzen?“

Würde er die Fragen irgendwie beantworten?

Er schloss die Augen, aber seine Finger regten sich. Trotzdem bezweifelte sie, dass er ihr beipflichtete.

„Oh, bitte, Sie dürfen keineswegs vermuten, ich wüsste grandiose Taten nicht zu würdigen.“

Jetzt klopften seine Fingerspitzen auf ihre Knöchel, eine besänftigende, allerdings zögernde Geste, als würde er nur halbherzig zustimmen.

„Verzeihen Sie, wenn Sie meine Fragen zu aufdringlich finden, Vikar.“

Rebecca wollte ihm ihre Hand entziehen. Da hielt er sie fest – nicht gebieterisch, aber mit Nachdruck. Seine Finger glitten über ihre und bekundeten sein Wohlgefallen. Plötzlich flog ihm ihr Herz entgegen. In ihrem ganzen Körper breitete sich wundervolle Wärme aus.

Die Hoffnung, die in ihr aufkeimte, ließ sie sich nicht anmerken. Niemals hatte sie zu heiraten geplant – abgesehen von jener Überlegung, Samuel Wilson könnte möglicherweise einen geeigneten Ehemann abgeben. Nicht, dass sie Sam besonders mochte. Aber er war anständig, besuchte regelmäßig den Gottesdienst, und außer ihm lebten keine passenden Kandidaten im Dorf, alle anderen Männer waren verheiratet oder zu alt. Aber dann hatte er die Frau geheiratet, die im Pub hinter dem Tresen stand. An Trudy gab es nichts auszusetzen, falls man eine gewisse Derbheit und zu kurze Röcke schätzte.

Und so hatte Rebecca sich mit dem Schicksal einer alten Jungfer abgefunden.

Oft genug hatte die Mutter sich beim Vater über den Mangel an jungen Männern beklagt, die ihre Tochter umwerben könnten. Zu viele waren in den Schlachten gegen Napoleon gefallen.

Und jetzt? Hatte eine gütige Vorsehung den Mann, der für Rebecca bestimmt war, hierhergeführt? Zweifellos brauchte ein Vikar eine Gemahlin, die sich um die Dorfbewohnerinnen kümmerte. Aber sie durfte sich keine verfrühten Hoffnungen machen.

Sie neigte sich wieder zu ihrem Schützling. „Gibt es jemanden, den wir über Ihr Unglück informieren sollten, Vikar?“

Diesmal rührte sich die Hand unter ihrer nicht, seine Augen waren ausdruckslos.

Stand er ganz allein auf der Welt? Musste sie sich schuldig fühlen, weil sie ihn daran erinnert hatte?

Vielleicht war er ledig, weil er noch keine Pfarre hatte übernehmen können, die es ihm ermöglichen würde, eine Familie zu ernähren. Jetzt würde er eine Stellung antreten – aber sein Gesicht war schrecklich entstellt. Jedem heiratswilligen Mädchen musste er missfallen. Natürlich würde er nach seiner Genesung besser aussehen, wenn Rebecca auch bezweifelte, dass er besonders attraktiv war. Seine braunen Haare ausgenommen.

Sie ergriff den Kamm, der auf dem Nachttisch lag, und kämmte ihm damit durchs Haar, obwohl es überflüssig war. Doch auf seltsame Weise beruhigten sie die seidigen Strähnen, die zwischen ihren Fingern hindurchglitten.

Wie mochte es sein, als Ehefrau das Haar des Gemahls zu schneiden? Rebecca malte sich aus, sie würde einen Stuhl ins Sonnenlicht hinaustragen und ihren Mann bitten, darauf Platz nehmen. Dann würde sie sich ihm rittlings auf den Schoß setzen, er würde ihr die Arme um die Taille schlingen. Während sie ihn kämmte, so wie jetzt, würden sie reden – über alles Mögliche. Nie wieder allein …

Vielleicht, wenn sie ihr Bestes tat, würde er sie nach seiner Genesung lieben lernen. Selbstverständlich musste sie ihm versichern, dass für sie sein Aussehen keine Rolle spielte. Nur seine Herzensgüte. Und sie würde sein missgestaltetes Gesicht sogar lieb gewinnen.

Plötzlich fiel ihr etwas sein. „Oh, ich weiß noch gar nicht, wie Sie heißen, Vikar.“

Er stöhnte.

Besänftigend drückte sie seine Finger. „Nicht so wichtig. Das können Sie mir später sagen, Vikar.“

Einen seltsamen Glanz in den Augen, hielt er ihren Blick fest. Unwillkürlich entzog sie ihm ihre Hand. Hatte sie eine Grenze überschritten? Auf welche Weise?

4. KAPITEL

Rebecca saß neben dem Bett, ihren Stickrahmen in den Händen. An den letzten Tagen hatte sie kaum ein paar Stiche zustande gebracht.

Obwohl seine Augen geschlossen waren, schlief er nicht. Manchmal bewegte er einen Arm oder eine Schulter, streckte ein Bein aus, als würde es ihn quälen, so lange stillzuliegen.

Er sah jetzt besser aus. Jetzt konnte er seine Augen zumindest ein wenig öffnen, ohne dass es ihn allzu viel Mühe gekostet hätte, die bläulich verfärbten Blutergüsse reichten nicht mehr bis zu den Ohren, und die Schwellung rings um die schiefe Nase hatte nachgelassen.

Vielleicht sah er gar nicht besser aus, und sie hatte sich nur an sein verunstaltetes Gesicht gewöhnt. Doch darauf kam es nicht an. Jedenfalls würde er genesen.

Die Schultern gebeugt, stand ihr Vater auf der anderen Seite des Betts. Nachdenklich runzelte er die Stirn. „Noch nie ist mir jemand begegnet, dem ein Gebetbuch so viel Trost gespendet hätte.“ Dann wandte er sich direkt an den Patienten. „Nun muss ich’s mir leider für den Gottesdienst ausleihen.“

Sofort hielt der Mann das Buch hoch, ohne die Augen aufzumachen, und Rebeccas Vater griff danach. Dann schaute er sie forschend an.

„Begleitest du mich ein Stück, Becca?“

Sie legte die Handarbeit auf den Boden und ging mit ihrem Vater zur Tür. Dort warf sie einen letzten Blick zum Bett. Für eine kleine Weile würde ihr Schützling sicher auf ihre Gesellschaft verzichten können. Bisher hatte sie stets an seiner Seite Wache gehalten, abwechselnd mit ihrem Vater, obschon sie inzwischen nicht mehr befürchten mussten, er würde sterben. Aber solange er die Augen nur zu einem Schlitz zu öffnen vermochte, wäre es grausam, wenn sie ihn sich selbst überließen.

Nachdem sie ihrem Vater aus dem Zimmer gefolgt war, schloss sie die Tür hinter sich. „Wirst du dich erkundigen, ob man die Schufte aufgespürt hat?“

„Nicht nötig. Wenn den Konstablern das gelungen wäre, wären die Leute längst hier gewesen, um es uns zu erzählen. Heute Morgen teilte ich dem neuen Vikar mit, ein ungesatteltes Pferd sei gefunden und in den Stall des Earls gebracht worden. Wahrscheinlich haben die Halunken den Sattel gestohlen und verkauft.“ Das Gebetbuch unter einen Arm geklemmt, wandte er sich zu seiner Tochter und ergriff ihre Hände. „Rebecca, ich habe nachgedacht. So große Sorgen mache ich mir um dich … Vielleicht wurde dieser Mann zu uns geschickt. Zu dir.“

Damit ihr Blick ihm nichts verraten konnte, senkte sie den Kopf. Genau das war auch ihr durch den Sinn gegangen.

„Allzu lange werde ich nicht mehr leben“, fuhr ihr Vater fort. „Der Earl würde sich um dich kümmern. Natürlich wird er ebenfalls bald das Zeitliche segnen. Dann wird sein Sohn das Erbe antreten. Was von ihm zu erwarten ist, wissen wir nicht.“

„Ein schlechter Mensch kann er nicht sein. Immerhin stammt er vom Earl ab.“

„Gewiss. Doch der hat mir anvertraut, der Junge sei leichtfertig und verantwortungslos. Anscheinend ist er nicht nach seinem Vater geraten.“

„Das habe ich bereits herausgefunden. Mrs. Able hat von ihrem letzten Besuch bei ihrer Schwester, die in London lebt, eine Zeitung mitgebracht. Genüsslich zeigte sie mir einen Artikel über skandalöse Heiratsanträge des jungen Gentlemans. Und offenbar befördert jede Postkutsche Korrespondenz zwischen dem Earl und seinem Sohn. Also ist Mrs. Able stets auf dem Laufenden. Aber der Earl liest keine Zeitung, in der sein Erbe erwähnt wird.“

Was Neuigkeiten aus London betraf, war Mrs. Able die beste Informationsquelle des Dorfs. Deshalb erschwerte sie es Rebeccas Vater, in seinen Predigten die Klatschsucht zu verurteilen, ohne den Eindruck zu erwecken, er würde jemanden vorschnell verdammen.

Nun ließ er die Hände seiner Tochter los und zog das Gebetbuch unter seinem Arm hervor. Obwohl er lächelte, blieb sein Blick kummervoll. „Bevor der Earl zur Einsicht gelangte und erkannte, welch ein dekadentes Leben der Junge führt, ist er viel zu nachsichtig mit ihm umgegangen. Nun gibt er sich die Schuld am Verhalten des Jungen.“

„Dazu besteht kein Grund, denn sein Sohn ist erwachsen. Übrigens meidet er unser Dorf, als hätten wir alle die Pest. Bei seinen seltenen Besuchen sitzt er angeblich stundenlang im Pub, statt seinem Vater Gesellschaft zu leisten. Und er begleitet den Earl nie zum Gottesdienst.“

„Bis zu einem gewissen Grad ist ein Mann für sein Kind verantwortlich. Allerdings hat er nicht viel Zeit, um es zu beeinflussen, bevor es seine eigene Persönlichkeit entwickelt. Jetzt bereut der Earl, dass er seinen Erben bei der Mutter zurückgelassen hat. Aber nach dem Tod der Tochter versank sie in tiefer Trauer, und der Sohn war ihr einziger Lebensinhalt.“

„Als pflichtbewusste Ehefrau hätte sie ihrem Gemahl folgen müssen.“

Entschieden schüttelte der Vater den Kopf. „Wir dürfen diese Menschen nicht verurteilen, Becca. Vielleicht hätte er bei ihr bleiben sollen. Beide waren verzweifelt, und sie lasteten einander die Schuld an dem schweren Verlust an. Schon immer war die Tochter kränklich gewesen. Die Countess warf dem Earl vor, er hätte das Mädchen zu der Heirat gezwungen. Und der Earl dachte, seine Frau hätte der Tochter verbieten müssen, so kurz vor der Niederkunft auszugehen. Dabei holte sich die junge Lady eine Erkältung, die sie im Kindbett schwächte. Den Tod seiner Tochter hat er nie verwunden. Ich glaube, in dir sieht er gewissermaßen einen Ersatz. Deshalb wird er für dich sorgen, wenn ich nicht mehr da bin. Übrigens …“ Bevor er weitersprach, räusperte er sich. „Ich bat ihn, er möge einen ledigen Geistlichen zu meinem Nachfolger ernennen, einen Mann in deinem Alter.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich ab und folgte dem kurzen Pfad zur Kirche.

Rebecca schaute ihm verärgert nach. Wie gebieterisch der Vater ihr Schicksal in seine Hände nahm, missfiel ihr. Sie würde selbst entscheiden, welch ein Leben sie führen wollte. Und sie wollte sich nicht verkuppeln lassen.

Andererseits war es ihr größter Wunsch, weiterhin im Dorf zu wohnen und ihre Pflichten so wie bisher zu erfüllen. Das würde ihr eine Ehe mit dem neuen Vikar ermöglichen.

Sie kehrte ins Haus zurück. Inzwischen war der Patient eingeschlafen. Das stellte sie fest, weil er beim Atmen leise Pfeiftöne von sich gab – so wie immer, wenn er schlummerte. Sie griff wieder nach ihrer Handarbeit.

Als sie sich setzte, stieß sie mit einem Fuß gegen ein Stuhlbein. „Verdammt!“

Da riss er die Augen weit auf und starrte sie an. Ihr Herz raste, und sie war wie erstarrt.

„Verzeihen Sie, Vikar, ich hätte nicht fluchen dürfen.“

Erstaunlich tief schaute er ihr in die Augen. Die Stickerei fiel ihr in den Schoß.

Dann löste sie sich aus der seltsamen Erstarrung. Rebecca legte den Stickrahmen auf den Nachttisch zurück, neben ein Flanelltuch. Das ergriff sie, um damit die Stirn ihres Schützlings zu betupften. Weil er zusammenzuckte, ließ sie das Tuch etwas behutsamer über sein Gesicht gleiten.

Da senkte er ein Augenlid, hob einen Mundwinkel – und zwinkerte ihr zu. Das hätte er nicht tun sollen. Wirklich nicht.

Aus einem Impuls heraus zwinkerte sie zurück.

Nichts geschah, kein Donner krachte, kein Sturm erschütterte das Haus. Ein ganz normaler, ruhiger Augenblick. Keine Schmetterlinge flatterten in Rebeccas Bauch. Stattdessen um ihr Herz herum.

So würde sie sich fühlen, wenn sie verheiratet war. Das wurde ihr in diesem Moment bewusst. Bisher hatte sie nicht erkannt, wie sehnlich sie sich den Ehestand wünschte. Jemanden an ihrer Seite, der sie mochte und umarmte, Freud und Leid mit ihr teilte … Sie hatte keine tieferen Gefühle erwartet, sondern die Ehe einfach nur für einen Status gehalten, der ihr gewisse Pflichten auferlegen und ein Dach über dem Kopf bieten würde.

Aber wie der neue Vikar sie betrachtete … Vorbei an Blutergüssen und kaum verheilten Schürfwunden schaute sie in blaue Augen voller Engelsgüte. Und sie sah jene Nächstenliebe, die auch sie erfüllte.

Nun berührte er eine ihre Hände, und sie neigte sich zu ihm. Zehn Finger schlangen sich ineinander, zwei Herzen schienen miteinander zu verschmelzen.

Nach einer Weile schlief er ein, ebenso wie ihr Arm. Vorsichtig entwand sie ihm ihre Hand, dann musterte sie seine trockenen, aufgesprungenen Lippen.

Auf dem Nachttisch stand ein Schälchen mit weicher Butter, in die sie ihren Zeigefinger tauchte. So sanft wie möglich bestrich sie die rissigen Lippen ihres Patienten mit dem heilsamen Fett. Da schlug er die Augen auf und beobachtete sie. Als sie ihren Finger vor seinem Gesicht hin und her wandern ließ, folgte ihm sein Blick. Diese Übung hatten sie schon mehrmals durchgeführt.

Plötzlich hob auch er einen Zeigefinger, den er hin und her schwenkte.

Und dann verblüffte er sie, indem er ihr das Butterschälchen aus der Hand nahm. Ohne Zögern tauchte er den Finger hinein und zog damit die Konturen ihrer Lippen nach.

Ein paar Sekunden lang konnte sie sich nicht rühren, gefesselt von einem Erlebnis, das nicht in ihre Welt passte. Sie sprang auf, warf den Stuhl um und schwankte. Beinahe verlor sie ihr Gleichgewicht.

„Vikar!“ Heiß stieg ihr das Blut in die Wangen. „Das dürfen Sie nicht …“

Aber für ihn hatte sie es getan. Sie stellte den Stuhl auf, trat dahinter und umklammerte die Lehne. Wie viel mochte von seinem misshandelten Gehirn übrig geblieben sein?

Wahrscheinlich hatte der arme Mann den Verstand verloren und ahmte einfach nur ihre Bewegungen nach. Und sie war dumm genug, eine gesunde Person hinter diesen eindringlichen Augen zu vermuten – wenn sie auch allen Grund dazu hatte. Nein, sicher war nur der Wunsch der Vater des Gedankens …

„Ich – bin – Rebecca Whitelow.“

Erwartungsvoll sah er sie an.

„Soll – ich – Ihnen – Verse – vorlesen?“

Nun hob er eine Hand, krümmte die Finger und führte ein imaginäres Glas zum Mund.

„Sind Sie durstig? Ale? Wasser?“

Angewidert verzog er das Gesicht.

„Also können Sie klar denken?“

Kaum merklich schüttelte er den Kopf.

„Sind Sie verwirrt?“

Er hob wieder die Hand. Diesmal schwenkte er das imaginäre Glas etwas nachdrücklicher. Dann versuchte er erfolglos, sich aufzurichten, und sank stöhnend ins Kissen zurück. Rebecca eilte zu einem Regal, in dem eine Flasche mit Ale und drei Gläser standen. Eines davon goss sie halbvoll und kehrte damit zum Bett zurück.

Aus eigener Kraft konnte der Patient sich nicht aufsetzen, obwohl er sich darum bemühte. Er schaute Rebecca an, einen seltsamen, unergründlichen Glanz im Blick.

Natürlich musste sie ihm helfen. Sie stellte das Glas auf den Nachttisch, während er einen neuen Versuch unternahm. Diesmal gelang es ihm, sich aufzurichten. Dabei verrutschte sein Kissen. Nach vorn gebeugt, rückte sie es zurecht. Unwillkürlich stützte sie sich auf seinen Arm. Als sie das merkte, wich sie hastig zurück. „Verzeihen Sie, Vikar. Aber Sie sollen nicht an einem klumpigen Kissen lehnen.“

Mit glühenden Augen starrte er sie an. Neben seinen Mundwinkeln waren harte Linien entstanden. Wieder einmal überlegte sie, ob der brutale Angriff seinem Gehirn geschadet hatte. Wie traurig …

Hatte der Himmel einen Mann zu ihr geschickt, der nie mehr im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte sein würde? Musste sie ihn für den Rest ihres Lebens betreuen? Einen verwirrten Mann mit zerstörtem Gesicht?

Oh, welch ein Fehler war es gewesen, einen Ehemann herbeizuwünschen …

Rebecca ballte die Hände. Falls das ihr Schicksal sein sollte, würde sie es hinnehmen – und zum Ausgleich vielleicht weniger Gutes im Dorf tun.

Hastig verdrängte sie diesen unfreundlichen Gedanken und zwang sich zu jenem heiteren Lächeln, mit dem sie übermütige kleine Kinder zu bändigen pflegte. Sie ergriff das Glas, hielt es hoch und zeigte darauf. Als sie sah, wie der Vikar den Kopf schieflegte, errötete sie. „Ach, das vergaß ich, Sir – ich kann ja reden … Möchten Sie etwas trinken?“

Er nahm ihr das Glas aus der Hand, hielt es an den nur leicht geöffneten Mund und kippte es ein wenig. Offenbar konnte er seinen Unterkiefer nicht bewegen. Aus einem Mundwinkel rann etwas Bier. Rebecca griff wieder nach dem Tuch und wollte das Kinn des Vikars abwischen. Doch mit seiner freien Hand packte er ihr Handgelenk.

Das Gesicht angespannt, nippte er an dem Ale. Anscheinend vermochte er nur einige Tropfen zu trinken. Dann stellte er das Glas auf den Nachttisch

„Wollen Sie ein Stück Weißbrot essen?“, fragte Rebecca.

Als er ihr einen stechenden Blick zuwarf, wich sie zurück. Ihre Arme hingen herab, und sie krallte die Finger in die Falten ihres Rocks. Vielleicht sollte sie ledig bleiben. In diesem Dorf gab es viele alte Jungfern und Witwen.

Aber ein paar Sekunden später wurde ihr die Realität bewusst. Wenn der neue Vikar eine andere heiratete, würde sie einfach nur eine alte Jungfer sein. Wenn der Stolz auch eine Sünde war – die Gemahlin des neuen Vikars würde eine gehobene Position einnehmen. Sogar jetzt, während sie als Tochter ihres Vaters das Pfarrhaus bewohnte, genoss sie eine privilegierte Stellung. Immer wieder wandten sich ältere Frauen an sie, falls sie Ratschläge oder ein geneigtes Ohr brauchten.

Um weiterhin die Rolle zu spielen, die sie von ihrer Mutter übernommen hatte, musste sie diesen Mann heiraten. Also würde sie gut für ihn sorgen.

Alles, was nötig war, wollte sie tun und sich sogar einem Mann unterwerfen, der umschmeichelt werden musste, damit er eine Scheibe Weißbrot aß.

Rebecca musterte sein Gesicht. Mit den Schwellungen rings um die Augen und der schiefen Nase glich er eher einem Kriminellen als einem ehrbaren Menschen.

Vielleicht hatte er starke Schmerzen.

„Möchten Sie ein bisschen Laudanum haben?“

Nein, er brauchte kein Laudanum. Er wollte edlen Wein trinken und fröhlich tanzen, nicht in einem Bett liegen und von dieser Frau bemuttert werden. Gereizt schürzte er die Lippen, und prompt strömten ihm heftige Schmerzwellen durch den Kopf.

Sein Zorn kämpfte gegen die Qual, was beides noch steigerte. Foxworthy schloss die Augen und versuchte den Schmerz zu bezwingen. Noch nie war er an ein Bett gefesselt gewesen, noch nie zur Reglosigkeit verdammt. Normalerweise wäre er aufgestanden und hätte selbst den verdammten Brandy geholt. Er öffnete den Mund, und da schossen ihm schon wieder tausend Schmerzpfeile durch den Schädel.

Gepeinigt verkrampfte er sich, verschränkte bebend die Arme.

„Vikar. Vikar …“ Eine sanfte Stimme, ein Wispern. Dann ein leichter Druck auf seiner Brust. Kein Schmerz. Nur beruhigende Hände.

Er hob die Lider – nur weit genug, um das Gesicht der Frau zu sehen.

Mit großen Augen starrte sie ihn an. „Lassen Sie mich los“, flüsterte sie.

Da merkte er, dass er mit seinen verschränkten Armen ihre Hände auf seiner Brust festhielt. Er ließ die Arme seitlich neben seinen Körper hinabgleiten, und die Frau richtete sich auf, entfernte den Trost ihrer Wärme. Aber nicht restlos. Ein kleiner, kostbarer Teil blieb zurück, ein winziger, angenehmer Fleck, frei von Schmerzen.

Die Augen weit aufgerissen, starrte sie ihn an, und er seufzte. Vermochte sie nicht mehr zu sprechen, ebenso wenig wie er? Oder wollte sie es nicht?

Sie wirkte eher unscheinbar, das Haar straff aus dem Gesicht gekämmt, die personifizierte Frömmigkeit. Ein herzförmiges Gesicht, mit weichen Konturen. Und die sanftesten dunklen Augen, die er je gesehen hatte. Fox konnte nicht anders, er umfasste wieder ihre Hand. Diesmal nicht von Qualen überwältigt – wie zuvor, wann immer er ihre Hand gehalten hatte.

Seltsam, ihre Hand … Ziemlich rau, im Gegensatz zu ihrem weichen Gesicht.

Als sie ihm ihre Hand zu entwinden trachtete, hinderte er sie daran, weil er die Wahrheit ergründen musste. Und so inspizierte er Abschürfungen, gerötete Stellen, einen eingerissenen Fingernagel.

Abrupt machte die Frau sich los. Da er sich nicht mit Worten entschuldigen konnte, versuchte er es mit seinem Blick. Nicht für sein Ansinnen, ihre Hand zu ergreifen, sondern für ihr hartes Leben. Wäre sie eine Lady gewesen, hätte sie in ihrem Haus gesessen, Klavier gespielt oder sich mit einer kunstvollen Handarbeit beschäftigt.

Dann wäre er gestorben.

Während er ihr Gesicht musterte, entsann er sich eines Gesprächs zwischen der jungen Frau und ihrem Vater, an ihren Bericht, wie sie den bewusstlosen, verletzten Fremden gefunden hatte.

Es war kalt gewesen, als er zum Landsitz seines Vaters aufgebrochen war. In der herbstlichen Nacht mussten die Temperaturen noch gesunken sein. Sicher wäre er auf dem eisigen Erdboden erfroren.

Und er dachte auch an die Scherze, die er über die schluchzende Damenschar bei seinem Begräbnis gemacht hatte. Natürlich eine Illusion … Sein Tod, in einem Skandalblatt breitgetreten, würde viele Leute an seine albernen Witze erinnern, aber niemandem Tränen entlocken. Nur seine Mutter würde weinen und einen Schrein zu seinem Andenken errichten.

Vielleicht würden seine Cousins und Cousinen einen Tag lang trauern und danach ihr gewohntes Leben fortsetzen. Andrew und der Duke of Edgeworth hatten geheiratet und versanken in ihrer komfortablen Langeweile. Wenn ihre Kinder älter waren, würde man ihnen sicher Geschichten über ihren Onkel Fox erzählen. Zur Abschreckung – damit sie erkannten, welch ein grausamer Tod einem leichtfertigen Lebemann drohen mochte.

„D-danke …“, brachte er mühsam hervor.

„Ich habe nichts getan“, erwiderte die junge Frau.

Als er seine Hände ausstreckte, berührte sie zaudernd eine seiner Handflächen. Da zog er sie zu sich herab. Die raue Haut konnte er nicht wegküssen. Auch nicht weglachen.

Und so legte er sich ihre Handfläche auf die Brust, direkt über dem Herzen.

Da wurde ihr Gesicht völlig ausdruckslos.

„Re-ecca …“ Seine Stimmbänder versagten ihm den Dienst. Trotzdem musste er wenigstens versuchen, den Namen auszusprechen.

„Vikar“, wisperte sie.

Nach einem tiefen Atemzug entfernte er ihre Hand von seiner Brust, hob sie hoch und ließ sie behutsam los.

Diese junge Frau war rein. Zu rein. Zu fromm. Wie sonderbar …

5. KAPITEL

Wenn dies ihr Ruhetag sein sollte, verstand Foxworthy, warum ihre Haut immer so rau aussah. Sie hatte ein paar Kleidungsstücke im Freien gewaschen und die Arbeit vor Kurzem unterbrochen, um sich am Kaminfeuer zu wärmen. Dabei schrieb sie einen Brief – offenbar für eine alte Dame mit knotigen Fingern an deren Schwester in Leeds.

Aus Rebeccas Dutt hatten sich einige Strähnen gelöst und umrahmten ihr Gesicht.

Er sollte sie um eine Feder und Papier bitten, denn er musste endlich aufschreiben, wer er wirklich war. Als er sie zu sich winkte, ignorierte er die Schmerzen, die ihn jedes Mal peinigten, wenn er einen Arm hob.

„Was brauchen Sie?“, fragte Rebecca. Große Augen. Weiche Wangen.

Wenn es ihm auch widerstrebte, seinen Vater aufzusuchen – er musste ihr seine wahre Identität mitteilen. Dann würde er wieder der Erbe sein, von den Dienstboten des Earls umsorgt, und sich über ihre kaum verhohlene Missbilligung ärgern, die seinem Lebenswandel galt. Indem diese Leute ihre Pflichten perfekt erfüllten, konnten sie ihm stets noch viel besser als sein Vater klarmachen, wie unwillkommen er auf dem Landsitz war.

Er deutete auf den Sessel neben dem Bett.

Da legte Rebecca die Feder beiseite, stand vom Tisch auf, und er streckte seine Hand aus. Sie inspizierte jeden einzelnen seiner Finger mit dem Blick, er wartete und presste schließlich die Lippen aufeinander.

Trotz seines verunstalteten Gesichts glaubte er, ihm würde jenes Lächeln gelingen, das bislang jede Frau unweigerlich in seine Nähe gelockt hatte. Aber sobald er seine Kiefer bewegte, schienen dämonische Klauen an beiden Mundwinkeln zu zerren, seine Züge erstarrten, und er rang nach Luft.

„Oh …“ Rebecca eilte zu ihm, und sein Blick flehte, sie möge ihn nicht berühren. Aber sie ergriff seine ausgestreckte Hand und drückte sie besänftigend, bis er wieder etwas ruhiger atmete.

„Re-ecca …“ Die schwache Stimme erstarb.

„Haben Sie starke Schmerzen?“

Er schüttelte ganz langsam den Kopf. „Nur – Sprechen tut weh“, krächzte er und bemühte sich, die Lippen nur ganz leicht zu bewegen.

„Wer hat Sie überfallen?“ Behutsam entwand sie ihm ihre Hand.

„Weiß nicht …“

„Ich bin so froh, dass Sie die Attacke überlebt haben“, beteuerte Rebecca. „In dieser Gegend laufen so viele Banditen frei herum, und das macht mir Angst.“

„Nicht gegen Dorf.“ Fox klopfte sich aufs Brustbein, um ihr zu bedeuten, die Halunken hätten es nur auf ihn abgesehen.

Es mussten vier Männer gewesen sein, da war er sich sicher. Der Kerl mit den Goldknöpfen hatte sie befehligt. Nicht Peabody. Jemand anderer hatte seinen Komplizen aufgefordert, Foxworthy bewusstlos zu schlagen, und verkündet, neulich habe sich der Halunke seinen letzten Heiratsantrag gestattet.

Beim besten Willen konnte Fox sich nicht entsinnen, dass er der Gemahlin dieses Mannes einen Heiratsantrag gemacht hatte, denn der war noch ziemlich jung gewesen. Er erinnerte sich an die jungen Frauen, mit denen er geflirtet hatte, alle waren mit älteren Männern verheiratet.

„So schnell wie möglich müssen diese Schurken festgenommen werden“, meinte Rebecca. „Jetzt sind Sie wach, Vikar, und können sie beschreiben.“

Fox verschränkte seine Handgelenke, dann breitete er plötzlich seine Arme aus.

„Also wollen Sie nicht, dass sie verhaftet werden.“ In ihren Augen erschien ein warmer Glanz. „Wie großmütig Sie sind!“, flüsterte sie ehrfürchtig.

Noch nie hatte ihn jemand so bewundernd angeschaut. Nun ja, vielleicht so manche Frau nach einem Liebesakt.

„Die Bereitschaft zu verzeihen ist eine bemerkenswerte Tugend“, fügte Rebecca hinzu.

Natürlich verzieh er den Schuften nicht. Und vermutlich hätte er an ihrer Stelle genauso gehandelt. Wer immer von Rachsucht getrieben wurde, konnte mit Foxworthys Verständnis rechnen.

„Die Verbrecher hätten Sie fast umgebracht, Vikar. In der kalten Nacht, ohne Ihren Rock und die Stiefel, wären Sie gewiss erfroren.“

Falls die Banditen seinen Reitrock und die Stiefel gestohlen hatten, machten sie sich lächerlich. Der Rock war schon mehreren Motten ein Labsal gewesen. Den hatte er nur für die Besuche bei seinem Vater verwahrt. Um der Vorliebe des Earls für schlichte Kleidung zu entsprechen oder um diese Neigung zu verhöhnen? Das wusste er nicht so genau. Jedenfalls würde er so einen Lumpen nur auf dem Land tragen, niemals in London.

Er betastete sein Gesicht. Aufgedunsen. Nicht so, wie es hätte sein sollen. Seine Nase fühlte sich an wie jene, die er einmal in Gentleman Jackson’s Boxclub gesehen hatte. Und seine Haut schien jemand anderem zu gehören. Mit Bartstoppeln. Üblicherweise rasierte er sich jeden Morgen, weil er zarte Frauengesichter nicht zerkratzen wollte.

„Spiegel?“ Er hob sich eine Hand vor die Augen. Die andere Hand bewegte er so, als würde er sich rasieren

„Da müssen Sie sehr vorsichtig sein.“ Rebecca holte einen kleinen Wandspiegel, den sie ihm reichte.

Verwirrt zuckte er zusammen, spähte in das Glas und glaubte zu träumen. Ein Monstrum blickte ihm entgegen.

„Heiliger Himmel …“ Verdammt! Er sah aus – wie irgendetwas, das ein Metzger weggeworfen hatte. Diese schiefe Nase … Die eine Hälfte seines Gesichts wirkte fast normal, die andere, hässlich geschwollen, erweckte den Eindruck, er hätte überreife Pflaumen in sich hineingestopft, deren Farbe durch die Haut schimmerte. Über die dicke Wange zog sich eine kaum verheilte Schnittwunde.

Geschäftig eilte Rebecca davon und bereitete das Rasierwasser vor. „Seit ich Sie gefunden hatte, sahen Sie jeden Tag schlimmer aus, Sir“, erklärte sie vom gegenüberliegenden Ende des Raums. „Die Blutergüsse verdunkelten sich, eine Wange glich einem Plumpudding, die andere einem Aprikosenkuchen.“

Fox stellte sich widerstrebend vor, wie triumphierend Mr. Peabody ihn mustern würde.

Aber solange er so grässlich aussah, würde er sich nirgendwo blicken lassen. Er spähte wieder in den Spiegel. Welch eine grausige Fratze … Als er sich auf die schiefe Nase konzentrierte, durchfuhr ihn ein Schauer, der neue Schmerzwellen erzeugte. Die Gauner hätten ihn umbringen sollen, das wäre barmherziger gewesen. Entsetzt entdeckte er einen Blutfleck in einem weißen Augapfel.

Zu Rebecca gewandt, deutete er auf sein Gesicht. Er sagte nichts. Doch sein Blick verlangte deutlich: Schauen Sie sich das an!

„Wenn Sie rasiert sind, werden Sie besser aussehen.“ Ihre Stimme bebte. Dennoch bemühte sie sich, einen gewissen Optimismus zu bekunden.

Besser? Herausfordernd starrte er sie an.

„Sie haben schönes Haar, Vikar. Vielleicht sollten Sie es wachsen lassen.“

Seine ganze verdammte Visage müsste er damit verdecken.

„Das Gesicht eines Menschen ist nicht so wichtig“, behauptete sie.

Für ihn schon. Vor allem sein Lächeln. Oh Foxworthy, du hast so ein zauberhaftes Lächeln. Etwa tausendmal hatte er das gehört. Und diese blauen Augen …

„Und eventuell …“ Rebecca unterbrach sich, nahm ihm den Spiegel weg und hängte ihn wieder an die Wand. Dann kehrte sie zu Fox zurück. „Wie wär’s mit einem Bart? Kurz gestutzte Bärte können …“

Was? Er wartete.

„Ganz – nett aussehen.“

Wie weh das tat … Schrecklich weh. Er schnaubte verächtlich. „Apostel haben Bärte getragen.“ Trotz der Schmerzen in seinen Kiefern hatte ihm heller Zorn geholfen, einen ganzen Satz auszusprechen. Beide Hände über der Brust gefaltet, versuchte er sich zu entspannen.

„Ein Vikar darf nicht so sarkastisch sein.“

Aber er war kein Vikar. Er hielt einen Finger hoch, zeigte himmelwärts und schüttelte den Kopf – möglichst vorsichtig, um keine neuen Qualen zu bewirken. Niemals würde er ein Vikar sein. Irgendwie musste er ihr das begreiflich machen.

„Oh …“ Sichtlich bestürzt neigte sie sich zu ihm herab. Mit beiden Händen umfing sie seine rechte Hand, die zum Himmel wies. „Das habe ich noch gar nicht bedacht! Nein, bitte … Wegen dieses Unglücks sollten Sie Ihren Glauben nicht verlieren.“

Sie sah ihn flehend an. Besänftigend strich sie ihm über die Fingerknöchel, und Fox wollte sich ihrem Griff nicht entziehen. Diese Frau, die ihm vorschlug, sein Gesicht hinter langen Haaren und einem Bart zu verstecken, meinte es nur gut mit ihm. Zweifellos tat sie ihr Bestes. Sie hatte ein ungewöhnlich weiches Herz. Und dazu kam auch die etwas fehlgeleitete Neigung, edle Werke zu vollbringen.

Um die Wahrheit noch klarer auszudrücken, hob er seine linke Hand und zeigte nach oben. Dann klopfte er sich mit vier Fingern auf die Brust und machte eine Geste, als würde er etwas wegwischen.

„Nein!“, mahnte Rebecca. „So etwas dürfen Sie nicht empfinden.“

Er klopfte sich wieder auf die Brust. Also gut, er musste ihr sagen, worum es ging, und seine Kiefer möglichst schonen. „… echt.“

Verwirrt zog sie die Brauen zusammen. Er hatte ihr mitteilen wollen, er sei schlecht. Nun versuchte er es mit fast reglosen Lippen. „Nicht – gut.“

Mit ihren rauen Fingern umklammerte sie seine rechte Hand noch fester. „Keiner von uns ist gut genug. Bitte, glauben Sie deshalb nicht, was immer Sie taten, müsste bestraft werden. Jene Männer sind die verdammenswerten Sünder. Und Sie sind ein guter Mensch, weil Sie ihnen verzeihen.“

Nach der Rache wollte er den Schurken verzeihen. Die Vergebung würde ihm viel leichter fallen, wenn die Feinde tot waren. Übrigens wusste er verdammt genau, dass seine eigenen Taten zu der Misere geführt hatten.

Das gehörte zum Spiel. Dieser Tanz am Rand des Abgrunds, um auszuprobieren, wie weit er gehen konnte, ohne abzustürzen und sein Lächeln zu verlieren …

Nun, sein Lächeln hatte er verloren, und er war einen Schritt zu weit gegangen – was keineswegs bedeutete, dass er nicht mehr dazu in der Lage wäre, ein neues Spiel zu beginnen. Ja, er wünschte sich, die Schufte zu töten, die ihn umzubringen versucht hatten. Wahrscheinlich würde man ihn deswegen nicht einmal belangen. Wenn die Polizisten wussten, wie er früher ausgesehen hatte, würde ihnen ein Blick in sein Gesicht genügen, um eine Bagatelle wie einen Mord zu übersehen.

Doch dann gestand er sich die Wahrheit ein – er war der Spielerei müde. Deshalb hatte er einen Besuch auf dem Landsitz beschlossen – einerseits. Und andererseits, um sich diese Langeweile auszureden und seinen Vater ein bisschen zu ärgern.

Ausgerechnet ihn hielt Rebecca für einen Tugendbold. Vielleicht sollte sie sich das gründlich überlegen.

Er entzog ihr seine Hand, ballte sie und imitierte einen Fausthieb auf sein Gesicht.

„Nur auf die inneren Werte eines Menschen kommt es an. Gerade Sie sollten das wissen, Vikar.“

Gegen diese Frau war offenbar kein Kraut gewachsen.

„Ich – möch…“ Seine Kiefer schmerzten wieder einmal so stark, dass er nicht weiterzusprechen wagte. Diese Anstrengung wollte er ihnen nicht zumuten. Und so wiederholte er mit seiner rechen Hand die Bewegung des Schreibens.

Diesmal verstand Rebecca seinen Wunsch. Sie ging zum Schreibtisch, holte Papier, eine Feder und das Tintenfässchen. Nachdem sie alles auf den Nachttisch gestellt hatte, tauchte sie die Feder in die Tinte und reichte sie ihm hin.

Fox griff danach, umklammerte das Papier und schaute ihr in die Augen.

So sanft und geduldig. Abwartend.

Nur einen einzigen Satz müsste er schreiben, und die Dienstboten seines Vaters würden ihn sofort auf den Landsitz verfrachten.

Und sobald der Earl von seiner Reise zurückkehrte, würde sein Sohn nichts anderes hören als die Geschichte von sündhaftem Lebenswandel, der unweigerlich ins Verderben führen musste. Diese Geschichte wiederholte der Vater bei jedem Besuch. Dabei schaute er durchdringend ins Gesicht seines nichtswürdigen Erben und schien jeden noch so winzigen Pickel wahrzunehmen.

Plötzlich stieg heißer Zorn in ihm auf, verdrängte alle anderen Gedanken. Nein, nie wieder würde er seinen Vater besuchen. Nie mehr.

Ein Tintentropfen fiel auf das Papier.

„Soll ich Ihnen helfen, Vikar?“ Rebecca neigte sich zu ihm, eine dünne Haarsträhne kitzelte seine Wange, Fliederduft hüllte ihn ein.

Da kehrte sein Rachedurst zurück.

Sie hielt das Papier fest und brachte ihn aus dem inneren Gleichgewicht.

Dank Ihrer Worte …, begann er zu schreiben. Dann war die Tinte aufgebraucht. Als er Rebecca die Feder hinhielt, streiften sich seine und ihre Finger. Sie tauchte die Feder in das Fässchen, gab sie ihm zurück, und während sie sich über das Papier beugte, spürte er ihre Schulter an seiner.

… glaube ich, dass …, schrieb er weiter, holte tief Luft und ließ sich Zeit, bis die Tinte wieder erneuert werden musste. … Rache nicht richtig ist.

Aber notwendig, ergänzte er nur in Gedanken.

Sichtlich erfreut nahm sie ihm die Feder aus der Hand und legte sie auf den Nachttisch. Ein strahlendes Lächeln erreichte ihre Augen.

Diesen Blick zu erwidern – das gefiel ihm viel besser, als in den Spiegel zu schauen. Und wenn sie einen Vikar in ihm sehen wollte – nun, falls sie das glücklich machte, würde er eben vorerst ein Vikar bleiben. Sobald er von der Rückkehr seines Vaters hörte, würde er sich an den Landsitz heranpirschen, Rusty aus dem Stall holen und nach London zurückkehren. Wer er war, würde Rebecca nie erfahren.

Wenig später trat ihr Vater ein.

Die Hände hinter dem Rücken verborgen, entfernte sie sich hastig vom Bett. Fox beobachtete, wie der alte Geistliche die Brauen hob und vielsagend lächelte.

„Heute hast du eine gute Messe versäumt, Becca, eine meiner besten Predigten.“ Er stellte die Stiefel, die er ins Zimmer getragen hatte, auf den Boden, dann hängte er seinen Schal und den Mantel an einen Haken neben der Tür. „Diesmal ging es um Stolz und Prahlerei.“

„Schon wieder, Vater!“, sagte sie seufzend und wandte sich an Fox. „Das ist sein Lieblingsthema.“

„Außerdem teilte ich der Gemeinde mit, unser Gast befinde sich auf dem Weg der Besserung. Und ich erwähnte, demnächst würde ein jüngerer Mann meine Position übernehmen.“

„Oh n…ein – Vikar“, stammelte Fox.

„Wie freundlich von Ihnen, mir zu widersprechen, mein Sohn.“ Das Lächeln des Vikars nahm wehmütige Züge an. „Gleichwohl werden Sie Ihre Aufgaben großartig erfüllen. Sonst hätte der Earl Sie nicht ausgewählt.“

Die Stiefel wieder in der Hand, trat er näher zum Bett. Sie waren von guter Qualität, ziemlich abgewetzt.

Woher mochten sie stammen? Ein vager Argwohn stieg in Foxworthy auf. Niemals hätte er vermutet, er wäre zu solchen Emotionen fähig. Nach gründlicher Überlegung entschied er, keine Fragen zu stellen, er wollte es gar nicht wissen. Doch er schaute über die Bettdecke hinweg und sah seine nackten Füße. Dann versuchte er den hässlichen Gedanken zu verdrängen. Würden arme Dorfbewohner ihre abgewetzten Stiefel so lange tragen, bis sie von den Füßen fielen?

„Nun, Becca, was für eine köstliche Mahlzeit wirst du für uns kochen?“, erkundigte sich der Vikar.

Rebecca entfernte sich, um ihren häuslichen Pflichten nachzugehen, und ihr Vater trug die Stiefel in den Flur hinaus.

Dann kehrte er zurück und erzählte Fox von seiner verstorbenen Frau. Eine wahrhaft Heilige – und sie beide seien so glücklich gewesen, weil der Allmächtige sie mit einer Tochter wie Rebecca gesegnet habe.

Während er eine Lobeshymne auf seine Tochter sang, rutschte Fox tiefer unter die Decke. Wusste Rebecca, dass ihr Vater sein Gebetbuch gegen die Auskunftsbereitschaft eines Kupplers eingetauscht hatte?

Der Vikar unterlag einem gewaltigen Irrtum, wie so viele Väter, wenn es um ihre Kinder ging. Eheliche Treue war für Geistliche und Einfaltspinsel reserviert. Aber vielleicht auch für einen Mann, der so schrecklich entstellt war, dass nur eine Gemahlin ihn berühren würde.

6. KAPITEL

Nach der Mahlzeit verließ der alte Vikar, ein etwas ungeschickter Kuppler, das Haus. Wie er verkündet hatte, wollte er noch mehr Männer für die Fahndung nach den Verbrechern anheuern, die über einen Mann Gottes hergefallen waren.

Reine Zeitverschwendung, dachte Fox, es sei denn, sie suchen in London nach eifersüchtigen Ehemännern.

Das Kissen fester unter den Kopf gestopft, beobachtete er Rebecca. Während sie geschäftig umhereilte, schwang ihr Hinterteil reizvoll hin und her. Welch ein Fehler war es gewesen, sie für unscheinbar zu halten … Sie ging am Fenster vorbei, und da bewiesen ihm funkelnde Sonnenstrahlen seinen Irrtum.

Wollte die Sonne ihn verspotten, indem sie ihm zeigte, was er nicht haben konnte? Er schaute wieder zur Zimmerdecke hinauf und versuchte sich an einen Wunsch in seiner Vergangenheit zu erinnern, der unerreichbar gewesen war. Da fiel ihm nur Mrs. Lake ein. Um sie aus seinen Gedanken zu verbannen, hatte er sich gewaltig anstrengen müssen. So viel berückende Schönheit war allein schon durch ihre Existenz in seine Welt gedrungen. Damals hatte er beschlossen, nie wieder würde er jemandem so viel Aufmerksamkeit schenken.

Er hatte sogar den renommierten Karikaturisten James Gillray dazu überredet, eine Karikatur anzufertigen. Darauf stand Fox inmitten einer Schar von Frauen aller Altersklassen, mit unterschiedlichen Figuren. Sie wurde veröffentlicht, und er war sicher, seine Angebetete musste sie gesehen haben.

Und dann starb Mrs. Lakes Ehemann. Die trauernde Witwe war über alle Maßen schön – und mit ihren zweiunddreißig Jahren doppelt so alt wie Fox, als sie ihren Fächer auf seine Schuhe fallen ließ.

Mit bebender Stimme vertraute sie ihm das Leid ihres Verlustes an. Die tränenfeuchten Augen taten ihm in der Seele weh, Hilfe suchend umfasste sie seinen Arm … Damals war er zu naiv gewesen, um zu merken, dass sie sich über ihn lustig gemacht hatte.

In jenem Moment verlor er sein Herz, und wenige Tage später gestand er ihr seine Liebe. Da versprach sie ihm zu warten, bis er alt genug für eine Heirat sein würde. Aber nach dem Tod der Duchess of Marchwell sprach Mrs. Lake wieder mit Fox und erklärte ihm, seine vermeintliche Liebe zu ihr sei nur jugendliche Schwärmerei. Bald würde er sie vergessen haben, und sie sei ohnehin viel zu alt für ihn.

Sicher war es ein Beweis seiner Unreife, der ältlichen Countess of Bolton einen Heiratsantrag zu machen – einen Tag nachdem Mrs. Lake ihre Verlobung mit dem siebzigjährigen Duke of Marchwell verlautbart hatte. Immerhin verstand sogar der Earl of Bolton die Komik dieser Werbung, schlug Foxworthy auf die Schulter und gratulierte ihm zu der Erkenntnis, welch ein Juwel die Countess sei.

Im Lauf der Jahre war Fox zum Liebling aller Londoner Karikaturisten avanciert.

Und nun würde er erneut das Talent Gillrays brauchen, der eine Skizze von Rebecca anfertigen musste – zum Beispiel, wie sie wieder einmal neben seinem Bett stand und sich zu ihm neigte.

„Also sind Sie dem Earl begegnet, während er einen neuen Vikar suchte, Sir?“

Er nickte, eher mit den Augen als mit dem Kopf.

„So ein freundlicher Mann, der Earl! Herzensgut und fürsorglich. Wir alle sind froh, dass wir ihn haben.“

Gewiss – freundlich, aber langweilig. Und kleinherzig. Stolz auf seine asketische Lebensweise. Nach dem Tod seiner Tochter hatte er dem dekadenten London den Rücken gekehrt. Und er verachtete einen Sohn, der diesem Vorbild nicht gefolgt war.

Rebeccas Stimme unterbrach seine Gedanken. „Ach, du meine Güte! Ein Blutfleck auf Ihrem Nachthemd!“

„Wie – wie können Sie es ertragen, so etwas anzuschauen?“ Wieder einmal zwang er sich zu sprechen, seine Schmerzen zu ignorieren.

Sie atmete tief durch. „Weil ich Sie nur in diesem Zustand kenne. Für mich sehen Sie nun einmal so aus. Und – Ihr Inneres ist wichtiger.“

Seufzend schloss er die Augen. Wenigstens seine Lider taten nicht weh. Und sein Inneres grinste.

„Alles geschieht aus einem ganz bestimmten Grund, Vikar. Vielleicht haben Sie diesen Schicksalsschlag erlitten, damit Sie Zeit zur Besinnung finden. Sie können Mitgefühl mit anderen lernen, die ähnliche Heimsuchungen erdulden müssen – und erkennen, worauf es im Leben ankommt.“

Sein Inneres wollte ihr eine flatternde Zunge herausstrecken, sein Äußeres war reifer. „Ale“, murmelte er.

Als er eine Hand ausstreckte, klopfte sie ihm auf die Finger. „Darauf kommt es nicht an.“

Fox schwang ein Bein über die Bettkante. Zu spät erinnerte er sich, dass er in einem dieser sonderbaren Nachthemden steckte. Noch nie hatte er so etwas vor einer Frau getragen. Seinem Inneren mochte es an Sittsamkeit mangeln, dennoch besaß er einen gewissen Stolz.

„Wo …“, begann er und zupfte am Hemdkragen. Suchend schaute er sich im Zimmer nach seinen Breeches um.

„Ihre Kleider wurden weggebracht, Vikar.“

Sobald er einen Arm hob, um die Decke zurückzuschlagen, kniff Rebecca Augen und Lippen zusammen. Hastig wandte sie sich ab. Fox schnitt eine Grimasse, die in seinem verunstalteten Gesicht höllisch schmerzte. Trotzdem richtete er sich ächzend auf und schwang auch das zweite Bein herum. Bis sein Kopf der Bewegung folgte, dauerte es eine Weile.

Und so blieb er reglos auf dem Bettrand sitzen. Allmählich verebbte das Chaos in seinem Gehirn, und er konnte wieder klar sehen

„Wo Ihre Sachen sind, wissen Sie doch gar nicht!“ Ohne ihm noch einen Blick zu gönnen, ergriff Rebecca ihren Korb. „Jetzt werde ich hinausgehen und beten, bis Papa zurückkommt. Und ich muss ein paar Äpfel für den Kuchen ernten.“

Autor

Elizabeth Beacon
Das ganze Leben lang war Elizabeth Beacon auf der Suche nach einer Tätigkeit, in der sie ihre Leidenschaft für Geschichte und Romane vereinbaren konnte. Letztendlich wurde sie fündig. Doch zunächst entwickelte sie eine verbotenen Liebe zu Georgette Heyer`s wundervollen Regency Liebesromanen, welche sie während der naturwissenschaftlichen Schulstunden heimlich las. Dies...
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Liz Tyner
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