Julia Ärzte zum Verlieben Band 92

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VERLIEBT IN DEN INSELARZT von WEBBER, MEREDITH
Zurück nach Wildfire Island! Die paradiesische Insel ist ihr Zuhause und der Ort, an dem Caroline die Liebe kennenlernte. Mit Keanu, bis er verschwand … Doch die Rückkehr hält für die junge Krankenschwester eine Überraschung bereit: Auch Keanu, inzwischen Arzt, ist wieder da!

IHR EINSATZ, DR. BECKETT! von NEIL, JOANNA
Ordnung ist das halbe Leben? Falsch. Für Dr. Tyler Beckett ist es das ganze Leben. Vollkommen anders hält es seine neue Kollegin Ärztin Saskia Reynolds, die immer ein bisschen chaotisch ist. Warum also lässt er sich dazu hinreißen, etwas komplett Untypisches zu machen - Saskia zu küssen?

TANZEN IST DIE BESTE MEDIZIN von HARDY, KATE
Salsa hilft gegen Herzschmerz: Als Joni mit einem Fremden heiß tanzt, ist ihre gescheiterte Verlobung fast vergessen. Ein Abend voller Lachen, eine Nacht voller Liebe und dann good-bye … Bis sie einen neuen Kollege im Krankenhaus bekommt: Dr. Hughes - Salsatänzer und Liebhaber!


  • Erscheinungstag 21.10.2016
  • Bandnummer 0092
  • ISBN / Artikelnummer 9783733707828
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Meredith Webber, Joanna Neil, Kate Hardy

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 92

MEREDITH WEBBER

Verliebt in den Inselarzt

Was für ein Kuss! Er hat nichts mit dem zarten Ausprobieren zu tun, als Keanu und Caroline Teenager waren. Ihre Jugendliebe ist zu einer großen Leidenschaft geworden. Doch können der Arzt von Wildfire Island und die schöne Krankenschwester vergessen, was sie damals auseinandergetrieben hat – und einander wieder vertrauen?

JOANNA NEIL

Ihr Einsatz, Dr. Beckett!

Saskia muss auf die drei Kinder ihres Bruders aufpassen – und lebt deshalb gerade im Chaos. Wenn bloß ihr Vermieter, der attraktive, ordnungsliebende Tyler Beckett, sie nicht so vorwurfsvoll anschauen würde. Aber wenigstens hat sie einen Job als Ärztin in Aussicht! Doch beim Bewerbungsgespräch sieht sie erschrocken, wer verantwortlich für ihre Einstellung ist … Tyler!

KATE HARDY

Tanzen ist die beste Medizin

Sie ist die schönste Frau, die Aaron jemals gesehen hat! Und obwohl es eigentlich nicht seine Art ist, spricht er sie einfach an. Dass Joni Parker trotz ihrer Schönheit fast unschuldig wirkt, ist hinreißend. Doch bei der Unschuld bleibt es nicht – und erst, als Aaron seinen neuen Job im Krankenhaus antritt, erkennt er, welchen Fehler er gemacht hat …

1. KAPITEL

Als die kleine Propellermaschine auf die Insel zuflog, wurde die Last, die Caroline Lockhart seit Monaten bedrückte, leichter. Freude, endlich wieder zu Hause zu sein, erfüllte sie.

Aus der Luft sah die Insel im türkisblauen Meer wie ein kostbarer Edelstein aus. Die schneeweißen Sandstrände im Norden schimmerten wie Satinbänder, die ein liebevoll verpacktes Päckchen schmückten, und der dichte grüne Regenwald war das Geschenkpapier.

Aus Westen kommend überquerten sie jetzt die roten Felsklippen, die bei Sonnenuntergang magisch aufleuchteten und denen die Insel ihren Namen verdankte. Von dem feurigen Glühen fasziniert, hatten Seeleute sie in früher Zeit Wildfire getauft.

Je tiefer es runterging, umso besser waren nun auch die Gebäude zu erkennen. Am augenfälligsten war die palastartige Lockhart-Villa, die Carolines Urgroßvater auf einer Anhöhe an der Südspitze der Insel bauen ließ, nachdem er das riesige Gelände den einheimischen M’Langi abgekauft hatte.

Lockhart House war viele Jahre Carolines Zuhause gewesen, das einzige echte Heim, das sie als Kind gekannt hatte.

Es erhob sich am höchsten Punkt des Plateaus mit atemberaubendem Ausblick auf den Pazifik. Von hier oben sah man, wie die Wellen sich weißschäumend am Korallenriff brachen, und dahinter verteilt die Inseln, kleine und große Juwelen im unendlichen Ozean, die zusammen mit Wildfire die M’Langi-Inselgruppe bildeten.

Etwas tiefer als die Villa lag die Lagune, fast versteckt vom üppigen Regenwald, der sie umgab. Ihre Farbe wechselte mit der Tönung des Himmels, und heute leuchtete das Wasser in einem tiefdunklen Blau.

Grandmas Lagune.

In Wirklichkeit war es ein Kratersee aus der Zeit, als Vulkane in dieser Gegend sehr aktiv waren, aber Grandma hatte ihre Lagune geliebt, und der Name war bis heute geblieben.

Unterhalb des Anwesens stand das Krankenhaus, von Carolines Vater Max Lockhart zum Gedenken an seine verstorbene Frau – Carolines Mutter – errichtet. Kleinere Häuser, die Unterkünfte der Mitarbeiter, umgaben das Hauptgebäude wie eine Schar Küken die Mutterglucke.

Ganz in der Nähe erstreckte sich die Start- und Landebahn.

Weiter nördlich, wo die Anhöhe zum Meer hin flacher wurde, befand sich die Forschungsstation mit dem großen Laborgebäude, Küchen- und Aufenthaltsbaracke und Hütten, in denen Gastforscher aus aller Welt untergebracht waren.

Hier befassten sich Wissenschaftler mit speziellen Tropenkrankheiten, die vor allem auf diesen abgelegenen tropischen Inseln vorkamen. So war zum Beispiel die Wirkung eines Tees erforscht worden, den die M’Langi aus der Rinde eines besonderen Baums herstellten. Man hatte beobachtet, dass die Insulaner, die den Tee regelmäßig tranken, seltener von Moskitos gestochen wurden und deshalb weniger anfällig für die von Mücken übertragene Enzephalitis waren.

Die Station wirkte verändert, wie Caroline verwundert bemerkte. Sie fragte sich, ob überhaupt noch jemand dort arbeitete. Keanus Vater war der Erste gewesen, der sich für die Wirkung des speziellen Tees interessiert hatte.

Keanu …

Sie schüttelte den Kopf, wie um die Erinnerungen an ihn loszuwerden, und überlegte, wer jetzt dort unten wohl forschte. Ihr Vater hatte einen gewissen Luke erwähnt, der dort für kurze Zeit gearbeitet hatte, doch das war auch schon vier, fünf Jahre her.

Die kleine Maschine hielt wieder Kurs auf den Süden der Insel und überflog das Dorf, das dort entstanden war, als die Insel Opuru nach einem Tsunami hatte evakuiert werden müssen. Jetzt sah Caroline auch den Eingang zur Goldmine, die tief unter dem Plateau lag.

Die Mine hatte ihrer Familie und den Insulanern Wohlstand gebracht. Jetzt stand dort nur ein riesiger gelber Bulldozer, alles andere war halb versteckt unter Norfolktannen und dichtem Gestrüpp.

Seltsam.

Das Flugzeug ging tiefer, und die Korallenriffe im Meer wurden sichtbar wie ein Wellenmuster auf einem feinen Seidenschal. Vor Carolines geistigem Auge stiegen Bilder von Keanu und ihr auf. Wie oft hatten sie im kristallklaren Wasser geschnorchelt, die geheimnisvolle Unterwasserfauna mit ihren farbenprächtigen Fischen bewundert.

Eine plötzliche Sehnsucht nach ihrer unbeschwerten Kindheit und der Geborgenheit ihres Zuhauses erfasste sie. Warum war sie seit einer Ewigkeit nicht mehr hier gewesen? Weil Keanu nicht mehr da war? Oder weil sie fürchtete, ihm hier zu begegnen?

„Geht’s dir gut?“, fragte Jill.

Caroline wandte sich ihrer Freundin zu. Ihrer besten Freundin, die auch auf eine Entfernung von siebenhundert Meilen ihrer Stimme angehört hatte, wie unglücklich sie war. Jill war diejenige gewesen, die ihr geraten hatte, nach Hause zu fliegen.

Sie hatte sogar darauf bestanden. Allerdings vermutete Caroline, dass Jill ihr auch stolz ihr neues Flugzeug vorführen wollte.

„Ja. Es tut mir nur leid, dass ich so lange weg war.“

„In letzter Zeit war das absolut verständlich. Du musstest dir schon Sorgen machen, dass Steve, diese Ratte, sich jemand anderes angelt, wenn du auch nur eine Woche weg bist.“

Das riss sie aus ihrer sentimentalen Stimmung. „Meinst du das ernst? Glaubst du wirklich, dass ich ihm so egal war?“

Jills Schweigen sprach Bände.

Caroline seufzte. „Du hast recht. Er hat es bewiesen, als er mich wie eine heiße Kartoffel fallen ließ, nachdem in den Zeitungen stand, dass die Wildfire-Goldmine mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat.“

Sie ärgerte sich immer noch darüber, und wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass es auch wehtat. Wie konnte es sein, dass sich hinter dem Mann, der sie mit Blumen, Geschenken und innigen Liebesbeteuerungen umworben hatte, ein solcher Mistkerl verbarg?

War sie so naiv gewesen?

„Vielleicht hat er tatsächlich eine andere kennengelernt“, meinte Caroline. „Kann doch sein, dass er die Wahrheit gesagt hat.“

„Der würde die Wahrheit nicht mal erkennen, wenn sie ihm ins Auge fliegt!“, gab Jill zurück, doch danach schwieg sie zum Glück.

Um sich auf den Landeanflug zu konzentrieren oder ihre Freundin nicht zu verletzen, da war sich Caroline nicht ganz sicher. Tatsache blieb, dass ihr erst später – zu spät – aufgefallen war, wie sehr sich Steve für die Mine ihrer Familie interessierte.

Die Maschine setzte auf dem Asphalt auf, rollte aus, während Jill gleichmäßig bremste.

„Die Bahn ist in guter Verfassung“, meinte sie, als sie ihren Flieger neben der Scheune zum Stehen brachte, wo Wildfire Island seine Besucher willkommen hieß.

Das Gebäude müsste dringend gestrichen werden, dachte Caroline. Ihre anfängliche Euphorie, wieder zu Hause zu sein, verflog, als sie sah, wie heruntergekommen alles wirkte.

Die Landebahn war allerdings erneuert worden.

Ging es mit der Mine wieder aufwärts?

Nein, ihr Vater hatte bestätigt, dass es Probleme gab, als sie ihn auf den Zeitungsartikel ansprach. Der Zustand der Mine schien ihm große Sorgen zu bereiten, auch wenn er die meiste Zeit in Sydney verbrachte. Er arbeitete dort als Internist, um in Christophers Nähe sein zu können. Carolines Zwillingsbruder hatte bei der Geburt zu wenig Sauerstoff bekommen und war deshalb geistig und körperlich behindert.

Sie erinnerte sich, dass ihr Vater grau vor Müdigkeit gewesen war. Feine Linien hatten sich in sein schmales Gesicht gegraben, ein deutliches Zeichen von dauerhaftem Stress und Überarbeitung. Aber wie alle Lockharts verfügte er über einen ausgeprägten Eigensinn.

„Flieg zur Insel, du gehörst dorthin“, hatte er sanft gesagt. „Und denk daran, mit Schmerz wird man am besten fertig, wenn man hart arbeitet. Das Krankenhaus kann eine zweite Krankenschwester gebrauchen, vor allem seit die Gesundheitsversorgung auf den Nachbarinseln ausgebaut wurde und wir die Zahl unserer Mitarbeiter reduziert haben.“

Harte Arbeit, damit hatte ihr Vater überlebt, seit Carolines Mutter in seinen Armen gestorben war und ihn mit zwei Frühchen, einem gesunden kleinen Mädchen und einem winzigen behinderten Jungen zurückgelassen hatte.

„Vielleicht hat der Besitzer des schicken Helis da drüben ein genauso schickes Flugzeug und hat dafür die Landebahn generalüberholen lassen.“ Jills Stimme holte Caroline aus ihren traurigen Gedanken.

„Schicker Helikopter? Wir hatten immer ganz normale Rettungshubschrauber, und Dad meinte, es ist nur noch einer übrig.“ Als sie Jills ausgestrecktem Finger mit dem Blick folgte, musste sie ihrer Freundin allerdings recht geben. Am Ende der Landebahn stand ein ultraleichter wendiger Hubschrauber, der mit seiner dunkelblauen Lackierung und den im Sonnenlicht glänzenden Goldstreifen wie eine überdimensionale schillernde Libelle wirkte. „Der gehört uns nicht.“

„Aber vielleicht einem mysteriösen Millionär, den dein zwielichtiger Onkel Ian dazu überredet hat, in die Insel zu investieren.“

„Nach allem, was ich gehört habe, wäre eher ein Milliardär nötig“, meinte Caroline düster. Inzwischen hatte sie die Gurte gelöst und öffnete nun die Tür. „Komm doch auf einen Tee mit rauf“, bot sie Jill an.

Die Freundin schüttelte den Kopf. „Ich habe eine Thermosflasche mit Kaffee und ein paar Sandwichs dabei, gut ausgerüstet, wie es sich für eine echte Pfadfinderin gehört. Noch schnell auftanken, dann bin ich weg. Der Flug dauert nur vier Stunden. Da mache ich mich lieber auf den Weg nach Hause zu meiner Familie.“

Caroline nahm ihr Gepäck – ein kleiner Koffer mit den wenigen leichten Sommerkleidern, die sie besaß. In Sydney hatte sie fast ausschließlich Designermode getragen. Steve bestand darauf, dass sie immer modisch und teuer gekleidet war.

Und das habe ich mitgemacht?

Ihr stieg die Schamröte in die Wangen, als sie daran dachte, wie sehr sie sich von ihm hatte dominieren lassen. Das ging so weit, dass sie oft Doppelschichten übernahm, um für ein Wochenende mit ihm wegfahren zu können. Lass uns was Tolles unternehmen, damit fing es immer an und endete doch wieder nur bei einer Cocktailparty mit Leuten, die sie nicht kannte … und auf deren Bekanntschaft sie auch keinen gesteigerten Wert legte.

Aber sie machte mit, weil sie ihn liebte. Oder nur geliebt hatte, dass er sie liebte …

Jill hatte ihren Flieger aufgetankt, wischte sich die Hände an einem alten Lappen ab und wandte sich zu ihr um. „Du passt auf dich auf, ja? Und melde dich. Ich will Anrufe und Mails, keine Infos über Social Media, wo jeder lesen kann, was du treibst. Mich interessiert vor allem das, was Unter Ausschluss der Öffentlichkeit fällt.“ Ihre Freundin umarmte sie herzlich. „Du packst das schon.“

Das klang sehr bestimmt, und dennoch meinte Caroline, einen leisen Zweifel herauszuhören.

Liebe gute Jilly. Sie war ihre erste Freundin geworden, als sie vor so vielen Jahren aufs Internat gekommen war. Heute lebte Jill in Queensland, im Reich der Rinderherden, wo sie aufgewachsen war. Sie hatte einen Rinderzüchter geheiratet, mit dem sie erstklassige Tiere heranzüchtete, und Kinder bekommen.

Caroline erwiderte die Umarmung und sah Jill nach, wie sie in ihre Maschine kletterte, startete und die Asphaltbahn entlangsauste. Sie winkte ihr nach, als das Flugzeug in der Luft war, und blickte sich dann um.

Ja, das Gebäude wirkte heruntergekommen und der Garten vernachlässigt, aber das Gefühl von Frieden und Geborgenheit, das ihr Herz erfüllte, sagte ihr, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Sie war zu Hause.

Als sie sich bückte, um den Koffer anzuheben, fiel ihr auf, dass etwas sehr Vertrautes fehlte. Wo war Harold, der jeden begrüßte, der auf dieser Piste landete? Harold, der Keanu und ihr die alten Legenden der Inseln erzählt und ihnen bunte süßsaure Lollis schenkte, deren Geschmack sie heute noch auf der Zunge hatte.

Keanu …

Sie straffte die Schultern und atmete tief die duftende tropische Luft ein. Das war einmal, und jetzt ist jetzt, dachte sie. Es wurde Zeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, ihr Leben in die Hand zu nehmen und nach vorn zu blicken, wie es ihr Freunde und Freundinnen geraten hatten.

Anscheinend gehörte auch dazu, ihren Koffer selbst den Pfad zur Villa hinaufzutragen. Nicht dass es ihr etwas ausgemacht hätte, doch sie fand es schon seltsam, dass niemand nachsah, wer wohl mit dem Flugzeug gekommen war. Wenn auch nur aus reiner Neugier.

Ausgeschlossen, dass keiner die Maschine gesehen oder gehört hatte.

Oder interessierte es niemanden?

Oder war Harold nicht mehr da?

Wie alt mochte er sein?

Ihr zog sich der Magen zusammen bei der Vorstellung, dass ein Mensch, der in ihrer Kindheit so wichtig für sie war, inzwischen nicht mehr lebte.

Unmöglich. Auch wenn für Kinder alle Erwachsenen alt waren, so konnte Harold nicht älter als vierzig gewesen sein, als Caroline von hier fortging.

Dröhnendes Hupen schickte alle Gedanken an die Vergangenheit in weite Ferne. Caroline drehte sich um. Eine Motor-Rikscha – auf der Insel ein weit verbreitetes Transportmittel – raste aus Richtung der Forschungsstation direkt auf sie zu.

„Sind Sie Ärztin?“, brüllte der Fahrer ihr entgegen.

„Nein, aber Krankenschwester. Kann ich helfen?“

Das Gefährt hielt neben ihr. „Wir haben im Krankenhaus angerufen. Man sagte uns, dass der Doktor uns entgegenkommt. Meinem Kumpel hier ging’s anfangs noch gut, aber jetzt ist er ohnmächtig geworden. Sehen Sie selbst …“ Er deutete auf den Mann, der hinter ihm auf der Rückbank des kleinen blauen Fahrzeugs zusammengesunken war.

Auf den ersten Blick wirkte er unverletzt, doch dann sah Caroline seinen Fuß. Unterhalb des kleinen Zehs hatte ein Nagel ihn durchbohrt und heftete Fuß, Flipflop und das darunterliegende Stück Holz zusammen.

Caroline glitt neben ihn, fühlte ihm den Puls. Der schlug schneller als normal, was bei den Schmerzen, die der Mann ertragen musste, nicht ungewöhnlich war.

„Wir sollten ihn so schnell wie möglich ins Krankenhaus bringen“, riet sie.

Auf dem Weg dorthin tauchte eine Gestalt auf.

Eine Gestalt, die sie kannte, obwohl die vergangenen Jahre aus dem Teenager einen Mann gemacht hatten. Und auch wenn ihr Herz wie verrückt schlug, der Mann war ihr nicht vertraut.

Sie verließ die Rikscha und nahm auf dem Beifahrersitz Platz, während Keanu sich zu dem Patienten setzte, ihm eine Sauerstoffmaske aufsetzte und das tragbare Sauerstoffgerät einstellte. Ein verwunderter Blick zu Caroline hinüber, ein leichtes Stirnrunzeln – das war die einzige Reaktion darauf, sie nach so langer Zeit unverhofft wiederzusehen.

„Warten wir noch einen Moment, ich gebe ihm ein Schmerzmittel.“

Die Worte waren nichts Besonderes, aber die Stimme, tief und voll, erzeugte ein Prickeln auf Carolines Haut wie eine Liebkosung. Es war die Stimme eines Mannes, nicht eines Jungen … Keanu ist hier?

Sie wusste nicht, ob sie ihn umarmen oder schlagen sollte, doch vor Zeugen konnte sie weder das eine noch das andere tun. Der Wunsch, sich umzudrehen und Keanu noch einmal anzusehen, war allerdings kaum zu bezwingen.

Auch wenn sein Bild klar und deutlich vor ihrem inneren Auge stand.

Keanu war erwachsen geworden, ein Mann mit mandelbrauner Haut, grauen Augen – ein Erbe seiner Mutter –, dunklen Brauen und schwarzem Haar. Dazu eine gerade Nase, ein verlockend voller, fester Mund, breite Schultern, ein flacher Bauch, dessen Muskeln sich unter dem eng anliegenden Poloshirt abzeichneten.

Er sah umwerfend aus.

Mehr noch, er strahlte eine männliche Sinnlichkeit aus, die jeder Frau weiche Knie bescherte, wenn sie ihn nur anblickte.

„Brauchst du Abwechslung vom Großstadtleben?“

Die kühle Frage erledigte das mit den weichen Knien schlagartig, und der sarkastische Unterton machte Caroline ärgerlich.

Mit erhobenem Kopf drehte sie sich zu ihm um, ließ sich nicht anmerken, dass seine Worte sie verletzt hatten.

„Ich bin Krankenschwester und hergekommen, um zu arbeiten. Mich überrascht nur, dich hier zu sehen, nachdem du vor so vielen Jahren alle Verbindungen zur Insel gekappt hast.“

Zum Glück hielten sie vorm Krankenhaus. Caroline war gerade erst klar geworden, dass der Fahrer ihrem Dialog aufmerksam gelauscht hatte.

Der Patient war wach. Sauerstoff und Schmerzmittel hatten geholfen. Keanu bat den Fahrer, mit anzufassen, und zu zweit hievten sie den Mann aus der Rikscha.

„Legen Sie die Arme um unsere Schultern“, forderte Keanu ihn auf.

Caroline hatte das Gefühl, dass er sich auf seinen Patienten konzentrierte, um sie nicht ansehen zu müssen. Fest entschlossen, es sich nicht gefallen zu lassen, dass er – oder ein anderer Mann – ihr wehtat, machte sie die Tür zur Vergangenheit fest zu. Was damals passiert ist, ist lange her, dachte sie. Ich bin ein anderer Mensch geworden, habe mein Leben gelebt und werde genau das auch jetzt tun.

Doch als sie Keanu folgte, konnte sie nicht vermeiden, ihn zu betrachten. Dieser Mann, den sie als Jungen so gut gekannt hatte, war auch von hinten eine Augenweide. Breite Schultern, schma le Hüften, ein knackiger Po und Wadenmuskeln, die nicht nur vom Work-Out im Fitnessstudio stammen konnten. Schon damals hatte Keanu sich viel im Freien bewegt, liebte kilometerlange Joggingstrecken. Beim Laufen fühlt man sich frei, hatte er oft gesagt …

Sie ertappte sich dabei, wie sie immer noch auf seinen Po starrte. Am besten verschwand sie schleunigst von hier!

Kaum hatten sie den Eingang erreicht, drehte sich Keanu jedoch zu ihr um. „Wenn du Krankenschwester bist, solltest du mit reinkommen und dich nützlich machen. Hettie und Sam halten Sprechstunde auf den anderen Inseln. Außer mir ist hier heute nur ein Pflegehelfer.“

Da stand er, groß, fast drohend, und der geringschätzige Tonfall spiegelte sich in seinen Gesichtszügen wider.

In Caroline zerbrach etwas. War dies wirklich Keanu, der geliebte Freund und Gefährte in Kindheitstagen? Keanu, der immer sanft und freundlich gewesen war, sich um sie gekümmert hatte, wenn sie einsam und allein war? Pass gut auf Caroline auf, sagte seine Mutter damals oft, und Keanu, zwei Jahre älter als seine Freundin, nahm das sehr ernst.

Vielleicht hatte es deshalb so wehgetan, als er auf Nimmerwiedersehen aus ihrem Leben verschwand. Eine Zeit lang hatte sie sogar bezweifelt, dass sie jemals darüber hinwegkommen würde.

Mit gesenktem Kopf, um ihre Gefühle nicht zu verraten, eilte sie die Treppenstufen hinauf und begleitete die drei Männer in den kleinen, jedoch mit allem Nötigen ausgestatteten Raum, der als Notaufnahme und Ambulanz zugleich diente. Der Fahrer half ihnen, seinen Kollegen auf die Untersuchungsliege zu legen, murmelte etwas davon, dass er zurück zur Arbeit müsse, und verschwand.

Caroline war mit Keanu allein bei dem Patienten.

Keanu, der sie mehr oder weniger ignorierte, während sich in ihr ein emotionaler Tumult abspielte.

„Nagelpistole?“, fragte er, als er den Fuß untersuchte.

Der Mann nickte.

„Haben Sie noch nie von Stahlkappen-Arbeitsschuhen gehört? Ich dachte, auf der Baustelle ist kein anderes Schuhwerk erlaubt.“

„Da draußen?“ Der Mann schnaubte. „Wer soll das kontrollieren?“

„Heb das Bein an, umfass die Wade.“ Zweifellos eine Anweisung an die Krankenschwester, ohne dass Keanu sich die Mühe machte, sie dabei anzuschauen.

„Was ist dem Wörtchen Bitte passiert?“, entgegnete Caroline zuckersüß und hob das Bein, damit er sehen konnte, wie weit der Nagel ins Holz gedrungen war.

Anscheinend hatte sie einen Nerv getroffen, denn Keanu blickte auf, mit ausdrucksloser Miene. Nur seine Augen verrieten ihn.

Also war sie nicht die Einzige, die verwirrt war.

„Okay, leg es wieder ab.“ Noch ein Befehl. Vielleicht hatte sie sich getäuscht, und Keanu war nicht verwirrt. „Bitte“, fügte er da hinzu, und plötzlich war er wieder der Keanu, wie sie ihn kannte: neckend, mit dem Hauch eines Lächelns in den Mundwinkeln.

Vollends durcheinander wünschte sie sich, dass Jill geblieben wäre. Caroline war auf die Insel gekommen, um Ruhe und Frieden zu finden, sich zu erholen nach der Demütigung, auf einen Mann hereingefallen zu sein, der nur hinter dem Geld ihrer Familie her war.

„Hier ist ein Schlüssel.“

Keanus Finger berührten ihre, und es war wie ein Stromschlag, der durch ihren ganzen Körper ging. „In Schrank B auf dem zweiten Regal findest du Ampullen mit einem Lokalanästhetikum. Bring zwei mit, nein, besser drei, er ist ein großer Kerl. Und Spritzen. Antiseptikum, Verbandsmaterial und Tupfer sind im Schrank daneben. Er ist nicht abgeschlossen. Wenn du meinst, dass wir noch etwas brauchen, hol auch das. Ich sehe mich mal nach einer Säge um.“

Der Patient keuchte erschrocken auf, aber Keanu war schon aus dem Zimmer.

Caroline lächelte beruhigend, als sie den Schrank aufschloss. „Er wird Ihnen nicht den Fuß abnehmen“, sagte sie und legte alles, was sie brauchte, auf einen Instrumentenwagen, den sie dann zur Liege rollte. „In jedem Krankenhaus gibt es alle möglichen Arten von Sägen. Die mit der Diamantschneide benutzen wir, um Gipsverbände abzunehmen, oder elektrische Sägen und Bohrer bei Knie- und Hüftoperationen. Die wir hier natürlich nicht durchführen. Ich schätze, dass der Doktor Ihr Bein von der Wade abwärts betäuben und dann den Nagel zwischen Ihrem Flipflop und dem Holzstück abtrennen wird. Der Nagel lässt sich aus Ihrem Fuß und der Gummisohle leichter herausziehen als aus dem Holz.“

Das schien ihn nicht besonders zu beruhigen. Caroline holte sich einen Patientenbogen, um Name, Alter und Adresse in Erfahrung zu bringen und ob der Mann irgendwelche Medikamente einnahm. Damit hoffte sie, ihn ein wenig abzulenken. Zum Schluss konnte sie nicht widerstehen und fragte, was ihn auf die Insel geführt hatte.

„Wir reparieren die kleinen Häuser“, antwortete er in dem Moment, als Keanu mit einer kleinen batteriebetriebenen Säge und einem tragbaren Röntgengerät zurückkehrte.

„Bei der Forschungsstation“, fügte der Bauarbeiter hinzu, bevor Caroline genauer nachfragen konnte.

„Die Station wird auf Vordermann gebracht, obwohl nicht genug Geld da ist, um das Krankenhaus vernünftig zu führen?“

Ihre Verblüffung schien sich auch in ihrem Gesicht abzuzeichnen. Keanu warf ihr nur ein knappes „Später!“ zu und wandte sich wieder seinem Patienten zu.

Nachdem er das untere Bein narkotisiert hatte, erklärte er, was er vorhatte.

„Die Schwester hat’s mir schon gesagt. Bringen wir’s hinter uns.“

Keanu bat Caroline, das Holz in Position zu halten, und beugte sich tiefer über den malträtierten Fuß, um die Säge richtig anzusetzen. Sein Kopf versperrte Caroline die Sicht, und ihr Blick fiel auf die feine Narbe am Haaransatz, ein Andenken an ihren Versuch, ihm mit dem Rasiermesser ihres Großvaters die Haare zu scheren.

Ehe sie sich in weiteren Erinnerungen verlieren konnte, hatte er den Nagel vom Holz getrennt und richtete sich wieder auf. Caroline warf das Holzstück in den Abfalleimer. Als sie sich umdrehte, war Keanu bereits dabei, das Röntgengerät vorzubereiten.

„Wir müssen wissen, ob der Nagel durch einen Knochen gegangen ist“, erklärte er und half ihr damit, sich wieder auf ihre Rolle als Krankenschwester zu besinnen. „Oder ob Sehnen beschädigt sind.“

„Und wozu?“ Der Patient hatte, zumindest vorübergehend, keine Schmerzen mehr und wurde ungeduldig.

„Um zu entscheiden, ob wir ihn herausziehen oder herausschneiden müssen.“

„Nichts da, ziehen Sie das verdammte Ding einfach raus!“

Keanu ignorierte ihn und lenkte den Röntgenkopf auf den verletzten Fuß.

„Ich dachte, im Krankenhaus gibt es einen speziellen Röntgenraum“, sagte Caroline.

Keanu blickte auf. „Das ist richtig, aber ich möchte stark bezweifeln, dass wir beide ihn auf die Liege heben können. Und da sein Bein betäubt ist, kann er uns kaum helfen, sondern würde eher auf die Nase fallen.“

Darauf hätte ich auch selbst kommen können, dachte sie und fühlte sich auf ihren Platz verwiesen.

„Zurück!“

Sie entfernte sich die vorgeschriebenen zwei Meter vom Röntgengerät. Keanu, durch eine Bleischürze geschützt, machte aus verschiedenen Blickwinkeln Aufnahmen. Danach schob er den Apparat in eine Ecke des Zimmers, hängte die Schürze weg und betrachtete die Bilder auf dem Computermonitor.

„Sieh dir das an. Was meinst du?“

Caroline stellte sich neben ihn, konnte es immer noch nicht recht glauben, dass es wirklich Keanu war. Keanu, der in den ersten zwölf Jahren der wichtigste Mensch in ihrem Leben gewesen war. Weil er anders als ihr Vater oder auch Christopher immer für sie da war, ihr bester Freund, der mit ihr durch dick und dünn ging.

Bis er eines Tages verschwand.

Aber dieser Keanu … Es war seltsam. Fast unheimlich. Und es tat ein bisschen weh …

„Also?“, drang seine tiefe, leicht ungeduldige Stimme in ihre Gedanken.

Sie konzentrierte sich. „Wie durch ein Wunder ist er genau zwischen zwei Mittelfußknochen eingedrungen. Zwar muss er eine Sehne oder eins der Bänder getroffen haben, aber da die Knochen heil geblieben sind, ist keine Beeinträchtigung der Beweglichkeit zu erwarten. Und sieh mich nicht so an“, murmelte sie, als er ihr einen fragenden Blick zuwarf. „Ich bin voll ausgebildete Krankenschwester und war Pflegedienstleiterin der Notaufnahme am Canterbury Hospital.“

„Wundert mich nur, dass du dafür Zeit hattest“, meinte er lakonisch, bevor er zu seinem Patienten zurückging.

Sie war drauf und dran, von ihm zu verlangen, dass er seine Bemerkung genauer erklärte. Allerdings war jetzt bestimmt nicht der richtige Moment, mit ihm zu diskutieren.

„Okay, du desinfizierst die Haut rund um den Nagel und hältst dann den Fuß fest, während ich versuche, den Nagel herauszuziehen. Ich möchte vermeiden, das Ding herausschneiden zu müssen.“

Caroline zog frische Handschuhe an, desinfizierte alle betroffenen Stellen, wechselte erneut die Handschuhe und umfasste den Fuß, entschlossen, sich mit aller Körperkraft einzusetzen, sollte der Nagel widerspenstig sein.

Zum Glück glitt er mühelos aus der Wunde, die nun zu bluten anfing. Was das Infektionsrisiko weiter minderte.

„Antibiotika- und Tetanus-Injektionen sind im verschlossenen Schrank“, meinte Keanu, als er die Wunde inspizierte. „Und bring Kochsalzlösung und eine Packung oraler Antibiotika mit. Es ist alles genau beschriftet, weil wir hier oft Agenturschwestern haben. Mit der Kochsalzlösung spüle ich die Wunde aus, bevor ich sie verbinde.“

Er arbeitete schnell und präzise und war sich nicht zu schade, den Verband selbst anzulegen. Normalerweise war das die Arbeit der Krankenschwester.

„Jetzt müssen wir Sie nur noch in Ihre Unterkunft bringen“, sagte er schließlich. „Schonen Sie den Fuß für ein paar Tage und ziehen Sie Arbeitsstiefel an, bevor Sie wieder arbeiten gehen. Falls Sie keine haben, rufen Sie auf dem Festland an, die schicken dann welche mit dem nächsten Flugzeug.“

„Ich habe welche“, antwortete der Mann mürrisch. „Sie brauchen mich nicht zu fahren, ich sage meinem Kumpel Bescheid, dass er mich abholen soll. Der Vorarbeiter hat nicht gern Fremde auf der Baustelle.“

„Welche Baustelle? Was wird da bei der Forschungsstation gemacht, Keanu?“

Er berührte sie leicht am Arm. „Lass es gut sein“, sagte er ruhig, aber es war eher das Gefühl seiner warmen Hand auf ihrer Haut, das sie zum Schweigen brachte.

Seit wann konnte eine flüchtige Geste sie so verwirren? Weil du wieder auf der Insel bist, ihn nach so langer Zeit wiedersiehst … Die Erinnerung daran, wie sehr sie ihn damals vermisst hatte, war immer noch lebendig. Genau wie der Groll, dass er ohne ein Wort verschwunden war. Selbst ihre Briefe waren alle ungeöffnet zurückgekommen.

Caroline schloss kurz die Augen, versuchte, die verwirrenden Emotionen unter Kontrolle zu bekommen. Sie war hier, um sich zu erholen und wieder zu sich selbst zu finden. Und um zu arbeiten.

Sie räumte auf, warf Tupfer und gebrauchte Kanülen in die entsprechend gekennzeichneten Abfallbehälter. Ihr Patient unterhielt sich derweil mit Keanu übers Fischen. Kein Thema, das sie zurzeit beschäftigte, und da sie Abstand brauchte, verließ sie das Zimmer, um ihren Koffer zu holen.

Caroline spürte die Feuchtigkeit in der Luft, als sie durch dichten Regenwald den Pfad zum Lockhart House hinaufging.

Zu Hause. Sie war endlich daheim, alles andere zählte nicht. Und sie wollte sich hier nützlich machen. Eine zusätzliche Krankenschwester wurde immer gebraucht. Sie würde sogar ohne Bezahlung arbeiten. Eine Unterkunft hatte sie und auch ein bisschen Geld, von dem Steve nichts gewusst hatte.

Außerdem war es nicht genau das, was Keanu und sie immer vorgehabt hatten? Er würde Arzt werden, sie Krankenschwester, um dann wollten sie beide nach Wildfire zurückkommen und das Krankenhaus auf der Insel führen. Ein Traum aus frühen Kindertagen, ausgelöst durch ein Kinderbuch, das von einem Arzt und einer Krankenschwester handelte. Vielleicht, weil sie beide ein Elternteil verloren hatten, das möglicherweise hätte gerettet werden können, wenn die medizinische Versorgung besser gewesen wäre?

Halbwaisen – so nannten sie sich damals.

Auch das schmerzte: Keanu hatte sich seinen Teil des Traums erfüllt. Ohne sie.

Ihn unerwartet wiederzusehen, stellte alles auf den Kopf. Könnte sie überhaupt mit ihm zusammenarbeiten, nach allem, was passiert war?

Seine Mutter Helen starb, kurz nachdem sie Wildfire den Rücken gekehrt hatte. Das wusste Caroline von ihrem Vater, ohne dass er ihr Näheres erklärt hätte. Und obwohl Caroline tieftraurig gewesen war, verspürte sie gleichzeitig unbeschreiblichen Zorn auf Keanu. Wie konnte er einfach weggehen? Ohne ihr vorher Bescheid zu sagen? Und warum hatte er ihr nicht persönlich vom Tod seiner Mutter erzählt?

„Ich nehme ihn.“

Tief und rau erklang Keanus Stimme hinter ihr und sandte ein Prickeln über ihren Rücken. Seine schlanken Finger berührten ihre, und sie ließ den Koffer sofort los.

Warum war er nach Wildfire zurückgekommen?

Und warum jetzt?

Doch dann richtete er dieselbe Frage an sie. „Warum bist du zurückgekommen?“

Ärger schwang unterschwellig mit, und Caroline fuhr die Krallen aus. „Es ist mein Zuhause“, entgegnete sie scharf.

„Eins deiner Zuhause“, betonte er. „Du hast noch ein sehr komfortables in Sydney, zusammen mit deinem Vater und deinem Bruder. Wie geht es Christopher?“

„Interessiert dich das wirklich? Das kann ich dir nämlich nicht glauben! Wenn einem jemand wichtig ist, bricht man den Kontakt nicht einfach ab. Man schickt seine Briefe nicht ungeöffnet zurück. Ich war zwölf, Keanu, und plötzlich verschwand jemand, den ich für meinen besten Freund gehalten hatte. Spurlos!“

Keanu senkte den Kopf, weil er den verletzten Ausdruck in ihren Augen nicht ertrug. Oh ja, seine erste Reaktion, als sie unverhofft hier auftauchte, war Ärger gewesen. Aus dem Schock heraus, sie zu sehen. Schließlich war er nach Wildfire zurückgekehrt, weil er Caroline in Sydney vermutete, wo sie das Großstadtleben mit Partys, Empfängen und anderen gesellschaftlichen Events in vollen Zügen genoss.

Ärger, Bitterkeit und auch Bedauern rumorten in ihm, als er sie an der Landepiste entdeckte. Ärger, den er eigentlich gegen ein anderes Mitglied der Familie Lockhart richten sollte, und Gewissensbisse, dass er ihre Freundschaft verraten hatte.

Und jetzt hatte er ihr wieder wehgetan.

Keanu kannte sie lange genug, um sofort zu erkennen, wann sie verletzt war. Zum ersten Mal hatte er es bei der dreijährigen Caroline gesehen, die sehnsüchtig auf den Vater wartete. Nur um enttäuscht zu hören, dass er nicht kommen konnte.

Meistens musste sie wegen Christopher zurückstecken. Ihr Bruder war oft krank. Davon hingen auch ihre Besuche in Sydney ab, die immer wieder abgesagt wurden, weil Christopher Windpocken oder etwas anderes hatte. Nachdem ihre geliebte Großmutter gestorben war, holte der Vater Caroline nach Sydney. Ihre anfängliche Freude zerfiel rasch, als sie feststellte, dass er sie auf ein Internat schickte. Dr. Lockhart arbeitete viel, und die Pflegekraft, die Christopher betreute, konnte oder wollte sich nicht auch noch um seine Schwester kümmern. Damals war Caroline zehn Jahre alt gewesen.

„Es tut mir leid“, sagte er und meinte alles, was ihr je Kummer gemacht hatte. Dabei wusste er genau, dass vier kurze Worte nie genügen würden.

„Ich will keine Entschuldigung von dir, Keanu.“ Sie klang immer noch aufgewühlt. „Ich bin hier, du bist hier, wir werden zusammenarbeiten, also müssen wir das Beste daraus machen.“

„Willst du wirklich hier im Krankenhaus arbeiten?“

Hatte er so ungläubig geklungen? Oder warum warf sie ihm diesen wütenden Blick zu, drehte sich abrupt um und stapfte zum Haus hinauf?

Er folgte ihr, betrachtete ihre schlanke Gestalt, nahm das Bild der Frau, die sie geworden war, in sich auf. Sie hatte lange, sonnengebräunte Beine, verlockend weibliche Hüften, die in eine schmale Taille übergingen, und schimmerndes goldblondes Haar. Es war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der bei jedem Schritt trotzig hin- und herschwang – falls man Haare als trotzig bezeichnen konnte.

Ihm wurde erst allmählich bewusst, dass er sie attraktiv fand. Klar, es hatte ihn heiß durchzuckt, als sie sich zufällig berührten, und sein Herz hatte wie wild geklopft, vorhin, als er sie an der Landebahn stehen sah. Jetzt ahnte er, dass nicht nur Erinnerungen an eine tiefe Freundschaft diese starke Anziehungskraft heraufbeschworen.

Allerdings würde er sich hüten, sich irgendetwas anmerken zu lassen. Abgesehen davon, dass er auf Carolines Liste ihrer Lieblingspersonen wahrscheinlich ganz weit unten stand, war er, soweit er wusste, noch verheiratet.

Sie waren beide aufs Internat gegangen – sie in Sydney und er in North Queensland. Das hielt sie nicht davon ab, auch über die Entfernung hinweg in enger Verbindung zu bleiben. Er wusste genau, wie es Caroline ging und umgekehrt auch.

Das enge Band wurde durchtrennt, als man seine Mutter und ihn zwang, die Insel zu verlassen. Und Keanu brachte es nicht übers Herz, seiner Mutter noch mehr Kummer zuzufügen, indem er weiterhin zu Caroline Kontakt hielt. Zu einer Lockhart!

Keanu holte sie ein. „Du kannst von mir denken, was du willst, aber du solltest ein paar Dinge wissen.“

Sie blieb stehen, sah ihn fragend, fast herausfordernd an.

„Über deinen Onkel Ian, zum Beispiel.“

Wieder ein Blick, schweigend.

„Du weißt bestimmt, dass er hergekommen ist? Dass dein Vater ihm die Leitung der Mine überlassen hat, nachdem das Krankenhaus fertig war? Weil dein Vater mit Forschungsarbeiten beschäftigt war und nicht mehr so oft nach Wildfire fliegen konnte?“

Keanu sah ihr ins Gesicht, nahm die blaugrünen Augen mit den dichten schwarzen Wimpern wahr, die dunklen Brauen, die sanft geschwungenen rosigen Lippen, die zierliche Nase. Er merkte, dass er unwillkürlich den Atem angehalten hatte, und atmete langsam aus, während er sich ein Gegenmittel gegen Carolines Anziehungskraft wünschte.

Der Ausdruck in ihren schönen Augen war noch um ein paar Grad kühler geworden.

„Und?“

Unbehaglich suchte er nach den richtigen Worten. Der Lockhart-Clan hatte immer fest zusammengehalten. Obwohl Ian eindeutig das schwarze Schaf der Familie war, so hatte Carolines Vater ihm dennoch einen verantwortungsvollen Posten übertragen.

„Ian hatte wohl Spielschulden, bevor er herkam. Leider kann man auch von einer abgelegenen Südseeinsel aus Glücksspiel betreiben. Nach allem, was ich gehört habe, verlor er Unsummen. Schließlich warf er Peter Blake, den Geschäftsführer der Mine, raus und nahm sich, was er brauchte. Der Betrieb geriet in Schwierigkeiten, und dein Vater musste viele Rechnungen aus eigener Tasche zahlen, um das Krankenhaus überhaupt am Laufen zu erhalten. Ian bezahlt schon lange keine Minenarbeiter mehr und hat die Maschinen stillgelegt.“

Keanu schwieg einen Moment. „Und dann ist er verschwunden. Niemand weiß genau, wann, aber es ist noch nicht lange her. An einem Tag lag seine Jacht noch in der Bucht vor Anker, am nächsten war sie weg.“

Betroffen sah sie ihn an. „Grandma wusste, dass er kein guter Mensch ist. ‚Auch wenn er mein Sohn ist‘, pflegte sie zu sagen, ‚aber er ist schlechte Saat‘. Als Kind hat mich das stark beschäftigt, dieser Ausdruck, meine ich.“

„Das Problem ist, dass wegen Ian der Name Lockhart hier zum roten Tuch geworden ist. Ich weiß nicht, wie die Leute auf deine Rückkehr reagieren werden.“

„Wie meinst du das?“

Caroline wirkte so verwirrt, dass er sie beinahe in seine Arme gezogen hätte.

Keine gute Idee …

Also streckte er die Hand aus und berührte beschwichtigend ihren Arm. Doch auch das war ein Fehler. Nicht nur, weil ihm heiß wurde, sondern weil sie so heftig zurückfuhr, dass sie gefallen wäre, hätte er sie nicht instinktiv festgehalten.

Keanu ließ sie sofort los, als sie wieder auf sicheren Beinen stand. „Die Lockharts gehören zur Geschichte der M’Langi, seit deine Familie sich hier zum ersten Mal niederließ“, begann er sanft. „Dein Großvater und dein Vater haben auf den Inseln für Wohlstand und medizinische Behandlungsmöglichkeiten gesorgt. Man hat sie für all das immer sehr bewundert. Aber Ians Verhalten hat den Namen Lockhart in den Dreck gezogen.“

In ihren Augen blitzte erneut Ärger auf, und im ersten Moment sah sie aus, als wollte sie ihn ohrfeigen. Doch dann wandte sie sich ab, ging zwei Schritte, drehte sich wieder um und sagte: „Ich trage mein Gepäck selbst, vielen Dank.“

Das klang kühl und beherrscht – nach außen hin.

Doch Keanu kannte sie gut genug, um zu wissen, dass seine Worte sie getroffen hatten. Sie war nie ein Snob gewesen, hielt sich nie für etwas Besseres als die anderen Inselkinder, mit denen sie die kleine Grundschule auf Atangi besucht hatte. Allerdings war sie stolz auf alles, was ihre Familie erreicht hatte.

Aber er sprach seine Gedanken nicht aus, sondern sagte nur knapp: „Kommt nicht infrage, Caroline. Wollen wir uns zusammensetzen und reden? Versuchen, wieder Freunde zu werden?“

Ihre einzige Antwort bestand darin, dass sie sich den Koffer schnappte und davonmarschierte, als könnte sie nicht schnell genug von Keanu wegkommen.

2. KAPITEL

Keanu Russell ging mit langen Schritten den Pfad zurück. Das Krankenhaus arbeitete nur mit einer Notbesetzung, er blieb besser in der Nähe. Als er, alarmiert vom Ältestenrat auf Atangi, der größten Insel der Gruppe, nach Wildfire zurückgekehrt war, fand er beunruhigende Zustände vor.

Er berührte das Tattoo auf seinem Oberarm – ein Zeichen seiner Zugehörigkeit zum Stamm der M’Langi. Komm nach Hause, wir brauchen dich. So ungefähr hatte die Botschaft der Ältesten gelautet. Und da die Insulaner, mit Unterstützung von Max Lockhart, seine Highschool-Bildung und das Medizinstudium bezahlt hatten, schuldete er es ihnen, ihrer Bitte nachzukommen.

Bevor er Australien verließ, versuchte er, Max Lockhart zu erreichen. Aber anscheinend war dessen Sohn Christopher an einer schweren Lungenentzündung erkrankt, und Max hielt sich bei ihm auf der Intensivstation auf.

Deshalb rief er hier im Krankenhaus an. Vailea, die Reinigungskraft, nahm den Anruf entgegen und erzählte ihm im Verlauf des Gesprächs, dass die Inseln und besonders das Krankenhaus eine schwere Krise durchmachten.

„Ian Lockhart wird uns alle ins Unglück stürzen“, sagte sie bedrückt. „Max bezahlt die Rechnungen des Krankenhauses aus eigener Tasche, weil die Mine völlig heruntergewirtschaftet ist. Und das Wenige, das sie noch abwirft, reißt sich dieser Ian unter den Nagel.“ Als er schwieg, weil er das erst verarbeiten musste, fügte sie hinzu: „Wir brauchen dich hier, Keanu.“

„Warum hast du mich nicht schon früher angerufen? Warum überlässt du es dem Ältestenrat?“

Vailea antwortete erst nicht. „Du warst lange weg, Keanu“, sagte sie schließlich. „Ich wusste nicht, wie ich es dir sagen sollte. Ich dachte, du kommst vielleicht nicht, wenn ich dich darum bitte. Aber die Ältesten …“ Sie legte auf, ohne zu Ende zu sprechen.

Keanu hatte die Tränen in ihrer Stimme gehört und saß wie erstarrt da, das Telefon in der Hand, von Schuldgefühlen geplagt.

M’Langi war sein Zuhause, die Insulaner waren sein Volk, und trotzdem war er weggeblieben. Aus Zorn und um seiner Mutter beizustehen, die nicht mehr sie selbst war – seit ein Lockhart ihr übel mitgespielt hatte.

Später kam noch ein Grund hinzu. Keanu wollte nicht an die glücklichen Tage seiner Kindheit erinnert werden, weil das unweigerlich die bittere Wahrheit heraufbeschwor, dass er eine Freundschaft verraten hatte, die ihm unendlich viel bedeutete.

Und nun war er doch wieder hier, und es gab so viel zu tun, dass Erinnerungen seine geringste Sorge waren. Nur manchmal, wenn er spätabends durch das kleine Krankenhaus ging, dachte er an den Jungen und das kleine Mädchen, die Hand in Hand über das damals noch unbebaute Gelände liefen. Dachte daran, wie sie davon träumten, als Arzt und Krankenschwester zurückzukehren und in dem neuen Krankenhaus zu arbeiten, das ihr Vater damals an dieser Stelle plante.

Der Geist von Caroline hatte ihn also nie in Ruhe gelassen – auch nicht, als er eine andere Frau heiratete –, aber da er vor Arbeit nicht wusste, wo ihm der Kopf stand, suchte dieses Gespenst der Vergangenheit ihn nicht allzu oft heim.

Bis Caroline persönlich auf der Insel aufgetaucht war und zu allem Überfluss hier arbeiten wollte.

Nicht dass sie nicht dringend gebraucht würde …

Die Krankenschwester, die morgen mit dem nächsten Flugzeug kommen wollte, hatte angerufen und ihre Ankunft auf unbestimmte Zeit verschoben. Ihre Mutter war krank geworden. Dann kam ein Anruf von Maddie Haddon, dass sie es mit der Maschine auch nicht schaffen würde – wegen irgendwelcher Terminprobleme bei ihrer Schwangerschaftsvorsorge. Maddie gehörte zu den Fly-In-Fly-Out-, kurz FIFO-Ärzten, Medizinern, die regelmäßig zu Kurzbesuchen in entlegene Gebiete flogen.

Sam Taylor, der einzige ortsansässige Arzt, war unterwegs zu einer Sprechstunden-Tour auf die anderen Inseln. Hettie, die Pflegedienstleiterin des Wildfire-Krankenhauses, begleitete ihn. Beide hatten keine Ahnung, was hier los war, aber Keanu, der selbst als FIFO-Arzt angefangen und beschlossen hatte, dauerhaft hierzubleiben, konnte für Maddie einspringen.

Und Caroline für die FIFO-Schwester.

Caroline.

Caro.

Natürlich war ihm klar gewesen, wie sehr er ihr wehtun würde, wenn er sie ohne jede Erklärung aus seinem Leben ausschloss. Doch seine Wut war stärker gewesen als die Sorge um Caro. Seine Wut und der Entschluss, seine Mutter zu schützen.

Caroline fand bald heraus, warum Harold nicht zur Landebahn gekommen war.

Er stand im Vorgarten der Villa und stritt mit seiner Frau Bessie. Carolines Urgroßvater, der ein ziemlicher Despot gewesen sein musste, hatte darauf bestanden, dass alle Angestellten in Haus und Hof englische Namen trugen.

„Du kannst mit reinkommen und mir beim Putzen helfen“, sagte Bessie.

„Nein, ich muss den Vorgarten machen. Ian wird einen Mordsaufstand machen, wenn der nicht ordentlich aussieht. Allerdings glaube ich nicht, dass er zurückkommt.“

Caroline war ein bisschen erschrocken, wie alt die beiden geworden waren. Andererseits schien das Alter ihre legendären, sehr temperamentvoll geführten Auseinandersetzungen nicht zu beeinträchtigen.

„Ich auch nicht, aber es ist jemand gekommen. Wir haben das Flugzeug gesehen, an einem Tag, an dem keins erwartet wird. Und außerdem war es kleiner als unsere Maschinen.“

„Vielleicht ist es jemand für die Forschungsstation. Da geht es zu wie im Taubenschlag.“

„Dann brauchst du den Vorgarten nicht zu machen.“ Bessie musste das letzte Wort haben.

Caroline wollte nicht länger hinter dem Goldtrompeten-Strauch stehen und lauschen. „Bessie, Harold, ich bin’s, Caroline!“

Sie trat hinter dem Busch hervor, erwartete, dass sie wie der verlorene Sohn – oder in ihrem Fall die Tochter – begrüßt wurde und sah entsetzt, dass die beiden in Tränen ausbrachen.

Doch da lief das Ehepaar auch schon mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. „Oh, Caroline, du bist wieder da! Jetzt haben wir dich und Keanu zusammen hier. Es wird alles gut!“

Von beiden innig umarmt, fehlten Caroline zuerst die Worte. Wenn die Insulaner sie als Retterin sahen, sie, die immer die nette, aber nutzlose Prinzessin gewesen war, dann musste es wirklich schlimm stehen.

Sie entzog sich ihren Armen und richtete sich auf. Selbstverständlich würde sie helfen. Zwar wusste sie noch nicht genau, wie, aber sie wollte alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, damit es den Inselbewohnern gut ging und sie medizinisch versorgt waren.

M’Langi war ihr Zuhause. Sie gehörte hierher.

„Warum arbeitest du im Haus, Bessie? Wo ist die junge Frau, die Dad eingestellt hat, nachdem Helen weggegangen ist?“

„Du meinst Kari? Als Ian herkam, dachten wir, es wäre besser, wenn sie Abstand hält. Ich sage es nicht gern, weil er zu deiner Familie gehört, aber Ian ist ein schlechter Mensch. Also habe ich angeboten, den Haushalt zu führen. Ich passe auch auf Anaheras kleine Tochter auf. Sie ist ein liebes Mädchen und spielt stundenlang mit deinen Puppen.“

Lächelnd erinnerte sich Caroline daran, mit welcher Begeisterung sie ihren Puppen hübsche Kleider angezogen, ihnen die Haare gekämmt und mit bunten Spangen geschmückt hatte. Bis Keanu ihr sagte, dass sei Mädchenkram, und von da an lernte sie, mit Pfeil und Bogen umzugehen und Fische zu fangen.

„Anahera?“, fragte sie nach. Der Name kam ihr vage bekannt vor.

„Ihre Mutter Vailea war Köchin in der Forschungsstation, während wir uns um das Haus gekümmert haben. Aber in der Station hat sich einiges geändert, und nun putzt Vailea im Krankenhaus und macht die Betten. Anahera ist ein bisschen älter als du und arbeitet hier als Krankenschwester. Deshalb betreue ich ihre Kleine.“

So viele Neuigkeiten! Caroline ließ sich von dem älteren Ehepaar zur Veranda führen, wo ein kleines Kind mit dunklen Augen, olivbrauner Haut und goldblonden Locken mit Puppen spielte. Sie hatte ihre Lieblinge alle ordentlich nebeneinander aufgereiht – auf dem Korbsofa, das schon immer hier gestanden hatte. So kam es Caroline jedenfalls vor.

Das Korbsofa, Kübelpflanzen, ein paar Korbsessel um einen runden Tisch, auf dem auch eine Pflanze stand, dort drüben die Schaukel, auf der Caroline so oft mit Keanu gesessen hatte … ja, es fühlte sich wirklich an wie nach Hause kommen.

„Das ist Hana.“ Bessie nahm das Mädchen an die Hand. „Hana, das ist Miss Caroline. Sie wohnt hier.“

Caroline ging vor der Kleinen in die Hocke. „Sag Caroline zu mir oder Caro, wenn du magst.“

Caro.

So hatte Keanu sie immer genannt, als Einziger. Aber jetzt war nicht der Moment, um sentimental zu werden. Vor allem nicht wegen Keanu, der aussah wie ein griechischer Gott und bei dem ihre Haut prickelte, wenn sie ihm zu nahekam.

Weshalb bist du hier? fragte sie sich, um sich zu konzentrieren.

Weil du unglücklich warst, weil du dorthin zurückwolltest, wo du glücklich warst wie sonst nie in deinem Leben.

Und nun?

Zunächst musste sie herausfinden, was genau auf der Insel los war.

„Wirst du für deine Arbeit bezahlt, Bessie?“

Bessie starrte auf ihre Zehen und schüttelte den Kopf, sodass die schwarzen Locken wippten. „Anahera gibt mir etwas, weil ich auf Hana aufpasse, aber Harold hat schon eine Weile keinen Lohn mehr bekommen.“

Das gefiel Caroline gar nicht. In ihrer Dankbarkeit – nach allem, was Carolines Vater für die Inselbevölkerung getan hatte – würden sie auch umsonst arbeiten, und sie wusste, dass sie nicht hungern mussten. Wie die meisten Insulaner bauten sie Gemüse an und hielten Hühner und ein paar Schweine. Trotzdem stand ihnen Geld für die geleistete Arbeit zu.

„Okay, solange ich hier bin, bleiben die meisten Zimmer geschlossen, und ich werde nur mein Schlafzimmer, das Bad und die Küche benutzen. Wenn du dort putzt, bezahle ich dich dafür. Und in den anderen Räumen gehe ich alle vierzehn Tage mit dem Staubsauger durch.“

Bessie begann zu protestieren, murmelte etwas von Staub, doch Caroline winkte ab.

„Die Lockharts atmen Staub, seit die Mine in Betrieb genommen wurde. Da schadet ein bisschen auf den Fußböden der verschlossenen Zimmer nicht. Und jetzt gehe ich hinunter zum Krankenhaus und frage nach einem Job. Selbst wenn man mir kein Geld zahlen kann, zu tun gibt es sicher etwas.“

Sie brachte den Koffer in ihr Zimmer und eilte den Weg zurück, den sie gekommen war.

In Gedanken versunken, fiel ihr erst auf halber Strecke ein, was Keanu gesagt hatte. Außer ihm und einer Pflegekraft war niemand im Krankenhaus. Hettie und Sam waren auf den Inseln unterwegs.

Caroline kehrte um und fragte sich, wie das alles passieren konnte. Nicht nur die Zustände auf der Insel, sondern auch der Bruch zwischen Keanu und ihr. Was steckte dahinter? Hatte sie ihn zu Unrecht so hart verurteilt? Weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass er einen guten Grund gehabt hatte, jegliche Verbindung zwischen ihnen zu kappen? Sie waren sich so nahe gewesen, da hätte er es ihr doch erklären können, oder?

Bedrückt betrat sie die Villa und ging in ihr Zimmer, um den Koffer auszupacken. Als das geschafft war, stürmten so viele nostalgische Erinnerungen auf sie ein, dass sie es dort nicht mehr aushielt. Caroline beschloss, einen Rundgang durchs Haus zu unternehmen.

Typisch für die Kolonialarchitektur der damaligen Zeit besaß Lockhart House eine breite Veranda mit überhängenden Traufen, die sich um das Gebäude herumzog. Dort stand Caroline nun und blickte auf das Krankenhaus hinunter, die dahinterliegende Flugpiste und das flache Gelände, auf der die Forschungsstation stand. Unter riesigen tropischen Feigenbäumen und hohen Kokospalmen verborgen, war sie von hier oben nicht zu sehen.

An der östlichen Küste lag das Dorf, an die auslaufenden Hänge des Plateaus geschmiegt. Ihr Vater hatte den Insulanern damals das Siedlungsland geschenkt, nachdem Bewohner einer benachbarten Insel durch einen Tsunami Haus und Heimat verloren hatten.

Auch der Strand war vor ihren Blicken versteckt. Erst, als sie um die Ecke bog, sah sie einen Streifen Sand und die von Korallenriffen gesäumte Lagune.

An klaren Tagen konnte man von hier und der rückwärtigen Veranda aus die meisten Inseln der M’Langi-Gruppe erkennen. Heute lag ein dunstiger Schleier über dem Meer.

Die westliche Veranda verband das Haupthaus mit dem Anbau, wo Helen und Keanu gewohnt hatten. Auf keinen Fall wollte Caroline hinübergehen, auch wenn Keanu und sie in beiden Häusern gleichermaßen zu Hause gewesen waren.

Durch den Hintereingang betrat sie die Küche mit ihren vielen Kammern und dem großen massiven Holztisch, an dem sie mit Keanu gefrühstückt und Mittag gegessen hatte. In den Abstellräumen ließ sich wunderbar Verstecken spielen, aber Grandmas Köchin scheuchte sie gnadenlos hinaus, wenn sie sie dabei erwischte. Wahrscheinlich hatte sie Angst, dass das dort aufbewahrte kostbare Porzellan und Kristall zu Bruch gehen könnte.

Caroline öffnete eine Tür und entdeckte nur leere Regale, wo früher im Licht funkelnde Gläser gestanden hatten. Sie lief ins Esszimmer und blickte zur Decke, erleichtert, dass der Kronleuchter noch an seinem alten Platz über dem polierten Tisch hing. Ihre Großmutter hatte diesen Tisch und den prächtigen Leuchter geliebt. Jeden Abend bestand sie darauf, dass Caroline, Keanu und Helen ihr beim Essen Gesellschaft leisteten. Die Kristalltropfen warfen dabei ihr magisches Muster auf das glänzende Edelholz.

Während des Essens berichtete Helen, was in Haus und Garten getan werden musste, und sprach mit Grandma über die nächsten Mahlzeiten und was auf dem Festland bestellt werden sollte, damit es mit dem nächsten Flugzeug nach Wildfire gebracht werden konnte.

Grandma fragte Keanu und Caroline, wie es in der Schule gewesen war, wollte wissen, was sie gelernt und ob sie ihre Hausaufgaben für den morgigen Tag erledigt hatten. Erst dann durften sie aufstehen und wieder spielen gehen.

Ian mochte das kostbare Kristall seiner Mutter zu Geld gemacht haben, um seine Spielschulden zu bezahlen, aber wenigstens hatte er den Kronleuchter nicht angerührt. Wann war das gewesen? Bevor oder nachdem er sich bei der Goldmine bediente und die Arbeiter um ihren Lebensunterhalt brachte?

Caroline stieg das Blut ins Gesicht, so sehr schämte sie sich, dass sie mit diesem Mann verwandt war. Der Schaden war nicht wiedergutzumachen. Oder doch? Konnte sie etwas tun, um zu helfen?

Sie setzte ihren Rundgang fort. Neben dem Esszimmer befand sich Grandmas Salon. Hier schien nichts verändert. Die antiken Möbel und auch die wunderschönen alten Perserteppiche waren noch da. Vielleicht hatte Ian nicht gewusst, wie wertvoll sie waren.

Doch in den eleganten Schränken mit den geschliffenen Glasfronten herrschte gähnende Leere. Grandmas Geschirrsammlung fehlte … all die alten Stücke, die von ihrer Großmutter über ihre Mutter an sie weitervererbt worden waren.

Da traten Caroline Tränen in die Augen. Ian hatte nicht nur Dinge gestohlen, sondern sie auch ihrer Erinnerungen beraubt. Sie sah sich auf dem Fußboden vor einem Schrank sitzen, während Grandma ihr eine Terrine, einen Teller oder eine Schale reichte und zu jedem eine Geschichte erzählte. Und sie versprach ihr, dass diese Sachen eines Tages ihr gehören würden.

Der Verlust schmerzte längst nicht so wie der Verrat, den Ian begangen hatte. An diesen Erbstücken hatte seine Mutter sehr gehangen.

Caroline holte tief Luft und ging weiter, hinüber ins Wohnzimmer ihrer Großmutter. Der kleine Sekretär, an dem sie Briefe geschrieben hatte, stand noch da, und ihr war, als spürte sie den Geist dieser weisen, warmherzigen Frau, die sie zusammen mit Helen an Mutters Stelle aufgezogen hatte. Bei ihrem Tod war Caroline zehn Jahre alt gewesen.

Auf der anderen Seite des Hauses lagen große, lichtdurchflutete Schlafräume mit breiten Verandatüren. Zarte Spitzenvorhänge hingen an den Fenstern, leicht vergilbt, als wären sie lange nicht bewegt worden.

Im Schlafzimmer ihrer Großmutter stand das mächtige Himmelbett, und Caroline bildete sich ein, den feinen Duft ihrer Grandma wahrzunehmen. Die Blumen fehlten, genau wie auf dem Esszimmertisch und der Anrichte im Salon. Grandma hatte immer frische Blumen um sich gehabt.

Caroline unterbrach ihre Inspektion und eilte hinaus in den Garten, brach vorsichtig einige dornige Bougainvillea-Zweige ab, nahm betörend duftende Frangipaniblüten dazu, ein paar Goldglocken, glänzendes Grün und weißen Hibiskus.

Zurück im Haus fand sie alte Vasen, die Ian stehen gelassen hatte, füllte sie mit Wasser und verteilte sie auf die drei Räume. Danach setzte sie ihre Erkundung fort. Als Nächstes betrat sie das Zimmer ihres Vaters. Hier war nichts verändert worden. Das kleine Bett neben dem Doppelbett erinnerte sie an die seltenen Male, wenn Christopher auf die Insel gekommen war. Seine Besuche dauerten nie lange, aber Keanu und sie nahmen ihn möglichst überallhin mit. Sie setzten ihn in seinen Rollstuhl, zeigten ihm ihre Lieblingsplätze und hatten wahrscheinlich sein Leben riskiert, als sie ihn auf dem steilen Pfad zum Sunset Beach hinuntergetragen hatten.

Der Raum daneben müsste Ians sein, dann folgten drei kleinere, ihrer war der in der Mitte. Allerdings schien ihr Onkel hier nicht gewohnt zu haben, wie sie nach einem Blick ins Zimmer feststellte. Die Möbel waren unter weißen Stoffhüllen verborgen, die seit einer Ewigkeit nicht mehr abgezogen worden waren.

„Er hat im Gästehaus gewohnt.“ Bessie war neben Caroline aufgetaucht.

Es lag dem von Helen und Keanu gegenüber, war aber durch Bäume und dichte grüne Sträucher von ihnen getrennt.

„Überall auf der Insel durften wir spielen, nur dort nicht“, antwortete sie. „Ich habe keine Erinnerungen daran.“

Als sie wieder auf der vorderen Veranda war, hörte sie die Rotoren eines Hubschraubers. Jetzt würde jemand in der Klinik sein, den sie nach einem Job fragen konnte.

Ich sollte zur Villa gehen und mit Caro Frieden schließen, dachte er. Statt mich hier im Krankenhaus herumzudrücken.

Warum war sie nach Wildfire gekommen? Wie passte das zu dem Leben, das sie in Sydney führte? Keanu hatte in Cairns gelegentlich eine Zeitung von Sydney gekauft, natürlich nur wegen des Wirtschaftsteils, wie er sich einredete. Warum blätterte er dann immer zu den Gesellschaftsseiten? In der Hoffnung, ein Bild von Caro zu entdecken? Manchmal hatte er Glück und entdeckte sie – inzwischen erwachsen und wunderschön – am Arm eines gestylten, aalglatten Kerls namens Steve, mit dem sie anscheinend so gut wie verlobt war.

Was zum Teufel bedeutet so gut wie? fragte er sich dann und ärgerte sich zum wiederholten Mal, dass er sich das antat. War er etwa eifersüchtig? Dazu bestand ja wohl kein Grund, zumal er nicht nur so gut wie, sondern definitiv mit einer anderen verheiratet war. Einer Frau, die er zu lieben geglaubt hatte, nachdem sie ihn aus dem Elend herausgeholt hatte, in dem er nach dem Tod seiner Mutter einsam und heimwehkrank nach der Insel versunken war.

Also hatte er Caro nicht nur ein, sondern zwei Mal betrogen. Erstens, indem er sie ohne Abschied verließ, und zweitens, weil er eine andere geheiratet hatte. Oder zählten tiefe Freundschaft und Treueschwüre zwischen einer Zwölf- und einem Vierzehnjährigen nicht?

Keanu begriff, dass all diese verwirrenden Gefühle ihn ärgerlich machten und er seinen Ärger auf Caroline gerichtet hatte. Was ihr gegenüber sicher nicht fair war. Vor allem, da sie unglücklich zu sein schien. War er daran schuld? Das unerwartete Wiedersehen mit ihm?

Dann wäre es besser, ihr aus dem Weg zu gehen.

Doch er hatte es noch nie ertragen, wenn sie unglücklich war. Müsste er nicht wenigstens versuchen, etwas dagegen zu unternehmen? Vielleicht die alte Freundschaft wiederbeleben?

Freundschaft? Wem wollte er etwas vormachen? Er brauchte Caro nur anzublicken, und sein Körper geriet in Aufruhr, weckte Gefühle, die alles andere als „freundschaftlich“ waren. Nicht richtig bei einem Mann, der wahrscheinlich noch verheiratet war!

Hinzu kam, dass er zwischen zwei Geboten seiner Mutter hin- und hergerissen war. Wenn Caro und er damals das Haus verließen, ermahnte sie ihn jedes Mal: Pass auf Caroline auf. Er hörte ihre Stimme, als sei es gestern gewesen. Aber er erinnerte sich genauso gut an ihre Worte, bevor sie starb, sechs Wochen nach der Diagnose Bauchspeicheldrüsen-Krebs, während er als Arzt ohnmächtig zusehen musste. Sie hatte die Lockharts bitter verflucht … und besonders Ian Lockhart.

War er so abergläubisch, dass er an die Wirkung eines Fluchs glaubte? Keanu schüttelte den Kopf, schob die Gedanken weit weg und sah noch einmal nach seinen wenigen Patienten.

Als er kurz darauf den Hubschrauber hörte, war er froh über die Ablenkung und ging zum Landeplatz. Wenn Sam und Hettie einen Patienten brachten, konnten sie Hilfe gebrauchen.

Der Kollege und Jack Richards, der Pilot, luden gerade eine Trage aus. Betroffen sah Keanu, dass der alte Alkiri von der Insel Atangi darauf lag. Auch Alkiri war aus Keanus Kindheit nicht wegzudenken, Caroline und er hatten ihn geliebt.

Er trat an die Liege, berührte respektvoll die Schulter des Ältesten und begrüßte ihn in seiner Sprache. Selbst durch die Sauerstoffmaske sah er, dass die Lippen bläulich verfärbt waren, und fragte sich, wie alt Alkiri wohl sein mochte.

„Er ist gestürzt, vermutlich Durchblutungsstörungen im Gehirn, scheint in letzter Zeit öfter passiert zu sein.“

Solche Durchblutungsstörungen kündeten nicht selten einen schweren Schlaganfall an. Hatte Alkiri die Stürze auf sein Alter geschoben? Er war ein stolzer Mann, der Hilfe erst dann suchte, wenn er sie wirklich brauchte. Früher lebte er hier auf Wildfire und arbeitete als Bootsführer für Carolines Großvater. Er nahm sie und Keanu unter seine Fittiche, brachte sie zusammen mit den anderen Kindern zur Schule nach Atangi und lehrte sie vieles über das Leben im Allgemeinen und die Inseln im Besonderen. Wissen, das für Keanu mindestens genauso wichtig war wie der Lernstoff in der Schule.

Ich sollte Caro Bescheid sagen, dass Alkiri …

Keanu stoppte den Gedanken, noch bevor er ihn zu Ende denken konnte. Er war nicht länger der Junge, der zu ihr ins Haus rannte und nach ihr rief, um eine Neuigkeit zu verkünden.

Und sie war nicht mehr das Mädchen, nach dem er sich gesehnt hatte, um zu erzählen, was passiert war.

Sie schnallten die Trage auf den eigens für diesen Zweck umgebauten Jeep, und Jack und Hettie fuhren ins Krankenhaus. Keanu ging mit Sam zu Fuß und ließ sich von den Sprechstunden auf den anderen Inseln berichten. Der schwere Duft der Frangipaniblüten hing in der Luft, doch heute weckte er in Keanu nicht das tröstliche heimatliche Gefühl wie an anderen Tagen.

Keanu erzählte Sam, dass weder Maddie noch die erwartete Krankenschwester morgen eintreffen würden, versicherte ihm aber, dass er selbst voll arbeiten konnte. Dann zögerte er, was Sam nicht entging.

„Gibt’s noch ein Problem?“

„Wir haben eine Krankenschwester hier.“

„Und? Ist sie Alkoholikerin? Kettenraucherin, die regelmäßige Raucherpausen braucht? Axtmörderin?“

„Sie ist eine Lockhart.“

Sam lächelte. „Das macht sie nicht zu einer schlechten Krankenschwester, Keanu. Ich vermute mal, es ist Max’ Tochter, die Kleine, mit der du aufgewachsen bist. Sieh mich nicht so an – auf dieser Insel kann man nichts geheim halten. Jedenfalls nicht lange.“ Er stutzte, blieb stehen und sah ihn ernst an. „Oder willst du mir sagen, dass du nicht mit ihr zusammenarbeiten kannst?“

„Blödsinn“, erwiderte er schnell, vielleicht zu schnell. „Aber der Name Lockhart ist zurzeit hier nicht gerade beliebt.“

„Natürlich.“ Der Arzt lächelte wieder. „Wenn man allerdings bedenkt, wie viel Gutes Max Lockhart, seine Eltern und Großeltern für die Inseln getan haben, sollte der eine faule Apfel nicht die gesamte Ernte verderben. Ich bin froh, dass sie hier ist, wir können eine weitere Krankenschwester gebrauchen. Apropos Ian … Hettie und ich haben herausgefunden, dass er nach seinem Aufbruch noch auf Raiki gewesen ist. Er hat nicht nur die Medikamente mitgehen lassen, sondern auch die Krankenschwester.“

„Warum, zum Teufel …? Medikamente, das verstehe ich ja noch. Er ist mit seiner Jacht unterwegs, da braucht er eine gute Hausapotheke, und den Rest wird er wahrscheinlich verkaufen. Aber die Krankenschwester? Vielleicht ist die freiwillig mitgegangen.“

„Schon möglich. Die Medikamente können wir ersetzen, doch jetzt ist Raiki ohne Krankenschwester. Übrigens, wann lerne ich unsere neue kennen?“

„Bestimmt kommt sie bald runter. Sie musste gleich bei ihrer Ankunft mit anpacken. Einer der Bauarbeiter von der Forschungsstation hatte sich einen Nagel durch den Fuß geschossen.“

„Dann können wir froh sein, dass wir sie haben. Und ich hoffe, sie beeilt sich. Hier gibt’s genug zu tun.“

3. KAPITEL

Eine wunderschöne junge Frau in grünem Kittel und dreiviertellanger Hose, mit glänzenden dunklen Haaren, die unter der Schwesternhaube aufgesteckt waren, begrüßte Caroline lächelnd. „Kann ich Ihnen helfen?“

„Ich wollte zu Sam.“

„Er sitzt in dem winzigen Zimmer, das er als Büro bezeichnet, und legt wahrscheinlich gerade Feuer an den Papierkram. Gehen Sie den Flur hinunter, die letzte Tür links.“

Caroline bedankte sich und wandte sich ab.

„Ich bin Anahera“, rief ihr die Krankenschwester nach. „Aber alle sagen Ana zu mir.“

Caroline drehte sich wieder um. „Ach, ich habe Ihre kleine Tochter kennengelernt. So ein süßer Schatz. Ich bin Caroline Lockhart.“

Anahera zögerte kaum merklich, bevor sie Carolines ausgestreckte Hand schüttelte. „Oh!“, sagte sie nur leise und ging in die kleine Station hinter dem Empfang.

Caroline machte sich auf den Weg zu dem beschriebenen Zimmer und klopfte an.

„Herein!“, ertönte eine Männerstimme.

Als sie eintrat, blickte der gut aussehende Mann hinter dem Schreibtisch von seinen Unterlagen auf. „Caroline Lockhart, nehme ich an?“ Resigniert schob er die Papiere zu einem unordentlichen Stapel zusammen. „Ich werde nie ein Verwaltungsmensch“, murmelte er.

„Haben Sie etwas gegen Schreibkram?“, fragte sie lächelnd. Der Arzt war ihr auf Anhieb sympathisch.

„Wer hat das nicht? Mein Problem ist, dass wir hier sowieso schon unterbesetzt sind. Und dann muss ich meine Zeit noch mit Bürokratie verschwenden.“

„Können Sie die Papiere nicht Ihrem Hund schmackhaft machen? Der Hund hat sie gefressen ist doch die klassische Ausrede, wenn man seine Hausaufgaben nicht gemacht hat.“ Caroline deutete auf den treuherzigen dreinblickenden Labrador, der zu Sams Füßen unter dem Tisch lag.

Sam grinste breit. „Habe ich schon versucht, aber er spuckt sie immer wieder aus. Krankenhaushunde werden einfach zu gut gefüttert. Darf ich vorstellen? Dieses träge, wohlgenährte Viech ist Bugsy und gehört Maddie Haddon. Maddie arbeitet bei den Flying Doctors und besucht regelmäßig die Inseln. Statt Bugsy hin- und herzufliegen, lässt sie ihn lieber hier. Leider konnte sie heute nicht kommen, und da nimmt er nun mit mir vorlieb.“ Er schwieg und betrachtete Caroline. „Außerdem fehlt mir zurzeit eine Krankenschwester, und Keanu hat mir von Ihnen erzählt. Wollen Sie den Job?“

„Solange ich nicht Ordnung in Ihre Papierstapel bringen muss. Ich kann mich anderweitig nützlich machen.“

Ein humorvoller Ausdruck blitzte in seinen Augen auf. „Wollen Sie mir den Rücken massieren? Meine Füße verwöhnen?“

„Träumen Sie weiter!“ Caroline musste lachen. „Aber ich bin ausgebildete Krankenschwester und springe gern ein.“

„Keanu meinte, Sie sind eine Societyprinzessin.“

Und das von dem Mann, der ihr schon einmal so wehgetan hatte. Es versetzte ihr einen Stich.

„Vielleicht haben Sie es noch nicht gemerkt, aber von Gesellschaftsleben kann hier kaum die Rede sein. Da ist eine Societyprinzessin überflüssig. Als Krankenschwester kann ich jedoch aushelfen. Falls Sie bereit sind, mir eine Chance zu geben.“

„Tut mir leid, ich wollte Ihnen nicht auf die Füße treten.“ Sam musterte sie von oben bis unten. „Haben Sie entsprechende Unterlagen dabei … Zeugnisse, Referenzen?“

„Bitte.“ Sie reichte ihm ihre Mappe.

„Sie waren lange weg.“ Sam blätterte in den Papieren. „Warum sind Sie zurückgekommen?“

„Ich glaube nicht, dass das relevant ist, doch ich habe gehört, dass es auf der Insel Schwierigkeiten gibt.“

„Und da dachten Sie, als Krankenschwester könnten Sie die Probleme ausräumen?“

„Junge, Junge, sind Sie misstrauisch.“ Caroline schüttelte den Kopf. „Ich wusste nicht einmal, dass eine Stelle frei ist, hatte allerdings vor zu arbeiten, wenn es nötig ist. Diese Insel war – und ist – mein Zuhause. Da kann ich doch nicht tatenlos zusehen, wie alles den Bach hinuntergeht! Ich wollte mir zumindest ein Bild machen und herausfinden, was los ist. Mein Dad wäre auch mitgekommen, aber er kann nicht … aus familiären Gründen.“

Sam blickte auf. „Ihr Vater ist ein großartiger Mensch. Er tut, was er kann, versucht, öffentliche Gelder und private Spenden einzuwerben. Seit die Mine nicht mehr den vereinbarten Anteil an den Kosten für die Klinik decken kann, bezahlt er unsere Rechnungen. Wahrscheinlich geht fast sein gesamtes Einkommen dafür drauf.“

„Bekomme ich nun den Job oder nicht?“

„Die Schwester, die wir erwartet haben, wäre für zwei Wochen hergeflogen, hätte danach eine Woche frei gehabt und so weiter. Wir würden es bei dem Rhythmus belassen, und Sie könnten für Ihre freie Woche den Flug zum Festland nutzen, wenn Sie möchten.“

„Aber dann haben Sie in der Zeit nur eine Krankenschwester … Anahera?“

„Nein, es gibt eine zweite Schwester, die zeitversetzt bei uns Dienst tut. Außerdem haben wir noch eine Krankenschwester, die auf der Insel lebt. Sie haben sie noch nicht kennengelernt … Hettie, mit vollem Namen Henrietta de Lacey. Hüten Sie sich jedoch, sie Henrietta zu nennen, wenn Sie es sich mit ihr nicht verscherzen wollen.“

Er lächelte amüsiert. „Sie ist unsere Pflegedienstleiterin, und eigentlich hätten Sie wegen des Jobs mit ihr sprechen müssen. Doch sie ist schon wieder unterwegs zu den Inseln. Normalerweise fliegen wir nicht zwei Mal in der Woche, aber auf Raiki sind die Medikamente knapp geworden, und es fehlt die Krankenschwester. Hettie bringt Medikamente hin und will sich dann auf den anderen Inseln umsehen, ob jemand nicht auf Raiki einspringen kann. Wie kommen Sie mit Hubschraubern zurecht?“

„Meinen Sie, ob ich einen fliegen kann, oder ob mir beim Fliegen schlecht wird?“

„Letzteres. Piloten haben wir.“

„Fliegen ist kein Problem. Halten die Krankenschwestern die Sprechstunden allein ab, oder kommt ein Arzt mit?“

„Ja, es ist immer einer dabei.“

Caroline vergaß, was sie gefragt hatte, weil sie jemanden hinter sich spürte und instinktiv wusste, dass es Keanu war.

„Tut mir leid, dass ich störe.“ Seine tiefe Stimme füllte den Raum. „Alkiri, der alte Mann von Atangi, hat zunehmend Atemprobleme, und ich glaube, dass es mit ihm zu Ende geht. Ist es okay, wenn ich bei ihm bleibe?“

Sam nickte, wandte sich dann an Caroline. „Wenn Sie gleich anfangen wollen, setzen Sie sich mit Keanu zu ihm. Sorgen Sie dafür, dass er bequem aufrecht gelagert wird, und befeuchten Sie ihm ab und zu die Lippen. Drehen Sie seinen Kopf ein wenig, sodass …“

„Speichel abfließen kann“, unterbrach sie ihn. „Ich mache das nicht zum ersten Mal.“

Der Arzt nickte wieder und fügte leiser hinzu, obwohl sie längst wieder allein waren: „Stehen Sie Keanu bei. Er kennt den alten Mann sein Leben lang, und Alkiri war derjenige, der ihn bat, nach Hause zu kommen. Dies wird für Keanu nicht leicht werden.“

„Alkiri hat bestimmt geahnt, dass er sterben wird“, meinte sie nachdenklich. Sie hatte schon oft erlebt, dass die Insulaner ein Gespür dafür hatten. „Vielleicht wollte er Keanu bei sich haben.“

Am Bett des Alten nahm sie dessen Hand, fühlte unter der papierdünnen Haut die schmalen Knochen.

„Ich bin es, Caroline“, sagte sie. „Weißt du noch, wie du mir beigebracht hast, Fischreusen zu flechten?“

Ob man mit Sterbenden reden sollte oder nicht, darüber schieden sich die Geister. Aber Caroline wollte ihm zeigen, dass sie sich an damals erinnerte. Und vielleicht taten ihm die Erinnerungen an die glücklichen Zeiten mit zwei abenteuerlustigen Kindern gut.

„Danach bist du mit uns in deinem alten Boot hinausgefahren, um sie am Riff auszulegen“, fügte Keanu hinzu.

Caroline tupfte dem alten Mann den Speichel ab, und Keanu fing an zu erzählen, wie frustriert Alkiri gewesen war, weil er ihr nicht beibringen konnte, eine Kokosnuss richtig zu öffnen.

„Das kann ich heute noch nicht“, gab sie zu. „Dabei gibt es sie in der Großstadt überall zu kaufen. Die Leute sind ganz verrückt nach dem Kokoswasser.“

„Darüber habe ich mit den Ältesten schon gesprochen“, sagte Keanu. „Vielleicht können wir den Hype nutzen, um den Insulanern zu einem zusätzlichen Einkommen zu verhelfen. Nicht nur das Wasser ist begehrt, sondern auch das Kokosfleisch und die Schalen. Ich kenne jemanden, der sich mit Geschäftsgründungen auskennt. Er will das mal durchrechnen.“

Als er von den Kokosnüssen sprach, waren ihre Gedanken in eine ähnliche Richtung gegangen. Caroline blickte flüchtig zu ihm hinüber. Früher hatten sie oft die Gedanken des anderen lesen können. War das immer noch so? Bloß nicht! Schließlich dachte sie, seit sie Keanu wiedergesehen hatte, fast nur noch daran, wie atemberaubend er aussah.

Keanu war der schönste Mann, den sie je gesehen hatte. Sie brauchte ihn nur anzublicken, und eine sinnliche Wärme durchströmte ihren Körper.

Caroline konzentrierte sich wieder auf ihren Patienten, erzählte noch mehr von früher, abwechselnd mit Keanu, und zwischen den dreien entstanden farbenprächtige Bilder gemeinsam gelebten Lebens.

Die Stille zwischen Alkiris rasselnden Atemzügen wurde immer länger, schließlich so lang, dass Caroline schon glaubte, ihr alter Freund sei tot. Da öffnete er plötzlich die Augen und blickte lächelnd von einem zum anderen.

„Ihr beide seid hier, jetzt kann ich in Frieden gehen. Bitte begrabt mich auf Wildfire. Diese Insel war immer mein wahres Zuhause“, flüsterte er und tat zitternd einen Atemzug.

Es war sein letzter.

Autor

Meredith Webber
Bevor Meredith Webber sich entschloss, Arztromane zu schreiben, war sie als Lehrerin tätig, besaß ein eigenes Geschäft, jobbte im Reisebüro und in einem Schweinezuchtbetrieb, arbeitete auf Baustellen, war Sozialarbeiterin für Behinderte und half beim medizinischen Notdienst.
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