In einer Gondel durch Venedig

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Die junge Gabriella ist überglücklich: Der Milliardär Raoul del Arco hält im romantischen Venedig um ihre Hand an. Doch nach einer ersten heißen Nacht in seinem Palazzo kommen ihr Zweifel: Plötzlich ist Raoul unnahbar – warum?


  • Erscheinungstag 08.01.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751513531
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Paris

„Bitte versprich mir etwas, Raoul. Es ist mein letzter Wunsch, bevor ich sterbe.“ Die Stimme des alten Mannes war schwach und zitterte und schaffte es kaum, das Piepen der Maschinen und Monitore an seinem Bett zu übertönen.

Raoul beugte sich näher zu ihm. „So darfst du nicht reden, Umberto!“ Er legte seine Hand auf die knochigen Finger des alten Mannes und bemühte sich, nicht an die Nadel zu stoßen, die aus dem faltigen Handrücken ragte. „Du bist stark wie ein Ochse“, log er. Er wünschte, es wäre die Wahrheit. „Der Arzt hat gesagt …“

„Der Arzt ist ein Idiot!“, unterbrach ihn der alte Mann. Die Worte gingen in einem Hustenanfall unter. „Ich habe keine Angst vor dem Tod“, brachte er schließlich keuchend heraus. „Ich weiß, dass meine Zeit gekommen ist.“ Als wollte er die Wichtigkeit seiner Worte unterstreichen, drückte er mit letzter Kraft die Hand seines Besuchers. „Aber ich habe Angst davor, was nach meinem Tod geschieht. Darum habe ich dich hergerufen. Du musst mir jetzt etwas versprechen, Raoul, bevor es zu spät ist …“

Der alte Mann sackte erschöpft in die Kissen zurück und schloss die Augen. Sein Gesicht wirkte fahl und eingefallen, als wäre die letzte Anstrengung zu viel für ihn gewesen.

Zum ersten Mal begriff Raoul plötzlich, dass es kein Zurück mehr gab. Seit über zehn Jahren war Umberto wie ein Vater für ihn. Und nun lag sein ältester Freund, sein Mentor und einziger Familienersatz im Sterben. Am liebsten wäre Raoul aus dem Krankenzimmer geflohen. Aber er wusste, dass er vor dem Schmerz in seinem Inneren nicht davonlaufen konnte.

„Ich würde alles für dich tun, Umberto. Das weißt du.“ Die Worte fühlten sich rau in seiner Kehle an. „Du hast mein Wort.“

Eine Ewigkeit verging. Nur das Geräusch der Maschinen verriet, dass sein Freund noch am Leben war.

Schließlich hoben sich flatternd die Lider, und der alte Mann sah ihn aus trüben Augen an. „Kümmere dich um Gabriella! Nach meinem Tod wird sie verletzlich sein. Solange ich nicht weiß, dass sie in Sicherheit ist, kann ich keine Ruhe finden.“

Raoul legte dem Sterbenden beruhigend die Hand auf die Schulter. Unter seinen Fingern spürte er kaum mehr als zerbrechliche Knochen. „Dann kannst du ganz beruhigt sein, alter Freund. Es wäre mir eine Ehre, ihr Vormund zu sein.“

Anstatt Raoul zu danken, überraschte ihn der alte Mann mit einem protestierenden Schnauben. Für einen kurzen Moment glaubte Raoul, wieder den alten Umberto vor sich zu sehen. Er wollte sich bereits über den winzigen Lebensfunken freuen, als er ganz langsam begriff, was Umberto da von ihm verlangte.

Das ist völlig unmöglich, durchfuhr es Raoul. Augenblicklich hatte er das Gefühl, von einem Tsunami überrollt zu werden.

Er sprang auf, unfähig sitzen zu bleiben, während die Welle sein Innerstes durcheinanderwirbelte. Mit feuchten Händen fuhr er durch sein Haar und zerrte an der Krawatte. War die Klimaanlage ausgefallen? Es war viel zu heiß im Zimmer!

„Raoul, hast du gehört, was ich gesagt habe?“ Umbertos dünne Stimme drang durch den Sturm, der in seinem Inneren tobte.

„Ich habe dich gehört … jedes einzelne Wort.“ Doch das hielt Umberto nicht davon ab, sein Anliegen noch einmal zu wiederholen. Raoul fühlte sich, als würde sich ein giftiger Stachel in seine Seele bohren.

„Du musst sie heiraten, Raoul! Bitte versprich mir, dass du Gabriella heiraten wirst.“

Absoluter Wahnsinn! Er sog tief die Luft ein. Sie roch nach Tod und Desinfektionsmitteln und nach chemischen Sprays, die all das überdecken sollten und kläglich gescheitert waren.

Raoul hasste, was hier geschah, und er hasste noch mehr, was er hörte. War es nicht schlimm genug, dass sein alter Freund im Sterben lag? Er muss bereits unzurechnungsfähig sein, entschied Raoul, sonst könnte er nicht so einen Irrsinn verlangen!

„Du weißt, dass das unmöglich ist. Außerdem …“ Er dachte an das letzte Mal, als er das Mädchen gesehen hatte, und fuhr fort: „Selbst wenn ich verrückt genug wäre, noch einmal zu heiraten, ist Gabriella noch viel zu jung!“

„Sie ist eine erwachsene Frau.“ Umbertos Stimme brach, und er zwinkerte Tränen fort. „Sie ist vierundzwanzig.“

Wie schnell die Zeit vergeht, dachte Raoul schockiert und verfluchte im Stillen die Jahre, die er unbemerkt verloren hatte. War es wirklich schon so lange her?

„Dann ist sie doch alt genug. Warum traust du ihr nicht zu, dass sie selbst einen guten Ehemann aussucht?“

„Und wenn sie Consuelo Garbas wählt?“

„Manuels Bruder?“ Raoul hob ungläubig seine Hände. Mein Gott! dachte er. Konnte dieser Albtraum noch schlimmer werden?

Der Name Garbas war in seine Seele eingebrannt, so tief, dass er schon bei der Erwähnung den Schmerz in seinen Knochen spürte. Vor langer Zeit, in einer dunklen Vergangenheit, hatte er gehofft, dass er den Namen nie wieder hören würde.

Aber er hätte wissen müssen, dass er diesem Fluch nicht so leicht entkommen konnte. Die Garbas-Brüder waren wie ein schwarzes Loch, das der Welt in seiner Umgebung das Leben entzog und alles und jeden auf seinem Weg verschlang.

Raoul sah Umberto an. „Was will Consuelo von Gabriella?“

„Er schleicht wie eine Hyäne um sie herum, die auf Aas lauert, und wartet darauf, dass sie fünfundzwanzig wird. Dann kann sie ihr Erbe einfordern.“ Der alte Mann rang mühsam nach Atem. „Er weiß, dass ich eine Ehe mit ihm niemals erlauben würde. Darum wartet er auf meinen Tod, bevor er sich an sie heranmacht.“

Raoul nickte. „Hyäne ist das richtige Wort! Aasfresser und Abschaum, die ganze Familie! Ohne ihr Geld hätten sie nie Zugang zur High Society gefunden. Nur ihr Vermögen hat Ihnen einen Anstrich von Seriosität verliehen. Aber das ist alles nur Fassade.“ Und jetzt war einer von ihnen hinter Gabriella her? „Und sie weiß von nichts?“

Umberto schnaubte spöttisch. „Consuelo würde ihr wohl kaum die Wahrheit sagen. Sie weiß nur, dass sein Bruder unter tragischen Umständen gestorben ist. Vermutlich denkt sie, dass sie dadurch etwas gemeinsam haben.“ Er seufzte, dann schüttelte er den Kopf. „Ich habe versucht, sie zu warnen, aber Gabriella sieht in jedem nur das Gute – selbst in Menschen wie ihm. Und die ganze Zeit spielt er mit ihr wie die Katze mit der Maus. Er weiß ganz genau, dass er die Zeit auf seiner Seite hat. Du siehst, dass ich keinen außer dir um Hilfe bitten kann. Du musst sie heiraten, Raoul.“ In einer letzten Anstrengung hob er den Kopf vom Kissen. „Du musst sie beschützen. Du musst!“

Er fiel zurück in die Kissen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Nur das schnelle Piepen der Überwachungsmaschinen füllte die Leere.

Mit gesenktem Kopf saß Raoul an seiner Seite, während in seinem Inneren ein Sturm toste. Er sollte verdammt sein, wenn er zuließ, dass sich ein Garbas das Vermögen von Umbertos Enkelin erschlich. Leider war er die letzte Person, die Gabriella beschützen konnte.

Ganz abgesehen davon, dachte Umberto wirklich, Gabriella würde ihn einfach heiraten. Er war ein gebrochener Mann. Was konnte er ihr schon bieten?

Wieder nahm er die Hand seines Freundes. Er ahnte, dass dies ihre letzte Begegnung sein würde. „Umberto … mein Freund … ich liebe dich von ganzem Herzen, aber diesen Wunsch kann ich dir nicht erfüllen. Es muss einen anderen Weg geben, Gabriella zu beschützen, und ich werde ihn finden. Das verspreche ich dir. Denn ich bin nicht der richtige Ehemann für deine Enkelin.“

„Ich habe dich nicht darum gebeten, sie zu lieben“, brauste Umberto auf. Die Maschinen an seinem Kopfende piepten auf Hochtouren. „Du sollst sie nur heiraten! Beschütze sie!“

Die Tür ging auf, und eine Krankenschwester stürmte in den Raum. Sie schob Raoul zur Seite, um nach Umberto zu sehen.

„Der Besuch ist vorüber“, blaffte sie, ohne sich umzuschauen. „Sie regen meinen Patienten auf.“

Für einen Moment schloss Raoul die Augen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Dann schaute er zurück zum Bett. Emsig kontrollierte die Krankenschwester die Monitore, stellte den Tropf neu ein und richtete die Kissen. Sein alter Freund sah unendlich schwach und verloren aus. Von dem einst so mächtigen Mann war nur noch ein Schatten geblieben.

Umbertos letzte Momente sollen nicht von Angst und Sorge vergiftet sein, dachte Raoul. Selbst wenn das bedeutete, dass er das Unmögliche versprechen musste. Aber sein Freund verdiente, in Frieden zu sterben.

„Gut, ich heirate sie. Wenn es wirklich das ist, was du von mir verlangst“, presste er zwischen den Zähnen hervor. Er ignorierte das warnende Stirnrunzeln der Krankenschwester. „Ich heirate sie.“

1. KAPITEL

Drei Wochen später

In diesem Jahr war der Winter früh gekommen. Der späte Septembertag war so trübe und dunkel, als würde die Erde selbst den Tod ihres Großvaters betrauern. Die feuchte Luft und der eiskalte Regen passten zu Gabriella D’Arenbergs Stimmung, als sie allein am blumenbedeckten Grab ihres Großvaters stand.

Kurz zuvor hatte ihr auch der letzte Trauergast die Wangen geküsst und sein tiefes Beileid bekundet. Jeden Augenblick musste Consuelo zurückkommen, dann würden sie auch gehen. Er hatte sich entschuldigt, um einen Anruf entgegenzunehmen. Die anderen Trauergäste warteten inzwischen bestimmt schon bei Kanapees und Cognac im Hotel auf sie.

Gabriella war dankbar für den Moment der Stille. Hier, im Schatten des Eiffelturms, störte nichts ihre Gedanken. Die Geräusche der Großstadt drangen nur gedämpft durch die dicken Friedhofsmauern.

Doch plötzlich fuhr sie erschrocken herum, als sie aus den Augenwinkeln einen dunklen Schatten wahrnahm. Groß, breitschultrig und dunkel wie die Nacht tauchte er aus dem dichten Nebel auf. Als er langsam zwischen Skulpturen geflügelter Engel und pausbäckiger Cherubim auf sie zuging, begann Gabriellas Herz schneller zu schlagen. Und erstaunt bemerkte sie, dass ihr zum ersten Mal an diesem Tag warm wurde.

Raoul.

Sie hatte ihn schon beim Gottesdienst entdeckt. Es war unmöglich gewesen, seine Anwesenheit in der winzigen, überfüllten Kirche nicht zu bemerken. Bei der Aussicht, ihn nach so vielen Jahren wiederzusehen, mischte sich Freude in ihre Trauer. Umso enttäuschter war sie, als sie ihn später zwischen all den Gästen nicht mehr finden konnte.

Mit seinen schwarzen Augen und dem schön geschwungenen Mund war er der Schwarm ihrer Mädchenträume gewesen. Bei dem Gedanken an ihre erotischen Fantasien von damals schoss ihr selbst jetzt noch das Blut in die Wangen. Tagelang hatte sie geweint, als sie von seiner Hochzeit gehört hatte. Sie weinte noch einmal, als sie ein Jahr später vom Tod seiner Frau erfuhr. Aber das war jetzt über zehn Jahre her.

Zum Glück ahnte er von alledem nichts, sonst hätte Gabriella ihm jetzt niemals unter die Augen treten können. Und außerdem war sie natürlich längst über ihre Teenagerschwärmerei hinweg!

Das Geräusch von Stiefeln auf Kies wurde lauter. Der lange Ledermantel schwang um seine Beine, das schwarze Haar fiel bis auf den Kragen, und der Blick seiner dunklen Augen war noch intensiver, als Gabriella in Erinnerung hatte.

Ein Schauer lief über ihren Rücken. Irgendetwas an dieser Intensität machte ihr Angst, so als wäre sein entschlossener Schritt ein Vorzeichen von Gefahr.

Der Nebel! dachte sie. Daran musste es liegen!

Die kalte Luft bewegte sich und schien sich vor ihm zu teilen, dann war er bei ihr. Gabriella musste ihren Kopf in den Nacken legen, um ihn anzusehen. Die markanten Linien seines Gesichts wirkten wie gemeißelt. Er lächelte nicht, aber das hatte sie auch nicht erwartet. Nicht heute.

Sie schüttelte ihre dunkle Vorahnung ab. Dies war Raoul, ein alter Freund der Familie! Sie begrüßte ihn mit einem nervösen Lächeln. So selbstverständlich, als wäre seit damals keine Zeit vergangen, schob sie ihre Hände zwischen seine.

Du bist gekommen! dachte sie, dankbar für die Wärme. „Raoul, ich bin so froh, dich zu sehen.“

Für einen Augenblick schien er wie versteinert, und Gabriella fragte sich, ob sie ihm zu nahe getreten war. Gehörte ihre Vertrautheit längst der Vergangenheit an?

Doch dann drückte er ihre Hände, und der harte Zug um seinen Mund wich einem traurigen Lächeln.

„Gabriella“, sagte er, als würde er jede Silbe in Ehren halten.

Er beugte sich vor und küsste sie andächtig zuerst auf die eine, dann auf die andere Wange. Sie erschauerte, als seine warmen Lippen ihre Haut berührten. Plötzlich schienen sich die vergangenen Jahre in nichts aufzulösen. Sie atmete tief seinen vertrauten Duft ein, nach sauberer Haut, warmem Leder und irgendwie holzig.

„Es tut mir so leid, Gabriella.“ Er zog sich zurück und ließ ihre Hände los.

Gabriella versuchte verzweifelt, nicht enttäuscht zu sein. Sie schob ihre Hände in die Manteltaschen, nicht nur, um sie warm zu halten, sondern vor allem, um sich selbst davon abzuhalten, wieder nach ihm zu greifen.

Ihre Teenagerfantasien mochten lange zurückliegen, aber jetzt war Raoul hier, fast schmerzhaft nah. Gabriella ballte ihre Hände in den Taschen zu Fäusten, sodass sich die Nägel in ihre Handflächen gruben.

„Ich wusste nicht, dass du kommst.“ Sie schaffte es, ein wenig zu lächeln, wenn auch zittrig. Wie ist es möglich, dass mich nach all den Jahren seine Gegenwart noch so aufwühlt? dachte sie erstaunt. „Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt? Du hättest doch bei mir wohnen können. Bist du in einem Hotel untergekommen?“

Er nannte ihr einen Hotelnamen, aber sie konnte sich kaum auf seine Worte konzentrieren. Doch vielleicht lag das nicht nur an dem Wiedersehen mit Raoul, sondern an den Erinnerungen, die sie mit ihm verband. Erinnerungen an glücklichere Zeiten.

Solange sie denken konnte, waren Raouls und ihre Familien eng verbunden gewesen. Jedenfalls bis zu der Tragödie, die das Leben ihrer beider Eltern ausgelöscht hatte. Danach hatte sich ihr Großvater um Raoul wie um einen Sohn gekümmert.

„Du musst ihn auch vermissen“, sagte sie leise.

Raoul nickte. „Umberto war ein wunderbarer Mensch. Er fehlt mir mehr, als ich in Worte fassen kann.“ Plötzlicher Schmerz flackerte in seinen Augen auf, so intensiv, dass sie ihn fast spüren konnte.

Er wandte sich zum Grab, und Gabriella nutzte die Gelegenheit, um ihn von der Seite zu betrachten. Seine markanten Gesichtszüge wirkten fast wie gemeißelt. Trotzdem war Raoul nicht im klassischen Sinne hübsch, vielmehr besaß er eine überwältigende Ausstrahlung. Doch über seiner Erscheinung schienen dunkle Schatten zu liegen, die von unbekannten Gefahren und tief verborgenen Geheimnissen erzählten.

Wie viele Nächte hatte sie als junges Mädchen wach gelegen und sich all diese Gefahren und Geheimnisse ausgemalt, voller Sehnsucht, eines Tages alles darüber zu wissen?

Die vergangenen Jahre ließen Raoul noch geheimnisvoller und dunkler wirken. Die Linien seines Kiefers kamen ihr härter vor, und in seinen Augen lag ein gejagter Ausdruck.

Erschrocken bemerkte sie, dass sie ganz in ihren Gedanken verloren gewesen war. Inzwischen beobachtete Raoul sie. Sein nachtdunkler Blick fuhr über ihr Gesicht. Kaum merklich runzelte er die Brauen.

Stimmt etwas nicht? dachte sie besorgt. Doch dann nickte er, lächelte leise und trat vor sie.

„Was ist aus der Gabriella geworden, die ich gekannt habe? Wo ist das dünne Mädchen mit den Zöpfen geblieben, das immer seine Nase in einem Buch hatte?“

Gabriella versteckte ihre Verlegenheit hinter einem kleinen Lachen. Hoffentlich bedeutet seine Bemerkung, dass ihm mein Aussehen gefällt, hoffte sie, auch wenn sie selbst nicht genau wusste, warum ihr seine Meinung so wichtig war.

Schon vor langer Zeit hatte sie sich damit abgefunden, nie eine klassische Schönheit zu werden. Ihre Augen waren viel zu groß, und ihr Kinn war zu spitz. Die meiste Zeit ihrer Jugend hatte sie es hinter einer Hand verborgen. Aber es war ihr Gesicht. Mit den Jahren hatte sie gelernt, es zu akzeptieren. Und seitdem sie die Kunst beherrschte, ihre Augen zu betonen, gefiel es ihr sogar.

„Es ist erwachsen geworden, Raoul. Das dünne Mädchen ist seit langer Zeit verschwunden.“

„Es ist sehr lange her“, stimmte er zu. Er schwieg einen Augenblick, als würde er an eine andere Zeit denken, andere dunkle Tage, andere Beerdigungen. „Was hast du seitdem gemacht? Wie geht es dir?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ach, dies und das. Aber es geht mir gut … und manchmal nicht so gut.“ Gabriella sah zu dem offenen Grab hinüber und spürte wieder den scharfen Schmerz des Verlusts. „Aber jetzt, wo ich dich wiedersehe, geht es mir schon besser.“ Sie zögerte und überlegte, wie offen sie sein durfte, ohne zu viel über sich selbst zu verraten. Doch dann entschied sie, einfach ehrlich zu sein. „Ich bin sehr glücklich, dass du hier bist.“

„Das bin ich auch. Aber du solltest jetzt nicht allein sein.“

„Oh, das bin ich auch nicht. Nicht wirklich. Consuelo – ein Freund – ist auch hier. Er ist nur kurz weggegangen.“ Sie schob eine glänzende kastanienfarbene Haarsträhne aus dem Gesicht, als sie sich suchend umschaute. „Er musste einen wichtigen Anruf annehmen.“ Erst jetzt fiel ihr auf, wie lange er schon weg war. „Wahrscheinlich geht es um eine seiner Stiftungen. Er leitet eine Wohltätigkeitsorganisation für krebskranke Kinder und hängt ständig am Telefon, um Spendengelder zu sammeln.“

Gabriella merkte selbst, dass sie versuchte, Consuelo zu entschuldigen. Aber warum musste er auch ausgerechnet heute so lange telefonieren? „Sobald er wieder da ist, fahren wir zur Trauerfeier ins Hotel. Alle anderen sind inzwischen bestimmt schon dort.“

Sie warf Raoul einen Blick zu. Würde er sie genauso schnell wieder allein lassen, wie er zurück in ihr Leben getreten war? Plötzlich hatte sie Angst, ihn nie wiederzusehen. Schon der Gedanke an weitere zehn Jahre ohne ihn war zu entsetzlich. „Du kommst doch auch, oder? Ich hatte dich schon vorhin in der Kapelle gesehen, aber als ich draußen war, warst du schon verschwunden. Ich dachte, ich hätte dich verpasst.“ Sie zögerte. „Es gibt so viel, über das ich mit dir reden will“, fügte sie leise hinzu.

Er hob seine Hand und strich eine widerspenstige Locke aus ihrem schönen Gesicht. Die zarte Berührung seiner Fingerspitzen sandte eine Hitzewelle durch Gabriellas Körper.

„Natürlich komme ich.“

Ihr Atem stockte, als er die Haarsträhne hinter ihr Ohr schob und für einen Moment seine Finger auf ihrer Haut ruhen ließ.

„Gabby …“

Gabriella blinzelte, als sie ihren Spitznamen aus seinem Mund hörte. Sie war sich bewusst, dass Raoul seine Hand noch immer nicht bewegt hatte. Jetzt legte er seine Finger um ihren Nacken und strich sanft über ihre Haut, warm und sinnlich.

Das ist nur eine rein freundschaftliche Berührung, versicherte sie sich. Raoul wollte ihr Trost spenden, mehr nicht. Er wäre eine unhöfliche Überreaktion, seine Hand wegzuschieben.

„Kommst du?“, fragte Consuelo, der plötzlich wie eine Erscheinung vor ihnen stand. „Wir sind spät dran.“ Er runzelte die Brauen und sah von einem zum anderen.

„Gabriella hat auf dich gewartet.“ Raoul hörte selbst, wie feindselig er klang.

Consuelo schien davon nichts zu bemerken. Offensichtlich interessierte ihn nur Raouls Hand auf Gabriellas Nacken. Er starrte sie an, als könnte er sie mit seinem Blick verschwinden lassen.

Errötend legte Gabriella ihre Finger auf Raouls Hand und schob sie sanft fort.

„Habe ich etwas verpasst?“ Irritiert sah sie die Männer an. Plötzlich bemerkte sie, wie ähnlich sie aussahen – und wie verschieden. Beide besaßen dunkle Augen und einen olivfarbenen Teint. Doch Raoul war größer, breiter und weitaus beeindruckender. Neben ihm wirkte Consuelo fast klein. „Kennt ihr euch?“

„Consuelo und ich sind alte Freunde“, erklärte Raoul gedehnt. Sein Tonfall verriet, dass sie alles andere als Freunde waren. „Nicht wahr, Consuelo?“

In den Augen des anderen Mannes flackerte etwas wie Angst auf. Er rückte seine Krawatte zurecht und sah zu Gabriella. „Ich habe gerade mit Philippa gesprochen. Sie hat gesagt, dass der Pastor ein paar Worte sagen will. Aber er möchte erst anfangen, wenn du da bist. Wir sollten gehen. Jetzt.“

„Du hast also die ganze Zeit mit Philippa telefoniert?“ Seltsam, dachte Gabriella. Normalerweise sprachen die beiden kaum miteinander. Gabriella war nicht einmal sicher, ob ihre Freundin ihn überhaupt mochte. Wahrscheinlich hat sie ihn angerufen, weil ich mein Handy ausgestellt hatte, überlegte sie. „Ja, dann sollten wir besser gehen. Fährst du mit uns, Raoul?“

Consuelo nahm ihren Arm und zog sie näher zu sich. „Komm, der Wagen wartet schon.“

Raoul lächelte. „Danke für das Angebot, aber ich bleibe noch ein paar Minuten hier. Ich komme später nach.“ Ohne seine dunklen Augen von ihren zu lösen, nahm er ihre Hand, hob sie zu seinen Lippen und küsste sie. „Bis später, Bella“, murmelte er fast zärtlich.

Dann wanderte sein Blick zu Consuelo und verhärtete sich. „Garbas.“ Er nickte ihm knapp zu,

Ohne ein weiteres Wort nahm Consuelo ihre Hand und zog sie fort.

Raoul sah den beiden nach, wie sie ihm Nebel verschwanden. Gabriellas Mantel war in der Taille gebunden und betonte ihre schlanke Figur. Als der andere Mann ihr wie selbstverständlich den Arm um die Schultern legte und sie an sich drückte, biss Raoul die Zähne zusammen.

Umberto hatte recht gehabt, als er Consuelo mit einer Hyäne verglichen hatte, die auf ihre Chance wartete. Aber wenn es nach Raoul ging, würde dieser Kerl nicht einen Cent von Gabriellas Vermögen sehen.

Gabriella.

Bella.

Bis zu dem Zeitpunkt, als ihm ihr Kosename wie selbstverständlich über die Lippen gekommen war, hatte er nicht einmal gewusst, dass er sich noch daran erinnerte. Wie sehr sie sich in den letzten zwölf Jahren verändert hatte!

Als hätten wir auf zwei verschiedenen Planeten gelebt, dachte Raoul bitter. Er selbst hatte in der Zeit Verlust, Betrug und Tod erlebt – und sich schließlich von allem zurückgezogen. Doch bei Bella hatten diese Jahre Wunder gewirkt. Sie war von einem unscheinbaren Mädchen zu einer wunderschönen jungen Frau herangewachsen.

Aber das war zu erwarten gewesen, überlegte er. Schon ihre Mutter war eine Schönheit gewesen, halb englische Rose, halb feurige Italienerin. Ihr Vater entstammte dem französischen Hochadel.

Gabriellas herzförmiges Gesicht vereinte das Beste von beiden: die Katzenaugen und die seidenweichen Züge ihrer Mutter und den leidenschaftlichen Mund des Vaters. Wunderschön. Zerbrechlich.

Autor

Trish Morey
Im Alter von elf Jahren schrieb Trish ihre erste Story für einen Kinderbuch- Wettbewerb, in der sie die Geschichte eines Waisenmädchens erzählt, das auf einer Insel lebt. Dass ihr Roman nicht angenommen wurde, war ein schwerer Schlag für die junge Trish. Doch ihr Traum von einer Karriere als Schriftstellerin blieb.
Nach...
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