Julia Ärzte zum Verlieben Band 200

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DR. HUNT – ARZT MIT HERZ von SUSAN CARLISLE

Nie wieder will Kinderkardiologe Jenson Hunt sein Herz riskieren! Seit seine Ex mit seinem besten Freund durchgebrannt ist, interessiert ihn einzig und allein sein Job. Bis er mit Schwester Bayley zusammenarbeitet – und sich ungewollt immer mehr zu ihr hingezogen fühlt …

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  • Erscheinungstag 08.02.2025
  • Bandnummer 200
  • ISBN / Artikelnummer 9783751533454
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susan Carlisle

1. KAPITEL

Die Kinderkrankenschwester Bayley Dodd stand vor der Schwesternkanzel der Kardiologie und hörte ungewollt das aufgeregte Getuschel der anderen Schwestern mit an, wobei sie versuchte, sich auf die elektronische Krankenakte eines kleinen Patienten zu konzentrieren.

„Angeblich soll er groß, dunkelhaarig und gut aussehend sein.“ Schwärmerisch verdrehte die Schwester die Augen.

„Er ist frisch geschieden, habe ich gehört“, sagte eine andere Kollegin.

„Ich habe ihn schon gesehen. Er ist ein absoluter Traum“, gurrte die dritte Schwester.

Jetzt reichte es Bayley. Sie hielt sich das Tablet vor die Brust, setzte eine verknallte Miene auf, klimperte mit den Wimpern und säuselte mit Fistelstimme: „Ach, wenn er mich doch zum Ball einladen würde.“

Als die anderen Frauen nicht in Gelächter ausbrachen, sondern mit großen Augen an ihr vorbei blickten, wurde Bayley stutzig. „Er steht direkt hinter mir, oder?“, fragte sie lautlos.

Die Kolleginnen nickten und eilten verlegen davon. Bayley hatte nicht widerstehen können, die Schwestern aufzuziehen. Sie benahmen sich wirklich wie alberne Teenager, und das nur, weil ein angeblich unwiderstehlicher Arzt beschlossen hatte, seine Privatpraxis aufzugeben, um hier in der Klinik zu arbeiten. Die Klinikleitung schätzte sich glücklich, ihn gewonnen zu haben.

Bayley interessierte es nicht, wie er aussah und wo er herkam. Ihr war nur wichtig, dass er kinderlieb war und einen guten Job machte.

Die Kinderklinik von Atlanta war bekannt für ihre herausragende Kardiologiestation und dementsprechend hoch frequentiert.

Zusätzliches Personal war stets willkommen.

Momentan arbeitete Bayley noch nebenbei als Kinderkrankenschwester, hoffte jedoch, schon im nächsten Jahr als Ärztin angestellt zu werden, sowie sie ihr Medizinstudium abgeschlossen hatte.

Langsam wandte sie sich um. Er stand nur eine Armlänge von ihr entfernt und presste die Lippen zusammen. War ja klar, dass er genau gehört hatte, was sie gesagt hatte. Wie peinlich …

„Hallo.“

Seine Stimme erinnerte sie an warme Karamellbonbons – weich und lecker. Er war wirklich sehr groß. Das blonde Haar war an den Seiten kurz, oben länger. Dieser Alphamann schien mit der Mode zu gehen. Bayley konnte sich das nicht leisten. Sie ließ ihr Haar wachsen, weil sie kein Geld für regelmäßige Friseurbesuche hatte. Die Finanzierung des Medizinstudiums hatte absolute Priorität.

Und natürlich ihr Vater.

Die Augen des neuen Docs hielten sie gefangen. Sie hatten die dunkelgraue Farbe eines über das Meer herannahenden Sturms – aufregend und einschüchternd zugleich.

„Ich bin Dr. Hunt.“

Der Tonfall klang geschäftsmäßig. Dieser Mann war mit ernsten Dingen befasst und hatte keine Zeit für alberne Schwestern und witzige Parodien. Bayley akzeptierte das, strich ihre Schwesternuniform glatt und stellte sich ebenfalls vor.

„Freut mich. Ich bin Bayley, eine der Schwestern, die heute Abend Dienst haben. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich bin auf der Suche nach einem Patienten. Er heißt Johnny Smith. Offensichtlich hat man ihn verlegt. In dem auf der Liste angegebenen Zimmer habe ich ihn jedenfalls nicht angetroffen.“

„Johnny liegt in Zimmer 325. Kommen Sie, ich bringe Sie hin.“ Bayley setzte sich in Bewegung.

„Ich möchte mir erst seine Krankenakte ansehen“, sagte Dr. Hunt.

Also kam Bayley zurück und reichte ihm ihr Tablet. „Hier finden Sie alle Informationen. Sie haben doch eine Zugangsnummer?“

Wortlos nahm er ihr das Gerät aus der Hand und überflog die elektronische Krankenakte. Dabei fielen Bayley die feingliedrigen Finger mit den gepflegten Nägeln auf. „Danke.“ Nach einem kurzen Blick auf ihr Namensschild fügte er hinzu: „Bayley.“ Dann gab er ihr das Tablet zurück und machte sich auf den Weg.

„Falsche Richtung.“ Sofort blieb er stehen und warf einen Blick über die Schulter. „Zu Johnnys Zimmer geht es hier entlang.“ Sie zeigte in die entgegengesetzte Richtung. „Ich bin auch gerade auf dem Weg zu ihm. Seit letzter Woche gehört er zu meinen Patienten.“

Dr. Hunt lächelte flüchtig und drehte sich um. Bayley hatte Mühe, mit dem Mann in dem makellos weißen Arztkittel Schritt zu halten. „Johnny ist Dr. Marios Patient.“ Er blieb so abrupt stehen, dass sie fast auf ihn geprallt wäre.

„Ich weiß. Er hat mich um ein Konsilium gebeten. Erzählen Sie mir, was Sie über den Patienten wissen.“

Sie widerstand der Versuchung, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, um größer zu wirken. „Wie Sie der Krankenakte sicher gerade entnommen haben, leidet Johnny an einer Kardiomyopathie. Er ist in der Schule kollabiert. Es wird geprüft, ob er für eine Herztransplantation infrage kommt. Er ist ein sehr unglücklicher Teenager.“

Mitgefühl zeigte sich in seinem Gesicht. Wow, dachte Bayley. Wenn der Mann eine Charmeoffensive startet, sind alle verloren – ich eingeschlossen. Vielleicht war doch etwas an dem Ruf, der ihm vorauseilte.

„Sie kommen mit“, sagte er nun.

„Einverstanden. Dann kann ich Sie seiner Familie vorstellen, wenn Sie nichts dagegen haben. Die Eltern sind äußerst angespannt.“

Dr. Hunt wies auf die Tür. „Nach Ihnen.“

Sie schätzte sein Verständnis, was aber nicht hieß, dass sie sich von ihm einwickeln lassen würde. Für den attraktiven Doktor blieb ihr gar keine Zeit, denn sie musste sich um ihren Vater kümmern, das Medizinstudium erfolgreich abschließen und ihren Job erledigen. Wie sollte sie das alles mit einer Romanze unter einen Hut bringen?

Schon vor Jahren hatte sie sich damit abgefunden, weder die Zeit noch die Energie für eine Beziehung zu haben. Damals hatte ihr Vater einen schweren Arbeitsunfall erlitten. Seitdem saß er im Rollstuhl. Wenige Wochen nachdem er wieder zu Hause gewesen war, hatte Bayleys Mutter ihren Mann verlassen. Dadurch war Bayley gezwungen gewesen, schnell erwachsen zu werden, denn sie musste ihren Vater pflegen und den Haushalt schmeißen. Die Bindung zu ihrem Vater war noch enger geworden.

Mit einem Lächeln auf den Lippen betrat Bayley nun das Krankenzimmer. Johnny und seine Angehörigen brauchten in dieser schweren Zeit viel Aufmunterung. Ein Arzt, der ihnen in dieser Situation unverblümt mitteilte, wie es um den Patienten stand, könnte ihnen alle Zuversicht nehmen. War Dr. Hunt so ein Arzt? Hoffentlich nicht.

Es war dunkel im Zimmer. Johnny lag im Bett und spielte ein Videospiel auf dem Handy. Sein Gesundheitszustand hatte sich in den vergangenen Wochen stetig verschlechtert. Die strenge Bettruhe wirkte auch nicht gerade als Stimmungsaufheller. Der Teenager brauchte dringend ein neues Herz.

„Hi, Johnny. Ich möchte dir Dr. Hunt vorstellen. Dr. Mario hat ihn um Unterstützung gebeten, und er würde dich gern untersuchen.“

Der Junge sah kaum von seinem Videospiel auf, in dem es darum ging, imaginäre Zeichentrickfiguren auszuschalten.

Seine Mutter, die in einer Zimmerecke saß, stand auf und kam ans Bett. „Sei nicht so unhöflich, Johnny“, ermahnte sie ihn.

Bayley konnte sich gut vorstellen, wie der Teenager sich fühlen musste. Er wollte wieder gesund werden und mit seinen Kumpeln Spaß haben. In den ersten Tagen seines Krankenhausaufenthalts hatte er noch viel Besuch gehabt. Jetzt ließ sich nur noch ab und zu einer seiner Freunde blicken. Dadurch verging die Zeit für Johnny natürlich noch langsamer. Er hatte wirklich allen Grund, schlechter Dinge zu sein.

Dr. Hunt warf einen Blick auf das Display. „Revenge of the Aliens. Hast du schon die Tür zum O’Shazia auf dem Frostlevel gefunden?“

Johnnys Augen leuchteten auf. Beeindruckt sah er den Arzt an. „Woher kennen Sie sich so gut aus?“

„Weil ich das Spiel ständig mit meinem Neffen spiele. Inzwischen habe ich es bis Level sieben gebracht.“

„Wow. Dann müssen Sie richtig gut sein.“

Bayley lächelte. Dem neuen Arzt war es gelungen, den unglücklichen Teenager zu beeindrucken.

Bescheiden zuckte Dr. Hunt mit den Schultern. „Mit etwas Übung und Vorausschau ist das gar nicht so schwierig. Soll ich dir einen Tipp zu diesem Level geben?“

Johnny nickte. „Ja, bitte.“

„Hol den Schlüssel aus dem Schmuckkasten.“

Johnny klickte einige Male.

Das war ja unglaublich. Bayley staunte. Dieser äußerst gepflegte Mann im blütenweißen Button-Down-Hemd, rahmengenähten Schuhen und Gürtel, dunkelblauer Hose mit Bügelfalte passte so gar nicht zu dem Bild, das sie sich von ungepflegten Gamern in schmutzigen T-Shirts und Shorts gemacht hatte.

Offensichtlich hatte der blendend aussehende Arzt mehr Tiefgang, als man auf den ersten Blick erkennen konnte. Wer war der wahre Dr. Hunt?

„So ist es gut. Jetzt geh dort hin und öffne den Schmuckkasten. Der Schlüssel befindet sich darin.“

Blitzschnell bewegte der Junge die Finger. „Ich habe ihn.“

Johnnys Mutter stellte sich zu Bayley.

Arzt und Patient unterhielten sich über eine Welt, von deren Existenz Bayley keine Ahnung gehabt hatte.

„Was wissen Sie über den Doktor?“, fragte die Mutter im Flüsterton.

„Er ist neu hier und genießt einen ausgezeichneten Ruf. Die Klinik kann sich glücklich schätzen, ihn engagiert zu haben“, flüsterte Bayley zurück.

Die Mutter ließ den Blick zwischen Dr. Hunt und ihrem Sohn hin- und hergleiten. „Dann kann ich ihm also vertrauen?“

Bayley folgte ihrem Blick. „Ich denke schon.“

„Hoffentlich behalten Sie recht.“ Ganz überzeugt schien Johnnys Mutter nicht zu sein.

Die Klinik stellte nur gute Leute ein. Da war Bayley sich ganz sicher. Sie hoffte, nach dem Examen auch als Ärztin hier arbeiten zu dürfen. Das wäre in einem Jahr. Dann wäre sie Allgemeinärztin. Vorausgesetzt, die finanziellen Mittel reichten bis dahin. Nach seinem Arbeitsunfall hatte ihr Vater eine Schadenersatzzahlung erhalten. Davon konnte auch Bayleys Ausbildung zur Krankenschwester bestritten werden. Außerdem übernahm sie so viele Schichten wie möglich. So waren sie bislang gut über die Runden gekommen. Das Medizinstudium hatte sich jedoch im Laufe der Zeit als erheblich kostspieliger als erwartet erwiesen. Zudem benötigte ihr Vater immer wieder medizinische Behandlungen. Im letzten Monat hatte das Geld kaum gereicht. Bayleys einzige Hoffnung richtete sich nun auf ein Wilcott-Ross-Stipendium. Wenn sie das erhielte, wäre sie alle finanziellen Sorgen los, und sie und ihr Vater könnten an einen Ort mit besserer medizinischer Versorgung ziehen.

Dr. Hunt hatte sein Gespräch mit Johnny beendet und wandte sich nun seiner Mutter zu. Er streckte eine Hand aus und stellte sich vor. „Ich bin Dr. Hunt. Freut mich, Sie kennenzulernen. Sie haben einen großartigen Sohn. Wir werden ihn schnell wieder gesund machen, damit er bald entlassen werden kann.“

Johnnys Mutter lächelte plötzlich. „Ich nehme Sie beim Wort.“

Der Arzt erwiderte das Lächeln. In Bayleys Bauch kribbelte es, dabei hatte das Lächeln nicht einmal ihr gegolten.

Kein Wunder, dass Dr. Hunt auf der Kardiologiestation in aller Munde war. Wenn er lächelte, lagen ihm alle zu Füßen. Ich auch, dachte Bayley versonnen.

„Darf ich dich jetzt kurz abhorchen, Johnny?“, fragte Dr. Hunt.

„Okay.“ Der Junge legte eine Spielpause ein.

Der Kardiologe zückte sein Stethoskop und horchte Johnnys Brust ab. Sekunden später hing das Stethoskop bereits wieder um Dr. Hunts Hals. „Du hast wenig Appetit, oder?“

Der Junge nickte.

„Wie steht es um deine Energie?“

„Nicht so toll.“

Der Arzt nickte. „Was ist mit deinem Gewicht? Gibt es da Veränderungen?“

„Ja, ich habe etwas zugenommen.“

Dr. Hunt schürzte die Lippen. „Okay, hat mich gefreut, dich kennenzulernen, Johnny.“ Er ging zur Tür, nickte Bayley kurz zu. „Danke.“

„Gern geschehen.“ Bayley bewunderte seine breiten Schultern, als er das Zimmer verließ und leise die Tür hinter sich zuzog. Er kann gut mit Patienten umgehen, dachte sie beruhigt und überprüfte den Infusionsständer.

Jenson Hunt verschaffte sich einen Überblick über die Zimmernummern und dachte nach. Die Schwester war sehr darauf bedacht gewesen, Johnny in Schutz zu nehmen. Wie eine Löwin hatte sie ihn und seine Eltern verteidigt und von ihm verlangt, behutsam mit der Familie umzugehen.

Die Blicke der Krankenschwestern, denen er auf dem Flur begegnete, beachtete er nicht. Er blieb stehen, als er die nächste Zimmernummer auf seiner Liste gefunden hatte.

Hinter dieser Tür lag die nächste Patientin. Nach der Visite bei ihr musste er zur allwöchentlichen Herzkatheterbesprechung, die in einer Viertelstunde beginnen sollte. Anschließend wollte er nach Hause fahren und einen ruhigen Abend verbringen. Vielleicht würde er sich auch zu einem Basketballspiel im Park aufraffen.

Einfach spontan mit wildfremden Leuten Basketball zu spielen, wäre in seinem alten Leben unmöglich gewesen, weil so ein Verhalten sich nicht mit dem Status seiner Familie vereinbaren ließ.

Wäre es nach seinem Vater gegangen, hätte Jenson im Club Tennis oder Golf gespielt – mit den richtigen Leuten.

Seine zerrüttete Ehe hatte wenigstens etwas Positives für ihn gehabt: Er hatte sich eine Wohnung in einem älteren Stadtteil von Atlanta gekauft. Sie war kaum ein Viertel so groß wie die Luxuswohnung im Nobelviertel, in der er vor der Scheidung mit Darlene gewohnt hatte, und lag im Erdgeschoss. Sein neues Zuhause war eine richtige Junggesellenbude, einschließlich Gaming-Zimmer.

Amüsiert erinnerte er sich an den erstaunten Blick der Schwester – wie hieß sie doch gleich? Ach ja, Bayley – als er sich mit Johnny über Videospiele unterhalten hatte. Sie konnte natürlich nicht wissen, dass er im vergangenen Jahr viel zu viel Zeit mit solchen Spielen verbracht hatte, um sich von der Tatsache abzulenken, dass seine Ehe gescheitert war. Diese Tatsache erfüllte ihn mit großer Scham. Sein Vater hatte ihm vorgeworfen, sich wie ein Einsiedler zu verhalten.

Erst als Jenson seinen Job in der Klinik kündigte, die seiner Familie gehörte, hatte seine Stimmung sich gebessert. Er war gern allein.

Eben hatte er seinen letzten Patientenbesuch erledigt und war auf dem Weg zur Schwesternkanzel, um die Medikation des Mädchens zu ändern, bei dem er gerade gewesen war, da kam Bayley in ihrer rosa Schwesternuniform und mit wehendem brünettem Haar mit schnellen Schritten um die Ecke und wäre fast mit ihm zusammengestoßen.

„He!“ Geistesgegenwärtig wich er aus.

„Kommen Sie mit! Zimmer 318.“

Eine weitere Schwester eilte hinter ihr her.

Ohne zu zögern, folgte er ihr in das Krankenzimmer. Bayley hatte bereits ihr Stethoskop einsatzbereit und horchte das Baby ab. „Er braucht Adenosin.“

Jenson musterte sie verblüfft.

„Ich bin nicht nur Krankenschwester, sondern auch Medizinstudentin“, klärte sie ihn auf.

Die andere Schwester zog dem Kleinen den Strampelanzug aus.

„Was ist los?“ Jenson hängte sich sein Stethoskop um den Hals.

„Die Telemetrie zeigt eine Arrhythmie an. 200. Der Blutdruck ist 130 zu 90.“

„Wie alt?“ Jenson steckte sich die Stöpsel in die Ohren.

„Sechzehn Tage. Er wurde gerade aus der Kinderintensivstation zu uns verlegt“, berichtete Bayley.

Jenson nickte und horchte das Baby nun selbst ab. Die hohe Herzfrequenz beunruhigte ihn. Fragend sah er Bayley an. „Wann und wie ist es dazu gekommen?“

Bayley sah die Mutter an, die besorgt am Bettchen stand. „Ich weiß es nicht. Er hat ganz friedlich geschlafen.“

„Das wird schon wieder“, erklärte Bayley aufmunternd. „Wir müssen ihn jetzt gründlich untersuchen. Bitte gehen Sie zur Seite.“

Wortlos setzte die Mutter sich auf einen an der Wand stehenden Stuhl. Jenson bedauerte, der armen Frau nicht die Angst nehmen zu können, aber er musste sich jetzt dringend um ihr Baby kümmern. Daher sagte er nur schnell: „Wir kriegen das wieder hin. Ich bin Dr. Hunt. Nach der Untersuchung kann ich mehr sagen.“ Er bemühte sich um einen unaufgeregten Tonfall.

„Ich brauche ein großes Blutbild, einschließlich Elektrolytwerte“, beauftragte er die Schwestern.

Bayley machte sich sofort an die Arbeit und zog die fünf Kanülen auf, die ihre Kollegin ihr reichte. Jenson war beeindruckt. Diese Notfallroutine war offensichtlich eingeübt worden.

„Blutdruck?“

„110 zu 83“, verkündete die Schwester, die den Monitor im Auge behielt.

„Dann spritzen Sie jetzt Adenosin. Zusätzlich zu den anderen Medikamenten erhält er noch Digoxin.“ Jenson horchte weiter das kleine Herz ab. „Die Herzfrequenz sinkt.“ Er richtete sich auf. „Welche Tests sollten durchgeführt werden, Bayley?“

„EKG und ECHO für den Anfang“, antwortete sie sofort.

Das gefiel ihm. „Gut, dann sorgen Sie dafür.“ Zufrieden warf er einen Blick in die Runde. „Das war gute Arbeit.“ Dann wandte er sich der Frau auf dem Stuhl zu. „Sind Sie die Mutter?“

Die Frau nickte.

„Kann ich Sie draußen kurz sprechen?“ Freundlich hielt er der verängstigten Mutter die Tür auf und folgte der Frau, nachdem er Bayley gebeten hatte, ihn auf dem Laufenden zu halten.

Zwei Wochen später sah Bayley von der Schwesternkanzel aus Dr. Hunt entgegen, der aus der anderen Richtung kam. Inzwischen war sie genauso entzückt von ihm wie die anderen Schwestern. Die waren alle hinter ihm her. Doch er blieb professionell. Sie arbeitete gern mit ihm zusammen, er war stets freundlich und zugewandt im Umgang mit den kleinen Patienten und sehr gründlich und gewissenhaft.

Besonders sein Verhalten bei dem Notfall mit dem Baby hatte sie beeindruckt. Dr. Hunt hatte seine Anweisungen mit natürlicher Autorität erteilt und sogar die vollkommen verängstigte Mutter wieder aufgerichtet. Von ihm könnten andere Ärzte sich eine Scheibe abschneiden. Das Baby war eine Woche später gesund entlassen worden.

Johnny hatte erzählt, der Doktor besuchte ihn zweimal die Woche, um zu erfahren, wie er mit den Videospielen vorankam. Auch davon war Bayley sehr angetan. Dass er auch noch blendend aussah, spielte für sie nur eine Nebenrolle.

Jetzt sah sie ihm nach, bis er in einem der Krankenzimmer verschwand.

Eine der anderen Schwestern stieß sie mit der Schulter an.

„Ja? Was ist?“

„Der Doc zum Anbeißen.“

„So nennt ihr ihn jetzt?“ Bayley verdrehte die Augen.

„Nein, das fiel mir nur gerade ein, als ich beobachtet habe, wie du ihn mit Blicken verschlingst.“

„Du musst verrückt sein.“ Energisch schüttelte Bayley den Kopf.

Die Kollegin stand grinsend auf. „Ich sage nur, was ich gesehen habe.“

Bayley vertiefte sich hinter dem Tresen wieder in die Krankenakten auf dem Tablet, als ein Schatten auf sie fiel. Dr. Hunt schaute sie über den Tresen hinweg an.

„Hallo, Bayley. Ich bin diese Woche der Diensthabende. Und Sie machen offenbar Visite mit mir.“

Unauffällig sah sie sich um. Die beiden anderen Schwestern neben ihr ließen sich kein Wort entgehen.

„Stimmt. Wollen Sie jetzt anfangen?“

„Ja.“ Er griff nach einem Tablet.

„Darf ich noch kurz diese Eingabe beenden?“

„Klar.“

Einen Moment später machten sie sich auf den Weg.

„Sie scheinen die Patienten gut zu kennen“, sagte er. „Das macht Sie sehr wertvoll.“

Eine der Schwestern kicherte, als sie an ihr vorbeigingen.

„Schon möglich.“ Sie war es nicht gewöhnt, besonders hervorgehoben zu werden. Es war ihr peinlich. Bisher war sie immer die kleine graue Maus gewesen, der keine große Beachtung geschenkt wurde. Geschäftsmäßig schlug sie vor: „Lassen Sie uns in der 301 beginnen.“

„Danke, dass Sie mich begleiten.“

„Mir hilft das ja auch. Je mehr Erfahrung ich sammle, desto besser für mein Examen.“

Jenson blieb vor der 301 stehen und hielt Bayleys Blick fest. „Sie sind eine sehr interessante Frau, Bayley.“

Sie war sprachlos.

„So, dann erzählen Sie mir mal, was Sie über unseren Patienten hier wissen.“

Blitzschnell riss sie sich zusammen. „Er heißt Ronnie Prichard und wurde wegen Herzrhythmusstörungen eingeliefert.“ Sie rief die elektronische Patientenakte auf. „Er ist dreizehn Jahre alt und nicht besonders erfreut darüber, hier zu sein. EKG, ECHO, Röntgenaufnahmen und großes Blutbild weisen keine Auffälligkeiten auf.“

„Okay, dann sehen wir ihn uns mal an.“ Jenson klopfte an die Tür und trat ein.

„Hi, Ronnie. Ich bin Dr. Hunt und möchte dich jetzt untersuchen.“

Bayley blieb am Fußende des Bettes stehen, während der Arzt sich übers Bett beugte. „Woran arbeitest du?“, fragte er interessiert. „Sieht aus wie ein Automodell.“

Auf dem rollbaren Tablettwagen befanden sich viele Teile.

„Es ist ein Formel-1-Modell“, antwortete Ronnie und zeigte auf die Packungsabbildung.

„Fantastisch. Magst du Autorennen?“

Ronnie nickte begeistert.

„Wer ist dein Lieblingsfahrer?“ Jenson warf einen Blick auf den Monitor.

Der Junge begann von seinem Lieblingsfahrer zu schwärmen. Den Namen hatte Bayley noch nie gehört. Sie freute sich aber über Ronnies Begeisterung. Bisher hatte er eher einen niedergeschlagenen Eindruck auf sie gemacht.

Sie bewunderte, wie gut Dr. Hunt mit den jungen Patienten umging. Er fand sofort einen Draht zu ihnen. Er ist mein Vorbild, dachte Bayley.

Lächelnd fing er ihren Blick auf. Sie erwiderte sein Lächeln und wusste in diesem Moment, dass sie seinem Charme nicht widerstehen könnte, wenn er es darauf anlegte.

Geschickt kam Dr. Hunt auf den Grund seiner Visite zurück. „Hast du was dagegen, wenn ich dich jetzt abhorche?“

Ronnie schüttelte den Kopf.

„Okay, dann beug dich bitte mal vor. Es wird nicht wehtun – versprochen.“

Als Jenson die Untersuchung abgeschlossen hatte, sagte er: „Dann komme ich morgen wieder, um zu sehen, wie weit du mit dem Auto gekommen bist.“

Ronnie strahlte.

„Wow“, sagte Bayley draußen beeindruckt. „Das haben Sie großartig gemacht. Ich habe in den vergangenen drei Tagen keine zehn Worte aus ihm herausgekriegt.“

Bescheiden zuckte der Arzt mit den Schultern. „Man muss nur Gemeinsamkeiten finden.“

Ich kann viel von ihm lernen, dachte Bayley auf dem Weg zum nächsten Patienten. Wieder briefte sie Dr. Hunt, bevor sie das Zimmer betraten. So verfuhr sie bei allen sechsundzwanzig Patienten.

Schließlich war die Visite beendet.

Dr. Hunt wandte sich Bayley zu. „Sie lächeln immer, wenn Sie sich mit einem Patienten oder einem Angehörigen beschäftigen“, stellte er fest. „Oder wenn Sie mich auf den Arm nehmen.“

Das Blut stieg ihr in die Wangen. „Tut mir leid.“

„Muss es nicht. Ich necke Sie nur. Sie sollten öfter lächeln und lachen. Eins habe ich inzwischen gelernt: Man soll sich seines Lebens freuen und tun, woran man Spaß hat.“

„Was macht Ihnen denn Spaß, Dr. Hunt?“

„Videospiele, Basketball, Actionfilme. Und Ihnen?“

„Ich habe nur Zeit für mein Studium und die Pflege meines Vaters.“

Er ging zur Treppe. „Ohne Freude im Leben fühlt es sich leer an“, meinte er philosophisch. „Vielen Dank für Ihre Hilfe, Bayley. Sie waren großartig.“

2. KAPITEL

Drei Wochen später war Jenson in der dritten Etage auf dem Weg zur Schwesternkanzel. Als er in der Kinderklinik Atlanta angefangen hatte, war er unsicher gewesen, wie man ihn dort aufnehmen würde. Er konnte sich nicht beklagen. Die Arbeitsatmosphäre war sehr gut, fast herzlich. Viele Schwestern machten ihm schöne Augen, doch er war entschlossen, sich mit keiner auf ein Date einzulassen, und gab sein Bestes, alle Annäherungsversuche zu ignorieren.

Nur Bayley schien sich nichts aus seinem Aussehen zu machen, im Gegensatz zu einigen ihrer Kolleginnen, die ihn förmlich anschmachteten. Das war in Ordnung für ihn, wenn es auch an seinem Stolz nagte. Wieso interessierte sie sich nicht für ihn? Dieses Verhalten reizte ihn richtiggehend, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Eigentlich hatte er sich nie vorstellen können, mal als angestellter Arzt in einer Klinik zu arbeiten, denn sein Lebensweg war klar vorgezeichnet gewesen. Doch dann hatte Darlene ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er war gezwungen gewesen zu handeln.

An dem Tag, als er seine Frau mit seinem besten Kumpel Brett im Bett überrascht hatte, stand sein Entschluss fest: Er würde die Klinik, die sein Großvater gegründet hatte, verlassen und eigene Wege gehen. Entweder war er zu blöd oder zu beschäftigt gewesen, sonst hätte er längst gemerkt, was hier abging.

Energisch schüttelte er den Kopf, um diese niederschmetternden Gedanken zu verscheuchen. Um sein altes Dasein hinter sich zu lassen, hatte er beschlossen, sein Leben ab jetzt so zu gestalten, wie er es wollte, und nicht, wie sein Vater es von ihm verlangte.

Deshalb arbeitete er nun an dieser Klinik, denn sie trug nicht seinen Namen, wurde nicht von seiner Familie geleitet, und er musste nicht unter einem Dach mit Brett zusammenarbeiten. Letzteres hatte ihn jeden Tag daran erinnert, dass Darlene ihn mit Brett betrogen hatte.

Nun hielt Jenson nach Bayley Ausschau. Lange musste er nicht suchen. Sie saß hinter der Schwesternkanzel, das Gesicht rosig schimmernd, das lange Haar zum Pferdeschwanz gebunden, Sommersprossen auf der Nase.

„Entschuldigen Sie die Störung, Bayley. Bei meinem Patienten auf der 329 muss ein Verbandswechsel vorgenommen werden.“

Sie stand umgehend auf. „Wird sofort erledigt“, sagte sie freundlich.

„Danke.“ Er ging weiter zu seinem Büro, um sich dem Papierkram zu widmen, bevor er nach Hause fuhr.

Eine Stunde später setzte er gerade rückwärts aus der Parklücke, als er aus dem Augenwinkel einen blauen Blitz wahrnahm. War das Bayley, die da über den Parkplatz rannte? Er sah genauer hin. Tatsächlich, das war Bayley. Sie hielt etwas vor der Brust und war offensichtlich auf dem Weg zur Bushaltestelle. Sekunden danach verschwand sie hinter parkenden Autos. Er fuhr zur Ausfahrt und sah gerade noch, wie Bayley sich mit der Tasche in der Hand wieder aufrichtete, die sie gerade noch fest an sich gedrückt gehalten hatte. Offenbar war sie gestürzt, wodurch sie die entscheidenden Sekunden verloren hatte.

Der Bus fuhr ohne sie los. Bayley ließ die Schultern hängen und sah dem Bus nach.

Jenson hielt neben ihr, ließ die Scheibe auf der Fahrerseite hinunter und fragte besorgt: „Alles in Ordnung?“

Sie sah auf. „Ja, aber ich habe gerade meinen Bus verpasst.“

„Haben Sie sich verletzt?“

Verlegen verzog sie das Gesicht und klopfte ihre Tasche ab. „Nur mein Stolz ist verletzt.“ Sie schob sich eine Locke aus dem Gesicht, die sich aus dem Pferdeschwanz gelöst hatte.

Von verletztem Stolz konnte Jenson ein Lied singen. Spontan fragte er: „Kann ich Sie mitnehmen?“

Die verschiedensten Empfindungen huschten über ihr ausdrucksvolles Gesicht. Sie riss die Augen auf, zog die Brauen hoch. Gleich würde sie sein Angebot ablehnen. Doch Jenson las auch die Verzweiflung in ihren Augen.

Sie sah dem Bus nach, schaute dann Jenson in die Augen. „Nicht nötig. Ich kann den nächsten Bus nehmen. Der fährt in einer halben Stunde.“

„Dann kommen Sie doch bestimmt zu spät.“

Bayley nickte langsam. „Viel zu spät.“

„Dann steigen Sie ein. Ich fahre Sie.“ Er stieß die Beifahrertür auf.

„Ich möchte aber keine Umstände bereiten.“ Unsicher krauste sie die Nase.

Sie sah sehr süß aus, wenn sie das tat. Hinter ihnen tauchte ein Wagen auf. „Mir bereiten Sie keine Umstände, aber Sie verursachen hier einen Stau.“

„Oh Mann. Wenn ich das Angebot ablehne, komme ich viel zu spät zu meinem Beratungsgespräch“, murmelte sie vor sich hin, setzte sich auf den Beifahrersitz und zog die Tür zu.

„Anschnallen.“

Bayley stellte die abgenutzte schwarze Tasche auf den Boden und griff nach dem Sicherheitsgurt.

Sie sieht hinreißend aus, wenn sie so aufgelöst ist, dachte Jenson und betrachtete ihr zartes Gesicht. Auf Station verkörperte sie stets untadelige Perfektion. Diese Bayley neben ihm interessierte ihn. Nein, das durfte nicht sein. Er wollte sich nie wieder auf eine Frau einlassen.

„Wohin soll es denn gehen?“, erkundigte er sich schroff.

„Zur Emory-Universität.“

Jenson ließ die Brauen in die Höhe schnellen.

„Ich habe ein Beratungsgespräch mit meiner Tutorin“, erklärte sie.

„Okay.“ Er fädelte sich in den fließenden Verkehr ein.

„Soll ich Ihnen sagen, wie Sie zur Uni kommen?“ Bayley beugte sich leicht vor und band sich den Pferdeschwanz neu.

Schade, der aufgelöste Look hatte ihm besser gefallen. „Nein, ich habe auch dort studiert.“

„Dann kennen Sie ja das Lanier Building.“ Sie blickte geradeaus durch die Windschutzscheibe.

„Aber sicher. Dort habe ich viel Zeit verbracht.“ Damals, als seine Welt noch in Ordnung gewesen war. Bevor Brett und Darlene sein Leben zerstört hatten.

Er und Brett waren schon seit der Mittelstufe befreundet gewesen, hatten zusammen das College und die medizinische Fakultät besucht. Da Bretts Eltern nicht das Geld hatten, ihrem Sohn das Medizinstudium zu finanzieren, hatten Jensons Eltern ausgeholfen. Auch Darlene hatte er damals schon gekannt, denn ihr Vater und sein Vater waren Geschäftspartner. Es war ganz selbstverständlich gewesen, Darlene zu daten … und zu heiraten. Wie hatte sein Vater sich ausgedrückt? Sie ist standesgemäß.

Nun ja, das war nun vorbei.

Er sollte wirklich endlich einen Schlussstrich ziehen.

Schnell warf er Bayley einen Seitenblick zu. „Aus Ihnen wird eine großartige Ärztin. Sie bleiben auch in Notsituationen ruhig, können gut mit Patienten umgehen und sind sehr gründlich. Sollten Sie mal eine Referenz benötigen, lassen Sie es mich bitte wissen.“

Sie lächelte erfreut. „Danke. Vielleicht komme ich darauf zurück. Und vielen Dank für das Kompliment.“

Schweigend setzten sie die Fahrt fort.

Schließlich riskierte Jenson einen weiteren Seitenblick. Bayley hatte die Hände im Schoß gefaltet. Sehr schöne Hände mit langen Fingern … Doch warum wirkte sie so angespannt? „Alles o. k.?“

„Ja. Ich mag nur diese ewige Hetze nicht.“

Jenson richtete den Blick wieder auf die Straße. „Wir sind in wenigen Minuten da.“ Dann dämmerte es ihm. „Bin ich schuld an Ihrer Verspätung, weil ich Sie um den Verbandswechsel gebeten habe?“

Bayley bedachte ihn mit einem verlegenen Blick. „Nein, Sie trifft keine Schuld.“

„Sie sollten nicht das Gefühl haben, alles selbst tun zu müssen“, sagte er, als er an einer roten Ampel hielt.

„Doch. Wenn ich die diensthabende Schwester bin, trage ich die Verantwortung und muss wissen, was mit den Patienten los ist“, widersprach sie mit fester Stimme.

„Stimmt. Aber auch andere tragen Verantwortung“, gab er zu bedenken. „Sie müssen lernen zu delegieren. Sonst werden Sie schnell von anderen ausgenutzt.“

Sie fing seinen Blick auf. „Klingt, als hätten Sie damit selbst schon Erfahrungen gemacht.“

„Das können Sie laut sagen. Und diese Erfahrung endete in einer schmutzigen Scheidung, bei der zu viele Leute ein Wörtchen mitreden wollten. Ich habe genug Klatsch und Tratsch gehört. Das reicht bis an mein Lebensende.“ Wegen seiner Ex war sein Familienname in allen Boulevardblättern und sozialen Medien in den Dreck gezogen worden.

„Es tut mir leid, dass man Ihnen so böse mitgespielt hat. Menschen können ziemlich verletzend sein, auch wenn sie es gar nicht so meinen.“

Bayleys Mitleid hatte ihm gerade noch gefehlt. In den vergangenen Monaten hatte der Schmerz nachgelassen. „Leider habe ich ihnen eine gute Steilvorlage geliefert: Ehefrau und bester Kumpel und Kollege haben vor der Nase des Ehemannes eine Affäre, der nichts bemerkt, weil er zu beschäftigt ist.“

Bayley zischte empört. „Das ist ja wohl das Allerletzte! So einen Verrat wünscht man niemandem.“

Jenson wunderte sich über sich selbst. Wieso lud er seinen seelischen Ballast bei Bayley ab? Er bog ab. Bisher hatte er mit niemandem über seine gescheiterte Ehe gesprochen. Er wollte das Ganze einfach nur vergessen. „Das sehe ich auch so.“

Wenig später hielt er vor dem dreigeschossigen Gebäude aus den sechziger Jahren.

„Sie können mich hier rauslassen.“ Bayley griff nach ihrer Tasche und stieg aus. „Vielen Dank fürs Bringen. Das erspart mir eine Entschuldigung fürs Zuspätkommen.“ Leise fügte sie hinzu: „Die sollten sich was schämen. An ein Eheversprechen hat man sich gefälligst zu halten.“

„Danke.“

„Nochmals vielen Dank fürs Bringen.“

„Freut mich, dass ich helfen konnte. Wie kommen Sie zurück?“

„Mit dem Bus.“

„Haben Sie kein Auto?“

Sie verdrehte die Augen und lachte. „Leider nicht.“

„Ich könnte Ihnen eins leihen.“ War er jetzt völlig von Sinnen?

Bayley musterte ihn verwundert. „Nein, danke. Ist das eine Gewohnheit von Ihnen, fast Fremden eins Ihrer Autos zu leihen?“

„Nein, eigentlich nicht.“ Er hatte keine Ahnung, was ihn da gerade geritten hatte. „Ich habe eins, das eigentlich nur in der Garage steht, und dachte, Sie könnten es vielleicht gebrauchen.“

„Wie schön für Sie.“

Der sarkastische Tonfall missfiel ihm.

Das war ihr nicht verborgen geblieben, denn sie fügte besänftigend hinzu: „Vielen Dank noch mal. Sie haben mir das Leben gerettet.“

Er beobachtete, wie sie ins Gebäude eilte. Ihre stolze Körperhaltung gefiel ihm. Bayley schien eins mit sich zu sein. Sie war wirklich eine interessante Person. Und dieser Hüftschwung … Jenson lächelte versonnen.

Begleitet von zwei Kommilitonen verließ Bayley die medizinische Fakultät. Inzwischen war es dunkel. Straßenlaternen beleuchteten den Bürgersteig, vor dem ein elegantes schwarzes Luxusauto parkte, an dem Jenson lehnte – die Arme vor der Brust verschränkt, die Füße übereinandergelegt.

Ihr Herz machte einen Satz. Was tat er hier?

Er trug Sportshorts und ein verwaschenes T-Shirt. Sein Haar war zerzaust, als wäre er mehrmals mit den Fingern hindurchgefahren. Nichts erinnerte an den stets perfekt gepflegten Kardiologen aus der Klinik. Den ungezähmten Look fand Bayley sehr attraktiv.

In den vergangenen Wochen war sie stets darauf bedacht gewesen, sich Jenson, besser gesagt Dr. Hunt gegenüber streng professionell zu geben. Je öfter sie mit ihm zusammenarbeitete, desto besser gefiel er ihr. Insbesondere seine charismatische Ausstrahlung hatte es ihr angetan. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen. Erst recht, nachdem er ihr einen Einblick in sein Privatleben gegeben hatte. Seine Seele war verwundet. Als er ihr von seiner gescheiterten Ehe erzählt hatte, war sie drauf und dran gewesen, ihn in den Arm zu nehmen und zu trösten. Doch seine Abwehrhaltung hatte sie davon abgehalten. Sich nun auch noch um Jenson Hunts Seelenheil zu kümmern, würde ihr Leben nur noch komplizierter machen. Die Pflege ihres Vaters und das Medizinstudium ließen das nicht zu. Eine romantische Beziehung würde warten müssen.

Was wollte Jenson hier? Plagte ihn das schlechte Gewissen, weil sie wegen seines Auftrags den Bus verpasst hatte? Eigentlich wäre Bayley gar nicht zuständig gewesen. Doch ihre Kollegin war gerade mit einem anderen Patienten beschäftigt gewesen, sodass Bayley den Verband einfach rasch gewechselt hatte. Den Bus hatte sie nur verpasst, weil der kleine Patient erst umständlich überredet werden musste, sich den alten Verband abnehmen zu lassen.

Als sie sich dann in Jensons Wagen gesetzt und in den Ledersitz gekuschelt hatte, hatte sie sich sofort gefragt, ob jemand sie dabei beobachtet hatte. Wenn ja, würde sich das in der Klinik wie ein Lauffeuer herumsprechen. Darauf konnte sie gut verzichten – genau wie Jenson. Und trotzdem stand er nun hier. Was sollte sie davon halten?

„Kennst du den Typen?“, fragte ihr Kommilitone.

„Ja. Wir arbeiten im Krankenhaus zusammen. Er ist Kardiologe und hat mich heute Nachmittag freundlicherweise hergefahren, weil ich den Bus verpasst hatte. Ich gehe mal schnell rüber und frage, was er will.“ Sie verabschiedete sich von den beiden und ging auf Jenson zu.

Er richtete sich auf, als sie vor ihm stand. „Hallo, Bayley.“

Wie sanft und seidig er ihren Namen aussprach. Ein prickelnder Schauer lief ihr über den Rücken. Das konnte sie gar nicht gebrauchen. Sie hatte einfach keine Zeit für eine Romanze. Schon gar nicht mit diesem Mann, dessen Bedarf an Beziehungen offensichtlich bis ans Ende seiner Tage gedeckt war. Trotzdem wartete er hier auf sie. Trotzdem schlug ihr das Herz bei seinem Anblick höher. Das durfte sie sich natürlich nicht anmerken lassen.

„Hi. Was wollen Sie denn hier?“

„Das ist ja mal eine herzliche Begrüßung“, sagte er rau mit seiner tiefen Stimme, was ihr Herzschlag nur noch beschleunigte.

„So habe ich das doch nicht gemeint. Ich bin nur überrascht, Sie hier zu sehen.“

„Sie hatten bestimmt keine Zeit fürs Abendessen. Ich habe bis eben Basketball dort drüben in dem Park gespielt und bin vollkommen ausgehungert. Da dachte ich, Sie hätten vielleicht auch Appetit auf Burger, und habe welche besorgt. Mein Gewissen quält mich noch immer wegen des Verbandswechsels. Hätte ich Sie nicht darum gebeten, wären Sie nicht so gerast und gestürzt, wodurch Sie den Bus verpasst haben.“

War das sein Ernst? „Machen Sie sich bitte keine Gedanken mehr darüber. Alles ist in Ordnung.“

„Gut zu hören.“

„So, ich muss jetzt los. Sonst verpasse ich diesen Bus auch noch.“

Jenson machte eine Kopfbewegung Richtung Wagen. „Was ist mit den Burgern? Sie sind ganz frisch.“

Ein wirklich verlockendes Angebot – in jeder Beziehung. Bayley dachte einen Moment lang darüber nach.

Jenson griff durchs offene Wagenfenster und holte eine Papiertüte heraus, mit der er lockend wedelte. „Kommen Sie schon. Ich weiß, dass Sie Hunger haben.“

Ihr Magen knurrte verräterisch. Sie hatte seit Stunden nichts gegessen. „Okay, überredet. Aber dann muss ich nach Hause.“

Plötzlich musterte er sie misstrauisch. „Wartet zu Hause etwa ein Ehemann auf Sie?“

Sie drückte das Kreuz durch. „Nein, mein Vater.“

Jenson atmete erleichtert auf. „Dann ist ja gut.“ Die Vorstellung, einem anderen Mann anzutun, was er hatte durchmachen müssen, war ihm unerträglich. Er hätte Bayley schon längst fragen sollen, ob sie Single war, aber im Dienst hatte sich das Thema irgendwie nie ergeben. Und vorhin war er von negativen Gefühlen übermannt worden und nicht in der Lage gewesen, klar zu denken.

Nach Darlenes und Bretts verheerendem Verrat fiel es Jenson schwer, anderen Menschen zu vertrauen. Deshalb klärte er wichtige Punkte, insbesondere wenn es um Frauen ging, lieber gleich ab. Für langfristige Beziehungen stand er nicht zur Verfügung. Das konnten sie sich gleich abschminken.

Jenson straffte die Schultern. Wieso machte er sich so viele Gedanken? Er wollte doch nur einen Burger mit einer Kollegin essen. Kein großes Ding, oder?

„Kommen Sie, wir setzen uns auf die Bank da drüben und lassen uns die Burger schmecken, bevor sie kalt sind“, schlug er daher vor.

Bayley warf einen Blick auf die Bank und nickte. „Einverstanden. Mein Bus geht erst in einer Stunde.“

„Ich fahre Sie natürlich nach Hause, Bayley.“ Schon wieder war er zu impulsiv gewesen, statt erst mal nachzudenken, bevor er etwas sagte.

„Vorsicht, sonst verwöhnen Sie mich noch“, scherzte Bayley fröhlich.

Irgendetwas sagte ihm, dass Bayley es verdient hatte, mal verwöhnt zu werden. Wahrscheinlich hatte sie das noch nie erlebt.

„Wieso fahren Sie überhaupt mit dem Bus?“

„Weil es schneller ist, als zu Fuß zu gehen“, antwortete sie prompt.

„Dann haben Sie also wirklich kein Auto?“ Das konnte er sich überhaupt nicht vorstellen. Er hatte seinen ersten Wagen mit sechzehn bekommen. Zeitweise war er stolzer Besitzer von vier Fahrzeugen gewesen.

„Nicht mehr. Als unser Auto den Geist aufgegeben hat, habe ich beschlossen, fortan den Bus zu nehmen, um das Geld für ein neues zu sparen“, erzählte sie.

Jenson ließ das unkommentiert. Er hatte noch nie öffentliche Verkehrsmittel benutzt. Geldsorgen hatte er auch noch nie gehabt. Das Medizinstudium hatten seine Eltern finanziert. Er und Bayley kamen aus verschiedenen Welten. Vielleicht faszinierte ihn gerade das an ihr. Er reichte ihr die Tüte. „Die nehmen Sie, ich kümmere mich um die Getränke.“

Jenson griff durchs Seitenfenster und holte zwei große Pappbecher mit Deckeln und Strohhalmen hervor. „Bitte, nach Ihnen.“

Also setzte Bayley sich in Bewegung. Sie überquerten die Straße, auf der um diese Zeit kein Verkehr herrschte, und erreichten die Grünanlage.

Bayley stellte die Papiertüte in der Mitte der unter einem großen Baum befindlichen Bank ab und hängte ihre Tasche über die Lehne, bevor sie auf einem Ende der Bank Platz nahm, und Jenson auf dem anderen. Er reichte Bayley einen Becher. Seinen stellte er vor sich auf dem Rasen ab.

„Wie ist die Besprechung gelaufen?“

„Gut. Meine Tutorin möchte einen Bericht von mir über zwei meiner Fälle.“

„Sie werden ihr sicher was Spannendes vorlegen.“

Bayley kicherte.

Das klang richtig süß.

„Na ja, vielleicht nicht unbedingt spannend, aber wichtig.“

„Dagegen spricht auch nichts.“ Jenson reichte ihr einen in Aluminiumfolie gewickelten Burger aus der Tüte. „Übrigens habe ich mir heute noch mal den kleinen Ronnie Prichard angesehen. Die Medikation der Arrhythmie hat gut angeschlagen. Ich glaube nicht, dass er bald einen Herzschrittmacher benötigt.“

„Das ist ja großartig.“ Sie griff nach dem Burger. „Danke für die Info.“

„Gern geschehen.“ Er wickelte seinen Burger aus.

Bayley musterte ihren Kollegen von Kopf bis Fuß. „Haben Sie wirklich vorhin dort drüben Basketball gespielt?“

„Klar. Ich versuche, das zweimal die Woche einzurichten. Es hält mich in Form und motiviert mich, das Haus zu verlassen.“

„Interessant. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie der Typ sind, der in einem öffentlichen Park spielt.“ Sie biss in ihren Hamburger.

Bis vor Kurzem hätte er das auch nicht für möglich gehalten. Seine knapp bemessene Freizeit hatte er im Country Club verbracht. Sehen und gesehen werden war das Motto gewesen. Weil Darlene das so gewollt hatte.

„Sagen Sie, war das ein Kompliment oder eine Beleidigung?“ Nun biss auch er in seinen Burger.

Frech lächelnd antwortete Bayley: „Sowohl als auch. Ich versuche noch, mir ein Bild von Ihnen zu machen.“

„Ist das denn so wichtig?“

„Ja. Nein. Ach, ich weiß es auch nicht. Bei Ihrer Ankunft haben sich viele Gerüchte um Sie gerankt. Ich finde die Zusammenarbeit mit Ihnen sehr angenehm und halte Sie für einen guten Arzt.“

„Danke schön. Ich gebe mein Bestes.“

Bayley trank einen Schluck. „Ich muss gestehen, dass ich schon gern wissen würde, wieso Sie die renommierte Hunt-Klinik verlassen haben und nun bei uns arbeiten.“

Jenson atmete tief durch. Er hatte ihr ja auf der Fahrt zum Campus vorhin sowieso schon einiges preisgegeben, da konnte sie den Rest auch noch erfahren. „Ich konnte dort nicht mehr arbeiten.“

„Wieso nicht?“

Er fasste sich ein Herz. „Weil ich es nicht mehr ertragen konnte, tagtäglich mit meinem besten Kumpel zusammenzuarbeiten, nachdem ich ihn mit meiner Frau im Bett erwischt hatte.“

„Oha.“

„Genau.“

Behutsam berührte sie seinen Arm. „Das tut mir wirklich sehr leid.“

Tapfer zuckte er mit den Schultern. „Vorbei und vergessen.“

„Das ist leicht gesagt. Aber die Narben werden immer bleiben.“ Nachdenklich betrachtete Bayley den Hamburger in ihrer Hand.

Sprach sie aus eigener Erfahrung?

Bayley musterte ihn von der Seite. „Wie lange waren Sie verheiratet?“

„Achtzehn Monate.“ Exakt achtzehn Monate zu lange. Nun wollte er Bayley alles erzählen. „Ich dachte, ich wäre in Darlene verliebt. Aber nach der Hochzeit war sie so ganz anders. Wir hatten keinen Spaß mehr. Zuerst habe ich das auf mein hohes Arbeitspensum geschoben. Sie kennen das ja.“

Bayley nickte.

„Doch dann stellte sich heraus, dass sie heimlich in meinen besten Freund verliebt war.“ Das klang schrecklich verbittert, aber er konnte es nicht ändern. „Ich habe wirklich versucht, an unserer Ehe zu arbeiten, habe weniger gearbeitet, Darlene kleine Geschenke gemacht. Geändert hat das nichts. Dann habe ich mir einen Tag freigenommen, um sie zu überraschen. Leider war ich der Überraschte.“

„Und am schlimmsten war, dass ausgerechnet Ihr bester Kumpel mit ihr im Bett war“, sagte Bayley.

„Bingo. Erst als ich ausgezogen bin, ist mir bewusst geworden, dass ich Darlene nie richtig geliebt habe. Sonst hätte ich unserer Ehe vielleicht noch eine Chance gegeben. Ich wünschte nur, die Ehe hätte nicht so geendet.“

„Es klingt, als hätte es Sie tiefer verletzt, Ihren Kumpel zu verlieren, als Ihre Ehe für beendet zu erklären.“

„So habe ich das noch gar nicht gesehen. Ein interessanter Gedanke.“

Sie trank noch einen Schluck Soda. „Wie hat Ihre Familie reagiert?“

„Mein Vater hat Verständnis geheuchelt, war aber alles andere als erfreut, als ich gekündigt habe. Das war mir egal. Ich habe mich von Darlene getrennt und in der Klinik so schnell wie möglich gekündigt. Mein Vater versucht immer noch, mich zurückzuholen. Ich musste gehen, weil viele Mitarbeiter wussten, was los war. Ich glaube, sogar mein Vater hat Verdacht geschöpft. Es hat mich ein Jahr gekostet, mich von meiner Ex-Frau scheiden zu lassen und die Klinik zu verlassen. Ich habe Urlaubsvertretungen gemacht, bis mir der Job hier angeboten wurde.“

„Und was ist aus Brett und Darlene geworden?“

„Soweit ich weiß, sind sie noch zusammen. Brett arbeitet noch in der Hunt-Klinik. So genau will ich das alles gar nicht wissen.“ Nachdenklich blickte er vor sich hin, sah dann Bayley an. „Warum studieren Sie nach Ihrer Ausbildung zur Krankenschwester in Ihrem Alter noch Medizin?“

„Zeit für einen Themenwechsel?“

Jenson nickte.

Sie grinste. „Immerhin bin ich noch nicht im Rentenalter“, stellte sie sarkastisch fest.

„So habe ich das doch nicht gemeint.“ Erschrocken schüttelte er den Kopf.

„Ich weiß. Eigentlich wollte ich direkt nach dem Schulabschluss Medizin studieren, aber das war nicht machbar. Also habe ich die Krankenschwesterausbildung gemacht. Als die medizinische Fakultät ein Abendstudium anbot, habe ich mich sofort eingeschrieben.“ Nachdenklich blickte sie vor sich hin. „Jetzt muss ich ein Wilcott-Ross-Stipendium ergattern, um das Studium abschließen zu können.“

Jenson zuckte zusammen. Sein Vater saß im Vorstand der Stiftung, die über die Vergabe des Stipendiums entschied. Seine Familie hatte sich schon immer philanthropisch engagiert. Er selbst hatte stets die Benefizgala besucht, um den guten Zweck zu unterstützen, hatte jedoch mit dem Stipendium nichts zu tun. Selbst wenn, wäre es unethisch gewesen, sich für Bayley einzusetzen. Das hätte sie auch gar nicht zugelassen. So gut kannte er sie immerhin schon, um das beurteilen zu können. Andererseits wäre es ein Jammer, wenn sie keine Ärztin werden würde, denn sie war wirklich sehr begabt.

„Dann drücke ich dir sämtliche Daumen“, sagte Jenson daher.

„Danke, das kann ich sehr gut gebrauchen.“

Er sah zu, wie Bayley wieder herzhaft von ihrem Burger abbiss. Ihr Mund mit der vollen Unterlippe war hinreißend. „Es ist schön, eine Mahlzeit zu teilen. Unter Freunden.“

„Freunde.“ Probeweise schien sie dem Wort nachzulauschen.

Er schätzte ihre Gesellschaft. Konnten er und Bayley denn nicht befreundet sein?

Nur Freunde, sonst nichts. Er hatte sich geschworen, nie wieder einer Frau zu trauen. Dafür hatte die erschütternde, erniedrigende Erfahrung mit seiner Ex gesorgt. Bayley und er würden einfach nur Zeit miteinander verbringen. Ganz harmlos. Seine Gefühle würde er schön in Schach halten.

„He, was starrst du mich so an?“, fragte er, als er ihrem forschenden Blick begegnete. Ganz automatisch war er zum Du übergegangen.

„Ich frage mich nur gerade, was die heruntergezogenen Mundwinkel zu bedeuten haben. Siehst du so deine Freunde an?“ Auch sie duzte ihn jetzt, als wäre es vollkommen selbstverständlich.

Energisch verdrängte Jenson die schlimmen Erinnerungen und rang sich ein Lächeln ab. „Tut mir leid. Ist es so besser? Ich bin gern mit dir zusammen. Es ist überaus angenehm, mit dir zusammenzuarbeiten.“

Aus großen braunen Augen sah sie ihn an. „Freut mich zu hören. Danke. Was hat dich eigentlich dazu bewogen, in der Kinderklinik zu arbeiten? Du hättest doch auch bei einer anderen Privatklinik oder einer renommierten Klinik in einer anderen Stadt anfangen können. Was ist denn mit der Mayoklinik?“

„Oho, Bayley Dodd! Bist du ein Snob?“

Empört stellte sie ihren Becher mit einem Knall auf die Bank. „Ganz sicher nicht!“

Jenson legte den Kopf schief. „So klang das aber.“

„Ich halte mich nur an die Fakten. Deine Familie ist nun mal sehr bekannt hier in der Stadt, wahrscheinlich auch darüber hinaus.“

Ein wenig getroffen wandte er den Blick ab. So lange kannten sie sich ja noch nicht, aber sie musste doch wissen, dass ihm jeder Standesdünkel fremd war.

„Okay, dann will ich dir mal was sagen: Ich habe nicht Medizin studiert, um richtig Kohle zu machen. So gut müsstest du mich inzwischen kennen. Meine Familie wohnt in Atlanta, Meine Eltern und meine Schwester mit ihrer Familie.“

Beschwichtigend berührte Bayley seinen Arm. Jenson betrachtete ihre Hand, sah Bayley dann in die Augen.

„So sollte das überhaupt nicht rüberkommen. Ich mache dir doch keinen Vorwurf. Du bist ein wunderbarer Arzt, und ich bin stolz, mit dir zusammenarbeiten zu dürfen. Fühlst du dich wohl an der Kinderklinik? Wirst du bleiben?“

„Ja, ich fühle mich sehr wohl und habe die Absicht, lange zu bleiben. Es müsste schon sonst was passieren, mich umzustimmen.“

„Und wenn deine Familie dich bittet?“

„Nein, Bayley, das Thema hat sich für mich erledigt. Ich gehe nicht zurück an die Hunt-Klinik.“

Seine Entschlossenheit beeindruckte sie.

Jenson lächelte zufrieden, freute sich über ihre Bewunderung.

Bayley lachte fröhlich. Jenson stimmte ein. Die Spannung hatte sich wieder gelöst.

„Dein Lachen ist ansteckend“, sagte sie schließlich atemlos.

„Deins auch.“ Wie lange hatte er nicht mehr gelacht? Es tat so gut.

Die Scheidung hatte ihm jede Freude genommen. Er hatte es nicht einmal bemerkt.

„Jetzt lässt du schon wieder die Mundwinkel hängen. Was ist los?“

Er musste aufpassen. Bayley schien in ihm zu lesen wie in einem Buch. „Ich hatte nur gerade gedacht, dass ich zum Nachtisch ein Eis vertragen könnte. Du auch?“

Sie presste die Lippen zusammen. „Lieber nicht. Mein Vater wird schon auf mich warten.“

„Bist du aus dem Alter nicht schon heraus?“ Bayley schien sehr an ihrem Vater zu hängen.

„Doch, aber mein Vater kann erst schlafen, wenn er mich sicher zu Hause weiß.“

„So ist das wohl zwischen Vätern und Töchtern. Meine Schwester ist verheiratet und hat eigene Kinder. Trotzdem will mein Vater genau wissen, was sie macht.“

„Würde es dir nicht auch so gehen, wenn du eine Tochter hättest?“ Gespannt sah sie ihn an.

„Vermutlich. Aber das wird nicht passieren.“

„Willst du keine Kinder haben?“, fragte sie so beiläufig, als wäre es ein ganz normales Gesprächsthema.

„Ich konnte es mir mal vorstellen. Jetzt nicht mehr.“

Forschend schaute sie ihn an. „Du bist noch jung genug, es vielleicht doch zu versuchen.“

„Danke. Ich bin froh, dass du mich noch nicht zum alten Eisen zählst.“

Bayley hob eine Hand. „Das kann ich doch gar nicht beurteilen. Und ich will es auch gar nicht. Ich muss jetzt sowieso los, um meinen Bus zu erwischen.“

„Wir hatten doch vereinbart, dass ich dich nach Hause bringe“, widersprach Jenson sofort.

„Das ist wirklich nicht nötig.“

„Ich bestehe darauf. Mein Wagen ist hier, ich bin hier. Natürlich bringe ich dich.“ Er wollte einfach noch mehr Zeit mit Bayley verbringen. Sie tat ihm gut, erweckte ihn wieder zum Leben …

3. KAPITEL

„Was wird das jetzt?“, fragte Bayley, als Jenson vor ihrem Wohnblock ausstieg.

„Ich bringe dich zur Tür. So haben meine Eltern es mir beigebracht.“

Bayley machte sich auf den Weg. „Wir hatten aber kein Date“, gab sie zu bedenken.

„Das spielt keine Rolle. Ich begleite dich sicher bis zur Wohnungstür.“ War es ihr peinlich, dass der Putz des alten Hauses von der Wand bröckelte?

Ein Kavalier der alten Schule, dachte Bayley, der das insgeheim gefiel. Noch kein anderer Mann hatte sie je so umsorgt. „Okay, ich will ja nicht, dass du Ärger mit deinen Eltern bekommst.“

„Das weiß ich zu schätzen.“ Er grinste frech, nahm ihr die Tasche ab und ging mit Bayley bis zur Wohnungstür.

Dort nahm Bayley ihm die Tasche wieder ab. „Vielen Dank fürs Abendessen. Wir sehen uns dann wohl morgen.“

„Bestimmt.“

Die Tür wurde geöffnet.

„Hallo, Dad“, begrüßte Bayley ihren im Rollstuhl sitzenden Vater.

„Ich habe mir schon Sorgen gemacht, wo du so lange bleibst.“ Er sah zwischen ihr und Jenson hin und her.

„Tut mir leid, Dad. Ich hätte dich anrufen sollen. Das ist übrigens Dr. Jenson Hunt. Jenson, das ist mein Vater Russell Dodd.“

„Guten Abend, Sir. Freut mich, Sie kennenzulernen.“ Jenson reichte ihm die Hand.

Die Männer schüttelten sich die Hände.

„Dr. Hunt und ich arbeiten zusammen in der Klinik.“

„Bitte sagen Sie Jenson.“ Er lächelte ihrem Vater zu.

„Ich glaube, du hast seinen Namen schon mal erwähnt.“ Er rollte zurück in die Wohnung.

Verlegen sah Bayley zu Boden.

„Kommt doch herein“, sagte ihr Vater einladend.

Jenson wich jedoch einen Schritt zurück. „Vielen Dank, aber ich muss los. Ich wollte mich nur vergewissern, dass Bayley sicher zu Hause ankommt.“

Ihr Vater nickte dankbar. „Das weiß ich sehr zu schätzen. Mir gefällt es gar nicht, wenn sie abends im Dunkeln unterwegs ist.“

„Das kann ich gut verstehen. Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Sir. Dann bis morgen, Bayley.“

Sie blickte ihm noch einen Moment lang nach, bevor sie die Wohnungstür schloss. Was für ein außergewöhnlicher Abend es gewesen war.

„Er macht einen netten Eindruck“, meinte ihr Vater, der nun ins Wohnzimmer rollte.

„Er ist auch nett.“ Viel netter, als sie je für möglich gehalten hätte. „Er hat mir einen Burger zum Abendessen gebracht. Wir haben in der Grünanlage bei der Uni zusammen gegessen.“

„Aha.“

Sie spürte den Blick ihres Vaters. „Und dann hat er mich nach Hause gefahren.“

„Das war sehr freundlich von ihm. Ich freue mich, dass du jemanden kennengelernt hast.“

„Mach dir bloß keine Hoffnungen, Dad. Für so was habe ich gerade gar keine Zeit. Ich muss fürs Studium lernen und zusehen, dass ich das Stipendium bekomme. Ein Mann in meinem Leben würde nur alles unnötig verkomplizieren. Besonders ein Mann wie Jenson.“

„Wie meinst du das?“

„Du hast doch gehört, wie er heißt. Jenson Hunt. Er stammt aus der renommierten Familie, die die Hunt-Klinik gegründet hat.“

„Trotzdem kann er sich doch für dich interessieren. Ich fürchte, du hast Angst vor einer Beziehung, weil es zwischen deiner Mutter und mir schiefgegangen ist.“

„Du irrst dich.“ Bayley zog die Unterlagen, die sie noch durcharbeiten musste, aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. „Ich weiß, dass du es gut meinst, Dad. Aber es würde nicht funktionieren. Wir sind viel zu verschieden.“ Sie machte sich auf den Weg zur Küche, um die Medikamente für ihren Vater zu holen, die er vor dem Schlafengehen einnehmen musste. Sowie sie ihn ins Bett gebracht hatte, wollte sie ihre Hausaufgaben erledigen. Das Abendessen mit Jenson hatte ihr zwar gefallen, es hatte sie aber auch Zeit gekostet, die sie nun wieder aufholen mu...

Autor

Tina Beckett
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Janice Lynn
Janice Lynn hat einen Master in Krankenpflege von der Vanderbilt Universität und arbeitet in einer Familienpraxis. Sie lebt mit ihrem Ehemann, ihren 4 Kindern, einem Jack-Russell-Terrier und jeder Menge namenloser Wollmäuse zusammen, die von Anbeginn ihrer Autorenkarriere bei ihr eingezogen sind.
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