Julia Ärzte zum Verlieben Band 173

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  • Erscheinungstag 13.01.2023
  • Bandnummer 173
  • ISBN / Artikelnummer 9783751519090
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Tina Beckett, Caroline Anderson, Annie O’Neil

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 173

PROLOG

Nate Edwards stand auf dem Rollfeld und umklammerte mit der einen Hand eine abgewetzte Stoffpuppe, während er auf das Flugzeug von Medicine Around the World wartete. Die Maschine der Hilfsorganisation würde ihn von der kleinen Karibikinsel Saint Victoria wegbringen, auf der ein tropischer Wirbelsturm schwere Verwüstungen angerichtet hatte.

Gedankenverloren rieb er mit dem Daumen den rauen Stoff und versuchte, nicht an die tränenfeuchten Augen der Eltern zu denken, als sie ihm ihr Geschenk in die Hand drückten. Aber ihre Gesichter hatten sich ihm für immer eingeprägt. Genau wie das des dunkelhaarigen Kindes, das so sehr krank gewesen war. Trotzdem hatte es ihm immer wieder ein schwaches Lächeln geschenkt.

Die Inselklinik war von der vollen Wucht des Hurrikans getroffen worden, sodass kaum eine Chance bestand, das Mädchen zu retten. Trotzdem hatte Nate das Unmögliche erzwingen wollen und mit allen Mitteln gekämpft.

Das Handy in seiner Tasche meldete sich mit einem feinen Ping.

Verflucht. Sein Team hatte hier nur das Allernötigste zur Verfügung gehabt. Wie konnte es sein, dass Mobilfunksignale durchkamen?

Er zog das Telefon heraus, froh darüber, dass er es beim Packen für den Heimflug aufgeladen hatte.

Seine Mutter.

Wir freuen uns, dass du heute nach Hause kommst. Wir haben eine große Überraschung für dich. Dein Vater und ich können es kaum erwarten, sie dir zu zeigen.

Er unterdrückte einen Seufzer. Nate hatte gehofft, mit seiner Reise auf diese Insel ihre Pläne zu umgehen und sich etwas mehr Zeit zu verschaffen, um ihnen alles zu erklären. Und dann war da noch Tara, die bereits Andeutungen gemacht hatte und anscheinend einen Heiratsantrag erwartete, sobald er sein Facharztdiplom in den Händen hielt. Zeit, sesshaft zu werden.

Eine Schweißperle rann ihm über die Schläfe. Er klemmte sich die Puppe unter den Arm und schrieb zurück.

Bitte unternehmt nichts, bis ich zurück bin.

Er hatte keine Ahnung, wie er ihnen beibringen sollte, dass er nicht vorhatte, in den elterlichen Praxisbetrieb einzusteigen. Sie waren schon nicht begeistert gewesen, dass er nach Saint Victoria geflogen war. Ihm selbst war jedoch endgültig klar geworden, was er auf keinen Fall wollte: als Schönheitschirurg für die Reichen und Berühmten arbeiten.

Einer seiner Kollegen trat zu ihm. „Nate, wir haben gerade die Laborwerte zu der mysteriösen Krankheit deiner Patientin hereinbekommen.“

Zu spät, Marie war gestorben. Dennoch zwang er sich nachzufragen: „Was war es?“

„Bilharziose. Leber und Darm waren wahrscheinlich bereits unheilbar geschädigt. Daher das gelbsüchtige Aussehen. Sie scheint es schon lange gehabt zu haben.“

Ein Parasit, der im Wasser lebte, hatte sie getötet? Nate schloss kurz die Augen. Auf den Gedanken wäre er nie gekommen. Sie hatten die Laborproben per Wasserkurier zur Nachbarinsel bringen lassen müssen, doch da ahnte er bereits, dass die Untersuchungen für Marie zu spät kommen würden. Er sollte sich besser fühlen, weil er nichts hatte tun können. Stattdessen spürte er … Leere. Und nun musste er nach Hause fliegen und sich mit seinen Eltern und mit Tara auseinandersetzen.

„Danke für die Info.“

„Bitte sehr.“ Peter klopfte ihm auf den Rücken. „Du konntest nichts machen.“

„Ich weiß.“

Was sollte er sonst sagen?

Sein Handy meldete sich wieder, der Bildschirm leuchtete auf und zog seine Aufmerksamkeit auf die Antwort seiner Mom.

Zu spät. Schon passiert.

Dahinter drei lachende Smileys.

Sie hatte recht. Es war längst passiert. Alles.

Marie. Sein Trip hierher. Die Entscheidung, wie er sich seine Zukunft vorstellte.

Vielleicht verstand Tara ihn. Begleitete ihn sogar.

Nate schob das Handy in die Tasche und umfasste mit beiden Hände Maries Puppe.

Eines Tages würde er auf diese Insel zurückkehren und seine Fähigkeiten nutzen, um etwas Gutes zu tun. Etwas Sinnvolles.

Selbst, wenn es ihn seinen letzten Penny kosten sollte.

1. KAPITEL

Verstimmt wartete Sasha James auf den Shuttlebus, der zwischen der Island Clinic und dem Saint Victoria Hospital verkehrte. Sie wunderte sich, dass der Mann nicht seinen schicken Hubschrauber benutzte. Schließlich hatte er das Helipad des Krankenhauses finanziert. Und das der Inselklinik auch. Sein kleines Königreich.

Sei nicht unfair, Sash. Du weißt genau, dass er in den letzten drei Jahren viel für die Insel getan hat.

Aber wie lange würde es noch dauern, bis er keine Lust mehr hatte, den Wohltäter zu spielen?

Sie verdrehte die Augen. Mach ihn dir nicht zum Feind, du kannst nur verlieren. Mit wem sie auch gesprochen hatte, alle vergötterten ihn.

Vor allem die reichen Frauen in ihren Ferienvillen. Es gab Gerüchte, dass einige von ihnen für ein Date mit ihm sonst was geben würden. Dass manche genau das schon getan hatten. Ihr Pech, dass der Direktor der Klinik an einer festen Beziehung nicht interessiert war!

Kommt dir das bekannt vor?

Der Shuttlebus, auf dem an der Seite ein Bild der Inselklinik prangte, fuhr am Haupteingang vor. Warum muss ausgerechnet ich das hohe Tier empfangen, haderte Sasha mit dem Schicksal.

Ganz einfach, sie waren personell unterbesetzt, und bei ihr standen gerade keine OPs an. Sie hatte eben den Kürzeren gezogen. Der Grund für den Personalmangel war auch der Anlass für Dr. Edwards’ Besuch.

Die Wagentür öffnete sich, zwei Leute stiegen aus, gefolgt von einem Mann in schwarzer Jeans und passendem Polohemd. Das musste er sein.

Sasha erwartete Armani und bekam Men in Black. Na toll.

Vielleicht hatte er beschlossen, sich fürs Fußvolk des Saint Victoria angepasst zu kleiden.

Sie stieß die Glastür auf, Hitze wie aus einem Backofen schlug ihr entgegen, und Sasha hatte das Gefühl, dass ihr die Kleidung am Leib klebte. Rasch eilte sie die Stufen hinunter.

„Dr. Edwards? Ich bin Sasha James. Freut mich, Sie kennenzulernen.“

„Ganz meinerseits.“

Ein flüchtiges Lächeln, das ein Grübchen in seiner linken Wange vertiefte, und augenblicklich wieder verschwunden war. Das rabenschwarze Haar war nach hinten gekämmt, was seine markanten Züge betonte. Der Mann sah zum Anschmachten aus. Gut, dass sie für Schwärmereien nichts übrighatte. Nicht mehr. Ihr Blick glitt tiefer, hin zu dem deutlichen Bizeps unter den Hemdsärmeln. Wie kam er zu solchen Muskeln? Wärme durchströmte ihren Bauch, und instinktiv legte sie die Hand darauf, wie um die Welle aufzuhalten. Umsonst.

Zugegeben, Dr. Edwards stellte seinen Reichtum und seine privilegierte Stellung nicht zur Schau, so wie sie es erwartet hatte. So wie Austin es getan hatte. Ihrem Ex-Freund hätte man das verwöhnte Leben ansehen können, aber er verbrachte unzählige Stunden beim Workout, um sich fit zu halten. Vielleicht trainierte Dr. Edwards auch hart, um dem weichen Kinn und dem Bauchansatz vorzubeugen. Doch irgendwie konnte sie sich das nicht vorstellen. Hinter der rauen Fassade schien sich ein Mann zu verbergen, mit dem nicht zu spaßen war.

Und wenn schon. Solche Typen hatte sie während ihres Harvard-Studiums zuhauf getroffen. Reiche Männer gab es dort wie Sand am Meer, und Sasha hatte herausgefunden, dass sie nicht immer das waren, was sie zu sein schienen.

Allerdings musste sie Dr. Edwards zugutehalten, dass er einiges für die Insel getan hatte, indem er viele der schwierigen Fälle vom Saint Victoria übernahm. Was wiederum der Großzügigkeit der wohlhabenden Klientel der Island Clinic zu verdanken war.

Okay, nun war er da, und sie wusste nicht recht, was sie mit ihm anfangen sollte. Vor lauter Ärger darüber, dass sie die Empfangsdame spielen sollte, hatte sie gar nicht nachgefragt. „Wissen Sie, wo man Sie haben will?“

„Wo immer Sie mich brauchen.“

Sie presste die Handfläche stärker auf den Bauch, als der tiefe Klang seiner Stimme die Hitze darin aufdrehte.

„Dr. Edwards, ich denke …“

„Nate, bitte.“

Sie wollte ihn nicht Nate nennen – obwohl sie praktisch jeden und jede mit Vornamen anredete. Das hier war … anders. „Ich bleibe bei Dr. Edwards, wenn es Ihnen recht ist.“

Er zuckte lässig mit den Schultern. Trotzdem meinte sie eine Spannung wahrzunehmen, die Momente zuvor noch nicht da gewesen war. „Okay … Dr. James.“ Das spöttische Zucken an seinem Mundwinkel machte deutlich, dass er ihr Verhalten seltsam fand.

Na und? Sie hatte keine Ahnung, was er hier wollte. Was konnte er tun? Praktizierte er überhaupt noch? Oder war er nur das Aushängeschild der Klinik?

„Marcus … Ich meine, Dr. Warren …“ Zu spät hatte sie gemerkt, dass sie den Kollegen beim Vornamen nannte, nachdem sie Nate Edwards das Gleiche vorher abgeschlagen hatte. „… hat in der Notaufnahme gearbeitet. Dort sind wir chronisch unterbesetzt. Falls Sie einspringen wollen …“

„Ich werde mich bemühen.“ Wieder dieses langsame Lächeln, das sie innerlich erzittern ließ. Machte er sich über sie lustig?

Sasha ließ die Hand von ihrem Bauch gleiten, ballte sie unwillkürlich zur Faust. „Ich bringe Sie hin, ich helfe auch dort aus.“ Eigentlich hatte sie heute frei, aber sie konnte nicht zu Hause herumsitzen, während in der Notaufnahme jede Unterstützung gebraucht wurde.

„Danke.“

Schweigend gingen sie den gefliesten Flur entlang. Als sie sich der Notaufnahme näherten, warf Dr. Edwards ihr einen Blick zu.

„Was ist?“

„Nichts.“ Sein Lächeln wirkte kühler. „Wie lange arbeiten Sie hier am Krankenhaus?“

„Gut drei Jahre.“

„Als Fachärztin?“

Die Frage ärgerte sie. „Ja, ich bin Chirurgin. Warum?“ Spielte es für ihn eine Rolle? Wenn ja, konnte sie sich sparen, was sie im Lauf der letzten beiden Jahre schon einigen zur Begrüßung gesagt hatte. Nämlich, dass hier alle gleich waren.

„Nur so. Wir sind uns bisher nicht begegnet, und ich dachte, ich kenne so ziemlich jede und jeden hier.“

Natürlich erzählte sie ihm nicht, dass sie sich rarmachte, sobald sie hörte, dass Nate Edwards sich angekündigt hatte. Bis jetzt war ihr nicht klar gewesen, wie sehr ihr Bild von ihm von Vorurteilen geprägt war. Vielleicht lag es daran, dass alle nur in den höchsten Tönen von ihm sprachen. Der Mann war ein Normalsterblicher wie alle anderen auch. Kein Gott!

Doch nun entpuppte sich der aufgeblasene Wichtigtuer, den sie erwartet hatte, als jemand völlig anderer. Entweder konnte er exzellent schauspielern, oder er war wirklich nicht so übel, wie sie ihn sich vorgestellt hatte.

Im Zweifel für den Angeklagten, sagte sie sich. Vorerst. Zunächst einmal wollte sie sehen, wie er mit Patienten umging – und zwar mit der Inselbevölkerung und nicht mit den Reichen in seiner mondänen Klinik.

„Ich stehe viel im OP“, antwortete sie. „Anscheinend haben wir uns immer verpasst.“

„Anscheinend.“

Sasha zuckte insgeheim zusammen. Das hatte sich angehört, als wäre er froh darüber.

In der Notaufnahme herrschte das blanke Chaos. Ein Rettungswagen war gerade vorgefahren. Sasha sah sich um, entdeckte keine anderen Ärzte. „Ich kümmere mich um den Neuzugang, wenn Sie sich anmelden wollen.“

„Das kann warten. Vielleicht kann ich hier helfen.“

Zusammen eilten sie zum Wagen, wo Sanitäter gerade eine Trage herausholten.

„Was haben wir?“, fragte Sasha.

„Verdacht auf Herzinfarkt.“

Sie stockte kurz, doch rasch fing sie sich wieder. Sasha konzentrierte sich auf die Infos der Sanitäter. Nate beugte sich über den Patienten, hatte wie herbeigezaubert plötzlich ein Stethoskop in der Hand. Der Mann war bewusstlos, seine Atmung laut und rasselnd. Auch seine Hautfarbe ließ auf nichts Gutes schließen.

Rasch brachten sie ihn in einen Schockraum. Eine Krankenschwester half, ihn ans EKG anzuschließen.

Sasha sah sich den Ausdruck an. Das Herz schlug, aber die Kurve verriet die ersten Anzeichen eines Infarkts.

„Ich sehe es“, sagte Nate, als sie ihre Beobachtungen mitteilte. „Lassen Sie uns den Blutdruck überwachen und vorsichtshalber Tenecteplase bereithalten. Welcher Kardiologe hat Dienst?“

Zur Anwendung des Thrombolytikums, das Blutgerinnsel auflöste, gingen die Fachmeinungen auseinander, aber in diesem Fall musste Sasha Nate recht geben.

„Warten Sie, ich sehe nach“, sagte die Schwester.

Zwei Minuten später kam sie mit besorgter Miene zurück. „Dr. Holloway ist im OP, auch ein Notfall, und wird frühestens in zwei Stunden wieder erreichbar sein. Ich kann versuchen, Dr. Benson zu Hause zu erreichen.“

„Verdammt.“ Das Wort rutschte ihr heraus, bevor sie es zurückhalten konnte. Ihr Patient befand sich in einem kritischen Stadium. „Er braucht mindestens eine halbe Stunde, bis er hier sein kann.“

Nate zog seine Handschuhe ab und holte ein Smartphone aus der Tasche. „Wir fliegen ihn zur Inselklinik.“

Während er telefonierte, war Sasha zwischen Erleichterung und Ärger hin- und hergerissen, dass er einfach das Kommando übernahm. Nur, weil er Chef der Inselklinik war, hatte er noch lange nicht das Recht, am Saint Victoria Entscheidungen zu treffen! Andererseits hatte er recht. Entweder kämpften sie hier um das Leben des Patienten und hofften das Beste, oder sie übergaben ihn den Spezialisten der Klinik, allesamt Spitzenmediziner. Dafür hatte Nate gesorgt.

„Einverstanden“, stieß sie hervor.

Ha! Als würde es eine Rolle spielen, was sie dachte. Nate hatte sein Telefonat inzwischen beendet. Der Transport war beschlossene Sache.

„Bereiten wir ihn für den Flug vor.“

Tatsächlich war sie froh über den Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach. Per Krankenwagen hätten sie eine Dreiviertelstunde gebraucht, um in den südöstlichen Zipfel der Karibikinsel zu gelangen, wo die Klinik lag. Der Heli war in sieben Minuten da.

Sie hatten ihren Patienten gerade durch die Doppeltüren geschoben, als das Knattern der Rotoren zu hören war.

„Greg ist an Bord.“

„Greg?“

„Sorry, Greg Morris. Einer unserer Herzspezialisten. Da wir hier gebraucht werden, können wir den Patienten nicht begleiten.“

„Okay.“ Sasha blickte ihn an, sah in ihm nicht mehr den reichen Mann, sondern den Arzt, der für seinen Patienten das Beste wollte. Ihren gemeinsamen Patienten. Sie schob ihre negativen Gefühle beiseite. „Danke. Ernsthaft.“

Er nickte, suchte ihren Blick. „So hatte ich es mir vorgestellt … Eine Inselklinik, die die Menschen hier bestmöglich versorgt.“

Genau das hatte sie nicht geglaubt, und sie war noch immer nicht ganz von seinen guten Absichten überzeugt. Doch für den Moment wollte sie ihre Vorbehalte fallen lassen. Einmal nicht annehmen, dass er nur hier war, um seine vermögende Klientel zu bedienen und das Saint Victoria Hospital zu nutzen, um Steuern abzuschreiben.

Bald darauf war ihr Patient in den Hubschrauber geladen und der Obhut des Kardiologen übergeben worden. Die Türen schlossen sich, und dann hob der Heli ab. Sasha blickte ihm nach, bis er außer Sichtweite flog, und wandte sich Nate zu.

„Sie halten mich auf dem Laufenden, wie es ihm geht?“ fragte sie.

„Natürlich. Wenn es Sie wirklich interessiert.“

„Selbstverständlich.“ Zweifelte er etwa daran, dass ihm das Wohl ihrer Patienten am Herzen lag? Es versetzte ihr einen Stich. Allerdings hatte sie ihn, der zum Helfen hergekommen war, alles andere als herzlich willkommen geheißen.

„Ich könnte Ihnen Bescheid sagen …“ Er schwieg kurz. „Oder, besser noch, wir sehen gemeinsam nach ihm, sobald Ihr Dienst beendet ist. Falls Sie danach keine anderen Pläne haben.“

Sie zögerte. Sie hatte die Inselklinik noch nie besucht, sie sogar gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Auch, um dem Angeber Nate nicht begegnen zu müssen. Aber das konnte sie ihm schlecht sagen. Es war unhöflich, sein Angebot abzulehnen. Sie konnte vortäuschen, dass sie ein Dinner-Date hätte, doch sie hatte schon geschwindelt, als sie sagte, sie wäre jedes Mal, wenn er herkam, im OP gewesen. Dabei legte sie immer großen Wert darauf, aufrichtig und ehrlich zu sein. Nun konnte sie es beweisen. Außerdem hatte sie seit Ewigkeiten kein Date mehr gehabt, was er erfahren konnte, wenn er etwas auf den Krankenhaustratsch gab.

„Danke, das wäre schön.“

„Wann haben Sie Dienstschluss?“

„Offiziell hatte ich heute keinen Dienst. Aber ich würde sagen, gegen fünf. Vorausgesetzt, es gibt keinen Notfall.“ Hoffentlich lief alles glatt, und die Kolleginnen und Kollegen der nächsten Schicht konnten reibungslos übernehmen. Der Alltag am Saint Victoria konnte selbst an guten Tagen hektisch und voller Überraschungen sein, doch sie würde um nichts in der Welt woanders arbeiten wollen.

Über Lautsprecher wurde der nächste Notfall angekündigt, und zusammen mit Nate lief sie zurück in die Notaufnahme.

Es wurde fünf Uhr, und Nate merkte, wie kaputt er war. Es war eine gute Erschöpfung. Natürlich hatte er in seinem Arztleben schon viele Patienten behandelt, doch in den letzten drei Jahren war er mehr damit beschäftigt gewesen, die Inselklinik aufzubauen. Daher hatte er mit Notfällen wie in den letzten Stunden selten zu tun gehabt. Jetzt war er zwar hundemüde, aber zufrieden. Auch damit, dass einiges an Ausstattung hier zum Einsatz kam, das durch die Inselklinik finanziert worden war. Unter anderem auch das Helipad. Allerdings wurde noch sehr viel mehr gebraucht.

Hätte er dem Drängen seiner Eltern nachgegeben und wäre in ihre Praxis mit eingestiegen, sähe die Sache anders aus. Sowohl für dieses Krankenhaus als auch für ihn persönlich. Wahrscheinlich wäre er mit Tara verheiratet und hätte zwei Kinder.

Aber er hatte sich nicht umstimmen lassen, und Tara war nicht bereit gewesen, ihm hierher zu folgen. Es war besser so. Vor allem, nachdem ihm klar geworden war, worum es ihnen eigentlich ging …

Stopp! Denk nicht daran! Nate zog sich die Handschuhe aus, warf sie in den nächsten Mülleimer. Dabei hörte er Sasha lachen und sah sie mit einem Pfleger zusammenstehen.

Sie war eine gute Ärztin. Kratzbürstig, aber kompetent. Allerdings konnte er sich nicht erklären, warum sie auf dem förmlichen Sie bestanden hatte. Zuerst dachte er, sie würde alle auf Abstand halten, bis er merkte, dass sie praktisch jeden und jede mit Vornamen ansprach. Und es versetzte ihm einen Stich, wenn er sah, wie sie dabei lächelte. Wie unbefangen sie mit allen umging. Wie sie die volle Unterlippe schürzte, wenn sie skeptisch zuhörte. Verdammt, es traf ihn wie einen Teenager, der voll unter Hormonen stand.

Und nun amüsierte sie sich prächtig mit dem Mann dort drüben.

Also konnte sie nur ihn nicht leiden. Aber warum?

Weil er ein Fremder war?

Vielleicht. Er gab sich große Mühe, akzeptiert zu werden, doch im Grunde war ihm klar, dass die Island Clinic als Luxusklinik gesehen wurde, wo reiche Leute sich Schönheit kauften. Zum Teil stimmte das auch. Allerdings wussten die meisten, mit denen er sprach, dass der Hauptzweck darin bestand, das Saint Victoria Hospital finanziell zu unterstützen – was bitter nötig war. Vor allem bei Katastrophen wie dem Hurrikan Regan, nach dem es im Krankenhaus an allem gefehlt hatte. Seine Klinik stand nicht exklusiv den Wohlhabenden offen, sondern allen, die sie brauchten. Wie zum Beispiel dem Herzinfarkt-Patienten vorhin.

Und nicht nur das. Die Klinik bot Fortbildungen für das Krankenhauspersonal an. Wer wollte, konnte ein, zwei Monate in den verschiedenen Abteilungen der Island Clinic sein Wissen erweitern, eine Regelung, die Nate zu seinen größten Errungenschaften zählte.

Sasha merkte, dass er zu ihr hinübersah, und augenblicklich erstarb ihr Lächeln. Die sexy Unterlippe wurde zum missbilligenden Strich. Offensichtlich hielt nicht jeder die Kooperation mit seiner Klinik für einen Gewinn. Oder seine Anwesenheit. Jetzt sagte sie etwas zu dem Pfleger, lächelte ihn offen an und berührte ihn kurz am Arm, bevor sie sich abwandte.

In ihm zog sich etwas zusammen. Vergiss es, Nate. Es spielt keine Rolle, mit wem sie redet. Mit wem sie sich einlässt.

Seine Eltern hatten es nicht gebilligt, dass er hierhergekommen war. Waren sehr verärgert, dass sie das schöne neue Schild an der Praxis – auf dem sein Name zu ihrem hinzugefügt worden war – wieder abmontieren und durch das alte ersetzen mussten. Hatten ihm bittere Vorwürfe gemacht und ihn gefragt, wie er sie derart blamieren konnte. Und warum er Tara so sehr enttäuschte.

Es war nicht seine Absicht gewesen, sie zu blamieren. Schließlich hatte er sie nie gebeten, ihn zum Praxispartner zu machen. Sie hatten gewusst, dass er die verbleibenden zwei Jahre seiner Facharztausbildung nicht in der Plastischen Chirurgie verbringen wollte.

Als er ihnen erzählte, dass er das Geld aus seinem Treuhandfonds dazu verwenden würde, diese Inselklinik aufzubauen, sagten sie zwar nichts. Aber ihr eisiges Schweigen sprach Bände.

In den vergangenen drei Jahren, seit er mit der Errichtung der Klinik begonnen hatte, suchten sie nicht ein einziges Mal den Kontakt zu ihm. Sie fragten nicht, wie es damit voranging. Fragten nicht, wie es ihm ging. Auch hatte er keine Ahnung, ob Tara noch in ihrer Praxis arbeitete.

Dass seine Familie, die Menschen, die ihm wichtig waren, ihre Liebe zu ihm abschalten konnten, wie man einen Wasserhahn zudreht, hatte ihn erschüttert. Vielleicht hatten sie in Wirklichkeit gar keine Kinder gewollt. Der Gedanke beschäftigte ihn in letzter Zeit oft. In früher Kindheit war er von wechselnden Nannys betreut worden, da seine Mom so schnell wie möglich wieder arbeiten wollte. Inzwischen betrachtete er all das mit anderen Augen …

Nein, er würde jetzt nicht darüber nachdenken. Nicht, wenn Sasha vor ihm stand und ihn stirnrunzelnd ansah. Hatte sie etwas zu ihm gesagt?

„Entschuldigung, ich war mit den Gedanken woanders. Bleibt es dabei, dass Sie mit mir zur Klinik fahren?“

„Das hatte ich ja gesagt.“

Und sie hielt Wort, auch wenn es ihr schwerfiel. Zwar deutete sie nichts dergleichen an, aber der ausdruckslose Blick und ihre verschränkten Arme sprachen Bände.

Verdammt, warum sagte sie zu, wenn es sie so viel Überwindung kostete? Nate war zu müde, um nachzufragen. Solche Gespräche hatte er mit seinen Eltern und Tara zur Genüge geführt – nach dem Fiasko damals, als sie kaum eine halbe Stunde nach seiner Landung in den USA öffentlichkeitswirksam das neue Schild an der Praxis enthüllt hatten. Tara stand neben ihm, schockiert und stumm, während er ablehnend den Kopf schüttelte. Danach zogen alle drei eine Mauer aus Eis hoch, die Nate nicht mehr durchdringen konnte, egal, was er ihnen erklärte, egal, wie sehr er seine Gefühle offenbarte.

Schließlich gab er es auf, trennte sich von Tara und versuchte nicht länger, bei seinen Eltern Verständnis für seine Entscheidungen zu finden.

Er war nicht wild auf diese emotionale Energie. Vor allem nicht bei jemandem, den er kaum kannte. Wenn Sasha James nichts mit ihm zu tun haben wollte, sollte sie es sagen. „Okay, bereit? Wir nehmen den Shuttlebus, falls es Ihnen recht ist. Wir könnten auch den Hubschrauber anfordern, der wäre in ein paar Minuten hier.“

Ihre Augen weiteten sich kurz, bevor sie wieder den gewohnten starren Blick annahmen. „Nein, den sollen die nutzen, die ihn wirklich brauchen. Der Shuttle ist okay. Oder wir nehmen meinen Wagen.“

Je weniger er sich ihr verpflichtete, umso besser. „Lassen Sie uns mit dem Bus fahren.“

Sie nickte und informierte ihn knapp, dass sie ihren letzten Bericht abschließen und ihre Tasche holen würde. Nate holte sich in der Zwischenzeit einen Kaffee. Als Sasha wiederkam, hatte man ihm bereits per SMS mitgeteilt, dass der Shuttle am Krankenhaus angekommen sei.

Der Bus verfügte über drei Sitzreihen. Nate wartete ab, wohin sie sich setzen würde, und nahm dann mit großem Abstand zu ihr Platz. Aber er würde die Fahrt nicht schweigend verbringen. Vorwurfsvolles Schweigen hatte er für den Rest seines Lebens genug gehabt.

„Sie arbeiten also seit drei Jahren am Saint Victoria Hospital?“

Dunkle Augen, von dichten schwarzen Wimpern gerahmt, wandten sich ihm zu. „Ja. Sobald ich meinen Facharzt hatte, bin ich auf die Insel zurückgekommen.“

„Wo haben Sie studiert?“

„Harvard.“

Sie stieß das Wort so schnell hervor, dass er ein paar Sekunden brauchte, um die Information zu verarbeiten und eine Antwort zu formulieren. Er kam jedoch nicht dazu, sie auszusprechen.

„Überrascht?“

War er tatsächlich. Aber nicht aus Gründen, die sie vielleicht vermutete. „Eine große Uni.“

„Stimmt. Und bevor Sie sich fragen, wie ich mir das leisten konnte – ich habe ein Vollstipendium bekommen.“ Das angriffslustig vorgereckte Kinn verriet, dass sie erwartete, er könnte ihr das Recht auf ein Studium dort absprechen.

„Ich habe mich gar nichts gefragt.“

Kurz schloss sie die Augen, was seine Aufmerksamkeit wieder auf ihre betörend langen Wimpern lenkte. „Entschuldigung. Ich bin es nur gewohnt, dass es eine der ersten Fragen ist, die man mir stellt.“

Dass man ihr das komplette Medizinstudium an der renommierten Universität finanziert hatte, konnte nur bedeuten, dass sie nicht nur die Schule mit exzellenten Noten abgeschlossen, sondern auch die Aufnahmeprüfungen mit Bravour bestanden hatte. Warum war sie hierher zurückgekehrt? Sie hätte überall eine Stelle finden können.

Wieso nicht? Er hatte sich auch für die kleine Karibikinsel entschieden. Aber ihm bedeuteten Prestige oder die Arbeit an einem der großen Lehrkrankenhäuser nichts. Er wollte Menschen helfen.

„Wären Sie nicht lieber in den Staaten geblieben?“

Einen Moment lang starrte sie ihn an, sah dann weg. „Ich hatte darüber nachgedacht. Aber dann hat einiges nicht geklappt, und ich bin nach Hause gekommen.“

Nicht geklappt? An einem anderen Krankenhaus?

„Wo haben Sie Ihren Facharzt gemacht?“ Harvard hatte kein eigenes Krankenhaus wie die Johns Hopkins University und kooperierte mit Kliniken, um ihre Absolventinnen und Absolventen zur fachlichen Weiterbildung dort unterzubringen.

„Am Beth Israel. Die ambulante medizinische Betreuung gehört dort zu den Schwerpunkten, und da das Saint Victoria genau darauf ausgerichtet ist, erschien mir das die beste Wahl. Wo waren Sie?“

„Johns Hopkins. Auch zur Facharztausbildung.“

„Warum wollten Sie Arzt werden?“

Eine Frage, die man ihm schon oft gestellt hatte, nur war sie nicht einfach zu beantworten. Er hatte angefangen, Medizin zu studieren, weil seine Eltern es von ihm erwarteten und er herausfinden wollte, ob ihm der Beruf lag. Überrascht stellte er fest, dass ihm das Studium gefiel und er sich mit jeder Vorlesung mehr für die Wissenschaft der Medizin interessierte.

Nur die Habgier, die bei manchen damit verbunden war, stieß ihn ab. Manche hatten sich allein deshalb für Medizin eingeschrieben, um damit viel Geld zu verdienen, sich einen bestimmten Status zu erwerben oder die gesellschaftliche Leiter nach oben zu klettern. Ursprünglich hatte er geglaubt, dass seine Eltern aus Selbstlosigkeit und dem Wunsch zu helfen, Ärzte geworden waren. Inzwischen konnte er sich einer zynischen Sicht auf die Dinge nicht erwehren …

Nate beschloss, Sasha die einfache Erklärung zu geben, denn die Wahrheit wäre zu kompliziert. „Meine Eltern sind Ärzte, da lag es für mich nahe, den gleichen Weg einzuschlagen.“

So, wie sie die Stirn runzelte, schien er einen wunden Punkt getroffen zu haben.

„Also nicht aus eigenem Antrieb heraus? Wozu dann Arzt werden?“

Wie es aussah, kam er um eine differenzierte Antwort nicht herum. „Anfangs war ich nicht sicher, was mehr wog, mein Wunsch oder die Erwartungen der Familie. Aber heute? Ich kann mir keinen anderen Beruf für mich vorstellen. Und Sie?“

Ein flüchtiges Schulterzucken. „Wegen meines Vaters.“

Sie hatte es leicht dahingesagt, zu leicht, und er musste einfach nachhaken. „Ihr Vater?“

„Er … starb an einem Herzinfarkt, als ich vierzehn war.“ Ihre Augen schimmerten verdächtig. „Damals gab es hier keine richtige Notfallversorgung. Die Leute mussten auf eine Nachbarinsel geflogen werden. Mein Dad hat es nicht einmal bis dorthin geschafft. Er starb, kurz nachdem man ihn in eine Ambulanz gebracht hatte.“

Nate rutschte in seinem Sitz nach vorn und legte eine Hand auf ihre, die die Armlehne umklammerte. „Das tut mir leid.“

Jetzt war ihm auch klar, warum sie heute bei dem Infarktpatienten so angespannt gewesen war. Warum sie unbedingt wissen wollte, wie es ihm ging.

Als sie antwortete, klang ihre Stimme weich. „Es ist lange her“, sagte sie, doch sie konnte den kummervollen Ausdruck in ihren Augen nicht verbergen.

„Und Ihre Mom?“

„Es geht ihr gut. Sie arbeitet als Küchenchefin in einem Restaurant.“

„In Saint Victoria?“

„Wo sonst? Sie ist hier zu Hause.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Hier wurde sie geboren, hier hat sie geheiratet. Sie kann sich nicht vorstellen, woanders zu leben. Als ich dachte, ich würde … Nun, als ich überlegte, in den USA zu bleiben, war klar, dass sie nicht zu mir ziehen wollte. Manchmal fügen sich die Dinge zum Besten, denn später habe ich beschlossen, nach Hause zu kommen.“

Manchmal fügen sich die Dinge zum Besten … Wie seine Entscheidung, nicht in die elterliche Praxis einzutreten? Oder nicht Taras Drängen nachzugeben, in den USA zu bleiben? Ja. Heute wusste er, dass ihm nichts Besseres passieren konnte. Hätte er auf seine Familie und seine Verlobte gehört, wären sie zwar glücklich gewesen, aber er hätte sich wie in der Falle gefühlt. Vielleicht hatte die Entfremdung ihr Gutes. So konnte er seinen Weg gehen, ohne alles und jedes mit ihnen abzusprechen, wie er es noch als Teenager getan hatte.

Es war einfacher, oder? Allein zu sein?

Ihm fiel auf, dass seine Hand immer noch auf ihrer lag. Nate zog sie zurück und lehnte sich in seinen Sitz zurück. Zu seiner Rechten tauchte die Zufahrt zur Island Clinic auf.

Stolz erfüllte ihn, während er auf die Bronzestatue am Eingang blickte. Marie hätte sich darüber gefreut, da war er sicher.

Mit einem Blick zu Sasha sagte er: „Willkommen in der Island Clinic.“

2. KAPITEL

Sasha stand vor einem modernen weißen Gebäude, das sich durchaus mit Privatkliniken in den USA messen konnte. Zwar in bescheidenerem Ausmaß, aber dennoch ein unerwarteter Anblick hier auf ihrer kleinen Insel.

In kurzer Entfernung der Klinik stand der Hubschrauber, der ihren Herzpatienten hergeflogen hatte, auf dem Helipad. Eine gepflegte Asphaltstraße führte zur zweiflügeligen Eingangstür.

Bondyé“, flüsterte sie, drückte ihr Erstaunen unwillkürlich in ihrer kreolischen Muttersprache aus.

Nate sagte etwas zum Shuttlebusfahrer, bevor er zu ihr herüberkam. „Sie waren noch nie hier?“

„Nein.“ Sie hatte gehört, wie andere davon schwärmten, aber die Wirklichkeit übertraf ihre Vorstellungen noch. Von der Rückseite der Klinik war es nur ein kurzer Weg zum Meer. Aneinandergereihte Holzplanken bildeten einen Pfad, der an schneeweißem Sand endete. Türkisblaue Wellen plätscherten sanft ans Ufer.

Sie kniff leicht die Augen zusammen, als sie eine einsame Gestalt dort stehen sah, die gedankenverloren aufs Wasser starrte. Farbenfrohe Sonnenschirme und Liegen waren am Strand verteilt.

Das Saint Victoria lag mitten in Williamtown und bot nicht diesen herrlichen Ausblick. Allerdings hatte die Belegschaft auch kaum Zeit, die Landschaft zu genießen.

Ein Seitenflügel der Klinik war in Sandtönen gestrichen, und jedes Fenster des zweigeschossigen Baus besaß einen Balkon mit schmiedeeisernem Geländer. Die Stühle und Tische waren im gleichen verschnörkelten Stil gehalten.

„Ist das das Hotel?“ Sasha hatte gehört, dass einige Suiten luxuriöser eingerichtet waren als das Harbor, das Fünf-Sterne-Hotel der Insel.

„Ja. Wie Sie gemerkt haben, dauert die Fahrt von Williamtown hierher eine Weile. Wir wollten es zum einen den Angehörigen ermöglichen, bei ihren Lieben zu sein, und Patienten, sich in der Nähe zu erholen. Möchten Sie eins der Zimmer sehen, nachdem wir bei unserem Patienten waren?“

„Klar“, sagte sie nach kurzem Zögern. Sie konnte schlecht Nein sagen, ohne undankbar zu wirken, nach allem, was die Inselklinik dem Krankenhaus an Hilfe und Unterstützung geboten hatte. Außerdem war sie auch ein bisschen neugierig auf die Einrichtung.

Nate sprach an der Aufnahme mit einer der Schwestern und kam zu Sasha zurück. „Sie haben ihn auf die Intensivstation gebracht. Das Blutgerinnsel konnten sie beseitigen, und jetzt versuchen sie, ihn so weit zu stabilisieren, dass man ihm ein paar Stents einsetzen kann.“

„Das ist großartig.“ Sie hatte schon befürchtet, der Mann wäre unterwegs gestorben. Aber dann hätte man Nate bestimmt verständigt, oder?

„Greg ist ein hervorragender Kardiologe.“

Sasha versuchte, die Bemerkung nicht als Kritik am Saint Victoria Hospital zu sehen. Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Ich bin froh, dass er durch den Flug hierher eine Überlebenschance hatte.“

„Ich auch. Die Prognose ist gut, Greg glaubt, dass er sich vollständig erholen wird. Seine Familie ist inzwischen auch hier und wird im Hotel der Klinik wohnen, bis er entlassen werden kann.“

Sie wollte nicht über Geld reden, doch sie musste es tun. Nicht, dass den Verwandten hinterher eine saftige Rechnung präsentiert wurde! „Die meisten Insulaner können sich keine teuren Hotelzimmer leisten. Lassen Sie mich einen Teil der Kosten übernehmen.“

Braune Augen blickten sie kühl an. „Wir berechnen ihnen nichts. Das Hotel ist auch für solche Fälle gedacht.“

Sie hatte ihn beleidigt. Nicht, dass es ihre Absicht gewesen wäre, doch nach ihren Erfahrungen mit Austin … Der hatte nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dass nicht alle sich den Luxus leisten konnten, den er für selbstverständlich hielt. Wie hatte sie jemals annehmen können, dass Austin hierher passte? Natürlich gab es, wie überall, auch bei der Inselbevölkerung Unterschiede beim sozialen Status und beim Einkommen. Trotzdem wurde Sasha erst jetzt klar, wie sehr ihr Ex hier fehl am Platz gewesen wäre.

Ungefähr so wie sie, hätte sie eine Verabredung mit Nate.

Gegen Männer wie ihn war sie immun. Welche Frau wollte schon denselben Fehler ein zweites Mal begehen?

Allerdings hatte sie nicht erwartet, wie sehr ihm das Wohl der Menschen hier auf der Insel am Herzen lag. Eine Beobachtung, die ihre Abneigung schmelzen ließ und sie gleichzeitig alarmierte. Sie wollte den Mann nicht mögen.

„Verzeihen Sie. Ich war nicht sicher, wie Sie das handhaben.“

„Die Klinik soll das Saint Victoria Hospital unterstützen, nicht Profit generieren. Die vermögenden Patienten, die von außerhalb kommen, helfen uns – wie auch die Spendengalas –, finanziell flüssig zu bleiben, um denen zu helfen, die es wirklich nötig haben.“

Ihre Freunde hatten ihr wieder und wieder gesagt, dass sie die Island Clinic im falschen Licht sah. Allen voran ihre Freundin Patty. Aber Sasha hatte sich in ihren Vorurteilen nur bestätigt gefühlt. Vielleicht wurde es Zeit, richtig hinzuhören.

„Ich war nie auf einer dieser Galas. Sie sollen sehr elegant sein.“

„Das sind sie.“ Er sah sie an. „Warum kommen Sie nicht zu einem unserer Planungstreffen?“

„Ach, ich weiß nicht. Warum sollten Sie meine Meinung hören wollen?“

Nate lächelte sie an, und ihr Magen vollführte einen kleinen Salto. „Oh, ich denke, Ihre Sichtweise ist genau das, was wir brauchen. Zufällig ist die nächste Besprechung für morgen Abend angesetzt. Kommen Sie gern dazu, wenn Sie Zeit haben. Sie findet hier im Konferenzzimmer statt.“

„Fühlen Sie sich nicht verpflichtet, mich einzuladen.“ Sie hatte wenig Lust, die Quoten-Insulanerin zu spielen.

„Mich interessiert wirklich, was Sie denken. Erst recht, da Sie anscheinend noch nie auf einem unserer Galadinners waren.“

„Okay, ich werde es mir überlegen. Um wie viel Uhr?“

„Halb sechs. Wir essen zuerst gemeinsam, da die meisten direkt von der Arbeit kommen.“

Das Komitee bestand aus Mitarbeitern der Klinik? Sasha hatte vermutet, dass er einen externen Partyservice mit Planung und Durchführung beauftragte. „Wie viele werden da sein?“

„Keine Ahnung. Eingeladen sind alle, die sich beteiligen wollen.“ Nate sah ihr in die Augen. „Sowohl vom Saint Victoria als auch aus der Inselklinik. Uns ist jeder willkommen. Wussten Sie das nicht?“

„Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.“

„Im Krankenhaus hängen entsprechende Plakate. Dafür habe ich gesorgt.“

Ihre Aversion gegen die Island Clinic war so stark gewesen, dass sie alles, was damit zu tun hatte, einfach ignorierte. Jetzt begriff sie, dass seine Einladung nichts mit ihr persönlich zu tun hatte, sondern damit, dass ihm viel daran lag, eine Bandbreite an Meinungen und Informationen einzuholen. Das überzeugte sie. „Ich werde versuchen, dabei zu sein.“

„Ich freue mich darauf.“

Sie hatten die Intensivstation erreicht, und Nate zog sein Namensschild durch den Kartenleser am Eingang. Die Türen öffneten sich, und er winkte Sasha hindurch.

„Sie müssen einen Sicherheitscheck machen, bevor Sie hineindürfen?“

Er nickte. „Unter unseren Klienten sind hochrangige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, vom berühmten Schauspieler bis zum Politiker. Keiner von ihnen möchte Fotos von sich in der Boulevardpresse sehen, die seine Privatsphäre verletzen.“

„Natürlich nicht. Daran habe ich nicht gedacht.“

Die Intensivstation war auf dem neuesten Stand der Technik, ähnlich, wie sie es während ihrer chirurgischen Ausbildung am Beth Israel erlebt hatte.

„Wie heißt unser Patient?“

„Bill Waddel. Zweites Zimmer rechts.“

Nate öffnete leise die Tür, sah ins Zimmer und nickte Sasha zu.

Der Mann schlief, aber er war nicht intubiert und nur an wenige Überwachungsgeräte angeschlossen. Sasha trat ans Kopfende seines Bettes und sah, dass seine Lippen nicht mehr so wachsbleich waren. Und der Herzmonitor verzeichnete einen beruhigenden Sinusrhythmus.

„Sein Herz scheint überraschend wenig Schaden genommen zu haben. Es hätte schlimmer ausgehen können.“

Ohne den Hubschraubertransport wäre eine Katastrophe wohl unvermeidlich gewesen, und seine Familie würde jetzt nicht in einem der schicken Hotelzimmer, sondern in einem ganz anderen Raum sitzen.

„Das sehe ich auch so. Greg ist zuversichtlich, dass die Stents, die er einsetzen wird, einem erneuten Verschluss vorbeugen, und hofft, morgen operieren zu können.“

„Wunderbar. Darf er Besuch haben?“

„Ja. Sein Sohn ist an den Strand gegangen, um zu meditieren – sagte man mir am Empfang.“

Die einsame Gestalt, die aufs Meer gestarrt hatte? Vielleicht. Sasha sah Nate an. „Danke für Ihre Hilfe. Wenn Sie nicht gewesen wären, hätte Bill es möglicherweise nicht geschafft.“

Verwundert sah er sie an. „Im Krankenhaus wissen sie, dass man sich jederzeit an uns wenden kann.“

Schon möglich, aber wenn sie ehrlich war, hätte sie davon wohl nicht so schnell Gebrauch gemacht. Nicht aus Stolz oder Arroganz heraus, nein, es war ihr einfach nicht in den Sinn gekommen, den Hubschrauber anzufordern. Ein bisschen schämte sie sich dafür und nahm sich vor, in Zukunft daran zu denken. Sie musste Nate nicht mögen. Oder die Island Clinic gut finden. Doch sie würde ihre Patienten vernachlässigen, nähme sie nicht jede erdenkliche Chance wahr, ihnen zu helfen. „Ich werde es im Kopf behalten. Danke, dass ich nach ihm sehen durfte.“

Wieder lächelte er. „Sie brauchen nur am Empfang anzurufen. Ich möchte, dass unsere Einrichtungen zusammenarbeiten. Kein Kompetenzgerangel, okay?“

Sasha musste lachen, weil er sie durchschaut hatte. Andererseits gefiel es ihr gar nicht. Das würde bedeuten, dass er auch das feine Prickeln mitbekommen hatte, das sie gelegentlich in seiner Nähe befiel.

Nein, das konnte nicht sein. Sie wusste ja selbst nicht, was genau sie gefühlt hatte.

„Okay“, sagte sie nur.

„Möchten Sie den Rest der Klinik sehen?“

„Sehr gern.“ Es war ihr voller Ernst.

Als sie schließlich den Hotelflügel erreichten, schwirrte Sasha der Kopf. Hätte die Island Clinic bereits existiert, bevor sie ihre Facharztausbildung begann, hätte sie sie auch hier absolvieren und hinterher hier arbeiten können. Doch am Beth Israel hatte sie viel gelernt, was sie um nichts in der Welt missen mochte. Genauso wenig wie ihr Studium in Harvard, obwohl es mit einem gebrochenen Herzen und dem Schwur geendet hatte, sich nie wieder so hinters Licht führen zu lassen.

Allerdings war sie weniger betrogen als vielmehr fallen gelassen worden von einem Mann, dem ihre Beziehung sehr viel weniger bedeutet hatte als ihr. Er war reich, attraktiv und angesehen genug, dass die Frauen bei ihm Schlange standen. Warum hatte sie geglaubt, für ihn etwas Besonderes zu sein? Bis heute fand sie nur eine einzige Erklärung: Sie war zu jung und zu naiv gewesen.

Oh, Austin hatte sie umworben, ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen, ihr alle Wünsche erfüllt. Zumindest anfangs. Aber wenn er davon sprach, mit auf die Insel zu kommen, mit ihr am Saint Victoria zu arbeiten, steckte nichts dahinter. Es war nur leeres Gerede.

Diese Erfahrung hatte sie zynisch und misstrauisch gemacht, sodass sie danach in allen Männern einen zweiten Austin sah.

Auch Nate? Ganz bestimmt, da sie ihn in den vergangenen drei Jahren gemieden hatte wie die Pest.

„Lydia hat gesagt, Zimmer 201 ist frei.“

„Wie bitte?“

Er runzelte die Stirn. „Ich wollte Ihnen doch eins der Hotelzimmer zeigen.“

„Oh, natürlich.“

Was hast du denn geglaubt? Dass er aus anderen Gründen mit dir in einem Zimmer allein sein will? Mach dich nicht lächerlich!

Ja, sie hatte schmerzlich lernen müssen, dass sie eben nichts Besonderes war. Auch Nate konnte wahrscheinlich jede Frau haben.

Und falls er doch mit dir …

Nein, bestimmt nicht. Und ich will es auch nicht!

Sie folgte ihm einen Flur hinunter, der in lichten Grüntönen gestrichen war. Moderne Lampen von dezenter Eleganz hingen an den Wänden. Sashas Schuhe sanken in den luxuriösen Teppich ein, und ihre Zehen krümmten sich, weil sie sich unwillkürlich vorstellte, ihn unter ihren nackten Füßen zu spüren.

Selbst ihre Mutter, die auf Fliesen schwor, weil sie leicht sauber zu halten waren, wäre beeindruckt gewesen. „Vermieten Sie auch an Touristen?“

„Nein. Auf der Insel gibt es bereits ein Hotel, und wir wollen ihm keine Konkurrenz machen. Dies hier ist ausschließlich Patienten und ihren Familien vorbehalten.“

„Verstehe.“ Schon wieder hatte er sie überrascht. „Haben Sie genug Patienten, um die Zimmer zu füllen?“

„Zeitweise. Aber darauf kommt es uns nicht an. Die meisten kommen aufgrund von Mund-zu-Mund-Propaganda her. Oder wenn sie an einer Gala teilnehmen und eine Unterkunft brauchen. Während der Veranstaltung beherbergen wir Besucher und sind dann meistens ausgebucht.“

„Kann ich mir vorstellen.“

Sie kamen zu Zimmer 201, und erneut nutzte Nate seine Schlüsselkarte, um die Tür zu öffnen.

„Kommen Sie damit überall rein?“

Er warf ihr einen Blick zu, mit diesem faszinierenden angedeuteten Lächeln. „Nein. Nicht überall.“

Die Art, wie er es sagte, jagte ihr einen Schauer über die Haut.

Nate stieß die Tür auf und bedeutete ihr voranzugehen. Sie tat es und merkte erstaunt, dass er die Tür nicht hinter ihnen schloss. Im Grunde war sie ihm dankbar dafür, da ihre Gedanken allmählich in eine ziemlich fragwürdige Richtung wanderten.

Das geräumige Zimmer war mit dem gleichen dichten Teppich ausgelegt. Auf den zwei großen Betten lagen Daunendecken. Die Klimaanlage verströmte kühlere Luft, als Sasha es gewohnt war. Wahrscheinlich erwarteten es die luxusgewohnten Patienten, vor allem bei den warmen Bettdecken.

Da Nate nichts sagte, ging sie zum Fenster hinüber und blickte hinaus. Der Raum bot eine spektakuläre Aussicht aufs Meer und den Strand. Der Mann, der dort vorhin reglos gestanden hatte, war nirgends zu sehen. Hielt er sich wieder im Hotelzimmer seiner Familie auf, oder waren sie alle bei Bill?

Sie wusste nicht einmal, ob es tatsächlich Bills Sohn gewesen war.

„Was für ein Anblick!“

„Das finde ich auch.“

Seine Stimme war näher als gerade eben noch. Und wieder war Sasha froh, dass die Zimmertür offen geblieben war. Nicht, weil sie befürchtete, er könnte etwas versuchen, sondern weil sie Angst hatte, die Realität außerhalb dieses Zimmers aus den Augen zu verlieren. Hier drin fühlte sich alles magisch an. So, als ob Märchen wahr werden konnten.

Das hatte sie schon einmal gedacht. Es hatte sich als Lüge entpuppt.

„Manchmal macht man sich keine Gedanken darüber, wie diese Aussicht auf Menschen wirkt, die nicht von hier sind. Aber das hier … ist wie aus einem Hochglanzmagazin.“

„Saint Victoria ist wunderschön. Man wird schnell blind für die Schönheit um sich herum, wenn man sie täglich vor Augen hat.“

„Ja, das stimmt.“ Sie sah über die Schulter und bemerkte, dass er sie betrachtete. „Kann ich auf den Balkon gehen?“

„Selbstverständlich.“

Ihre Finger bebten leicht, als sie die Tür öffnete. Wegen Nate? Oder der traumhaften Aussicht? Vielleicht ein bisschen von beidem …

Milde Seeluft streichelte ihr Gesicht. Sasha trat ans Geländer und stützte sich mit den Händen auf dem schwarzen Schmiedeeisen ab. Der Duft nach Salz und Meer war betörend. Sie legte den Kopf in den Nacken und atmete tief ein. Wie musste es für die Familien sein, die hier zwischen Sorge um ihre Lieben und dem Staunen angesichts der tropischen Schönheit hin- und hergerissen waren. Sasha dachte an Bills Sohn. Dieser Ort war perfekt, um zu meditieren. Mit allen Sinnen zu genießen, am Leben zu sein.

Nate trat zu ihr, lehnte sich mit einer Hüfte gegen das Geländer und sah Sasha an. „Nettes Fleckchen, nicht wahr?“

„Nett ist die Untertreibung des Jahres. Es ist fantastisch. Ich bin so froh, dass die Island Clinic hier gebaut werden konnte.“ Sasha war selbst überrascht, wie ernst es ihr war.

„Wirklich? Ich hatte den Eindruck, dass Sie alles andere als begeistert sind.“

„Dr. Edwards, ich …“

„Nate. Bitte.“

Die Art, wie er es sagte, zog ihr das Herz zusammen. Im Grunde verhielt sie sich unvernünftig. Ihr Versuch, Distanz zu wahren, wirkte allmählich lächerlich.

„Okay. Nate …“ Doch als sie seinen Namen aussprach, verschwand alles, was sie hatte sagen wollen. So stand sie einfach nur da und sah ihn an. Jeans und Polohemd waren zerknittert, betonten attraktiv die harten Konturen seines athletischen Körpers, und Sasha konnte nicht den Blick von ihm lösen. Sie schaute ihm ins Gesicht, nahm die dunklen Schatten unter seinen Augen wahr, sicher vom Stress des Tages. Bestimmt arbeitete er auch an den anderen Tagen lange. Das passte nicht zu dem Bild, das sie sich von ihm – und seinem Luxusleben – gemacht hatte.

„War gar nicht so schlimm, oder?“

„W…was?“ Konnte er Gedanken lesen?

„Meinen Namen zu sagen.“

Unwillkürlich hörte sie sich seinen Namen flüstern, in einer anderen, intimeren Situation. Die beiden Betten hinter ihr schienen sie zu locken, erinnerten sie daran, wie lange sie schon nicht mehr mit einem Mann zusammen gewesen war.

Sie räusperte sich. „Vielleicht war ich etwas voreingenommen, als wir uns trafen. Ich hatte nur Geschichten gehört …“

„Geschichten?“ Er runzelte die Stirn. „Welche denn?“

Oh nein, sie würde ihm nicht erzählen, wie alle anderen von ihm geschwärmt hatten! „Nichts Schlimmes.“

Das Grübchen in seiner Wange neckte sie. „Das kann ich mir nur schwer vorstellen.“

„Dass man nichts Schlimmes über Sie gesagt hat?“

Er lachte. „Heißt das, dass Sie niemals etwas Unfreundliches über mich gesagt haben?“

Oje. Wann immer die Rede auf ihn kam, ließ sie buchstäblich kein gutes Haar an ihm. Patty hatte sie oft genug darauf angesprochen. Aber ihre Freundin war frisch verheiratet und sah alles durch eine rosarote Brille.

Ihre Lippen zuckten. „Vielleicht sollten Sie daran arbeiten, meine Meinung zu ändern.“

„Ist das ein Angebot … Sasha?“

Ihn ihren Namen sagen zu hören, überschwemmte sie wie tropisches Meerwasser. Warm. Sinnlich. Umspülte ihre Knöchel, stieg höher zu ihren Hüften und erreichte ihre Brüste. Ihre Brustwarzen kribbelten.

„Vielleicht“, hörte sie sich sagen, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

Als er eine Hand vom Geländer löste und ihr über den Arm strich, konnte sie nicht anders, beugte sich vor, schloss die Augen.

„Ich könnte die Herausforderung annehmen.“

Worte wie ein intimes Versprechen. Seine tiefe Stimme verdichtete den erotischen Nebel, der Sasha mehr und mehr einhüllte.

Küss mich!

Zum Glück sprach sie es nicht laut aus, aber die Sehnsucht war da, stark und drängend. Doch sie spürte seinen Mund nicht auf ihren Lippen. Angespannte Momente später öffnete sie die Augen.

Nate betrachtete sie intensiv, nahm schließlich die Hand von ihrem Arm. „Sie sind bestimmt müde. Heute war eigentlich Ihr freier Tag.“

„Ich …“ Krampfhaft suchte sie nach einer geistreichen Antwort. Irgendetwas, damit sie nicht so dumm dastand, wie sie sich fühlte. „Ja, das stimmt. Ich sollte nach Hause fahren.“

„Bleibt es dabei, dass Sie zu unserer Besprechung kommen?“

Etwas Schlimmeres konnte sie sich gerade nicht vorstellen. So verrückt, wie sie auf ihn reagiert hatte. Sie war so sicher gewesen, dass er sie küssen würde!

Aber anscheinend hatte er nicht im Entferntesten daran gedacht. Und wenn doch, hatte er vorgezogen, es nicht zu tun.

Klug von ihm.

Sasha trat einen Schritt zurück, stieß dabei gegen das Geländer. Nate gab den Weg frei und bedeutete ihr, ins Zimmer voranzugehen. Ihr Blick fiel auf die breiten Betten. Betten, auf denen sie sich Augenblicke zuvor noch hatte liegen sehen. Erwartungsvoll, willig …

Wie dumm von ihr!

War sie nicht schon einmal in die Falle getappt und hatte sich in einen Mann verliebt, der Macht und Geld im Überfluss besaß?

Nun, das sollte ihr kein zweites Mal passieren. Von jetzt an würde sie ihr Herz wappnen, egal, wie umwerfend Nate Edwards aussah. Egal, wie verführerisch seine tiefe Stimme klang. Egal, wie unwiderstehlich sein Lächeln mit diesem Grübchen wirkte.

Und vor allem wollte sie vor sich selbst auf der Hut sein!

3. KAPITEL

„Warum einen Caterer von außerhalb engagieren? Wir könnten jemanden von der Insel beauftragen.“

Sasha spürte die Blicke der anderen, während sie ihren Vorschlag machte. Zwar hatte sie sich vorgenommen, sich möglichst bedeckt zu halten, da sie todmüde war. Sie hatte letzte Nacht kaum schlafen können, nachdem sie Nates Verhalten so falsch interpretiert hatte. Auch deshalb war es ihr schwergefallen, heute Abend zu diesem Treffen zu kommen.

Aber jetzt musste sie sich einmischen.

Nate trat wieder ans Podium, suchte ihren Blick. In seinen Augen flammte etwas auf, ob Neugier oder Ärger, vermochte sie nicht zu sagen. „Okay, was würden Sie tun?“

„Ich würde DJs oder Musiker von hier ansprechen und herausfinden, wer ein Catering mit inseltypischen Gerichten übernehmen könnte. Damit bietet man den Gästen etwas Besonderes, nicht das Übliche wie auf allen anderen Spendenveranstaltungen, die sie besuchen.“

Sein Gesicht blieb ausdruckslos. Verunsichert fragte sie sich, ob sie auf dem Holzweg war. Nate veranstaltete diese Events seit drei Jahren. Und wenn man sich seine Klinik ansah, bestand kein Zweifel daran, dass er sie höchst erfolgreich betrieb. Andererseits hatte er ihre Meinung hören wollen. Sie gebeten, heute herzukommen.

„Und Sie kennen hier auf der Insel einen Betrieb, der eine Gala in großem Stil ausrichten kann? Wir erwarten zwischen achthundert und tausend Gästen. Ich hatte mich bereits umgehört, aber niemanden für diese Größenordnung gefunden.“

Sie schluckte. Okay, vielleicht hatte sie sich vergaloppiert. Wahrscheinlich hatte er recht, es gab hier keinen Caterer für so viele Menschen. Aber war es letztendlich nicht eine Frage der Organisation? Wenn Nate all das für Saint Victoria tat, warum dann nicht Einheimische einbinden? Ein Joint Venture schaffen zwischen den Inselbewohnern und denen, die helfen wollten?

Nate sollte das alles nicht allein stemmen müssen.

„Haben Sie schon einen Caterer verpflichtet?“

„Nein, nur Kostenvoranschläge eingeholt. Heute Abend wollten wir uns für einen entscheiden.“

Anscheinend war es zu spät. Vielleicht sollte man ihren Vorschlag für die nächste Gala ins Auge fassen. Aber ihre Mom war ein wahres Organisationstalent und eine großartige Köchin. Sasha war überzeugt, dass sie der Aufgabe gewachsen wäre. Tessi James hatte Torten für Hochzeiten gezaubert und für Restaurants Mehr-Gänge-Menüs gekocht. Fünf bis zehn Leute ihres Schlages konnten eine solche Spendenveranstaltung spielend ausrichten. Und wenn Nate ihre Idee zurückwies? Nun, dann bestätigte er nur, was sie in ihm ursprünglich gesehen hatte: den reichen Schnösel, der das Geld mit vollen Händen für Nobelcaterer und extravagante Ausstattung ausgab, statt die Ärmel hochzukrempeln und gemeinsam mit anderen anzupacken.

Es hätte zumindest ein Gutes: Sie würde die seltsame Anziehung, die er auf sie ausübte, wieder in den Griff kriegen.

Andererseits hatte er bewiesen, dass er weder Arbeit noch Mühe scheute – als er mit ihr zusammen Bill Waddel das Leben gerettet hatte.

Das ermutigte sie, weiter für ihre Idee zu werben. „Und wenn wir mit Leuten von der Insel ein Team zusammenstellen? Die Cateringfirma würde auch für die Dekoration sorgen?“

„Ja. Sie bringen alles mit, einschließlich Geschirr und Besteck.“

Okay, das hatte sie nicht bedacht. Porzellan und Gläser für achthundert bis tausend verwöhnte Gäste?

Sasha holte tief Luft. „Wäre es möglich, die Entscheidung für kurze Zeit zu vertagen? Ich kenne jemanden, der so etwas auf die Beine stellen könnte.“

Nate verschränkte die Arme vor der muskulösen Brust. „Tatsächlich? Nennen Sie mir einen Namen?“

Jetzt oder nie. Sie hoffte nur, dass er nicht glaubte, sie wollte ihrer Mutter einen lukrativen Auftrag verschaffen. „Tessi James.“

Beifälliges Raunen ging durch den Raum, und als sie sich umschaute, sah sie einige aus dem Krankenhaus nicken und lächeln. Viele kannten ihre Mutter von den Babypartys, Hochzeiten und anderen Familienfeiern, die sie organisiert hatte.

Auch Nate blickte auf die Anwesenden. „Ihnen scheint sie nicht unbekannt zu sein.“ Sein Blick kehrte zu Sasha zurück. „Tessi James? Sie ist nicht zufällig mit Ihnen verwandt, Dr. James?“

Oh, genau das hatte sie befürchtet. „Ja, sie ist meine Mutter. Aber …“ Sie wandte sich den anderen zu. „Wer von euch hat von meiner Mom schon eine Feier ausrichten lassen?“

An die zwanzig Leute hoben die Hand.

„Verstehe.“ Wieder sah er sie an. „Und Sie glauben, dass sie in der Lage ist, ein formelles Event für so viele Gäste zu veranstalten?“

Er ließ die Arme sinken und stützte sie auf seinen schmalen Hüften ab. Hüften, die in ihrer Fantasie über ihre geglitten waren, auf einem dieser Hotelbetten. Seine schlanken Finger verstärkten den Griff, und ihr wurde der Mund trocken, als sie sich vorstellte, wie diese Hände ihren Körper berührten, ihn lustvoll verführten. Die erotischen Bilder blockierten gefährliche Sekunden lang ihren Verstand.

Sasha räusperte sich, weil sie ihrer Stimme nicht traute. „Es kommt darauf an, was Sie unter formell verstehen. Formell in unserem Sinn, hier auf Saint Victoria, dann lautet die Antwort Ja. Aber das entspricht vielleicht nicht Ihren Vorstellungen.“ Wieder atmete sie tief durch und zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. „Ich wage jedoch zu behaupten, dass es ein unvergessliches, besonderes Ereignis sein wird … dessen Sie sich nicht schämen müssen.“

Er zog die dunklen Brauen hoch. „Daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Mir ging es nur um die Zahlen, nicht darum, ob Ihre Mutter fähig ist, ein Galadinner auszurichten.“

„Deshalb hätte ich gern ein, zwei Tage Zeit, um mit ihr zu sprechen, von Ihnen zu hören, wie solche Veranstaltungen in der Vergangenheit gehandhabt wurden und was Sie sich in diesem Jahr davon versprechen.“

Bist du verrückt? Hatte sie gerade wirklich vorgeschlagen, sich mit ihm zu treffen? Allein? Und das nach gestern Abend? Trotz der Gedanken, die sie hatte, wenn sie ihn nur anblickte?

Und wenn sie ihre Mutter in den Planungsprozess einbezog, würde sie Nate dann nicht zwangsläufig auch öfter sehen? So viel dazu, ihr Herz zu schützen!

„Okay, stimmen wir darüber ab. Wer ist dafür, sich nach einem lokalen Catering umzusehen?“

Alle Anwesenden hoben die Hand, darunter auch Sasha unbekannte Gesichter. Wahrscheinlich Angestellte der Island Clinic, die aus dem Ausland hierhergekommen waren.

„Scheint mir einstimmig zu sein. Ich gebe Ihnen drei Tage, die Möglichkeiten auszuloten. Aber ich möchte kurz mit Ihnen reden, sobald wir hier fertig sind, okay?“

Wie er das sagte, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie konnte nicht einschätzen, ob er verärgert oder ihrem Vorschlag gegenüber aufgeschlossen war. Vermutlich würde sie es bald herausfinden!

Nate war heute wieder im Saint Victoria gewesen. Zwar hatte sie nicht mit ihm zusammengearbeitet, aber ihn gelegentlich von Weitem gesehen. Sie war froh darüber. Die Minuten in jenem Hotelzimmer waren …

Märchenhaft sexy gewesen. Hätten sie sich geküsst, würde sie sich jetzt nicht ständig fragen, wie es gewesen wäre. Allerdings stellte sie sich mit Nate sehr viel mehr vor als nur einen Kuss.

Sasha wusste jedoch auch, wie schnell ein Märchen sich in einen Albtraum verwandeln konnte. Es war besser, sich nicht zu wünschen, dass ihre Sehnsucht sich erfüllte.

Nate wartete immer noch auf ihre Antwort. „Natürlich“, sagte sie, weil ihr nichts anderes einfiel.

Während die Besprechung sich um Themen wie Zeitrahmen und die Unterbringung der Gäste drehte, schrieb sie kurz ihrer Mom.

Hey, was hältst du davon, ein Team zusammenzustellen, um tausend Leute zu bewirten? Formell, Inselstil.

Es dauerte nicht lange, bis ihr Display aufleuchtete.

Wann?

Sasha musste lächeln. Wie erwartet, zuckte ihre Mutter nicht mit der Wimper. Sie tippte ihre Antwort.

Ungefähr in einem Monat.

Lass mich mit ein paar Leuten reden und in meinen Kalender sehen, aber ich denke, es ist machbar. Bis wann brauchst du die Info?

Nach dem Tod ihres Vaters hatte sich ihre Mom in die Arbeit gestürzt und sich mit ihrem kleinen Unternehmen einen Namen gemacht. Wie Sasha vorhin wieder gesehen hatte, war ihre Mutter bekannt für Catering, Partyplanungen und kunstvoll verzierte Torten.

In spätestens zwei Tagen. Es geht um die jährliche Gala der Island Clinic.

Ich kümmere mich gleich darum und sage dir Montag Bescheid. Vorher bräuchte ich noch ein paar Einzelheiten.

Ich schreibe Dir, wann ich morgen vorbeikommen kann.

Sasha hatte morgen frei, wollte aber arbeiten, falls im Krankenhaus viel zu tun war. Wann Dr. Warren, der wegen eines Krankheitsfalls in der Familie verhindert war, wieder zurück sein würde, war noch nicht klar.

Bis dann. Mwen renmen ou.

Hab dich auch lieb, Mom!

Das Treffen löste sich bald danach auf. Patty Cohen kam zu ihr. „Gute Idee, deine Mom fürs Catering vorzuschlagen. Meinst du, sie wird es übernehmen?“

Sasha lachte. „Ich war ungezogen und habe ihr während der Besprechung geschrieben. Wenn es terminlich passt und sie genug Helferinnen und Helfer zusammentrommeln kann, macht sie es wahrscheinlich.“

„Großartig. Außerdem bin ich froh, dass du endlich zu einem unserer Treffen gekommen bist.“

Patty versuchte schon seit Langem, sie zu überreden, sich mehr für die Island Clinic zu engagieren. Sie verstand Sashas Vorbehalte nicht im Geringsten.

Sasha verstand sie ja selbst kaum. Sie mussten etwas mit Austin zu tun haben und der schmerzhaften Enttäuschung, die er ihr bereitet hatte. Fünf Jahre war sie mit ihm zusammen gewesen, als aus heiterem Himmel statt des erwarteten Heiratsantrags eine SMS kam, in der er mit ihr Schluss machte. Er teilte ihr noch kurz mit, dass er sich an einem großen New Yorker Krankenhaus beworben hatte und angenommen worden war.

Und dann besaß er die Frechheit, ihr anzubieten, doch auf einen Drink vorbeizuschauen, falls sie jemals in New York sei. Sasha war sich ziemlich sicher, dass er dabei nur eins im Sinn hatte: Sex. So viel zu seinem Versprechen, mit ihr zusammen auf Saint Victoria zu arbeiten.

Wieder einmal und diesmal besonders eindringlich war ihr aufgefallen, dass sie und ihre Kommilitonen aus reichem Hause Welten trennten. Zum Glück war sie so weit, am Beth Israel ihre Facharztausbildung anzufangen. Was Austin getan hatte, überschattete ihre Zeit in Harvard und prägte ihre Sicht auf Nate und seine Klinik.

„Ich auch.“

Patty wandte sich zum Gehen. „Ich verschwinde, Dax wartet zu Hause auf mich. Lass uns bald mal zusammen Mittag essen. Wir haben uns ewig nicht richtig gesehen.“

Die wildromantische Liebesbeziehung ihrer Freundin mit einer alten Flamme war am Saint Victoria wochenlang Thema gewesen. Patty schien auf Wolken zu schweben, so glücklich war sie. Sasha freute sich sehr für die beiden.

Ihr Blick fiel auf Nate, der etwas abseits auf sie wartete.

„Ja, Marcus fehlt an allen Ecken und Enden. Hoffentlich kann er bald wiederkommen. Sobald mein Dienstplan es zulässt, verabreden wir uns, ja?“ Sie umarmte Patty rasch, winkte ihr noch einmal zu und ging zu Nate.

Sie warf ihm einen reumütigen Blick zu. „Hoffentlich habe ich mit meinem Vorschlag nicht alles durcheinandergebracht. Eigentlich hätte ich mich gar nicht einmischen dürfen, weil ich bei den anderen Treffen nicht dabei war. Geschweige bei den Galas.“

„Deswegen hatte ich Sie ja gebeten teilzunehmen. Ich habe gesehen, wie Sie währenddessen am Handy getippt haben.“

Also war es ihm nicht entgangen. „Tut mir leid, ich hatte meiner Mom geschrieben. Wäre die Idee nicht zu verwirklichen gewesen, hätte ich meinen Vorschlag zurückgezogen.“

„Dachte ich mir, dass Sie angefragt haben. Die Idee ist gut, und ich weiß auch nicht, warum ich nicht intensiver nach einem lokalen Caterer gesucht habe.“

„Wenn man nicht weiß, wo man suchen muss, wird die Suche schwierig.“

„Danke. Ich wollte nie der Bulldozer-Typ sein, der bestimmt, wo’s langgeht.“ Er sah sie an. „Allerdings werde ich das Gefühl nicht los, dass Sie genau das von mir gedacht haben.“

„Kann sein“, meinte sie leichthin. „Ich hoffe, ich habe mich getäuscht.“

Ein schwaches Lächeln umspielte seinen festen Mund. „Ich auch.“ Nate blickte auf das Smartphone in ihrer Hand. „Was hat Ihre Mutter gesagt?“

„Sie will erst mit ein paar Leuten reden und sagt mir bis Montag Bescheid.“

„Gut, dann setze ich die nächste Besprechung für Dienstag an. Können Sie mir bis dahin einige Vorschläge machen?“

„Was halten Sie davon, dass ich sie mitbringe, falls sie Zeit hat?“

„Das ginge so schnell?“

Sasha lachte auf. „Sie mögen kein Bulldozer sein, aber meine Mutter ist bekannt dafür, dass sie jeden niederwalzt, der ihr in die Quere kommt.“

„Erinnern Sie mich daran, dass ich ihr nie im Weg stehe. Aber im Ernst, sie wird für die Planung nicht viel Zeit haben. Kann sie auch für Geschirr und so weiter sorgen?“

„Ich denke schon. Wir sollten über die Details reden, damit sie überschlagen kann, was sie braucht.“

„Ja, lassen Sie uns in mein Büro gehen. Die meisten Unterlagen befinden sich dort, und hier wird jetzt der Konferenzraum hergerichtet.“

Sasha blickte sich um und sah, dass Angestellte bereits Stühle stapelten und benutzte Tassen und Gläser einsammelten. „Oh, natürlich.“

Sie war ein bisschen aufgeregt, als sie Nate den Flur entlang folgte. Was wahrscheinlich weniger damit zu tun hatte, dass sie eine Gala mitplante, sondern eher mit dem Mann, mit dem sie gleich allein sein würde. Fast die ganze Nacht hatte sie davon geträumt, ihn zu küssen. Und nicht nur das. Ihre Träume waren heiß und feucht und verrucht gewesen. Sie wurde rot, wenn sie nur daran dachte. Gut, dass er sie gerade nicht ansah!

Am Ende des Korridors verschaffte sich Nate mit seiner Schlüsselkarte Zugang zu einem Zimmer zu ihrer Rechten, öffnete die Tür und ließ Sasha den Vortritt.

Ihre Träume verabschiedeten sich endgültig, als sie sein riesiges Büro sah. Unwillkürlich runzelte sie die Stirn. Links war ein eleganter Sitzbereich gestaltet, mit einem langen Ledersofa, passenden Sesseln und einem Glastisch dazwischen. Auch der schwere Holzschreibtisch mit dem ledernen Bürostuhl verriet einen erlesenen Geschmack, der nur mit viel Geld zu erkaufen war. Der weiche Teppich erinnerte sie an den im Hotel, und auch hier sanken ihre Schuhe bei jedem Schritt ein – wohltuend, weil ihre Füße sie fast umbrachten.

Anscheinend war ihm ihre Reaktion nicht entgangen. „Hier halte ich oft Besprechungen ab“, sagte er, während er einige Aktenhefter vom Schreibtisch nahm und Sasha bedeutete, in der Sitzecke Platz zu nehmen.

Ja, das konnte sie sich vorstellen. Wer luxuriöse Büros von zu Hause gewohnt war, schlug sein Scheckbuch sicher bereitwilliger auf, wenn er hier ein vertrautes Ambiente vorfand.

Allerdings machte ihr der Anblick wieder bewusst, wie unterschiedlich Nate und sie waren. Oder wie sehr er und Austin sich ähnelten. Beide präsentierten sich als vermögende Philanthropen, das Wohl der Menschen stets im Blick. Bei Austin bestand die Menschenfreundlichkeit zwar in einer glänzenden, aber nur hauchdünnen Schicht, die nicht sehr tief reichte. Und bei Nate? Darüber war noch kein Urteil gefallen.

Aber eins war sicher: Sie kamen aus verschiedenen Welten, und sie sollte aufhören, von diesem Mann zu träumen. Und zwar, bevor sie etwas Dummes tat oder wieder verletzt wurde. Um sich abzulenken, blickte sie sich um. Werke einheimischer Künstler schmückten die Wände. Auf einem Regal hinter dem Sofa reihten sich farbenfrohe Flaschen aneinander, die wahrscheinlich diverse Spirituosen enthielten.

Er schien ihrem Blick gefolgt zu sein. „Möchten Sie etwas trinken?“

Tatsächlich hätte sie jetzt gern einen Drink gehabt. Da sie mit dem Shuttle hergekommen war, würde sie auch zurückgebracht werden. Allerdings hieß das, dass der Bus allein ihretwegen her- und wieder zurückfuhr. „Ich würde ungern den Shuttle bemühen …“

„Ich bringe Sie zum Krankenhaus. Oder Sie übernachten in einem unserer Gästezimmer.“

Zum Beispiel in Raum 201, den er ihr gestern gezeigt hatte? Nein. Auf keinen Fall! „Wenn Sie mich zurückfahren könnten … Vielen Dank.“

„Es ist das Mindeste, was ich tun kann. Schließlich habe ich Sie gebeten, länger zu bleiben.“

„Und ich hatte meine Mutter ins Spiel gebracht. Trotzdem danke“, fügte sie lächelnd hinzu. „Ich hätte gern ein Glas Rotwein, wenn Sie einen dahaben.“ Es war ein langer Tag gewesen, und sie konnte etwas gebrauchen, um runterzukommen.

„Habe ich.“ Er ging zur Sitzgruppe und öffnete die Glastür eines kleinen Kühlschranks. Ein Weinkühlschrank, dachte sie.

Während Nate ein Glas mit Rotwein füllte und sich dann in einem Tumbler einen Drink einschenkte, schlenderte sie durch sein Büro. Ihre großen Zehen stießen bei jedem Schritt schmerzhaft an die Schuhspitzen. Sie konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und die Schuhe auszuziehen!

Etwas auf dem Regal hinter seinem Schreibtisch erregte ihre Aufmerksamkeit. Es passte nicht in die elegante Umgebung mit den teuren Artefakten. Ihre schmerzenden Füße waren für den Moment vergessen, als sie nähertrat.

Auf einem quer gelegten Buch saß eine Stoffpuppe. Ihre Haare bestanden aus einfachen braunen Wollfäden und standen in alle Richtungen ab. Schlichter ungefärbter Baumwollstoff bedeckte den Körper, auch das Kleid war aus dem gleichen Material. Sie erinnerte sie an die Puppen, die die Mütter auf dieser Insel für ihre Kinder nähten. Warum sollte sich Nate so etwas kaufen?

Sie betrachtete die Puppe. Das Gesicht war aufgestickt, die schwarzen Schuhe aus Filz genäht. Hier und da waren Schmutzspuren und der Filz an einem Schuh abgewetzt. Sasha begriff. Diese Puppe stammte nicht aus einem Souvenirshop. Mit ihr hatte ein Kind gespielt.

Jetzt erst merkte sie, wie still es hinter ihr geworden war. Sie drehte sich um und sah, dass Nate sie beobachtete, in der Hand das Whiskyglas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Er trank einen Schluck, dann noch einen.

„Eine interessante Puppe. Wussten Sie, dass manche Mütter hier sie für ihre Töchter nähen? Als Kind bekam ich auch so eine, und ich habe sie immer noch.“

„Ja, das wusste ich.“ Nate trank wieder von seinem Glas, kam zu ihr und reichte ihr den Rotwein. Die Puppe sah er nicht an. Er blickte praktisch an ihr vorbei.

Ihre Neugier wuchs. „Woher haben Sie sie?“

Seine Miene blieb ausdruckslos. „Man hat sie mir gegeben. Lassen Sie uns über die Gala reden, ja?“ Nate deutete auf die Sitzgruppe.

Deutlicher hätte er nicht ausdrücken können, dass sie an ein Tabuthema gerührt hatte. Aber warum? Okay, es war seine Sache, und sie würde sich ganz bestimmt nicht einmischen. Mit einem letzten Blick auf die fadenscheinige Puppe nahm sie ihren Wein und ging hinüber zum Sofa.

Viele hatten Nate schon auf Maries Puppe angesprochen, und er erzählte ihre Geschichte, ohne zu zögern. Doch als er sah, wie Sasha sie betrachtete, verspürte er einen unangenehmen Druck im Magen. In ihm sträubte sich alles, über das kleine Mädchen zu reden, bevor sie Einzelheiten einer glanzvollen Spendengala besprachen. Auch wenn ein Teil des Erlöses dafür verwendet werden sollte, die Krankheit, an der Marie gestorben war, weiter einzudämmen.

Anscheinend hatte er etwas zu barsch vom Thema abgelenkt. Er las es in Sashas Gesicht. Aber er konnte seinen Fehler nur korrigieren, indem er zu einer umfassenden Erklärung ausholte.

Sasha hatte sich auf die Couch gesetzt und hielt ihr Handy mit beiden Händen fest. „Beschreiben Sie mir die Speisen, die Sie bei den letzten Veranstaltungen serviert haben?“

Er zögerte, war erneut versucht, ihr doch von Marie zu erzählen. Nate schüttelte den Impuls ab und öffnete einen Hefter, der Fotos von den vergangenen drei Galas enthielt. Alle drei verschieden gestaltet, aber jede von erlesener Eleganz.

„Anhand dieser Aufnahmen können Sie sich einen ersten Eindruck verschaffen. So könnte es bei der nächsten Gala aussehen, muss es aber nicht.“

Sasha nahm die Bilder in die Hand und studierte sie. Währenddessen nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Sie schlüpfte mit der Ferse aus ihrem Schuh, wartete einen Moment, bevor sie sie wieder hineinschob. Und das mehrmals hintereinander. Für Nate sah es so aus, als ob sie gar nicht bewusst wahrnahm, was sie da tat.

Ihr taten die Füße weh. Wahrscheinlich war sie den ganzen Tag in diesen Schuhen herumgelaufen, und nun hatte er sie praktisch gebeten, es noch länger auszuhalten. Okay, im Grunde war die Initiative für diese Nachbesprechung von ihr ausgegangen, trotzdem …

„Sasha?“ Er wartete, bis sie aufblickte. Dunkle Augen begegneten seinen. Fragend. „Ziehen Sie ruhig die Schuhe aus, wenn Sie möchten.“

Sie rümpfte so bezaubernd die Nase, dass er Mühe hatte, nicht hinzustarren. „Ich wollte nicht, dass es auffällt, aber ja, sie sind neu, und es war eine dumme Idee, sie heute anzuziehen.“

„Hier sieht Sie niemand.“ Er lächelte. „Es bleibt unser kleines Geheimnis.“

Sie hielt seinen Blick fest. „Sicher?“

„Dass ich es niemandem verrate?“ Er nickte in Richtung der Mappe, die sie in den Händen hielt. „Ich verspreche, dass ich es nicht dort vermerken werde.“

Sasha lachte, und der helle Klang rührte etwas in seiner Brust an, lockerte das Gewicht, mit dem Marie und die Puppe sein Herz beschwerten.

„Gut, wenn Sie es versprechen.“

„Ja.“

Sie streifte die Schuhe ab, versenkte die Füße im dicken Teppich und krümmte die Zehen, entspannte sie wieder. Fehlte nur, dass sie sinnlich aufseufzte. Doch auch so spürte er, wie sein Körper reagierte.

Verdammt. Es wurde Zeit, über etwas anderes zu reden.

Bevor er dazu kam, seufzte sie tatsächlich. „Danke. Das fühlt sich himmlisch an.“

Oh ja. Und es hatte nichts mit dem Teppich zu tun … „Manchmal, wenn mir der Rücken wehtut, strecke ich mich hier lang aus.“

„Sie haben Rückenprobleme?“, fragte sie erstaunt.

„Nur die typischen Alterserscheinungen.“ Er war als Kind von der Schaukel gefallen, und von Zeit zu Zeit schmerzte ihn der zweite Lendenwirbel.

„Alter … Ooo-kay.“

Wie sie das Wort in die Länge zog, brachte ihn zum Lachen. „Entweder das Alter oder pure Dummheit.“

„Dummheit?“

„Sagen wir, von einer Schaukel in eine Schlammpfütze zu springen, geht nicht immer so gut wie gedacht. Es hängt davon ab, wie man landet. In diesem Fall unglücklich.“

„Autsch.“ Sie sah ihn an. „Ich kann Sie mir gar nicht schaukelnd vorstellen.“

Ihre Bemerkung löste völlig unpassende Regungen aus. Ihm lag eine lockere Antwort auf der Zunge, die Sasha vielleicht gar nicht lustig finden würde. „Aus gutem Grund. Heutzutage schaukele ich nur noch in der Hängematte.“

„Sie haben eine Hängematte?“

„Ja. Das Cateringteam hatte sie sich sogar für eine der Galas geliehen. Irgendwo müsste auch ein Bild davon sein.“

Nate beugte sich über den Tisch, bemüht, seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Sie reichte ihm die Mappe, und er blätterte darin, fand schließlich, was er suchte. „Da ist es.“

Sasha betrachtete die Aufnahme. Um grob behauene Holzpfeiler, die wie Baumstämme wirkten, waren Rankpflanzen und Lichterketten gewunden. Seine Hängematte war zwischen zweien aufgespannt, darauf farbenfrohe Kissen und eine leichte Decke drapiert.

„Wunderschön. Das könnte meine Mom auf jeden Fall arrangieren. Nicht exakt genauso, doch ein tropisches Ambiente passt natürlich sehr gut nach Saint Victoria.“

„Ja, ich glaube, es war meine Lieblingsgala.“

„Das kann ich mir vorstellen.“

Wieder schob sie die Zehen in den weichen Teppich, und es durchfuhr ihn heiß. Ihre Zehennägel waren unlackiert und sahen auf natürliche Weise gepflegt aus. Was für ein Unterschied zu Tara. Allerdings spielte ein gestyltes Äußeres in der Praxis seiner Eltern eine große Rolle, sodass auch seine Ex-Freundin entsprechend auftrat.

Nicht, dass Sasha neben ihr unscheinbar wirkte. Im Gegenteil. Sie brauchte weder Make-up noch elegante Kleidung, weil sie eine Schönheit ausstrahlte, die …

Nate räusperte sich. „Sie meinen also, dass Ihre Mutter einen solchen Auftrag bewältigt?“

„Ich meine es nicht nur, sondern ich weiß es. Sie ist unglaublich.“

Nicht nur ihre Mutter.

Sasha hob den Blick, und Nate merkte erst jetzt, dass er nicht reagiert hatte. „Machen Sie sich Sorgen, Nate?“

Ja. Aber es hatte nichts mit der Gala, sondern nur mit ihr zu tun. Und seiner verrückten Reaktion, wie eine kleine Schockwelle, jedes Mal, wenn sie seinen Namen sagte. Vielleicht lag es daran, dass sie sich anfangs geweigert hatte. Oder war es vielmehr ihre samtige Stimme, die die Laute zu streicheln schien?

Autor

Tina Beckett
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Caroline Anderson

Caroline Anderson ist eine bekannte britische Autorin, die über 80 Romane bei Mills & Boon veröffentlicht hat. Ihre Vorliebe dabei sind Arztromane. Ihr Geburtsdatum ist unbekannt und sie lebte die meiste Zeit ihres Lebens in Suffolk, England.

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Annie O'Neil
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