Julia Best of Band 227

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TAUSENDUNDEINE NACHT MIT DIR
Um Belle zu retten, muss Scheich Rafiq einen hohen Preis zahlen: Die Entführer verlangen die Kette, die der Herrscher von Q’aroum traditionsgemäß seiner Verlobten schenkt. Wie soll Rafiq erklären, dass er das Kleinod für eine Fremde geopfert hat? Die Lösung: Belle muss ihn heiraten …

RING AUS FEUER
Wild pocht Tessas Herz - genau wie bei ihrer ersten Begegnung mit Milliardär Stavros Denakis. Seit Jahren träumt sie davon, in seinen Armen die Liebe zu entdecken. Doch jetzt scheint es zu spät: Noch an diesem Abend feiert ihr Traummann seine Verlobung - mit einer anderen!

HEISS WIE DIE NÄCHTE SIZILIENS
Alissa ist schockiert! Um das traumhafte Castello ihres Großvaters zu erben, soll sie sechs Monate die Ehefrau des Tycoons Dario Parisi spielen. Was für eine absurde Idee! Doch dann küsst sie der Sizilianer so heiß, dass sie nicht weiß, ob sie sich je von ihm trennen kann …


  • Erscheinungstag 05.06.2020
  • Bandnummer 227
  • ISBN / Artikelnummer 9783733714697
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Annie West

JULIA BEST OF BAND 227

1. KAPITEL

Verzweifelt konzentrierte Belle sich darauf, nicht in Panik auszubrechen.

Der Boden, auf dem sie lag, war hart und rau. Sie wünschte, sie würde mehr tragen als den dünnen Badeanzug. Das Schaben der eisernen Fesseln an Hand- und Fußgelenken ließ sich aushalten, wenn sie still lag und sich nicht zu viel bewegte.

Dennoch … den bitteren Geschmack von Angst auf der Zunge konnte sie nicht loswerden. Auch nicht die brutalen Bilder, die unablässig vor ihrem geistigen Auge abliefen.

Zitternd sah sie zu Duncan. Ihr Kollege war blass, doch immerhin schlief er. Sie hatte sein verletztes Bein geschient und abgebunden, so gut es ihr möglich gewesen war. Wenigstens war es ihr gelungen, die Blutungen zu stoppen. Mehr konnte Belle nicht für ihn tun.

Beten vielleicht.

In den letzten dreißig Stunden hatte sie kaum etwas anderes getan. Seit ihre Entführer sie auf diesem gottverlassenen Inselflecken in dieser halb verfallenen Holzhütte zurückgelassen hatten.

Gestern war sie auf Erkundung gegangen, auf der Suche nach irgendetwas, das ihnen helfen könnte, von hier zu entkommen. Wäre sie in der Lage gewesen, aufrecht zu gehen, hätte sie diese Insel innerhalb von fünf Minuten umrundet. Ein kahles Atoll, ein paar Palmen und diese Hütte, mehr gab es hier nicht. Absolut nichts.

Belle warf einen Blick zu der Wasserflasche, die die Entführer ihnen dagelassen hatten. Der Inhalt war erschreckend geschwunden. Seit Sonnenaufgang hatte sie nichts mehr getrunken, Duncan brauchte das Wasser nötiger als sie. Die Zunge klebte ihr am Gaumen. Waren sie hier ausgesetzt worden, um zu sterben? Ihr leerer Magen rumorte laut bei dem Gedanken.

Das alles ergab überhaupt keinen Sinn. Nicht die brutalen Kerle, die sie von Bord des Forschungsschiffes entführt hatten, nicht, dass man sie hier zurückgelassen hatte. Duncan und sie waren nicht gerade die typischen Entführungsopfer, keiner von ihnen war reich oder mächtig. Bei der Erforschung des gesunkenen Handelsschiffes aus dem ersten Jahrhundert hatten sie sehr genau darauf geachtet, die hiesigen Sitten und Moralvorstellungen nicht zu verletzen. Jeder in Q’aroum war freundlich und hilfreich zu ihnen gewesen.

Belle kaute an ihrer Lippe und blinzelte die aufsteigenden Tränen fort. Nein, sie würde nicht in Panik ausbrechen, nur weil die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Meeresarchäologen eher verdursten als gerettet würden, relativ hoch war. Das Arabische Meer war groß, und diese Insel war sicher nicht einmal auf einer Karte verzeichnet.

Sie zwang sich, an zu Hause zu denken, an ihre Familie in Australien. Falls sie gerettet wurden, würden ihre Mutter und ihre Schwester sie mit offenen Armen empfangen. Nein, nicht falls. Wenn.

Belle presste die Handballen auf die brennenden Augen. Sie hatte keine Minute geschlafen, die Erschöpfung verlangte ihren Tribut. Das Zittern hörte auch nicht auf, ließ sich einfach nicht kontrollieren.

Mit schwerem Herzen legte sie sich auf die Holzbohlen zurück. Selbst wenn sie keinen Schlaf finden würde, sie musste sich ausruhen. Sie brauchte ihre Kraft.

Das Heulen des Windes weckte sie auf. Die Hütte ächzte im Sturm.

Belle öffnete die Augen und wusste sofort, wo sie sich befand. Und dass sie nicht mehr allein in der Hütte waren.

Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, der Atem stockte ihr, als sie einen Mann über Duncan gebeugt sah. Eine Taschenlampe stand auf dem Boden und warf gespenstisches Licht auf das zernarbte Gesicht des Mannes. Er hatte graues Haar, ein Gewehr hing über seiner Schulter, und auf dem Boden neben seinem Stiefel lag ein großer Krummdolch, das Äquivalent eines Bärentöters.

Der Mann streckte die Hand nach Duncans Hals aus. Belle wurde klar, dass sie schnell handeln musste. In seinem Zustand war ihr Kollege unfähig, sich zu wehren.

Ihre steifen Muskeln begehrten gequält auf, als sie sich bewegte. Vorsichtig tastete sie nach dem Dolch und bekam den Griff zu fassen. Der Dolch war schwer, das tödliche Gewicht lag bleiern in ihrer Hand.

Der Eindringling fasste Duncan an die Kehle, und in diesem Moment rappelte Belle sich auf die Knie auf. Die Bewegung, so ungelenk und steif sie war, überrumpelte den Mann. Belle hielt ihm die Schneide des Dolchs an die Kehle.

„Wenn Sie sich rühren, sind Sie tot.“ Ihre Stimme klang rau und heiser.

Einen Moment herrschte absolute Stille. Dann umklammerte plötzlich eine Hand Belles Finger und drückte unerbittlich zu.

„Langsam, kleine Wildkatze“, hörte sie eine tiefe Stimme aus den Schatten. „Wir sind hier, um zu helfen.“

Belle drehte den Kopf, um in funkelnde Augen zu sehen. Jetzt spürte sie auch die Körperwärme des anderen Mannes. Wer immer dieser Mann war, ihn umgab eine Aura von Macht, die sie erschauern ließ.

Der Druck seiner Finger verstärkte sich. Vor Schmerz schrie sie leise auf, der Dolch entglitt ihr, und sofort ließ der Mann ihre Hand los und nahm den Dolch auf. Das Blut schoss zurück in die tauben Finger, Belle biss sich auf die Lippe und zog die Hand an ihre Brust, Tränen von Schmerz, Angst und Frustration in den Augen.

„Es ist alles in Ordnung, Miss Winters“, sagte er. „Wir sind hier, um Sie zu retten.“

Retten! Erschöpft ließ sie sich zurückfallen. Konnte das wahr sein?

Eine warme Hand legte sich auf ihren Arm. „Halten Sie durch, solange wir uns um Ihren Freund kümmern?“

Sie nickte schwach. „Ja, sicher.“

Der Mann sagte etwas in Arabisch zu seinem Begleiter, der noch immer neben Duncan hockte. Jetzt wurde Belle auch klar, dass er nur nach dem Puls hatte fühlen wollen. Unendliche Erleichterung durchflutete sie. Wer immer diese Fremden waren, sie waren tatsächlich zu ihrer Rettung gekommen.

„Hier, trinken Sie.“ Der, der der Anführer zu sein schien, hielt ihr eine Wasserflasche an den Mund. Gierig fasste sie mit beiden Händen danach und trank. Kühles klares Wasser rann ihre trockene Kehle hinunter.

„Nicht zu hastig. Wenn Sie zu viel trinken, wird Ihnen übel.“

Natürlich hatte er recht. Aber sie hatte unendlichen Durst. Und weil er die Flasche festhielt, war es ihr gar nicht möglich, mehr zu trinken.

„Genug“, erklang seine Stimme an ihrem Ohr.

Hätte sie Kraft gehabt, sie hätte sich beschwert. Doch der Angriff auf seinen Begleiter hatte ihre restliche Energie verbraucht. Sie schwankte im Sitzen, und der Fremde griff sofort nach ihren Schultern, um sie zu stützen.

„Tut mir leid“, murmelte sie. „Ich glaube, mein Gleichgewicht funktioniert im Moment nicht besonders gut.“

„Es ist ein Wunder, dass Sie überhaupt bei Bewusstsein sind.“ Seine Stimme klang rau, doch seine Hände waren sanft. „Kommen Sie her.“ Er zog sie an sich, hob sie mühelos auf seine Arme, und für einen kurzen Moment nahm sie Wärme und Stärke und den Duft von Sonne und Salz und Mann wahr, bevor er sie auf eine Decke legte. „Bleiben Sie liegen, solange wir nach Mr. MacDonald sehen.“

„Sie wissen, wie wir heißen?“, brachte sie hervor.

„Es kommt nicht oft vor, dass in Q’aroum jemand entführt wird, erst recht keine Ausländer. Natürlich wissen wir, wer Sie sind. Seit Ihr Bootsmann die Entführung gemeldet hat, wird zu Wasser und zu Lande nach Ihnen gesucht.“

Er strich ihr das verschwitzte Haar aus der Stirn, und Belle schloss die Lider. Lächerlich, aber diese fürsorgliche Geste trieb ihr die Tränen in die Augen.

„Ruhen Sie sich aus“, sagte er noch, bevor er von ihr wegtrat.

Alles tat ihr weh, in ihrem Kopf hämmerte es, ihre Kehle brannte vor Durst, und sie wusste, sie war am Ende ihrer Kräfte. Doch diese rauen, warmen Hände, die sie bei den Schultern gehalten hatten, flößten ihr wieder Hoffnung ein. Hoffnung und Zuversicht. Sie rief sich die Stimme des Mannes in Erinnerung – tief und samten. Diese Stimme war ihr durch und durch gegangen, hatte etwas an ihrer Weiblichkeit berührt, trotz der prekären Lage, in der sie sich befand.

Wenn das alles nur eine Halluzination kurz vor dem Tod war, dann würde sie in Frieden ins Jenseits hinübergleiten.

Sie musste wohl eingenickt sein, denn als sie die Augen wieder aufschlug, beleuchtete eine zweite Taschenlampe den engen Raum. Der Wind hatte aufgefrischt, Palmwedel schlugen auf das Dach der Hütte. Die Männer verarzteten Duncan und legten ihm geschickt einen Verband an, im Licht konnte Belle erkennen, dass sie beide eine Art Tarnuniform und klobige Stiefel trugen. Soldaten? Oder Söldner? Im Moment war Belle das gleich, solange sie und Duncan nur gerettet wurden. Der Mann mit den grauen Haaren trat jetzt ein Stück beiseite und gab den Blick auf den Anführer frei.

Belle stockte der Atem. Ein Pirat war zu ihrer Rettung geeilt!

Das musste die Erschöpfung sein, die ihr einen Streich spielte! Sie blinzelte, aber das Bild schwand nicht.

Sein schwarzes Haar war glatt zurückgekämmt, er hatte das Gesicht eines Kämpfers – harte, entschlossene Züge. Obwohl er grimmig dreinschaute, besaß er das atemberaubendste Gesicht, das Belle je gesehen hatte: eine gerade Nase, ein markantes Kinn, tiefe Falten, die sich an seinen Mundwinkeln eingegraben hatten. Jeder Zentimeter zeigte Entschlossenheit … außer der volle Mund, der sinnliche Freuden verhieß.

Das Licht der Lampe fing sich in einem schweren goldenen Ohrring, als der Mann sich jetzt bewegte. Und Belle erkannte auch, dass er die Haare zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Nein, er war ganz bestimmt kein Militär.

Abrupt hob er den Kopf und ertappte sie bei ihrer ungenierten Musterung. Für einen langen Moment starrten sie einander an. Lange genug, dass Belle glaubte, einen wissenden Ausdruck in seinen Augen zu erkennen.

Er sah sie an wie ein Freibeuter auf Raubzug.

In diesem Moment sagte er etwas zu seinem Begleiter, der sich sofort anschickte, ihr zu trinken zu geben. Sie war froh, dass der Anführer den Blick abwandte. Sie stützte sich auf einen Ellbogen auf und trank langsam, ermuntert von dem Mann mit dem zernarbten Gesicht.

Himmel, sie musste geschwächter sein, als sie angenommen hatte! Einer ihrer Retter glich der typischen Figur aus einem Gangsterfilm, und der andere hätte ihrer Meinung nach einem Märchen aus Tausenundeiner Nacht entsprungen sein können.

Sie gab die Wasserflasche zurück und ließ den Kopf wieder auf die Decke sinken, mit dem beruhigenden Gedanken, dass sie in ein paar Stunden schon im Scheichtum Q’aroum zurück sein und die modernste medizinische Versorgung erhalten würde.

Die beiden Männer packten den Erste-Hilfe-Kasten zusammen, Duncan war nicht aufgewacht.

„Wie geht es ihm?“ Das verräterische Zittern in ihrer Stimme ließ den Freibeuter den Blick auf sie richten.

„Ein komplizierter Bruch“, kam die Antwort. „Er hat viel Blut verloren. Doch im Krankenhaus sollte er sich bald erholen.“ Er kniff nachdenklich die Augen zusammen. „Bei ihm sind keine Zeichen von Dehydration zu erkennen. Sie haben sich gut um ihn gekümmert.“

Um sich selbst allerdings weniger, schien sein Blick zu sagen. Aber was hätte sie denn tun sollen? Duncan da so einfach liegen und verdursten lassen?

„Schläft er, oder ist er bewusstlos?“, erkundigte sie sich. Sie hatten ihm das Bein verbunden, das musste doch sehr schmerzhaft gewesen sein.

„Wir haben Ihrem Kollegen ein starkes Schmerzmittel gegeben, das setzt ihn wohl für eine Weile schachmatt. Es ist besser für ihn, wenn er den Transport nicht mitbekommt.“

Belle nickte. Trotzdem würde sie erleichtert sein, Duncan wieder bei Bewusstsein zu sehen. Seit zwei Tagen war er immer nur für kurze Zeit aus dem Dämmerzustand aufgewacht.

Mit schweren Lidern beobachtete sie, wie die beiden Männer auf Arabisch irgendetwas diskutierten. Der Ältere, der mit der Narbe, zeigte auf Duncan, während der Wind immer stärker an der verfallenen Hütte rüttelte. Dann schien die Beratung zu Ende zu sein, der Jüngere sagte etwas in entschiedenem Ton, und beide Männer drehten sich zu der Tür.

Sie arbeiteten zusammen, der Ältere methodisch, der Jüngere mit kraftvollen, geschmeidigen Bewegungen. Es dauerte nur wenige Minuten, und die Tür war aus den Angeln gehoben. Ohne auf den wirbelnden Sand zu achten, der durch die Öffnung hereinwehte, legten sie die Tür neben Duncan auf dem Boden ab.

Natürlich, das war die Trage für ihn. Es wurde Zeit, dass sie sich bereit machte. Mühsam versuchte Belle, sich aufzurichten. Sie verzog das Gesicht, als die Fußfesseln über ihre wunde Haut schabten. Bis sie auf den Knien lag, war sie atemlos. Der Schmerz in Hand- und Fußgelenken war unerträglich.

„Was tun Sie da?“ Die tiefe Stimme klang gefährlich leise und jagte Belle einen Schauer über den Rücken. Sie sah auf und fand den Piraten direkt vor sich stehen, den vollen Mund zu einer dünnen Linie zusammengepresst, die Stirn gerunzelt.

„Ich stehe auf, damit wir gehen können. Was denn sonst?“

„Nein, noch nicht.“

„Aber ich …“

„Wir werden Mr. MacDonald zu zweit zum Boot tragen müssen. Ich kann ihn nicht tragen und mich gleichzeitig um Sie kümmern.“

„Um mich braucht sich niemand zu kümmern!“ Sie würde es allein bis zu diesem Schiff schaffen, sie wollte nichts anderes, als so schnell wie möglich von diesem gottverlassenen Felsen wegkommen! Nach dem, was sie hinter sich hatte, würde der Weg zum Strand ein Sonntagsspaziergang werden. Bevor sie dieses Gefängnis hier nicht verlassen hatte, würde sie sich nicht in Sicherheit fühlen.

Er hockte sich vor sie hin, so nah, dass sie seine Körperwärme spürte. Sein Rücken verdeckte das Licht der Taschenlampe, deshalb konnte sie sein Gesicht nicht genau erkennen, aber sie fühlte seinen Atem auf ihren Wangen, und sein Duft stieg ihr in die Nase.

Irgendwo tief in ihrem Innern rührte sich etwas.

„Sie sind verletzt, Miss Winters“, sagte er geduldig. Nun, fast geduldig. „Sie haben alles getan, was Ihnen in Ihrer Lage möglich war. Lassen Sie uns den Rest übernehmen.“

Es machte durchaus Sinn. Selbst für jemanden, der so verzweifelt von hier wegkommen wollte wie sie. Also nickte sie stumm.

„Gut.“ Er griff nach der Decke und wickelte sie ihr um die Schultern, als Schutz gegen die wirbelnden Sandkörner. Belle zuckte zusammen, als sie den Stoff an den aufgerissenen Hautstellen fühlte.

„Ich lasse Ihnen eine Taschenlampe hier.“ An der Tür drehte er sich um. „Ich komme gleich zurück.“

Damit verschwanden die beiden Männer mit Duncan auf der Trage in die tosende Dunkelheit.

Allein in der Hütte, hatte Belle Zeit sich zu fragen, wer die beiden sein mochten. Oder besser, wer er war. Der Mann, dessen Stimme einer Liebkosung gleichkam. Wäre da nicht dieser Hauch eines Akzents, könnte man ihn für einen Engländer halten. Einen Engländer aus gutem Hause. Doch seinem Äußeren nach zu urteilen war er eindeutig Araber.

Nicht, dass man Q’aroum als typisch arabischen Staat bezeichnen konnte. Stolz auf die Unabhängigkeit bedacht, war der Inselstaat im Arabischen Meer seit Jahrhunderten Freibeutern und Abenteurern aus dem Mittleren Osten, Afrika und anderen Staaten Heimat gewesen.

Seine stolze Haltung, sein energischer Gang ließen ihn wirken wie einen Mann, der sich von niemandem etwas befehlen ließ. Er erinnerte sie an die Prinzen aus längst vergangenen Zeiten. Oder an einen wilden Korsaren.

Es wurde dringend Zeit, ihrer Fantasie Einhalt zu gebieten! Belle zog sich die Decke enger um die Schultern. Wenn sie doch nur das Heulen des Sturms ausblenden könnte! Aus Erfahrung wusste sie, dass das hier nicht nur ein simples Gewitter war, nein, es war der Vorbote für wirklich hundsmiserables Wetter. Und bevor das zuschlug, würde sie gern auf der Hauptinsel zurück sein.

Es dauerte einen Moment, bevor ihr klar wurde, dass ihr Pirat wieder zurück war. Seine Schritte hatte der Sturm verschluckt. Er blieb in der Tür stehen, seine Miene regungslos, aber Belle spürte, dass etwas nicht stimmte.

„Was ist denn?“ Die Angst war zurück, schnürte ihr die Kehle zu, ließ ihren Mund trocken werden. Die Taschenlampe leuchtete auf sein Gesicht, doch dieses Mal wirkte der Anblick nicht beruhigend auf Belle.

Er kam in die Hütte hinein, kreuzte die Beine und ließ sich in einer fließenden Bewegung vor Belle auf dem Boden nieder. „Es gibt da eine kleine Komplikation bei unserem Plan.“

Belle schluckte. Sie wollte nichts von Komplikationen hören. Aber sie blickte in seine Augen und versuchte sich von seiner Kraft beruhigen zu lassen. Sie war nicht mehr allein. Alles andere würde sie jetzt auch schaffen. „Welche?“, fragte sie nach.

„Dawud und ich sind mit einem Schlauchboot hergekommen“, ließ er sie wissen. „Es ist ein kleines Boot.“

Sie nickte ungeduldig. Sie wusste, wie Schlauchboote aussahen.

„Ich meine, wirklich klein. Zu klein für vier Leute, vor allem, da Mr. MacDonalds Trage der Länge nach darauf festgeschnallt ist.“

„Ich verstehe.“ Die Enttäuschung kam mit solcher Wucht, dass sie am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre. Absolut albern. Sie brauchten nichts anderes zu tun, als auf Dawuds Rückkehr zu warten. Geduld, Belle. Nur noch ein bisschen länger. „Dann werden wir eben warten, bis Dawud zurückkommt.“

Er zögerte, bevor er den Kopf schüttelte. „Ich fürchte, ganz so einfach ist das nicht.“

Das mulmige Gefühl durchfuhr sie von Kopf bis Fuß. Unwillkürlich sank sie tiefer in den Schutz der Decke zurück.

„Ein Sturm kommt auf uns zu.“ Seine Stimme klang ungerührt und sachlich. „Ein Zyklon.“

Belle ballte die Hände zu Fäusten, bis die Fingerknöchel weiß hervortraten, und zwang sich, nicht zu zittern.

„Dawud ist unterwegs. Er müsste den Hafen erreichen, bevor es zu gefährlich wird. Aber es wäre Selbstmord für jeden, der versuchen sollte, heute Nacht noch zurückzukommen.“ Der Korsar musterte sie, als suche er nach Anzeichen der Schwäche. „Wir sitzen hier fest, bis der Wirbelsturm vorübergezogen ist. Das kann vierundzwanzig Stunden dauern.“

Vierundzwanzig Stunden. Eine Ewigkeit. Und sollte der Zyklon dieses Inselchen heimsuchen, reichlich Zeit zum Sterben.

Die Enttäuschung verursachte Belle Übelkeit. Und sie hatte geglaubt, sie sei gerettet. Aber zumindest war Duncan nun in Sicherheit.

Sie starrte den Mann vor sich an. Sein Blick war undurchdringlich, und seine Miene verriet absolut nichts, auch wenn Angst oder Verzweiflung in einer solchen Situation nur verständlich gewesen wären. Jene Angst, die sie selbst verspürte und die ihre Glieder erstarren ließ.

Doch etwas an seiner Haltung, wie er die breiten Schultern reckte und die Hände auf seine Knie stützte, sagte ihr, dass dieser Mann auf alles vorbereitet war. Auch auf eine hysterische Frau.

Mühsam nahm sie sich zusammen und verdrängte die Angst. Als Kind hatte sie tropische Wirbelstürme am Great Barrier Reef miterlebt, sie wusste, welchen verheerenden Schaden sie anrichten konnten. Unwillkürlich sah sie zu dem klappernden Hüttendach auf. „Wie können wir uns darauf einstellen?“

Der Pirat deutete auf die Decke, die noch immer schützend um ihre Schultern lag. „Wenn Sie erlauben …“ Als sie nickte, schlug er sie etwas zurück und hielt die Taschenlampe auf ihre bloßen Füße gerichtet. Sie waren voller Sand und blutverkrustet. Um die Gelenke zog sich ein roter Ring, dort, wo die Fesseln die Haut abgeschabt hatten. Belle unterdrückte den lächerlichen Drang, ihre Füße zurückzuziehen.

Im dämmrigen Schein der Lampe betrachtete sie sein Gesicht, während er ihre Verletzungen untersuchte. Sein Kinn war hart vorgeschoben, seine Wangenmuskeln arbeiteten. Die Luft zwischen ihnen schien wie elektrisch aufgeladen. Etwas strahlte in großes Wellen von ihm aus.

Ärger? Weil er sich in dem herannahenden Sturm auch noch um sie kümmern musste? Sie zog sich noch tiefer in die schützende Decke zurück. Ihr Instinkt warnte sie, bei diesem Mann Vorsicht walten zu lassen. Was verrückt war. Ein Fremder riskierte sein Leben, um sie zu retten. Sie musste ihm vertrauen. Was sollte sie schon von ihm zu befürchten haben?

„Sollten Sie nicht besser erst meine Hände von den Fesseln befreien?“ Dann konnte sie mithelfen, die Hütte zu sichern, und wäre auch weniger abhängig von ihm. Sie würde sich sehr viel wohler fühlen, wenn sie sich selbst helfen konnte.

„Es ist wichtiger, dass Sie die Beine frei bewegen können.“

„Wieso?“ Wohin sollten sie schon gehen? Dieses Inselchen bot nicht gerade viele Ausweichmöglichkeiten. Und sollte der Sturm das Wasser an Land treiben … sie lagen hier vielleicht zwei Meter über dem Meeresspiegel. Einer Flutwelle hatte diese Insel nichts entgegenzusetzen.

Die Erkenntnis traf sie mit Wucht. Er musste gespürt haben, wie sie sich plötzlich verspannte. Er sah auf, im Dunkeln glühten seine Augen.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“

Oh ja, natürlich, ihr ging es ganz prächtig! Besorgt sah sie auf ihre Füße. Jetzt verstand sie auch, was er vorhatte. „Ohne Fußfesseln kann ich wenigstens Wasser treten, wenn wir weggespült werden.“

Durchdringend sah er sie an. „Ich werde auf Sie aufpassen. Das verspreche ich.“

Belle zweifelte nicht daran, dass er es ernst meinte. Doch würde das ausreichen, damit sie beide überlebten?

„Haben Sie mehr Vertrauen, Miss Winters“, fuhr er fort. „Ich werde uns beide hier herausholen. Laut Vorhersage soll der Sturm weiter nach Westen abziehen. Hier wird es mit Sicherheit unangenehm werden, aber wir werden überleben. Und jetzt halten Sie still, damit ich mir das Schloss ansehen kann.“

Er breitete eine kleine Werkzeugmappe neben sich aus und fasste nach ihrer Ferse. Belle stockte der Atem, als ein Stromstoß sie bei der Berührung durchzuckte. Das hier war völlig unpersönlich, dennoch reagierten ihre Sinne. Kleine Wellen liefen ihre Beine empor. Ihr logischer Verstand mahnte sie streng, dass kein Mann, ganz gleich, wie sexy er auch sein mochte, Elektrizität mit bloßen Händen entstehen lassen konnte.

Seufzend schloss sie die Augen, um das Bild seines dunklen Schopfes über ihren Beinen auszublenden. Der Wind heulte immer stärker, wirbelte Sand durch die Türöffnung und kündete von der bevorstehenden Naturkatastrophe. Dennoch fühlte Belle sich wie in einer Traumwelt, seltsam unbeteiligt in dieser verfallenen Hütte, beschützt von diesem außergewöhnlichen Mann.

Außergewöhnlich? Sie wusste doch nur, dass er außergewöhnlich gut aussah, mehr nicht. Und dass ihn eine Aura von Macht umgab. Er würde nicht nur mit allem fertig werden, er würde triumphieren, ganz gleich, was er anging.

Ein Ruck holte sie aus diesen absurden Fantasiegespinsten. Als sie die Augen aufriss, sah sie Blut auf seinem Handgelenk. Beim Versuch, das Schloss zu öffnen, musste er wohl abgerutscht sein und sich geschnitten haben.

„Sind Sie in Ordnung?“

Er hob den Kopf. Sie hätte schwören mögen, ein Lachen in seinen Augen zu erkennen, weil sie, entführt und gefesselt, sich Sorgen um ihn machte. „Ich werde überleben.“

Er zog an der Fessel, die Kette fiel rasselnd ab. Jetzt lächelte er tatsächlich, ein Lächeln, das sein Gesicht weniger ernst erscheinen ließ. Leicht verdattert riss Belle die Augen auf. Hatte sie ihn vorher für ausgesprochen männlich und sexy gehalten, sah er jetzt einfach umwerfend aus.

Im echten Leben gab es keine so gut aussehenden Piraten!

„Ihre Geduld ist belohnt worden“, meinte er und schob das Metall beiseite. „Und gerade noch rechtzeitig.“

Der Regen hatte eingesetzt, riesige Wassermassen fielen vom Himmel, wehten zur Tür herein und liefen durch die Ritzen des Dachs. Unter der Decke, die rasant nass wurde, begann Belle zu zittern. Bald würde der Wind so laut werden, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand.

„Meine Hände …“

Er schüttelte den Kopf und hielt sein Werkzeug hoch. Es war abgebrochen, steckte in rostigem Metall fest. Verzweiflung übermannte Belle. Würde dieser Albtraum denn nie enden?

„Uns bleibt keine Zeit.“ Mit der Lampe leuchtete er auf das Hüttendach. Das Holz rüttelte und klapperte, die Wände schwankten. Mit einem gemurmelten Fluch richtete er sich auf und zog Belle auf die Füße. „Heben Sie die Hände über den Kopf“, sagte er, legte sich ihre Arme um den Nacken und zog sie an sich. Belle fühlte sich an eine solide Wand aus Muskeln gezogen und hochgehoben.

Trotz des wütenden Sturms konnte sie fast glauben, ihr würde nichts passieren, solange sie bei ihm war.

„In der Hütte ist es nicht sicher“, schrie er gegen das Heulen an. „Halten Sie sich fest!“

Und damit schritt er durch die Öffnung hinaus in den tosenden Sturm.

2. KAPITEL

Die Böen wehten sie fast um. Wie es ihm gelang, gegen den Wind anzukämpfen, wusste Belle nicht. Nur, dass seine Arme wie ein eiserner Ring um sie lagen, als würde er sie nie wieder loslassen.

Sie barg das Gesicht in seiner Halsmulde, um ihre Augen vor dem fliegenden Sand zu schützen. Seine Haut war schweißfeucht und besaß ihren ganz eigenen Duft. Sein Herzschlag, kräftig und regelmäßig, dämpfte die Angst, die sich ihrer bemächtigen wollte.

In einer Sandkuhle legte er Belle ab, um sie dann mit seinem eigenen Körper zu schützen. Er war so viel größer als sie, war eine Barriere gegen den schrecklichen Sturm, der durch die Nacht tobte. Das Atmen fiel ihr schwer, mit seinem Gewicht auf sich. Sand verfing sich in ihren Nasenlöchern, sie musste durch den Mund atmen. Eigentlich war es mehr ein Nach-Luft-Schnappen.

Sie musste sich irgendwie befreien, anders hinlegen. Als sie jedoch die Arme von seinem Nacken lösen wollte, hielt er ihre Hände fest.

„Nicht“, sagte er an ihrem Ohr. „Sonst werden wir getrennt.“

Das Heulen war gespenstisch. Plötzlich hörte Belle einen dumpfen Laut, etwas schlug neben ihr auf. Der Mann auf ihr zuckte erst zusammen, dann erschlaffte er, wurde noch schwerer und drückte sie tiefer in den Sand. Nach einem langen Augenblick schien er sich wieder gefasst zu haben. Er hob den Oberkörper an, sodass sie wieder Luft holen konnte.

„Sind Sie in Ordnung?“, brüllte sie an seinem Ohr.

„Ja. Halten Sie durch, Miss Winters.“

Diese Förmlichkeit war angesichts der Umstände absolut lächerlich. Dieser Fremde war alles, was zwischen ihr und dem möglichen Tod stand. Er war in ihrem schwächsten Moment zu ihr gekommen, als sie verletzt, verzweifelt und hilflos gewesen war. Er hatte seine Kraft mit ihr geteilt und ihr Hoffnung gegeben, als sie ihre verloren hatte.

Und jetzt lag sie unter ihm, mit nichts bekleidet als einem Badeanzug, eng an ihn geschmiegt wie eine Geliebte. Während sein massiver Körper sie vor dem entsetzlichen Wind schützte, konnte sie jeden seiner Muskeln auf ihrer Haut spüren.

Sie kannte nicht einmal seinen Namen.

Belle öffnete den Mund, wollte ihn nach seinem Namen fragen, schloss die Lippen wieder. In diesem Tumult würde er sie nicht hören.

Also tat sie das Einzige, was sie für den Mann tun konnte, der ihr das Leben rettete – sie legte die Hände auf seinen Kopf und spreizte die Finger. So konnte sie ihn vielleicht wenigstens vor herumfliegenden Teilen schützen. Dann drehte sie ihr Gesicht und fand Trost in der Wärme seines Atems.

Rafiq konnte genau den Moment bestimmen, als sie sich dem Unabänderlichen ergab. Sie lag jetzt völlig still unter ihm. Ihr hämmernder Pulsschlag beruhigte sich etwas, und ihre Starre lockerte sich. Nur die Finger hielt sie weiter angespannt auf seinem Kopf ausgebreitet, um ihn zu schützen.

Seine Lippen begannen zu zucken, als er die Absurdität der Situation überdachte.

Miss Isabelle Margaret Winters aus Cairns, Australien, fünfundzwanzig Jahre alt, war eine bemerkenswerte Frau. Eine Kämpfernatur, entschlossen, alles aus sich herauszuholen und niemals aufzugeben, ganz gleich, wie die Chancen standen.

Sie hatte sogar Dawud mit seinem eigenen Messer angegriffen!

Bei dem Gedanken lächelte er leicht. Sollten sie das hier überleben, würde er diese Episode mit Freuden ausnutzen.

Dawud war ein alter, treu ergebener Freund, nur manchmal vergaß er, dass er nicht die Entscheidungen für Rafiq treffen konnte. Er hatte sich sogar mit ihm streiten müssen, weil Dawud bei Miss Winters hatte zurückbleiben wollen. Dabei müsste Dawud es besser wissen. Rafiq war verantwortlich für sie. Er kannte seine Pflichten. Früh hatte er gelernt, Verantwortung zu tragen und sich jeder Herausforderung zu stellen.

Er bewegte sich leicht, um den Schmerz in seiner Schulter zu lindern, an der ihn irgendetwas getroffen hatte. Die Bewegung machte ihm nur ihren weichen Körper unter sich bewusst. Da sie die Arme um seinen Nacken gelegt hatte, pressten sich ihre Brüste in seine Haut, ihre Hüfte an seinem Unterleib gaukelte ihm erotische Freuden im Schlafgemach vor, ihre Lippen an seinem Hals ließen ihn sich fragen, wie es sein mochte, diesen Mund zu küssen. Trotz des Sandes in der Nase konnte er ihren schwachen Duft wahrnehmen, malte sich aus, wie ihre Haut auf seiner Zunge schmecken würde.

Mit all seinen Sinnen war er sich ihrer bewusst. Und er spürte ihre Verwirrung und ihre Angst.

Nur mit Mühe zwang er sich, seine Gedanken wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren, verärgert über die eigene Schwäche. Sich von einer schönen Frau ablenken zu lassen, in dieser Extremsituation! Das war jenseits aller Vernunft!

Ob umherfliegende Teile das Schlimmste waren, was sie aushalten mussten? Oder würde das Atoll fortgeschwemmt werden? Das lag in der Hand des Schicksals.

Er musste an seinen Großvater denken. Der alte Mann hatte fest an die Macht des Schicksals geglaubt. Selbst als er seinen Sohn, Rafiqs Vater, verloren hatte, blieb er der unverbrüchlichen Überzeugung, dass es so vorbestimmt war.

Würde der alte Mann noch leben, dann wäre es seiner Meinung nach kein Zufall, dass Rafiq hier gemeinsam mit Isabelle Winters dem Sturm trotzte.

Miss Winters wäre schließlich gar nicht hier ohne Rafiq. Er persönlich hatte jedes Mitglied der Forschungsmannschaft überprüft und seine Erlaubnis für das Projekt gegeben. Ohne seine Zustimmung wäre Miss Winters gar nicht in seinem Land.

Schuld nagte an ihm. Unabsichtlich war sie zu einer Figur im Schachspiel der Politik geworden.

Wegen des Sturms würde Dawud nicht rechtzeitig auf der Hauptinsel ankommen, bevor das Ultimatum für die Lösegeldforderung ablief. Eine Nachricht konnte Dawud auch nicht senden. Das Funkgerät auf dem Schlauchboot war außer Betrieb. Folge des Sturms oder Sabotage? Und ohne die Nachricht, dass die Geiseln gefunden worden waren, würde niemand es wagen, sich Rafiqs ursprünglicher Anordnung zu widersetzen. Das Lösegeld würde gezahlt werden.

Sosehr es ihm auch widerstrebt hatte, sich erpressen zu lassen … Er wusste, wer hinter der Entführung steckte, und er wusste, dass eine Nichterfüllung der Forderung das Todesurteil für Miss Winters und ihren Kollegen bedeutete.

Ein solches Risiko hätte er niemals eingehen können.

Zwar war er zuversichtlich gewesen, den Anführer irgendwann seiner gerechten Strafe zuzuführen. Aber vorher hatte Rafiq auf Zeit spielen müssen. Q’aroum brauchte den Wirbel nicht, den die Entführung und Ermordung zweier ausländischer Wissenschaftler in der internationalen Presse aufrühren würde. Das Land war bekannt für seine Stabilität und Sicherheit, was internationale Investoren und Geschäftsleute anzog. Dieser Ruf durfte keinen Schaden leiden.

Und deshalb wurde auf sein Geheiß das unerhörte Lösegeld wahrscheinlich in diesem Moment übergeben. Es würde sich nicht geheim halten lassen. In Q’aroum verbreiteten sich solche Neuigkeiten mit der Geschwindigkeit des Wüstenwindes.

Schon am Morgen würde die ganze Nation wissen, dass das „Pfauenauge“, eines der bekanntesten Schmuckstücke der Welt und seit Generationen verehrter Nationalschatz von Q’aroum, für das Leben der Frau in seinen Armen gezahlt worden war.

Belle erwachte vom Donnern der Wellen.

Also war sie noch nicht tot. Gestern Nacht hatte sie gedacht, sie würde den nächsten Morgen nicht mehr erleben. Wenn er nicht gewesen wäre …

Wer war er? Und wo war er?

Vorsichtig öffnete sie die sandverklebten Lider. Sonnenlicht blendete sie, jagte einen Stich durch ihren Schädel und setzte ein schmerzhaftes Pochen hinter ihren Schläfen in Gang. Ihre Beine taten ebenfalls weh, und vorsichtig bewegte sie ihre Finger. Ein unangenehmes Kribbeln, scharf wie Nadelstiche, durchfuhr ihre Arme. Sie hatte die ganze Nacht die Arme um seinen Nacken umklammert gehalten, Schultern und Muskeln waren völlig steif.

Mit zusammengebissenen Zähnen nahm sie die Arme herunter, rollte sich zur Seite und rappelte sich auf die Knie. Ihr starrer Körper wollte die Bewegung kaum zulassen. Sie stützte sich auf die Hände, blinzelte, als sie die Eisenfesseln an ihren Handgelenken sah.

Der brutale Kerl, der sie ihr angelegt hatte, war ihr gut in Erinnerung – sein sadistisches Grinsen, als das Gewicht sie heruntergezogen hatte. Es lag bestimmt nicht an Geldmangel, dass man keine modernen Handschellen benutzte. Diese Kerle waren mit den modernsten Handfeuerwaffen ausgestattet. Nein, man hatte die rostigen Fesseln bewusst gewählt, um sie zu quälen.

Aber die Kerle hatten nicht gewonnen.

Belle zwang sich aufzustehen. Jeder einzelne Muskel in ihrem Körper schrie gepeinigt auf. Sie schwankte, riss sich zusammen und fand ihr Gleichgewicht. Der Sturm war abgeflaut, durch die gebrochene Wolkendecke fielen einzelne Sonnenstrahlen.

Das Meer war aufgewühlt, hohe Wellen brachen sich am Strand. Sand war während der Nacht fortgespült worden, die Form der Insel hatte sich verändert. Und da hinten … waren das die Überreste der Hütte? Sie war völlig zusammengefallen, wer immer sich im Innern aufgehalten hätte, wäre von den Trümmern erschlagen worden.

Gehetzt schaute sie sich um, suchte mit den Augen nach einer menschlichen Gestalt in den Trümmern. Bei dem Gedanken, ihr Retter könnte verletzt worden sein, wurde ihr übel.

Hektisch drehte sie sich um. Da, da war er!

Ihre Beine gaben nach, lautlos ließ sie sich auf den warmen Sand fallen und starrte ihn an.

Wie eine bronzefarbene Gottheit entstieg er dem Wasser. Nackt. Elementar männlich. Faszinierend verführerisch.

Sein Anblick sprach etwas ursprünglich Weibliches in ihr an. Belles Puls beschleunigte sich. Sie schnappte kurz nach Luft und war dankbar, dass er mit dem Rücken zu ihr stand, sodass er den Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht sehen konnte.

Sie hatte ihn im Licht der Taschenlampe gesehen, sie hatte die Nacht unter dem Schutz seines Körpers verbracht, aber sie war alles andere als vorbereitet. Der Rumpf mit den breiten Schultern verjüngte sich zu schmalen Hüften, das nasse Haar floss ihm schwarz über den Rücken. Wassertropfen glitzerten wie Diamanten auf der straffen Haut.

Belle ballte die Hände zu Fäusten, als ihr Blick unaufhaltsam weiter nach unten glitt. Ein festes Hinterteil, muskulöse Oberschenkel. Jetzt streckte er die Arme aus und reckte sich. Beim Spiel der Rückenmuskulatur stockte Belle der Atem.

Himmel, er wähnte sich unbeobachtet, und sie saß hier und spielte den Voyeur! Hastig stand sie auf und wandte sich ab, als glühende Hitze sie durchfuhr. Eine Hitze, die sie fast erstickte. Das Verlangen, wieder von diesen starken Armen gehalten zu werden, war fast übermächtig. Dieser Mann war die Verkörperung einer Männlichkeit, die jede Frau faszinierte und zugleich ängstigte.

Ungeduldig schüttelte sie den Kopf, um ihre Gedanken zu klären. Das war ja absurd. Sie hatte gerade die schlimmste Erfahrung ihres Lebens durchgemacht und schreckliche Angst ausgestanden. Wie konnte sie da erotische Fantasien haben?

Sie wollte fliehen, brauchte Ruhe, um mit ihren konfusen Emotionen umgehen zu können. Doch hier gab es nichts, wohin sie hätte fliehen können. Sie war mit ihrem Korsar zusammen auf der Insel gefangen.

Rafiq streifte sich die Hose über die nassen Beine und sah zu Belle hinüber.

Sie starrte auf die See hinaus und schien nach irgendeinem Anzeichen zu suchen, dass die nahende Rettung ankündigte. Sie wirkte unendlich verloren und einsam, hielt sich nur durch die eiserne Selbstbeherrschung aufrecht, die ihm an ihr aufgefallen war.

Ihr Haar glich einer ungepflegten Mähne, das genaue Gegenteil der eleganten Frisur, die sie auf ihrem Passfoto trug. Um ihre Fußgelenke verliefen rote Ringmale, dort, wo die Fesseln sich in ihre Haut gefressen hatten. Eigentlich sollte ihr Anblick Mitleid erregen, und doch sah er nur die perfekte Linie ihrer Figur, während er auf sie zuging und sich im Laufen das Hemd überzog. Ihr Körper unter seinem hatte ihn während der Nacht fast in den Wahnsinn getrieben. Er hatte einer Versuchung widerstanden, die praktisch unwiderstehlich war.

„Miss Winters.“ Sie spannte sich an, aber sie drehte sich nicht zu ihm um. „Wie fühlen Sie sich heute Morgen?“

„Froh, noch am Leben zu sein.“ Sie drehte das Gesicht leicht ins Profil. „Und Sie?“

„Heil und unversehrt.“ Die Munterkeit, die er in seine Stimme legte, verspürte er keineswegs. „Wir sind noch einmal knapp davongekommen. Ihr Kollege wird sich sicher freuen, Sie wiederzusehen.“

Sie nickte stumm. Wider besseres Wissen erlaubte er es sich, ihre Figur in dem hellblauen Badenanzug zu studieren. Sein Mund wurde trocken, die Handflächen feucht.

Er wollte die Erinnerung an die letzte, schreckliche Nacht auslöschen. Auf die einfachste und gleichzeitig wirkungsvollste Art – mit körperlichen Freuden. Doch dann erkannte er plötzlich schuldbewusst, warum sie ihn nicht ansah. Sie musste vor Verlegenheit halb umkommen, in einem dünnen Badeanzug, vor einem Mann, den sie nicht kannte. Und nach dem Trauma, das sie durchgemacht hatte, musste sie sich umso verletzlicher fühlen.

Ein Knoten bildete sich in seinem Magen, als er sich vorstellte, was sie in den Händen der Entführer ausgestanden haben musste. Er wollte sie in seine Arme ziehen und trösten, doch er wusste, das wäre ein Fehler.

„Das Rettungsteam wird so früh wie möglich aufbrechen, um uns abzuholen“, sagte er nur.

Wieder nickte sie. Sie wirkte zerbrechlich wie dünnes Glas. Die kleinste Erschütterung, und sie würde zerbrechen. Ein Sonnenstrahl stieß durch die Wolken und fiel auf ihr goldenes Haar, betonte die Formen und Rundungen ihres Körpers. Er spürte ein Ziehen in seiner Leistengegend, leicht verärgert runzelte er die Stirn. Er kannte schönere Frauen. Hatte schönere Frauen besessen. Doch Isabelle Winters heizte sein Blut auf, wie er es noch nie erlebt hatte.

Lag es an ihrer inneren Stärke? An ihrem Mut? Oder an ihrer Haltung? Sie wirkte hoheitsvoll wie eine Königin, trotzdem sie halb nackt war und diese barbarischen Fesseln an den Händen trug.

Oder vielleicht lag der Grund darin, dass sie die einzige Frau war, mit der er die ganze Nacht verbracht und die er nicht geliebt hatte.

Plötzlich schwankte sie, und Rafiq packte sie instinktiv beim Arm, um sie zu stützen, sah die zitternden Knie, die zusammengepressten Lippen. Die Belastung und der Schmerz verlangten schließlich doch ihren Tribut.

Behutsam, ohne darauf zu achten, dass seine Haut, dort wo er sie berührte, wie Feuer brannte, half er ihr, sich zu setzen. Ihre Pupillen waren geweitet, der Schock hatte eingesetzt.

„Sie brauchen Wärme.“ Er knöpfte sich das Hemd auf.

Sie zitterte jetzt wie Espenlaub, die Hände zu Fäusten geballt. Ihre Brustwarzen zogen sich zusammen und drückten gegen den dünnen Stoff des Einteilers, und Rafiq biss die Zähne zusammen, als er erneut ein bekanntes Ziehen in der Lendengegend verspürte.

„Mir ist aber nicht kalt“, protestierte sie. „Wir sind doch in den Tropen!“

„Trotzdem.“ Er schüttelte sich das Hemd von den Schultern und wickelte sie darin ein. Sie duftete verführerisch weiblich. Ihre Verletzlichkeit zerrte an seinen Sinnen, und er trat von ihr zurück.

„Sie sind verletzt!“ Jetzt sah sie die Wunde auf seiner Schulter, wo ihn gestern etwas getroffen hatte. Sie hob den Arm und deutete auf die Stelle.

Rafiq schnappte unhörbar nach Luft. Sie sah aus wie eine gefügige Liebesdienerin, die zu seinen Füßen kniete. Das viel zu große Hemd ließ sie unglaublich feminin wirken.

In diesem kurzen Augenblick, als er auf sie hinunterblickte, fühlte er einen heißen, primitiven Drang in sich, sie zu besitzen. Er wollte sie erobern, sie für sich allein haben, wann immer ihn danach gelüstete. Generationen von al Akhtar-Blut floss in seinen Adern, Generationen von Kriegern, Anführern, Piraten. Seine Vorfahren waren berüchtigt gewesen für ihre hitzige Leidenschaft und ihre Entschlossenheit, wenn es um etwas ging, das sie haben wollten.

Wer sollte sich gegen ein solches Erbe wehren können?

Schon jetzt konnte er den Geschmack ihrer Haut auf seiner Zunge spüren, berauschend wie eine Droge. Er dachte an das Gefühl, wie sie unter ihm gelegen hatte, weich und gleichzeitig voller Kraft, und er wusste, sie passte perfekt zu ihm.

Er brauchte nur die Hände auszustrecken und sich nehmen, was er wollte.

Und dann holte ihn die Realität ein, als er ihre riesengroßen Augen bemerkte. Er schüttelte den Kopf, um den Nebel zu verscheuchen, der seinen Verstand eingehüllt hatte.

„Es ist nichts“, antwortete er heiser.

Sie ließ die Hand sinken, wandte den Blick ab.

Er war ein Wilder, der schlimmste, den man sich vorstellen konnte. Mitgefühl, die Regeln der Zivilisation, sein Verantwortungsgefühl – all das sagte ihm, dass sie nicht für ihn bestimmt war. Sagte ihm, dass er dieses drängende Verlangen für sie nicht fühlen dürfte.

Und doch war es so. Als er ihr zum ersten Mal in die Augen gesehen hatte, waren Flammen in ihm aufgelodert. Und diese Flammen verbrannten ihn jetzt.

Dabei war es seine Pflicht, sie zu beschützen.

„Lassen Sie mich Ihre Verletzungen ansehen.“ Seine Stimme klang samten, streichelte leicht wie eine weiche Feder auf bloßer Haut.

Sie sah zu ihm hin, nahm zum ersten Mal bewusst seine Augen wahr. Sie waren nicht schwarz, wie vermutet, sondern von einem tiefen, klaren Grün. So grün wie die Wasser, in denen sie während der ganzen letzten Woche hinabgetaucht war. Sie starrte ihn an, verzaubert durch das Aufblitzen von Verlangen, das sie in diesen kühlen Augen erkennen konnte.

Doch seine Miene blieb hart, fast ablehnend. Hatte er ihre geheimen Gedanken erraten? Hatte er erkannt, welch köstlicher Schauer sie durchlief, während er dort vor ihr stand? Oder ihre Erregung, als er sich das Hemd auszog?

Es kostete sie Anstrengung, den Blick auf sein Gesicht gerichtet zu halten. Mit seinem Aussehen und seiner Ausstrahlung lagen ihm wahrscheinlich sämtliche Frauen zu Füßen. Und jetzt hoffte er, dass diese Karikatur von einer Frau, die er gerettet hatte, nicht den gleichen Weg beschritt. Wenn sie Glück hatte, würde er es als posttraumatischen Stress abtun. Sie hatte jedenfalls fest vor, es als solches zu betrachten!

Geschmeidig setzte er sich vor sie hin. „Zeigen Sie mir Ihre Handgelenke, Miss Winters.“

Belle schnappte leise nach Luft, als er nach ihren Händen griff und seine Aufmerksamkeit gänzlich auf ihre geschundene Haut richtete. Die Berührung dieser langen starken Finger war ihr bereits vertraut, was jedoch nicht verhinderte, dass sie praktisch dahinschmolz.

„Ich heiße Belle“, brachte sie schließlich hervor.

„Belle.“ Er ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen und hob den Blick. „Dann müssen Sie mich Rafiq nennen.“

Sie nickte. Sie hätte wissen müssen, dass selbst sein Name sexy war.

„Ihre Handgelenke sehen schlimm aus, aber mit der richtigen Behandlung wird das wieder heilen.“ Er ließ ihre Hände los und widmete sich ihren Füßen, hob einen sanft an, inspizierte die Wunden. „Den Umständen entsprechend“, lautete sein Urteil. „Mit etwas Glück bleiben keine Narben zurück.“

Sie konnte nur stumm nicken, erleichtert, dass er sie nicht mehr berührte. Allein sein warmer Atem an ihrer Haut stürzte all ihre Sinne in einen Tumult. Und wahrscheinlich konnte er das Verlangen in ihren Augen erkennen.

„Haben Sie noch andere Verletzungen davongetragen?“ Mit zusammengepressten Lippen sah er auf den großen Bluterguss an ihrem Schenkel, unverkennbar der Abdruck einer brutalen Hand.

Belle schaute auf den leeren Ozean hinaus, und in diesem Moment durchlebte sie die schrecklichen Szenen erneut. Große, plumpe Kerle, die nach Schweiß rochen und ihr unmissverständlich zu verstehen gaben, wie sehr sie es genießen würden, Duncan zu verstümmeln und sie zu quälen. Sie schloss die Augen, als sie in diesen Albtraum zurückgezogen wurde und Panik sie anfiel. Sie blinzelte, verdrängte die Erinnerung.

„Da sind noch ein paar blaue Flecke an meiner Hüfte.“ Vorsichtig legte sie die Finger an die Stelle und zuckte zusammen. „Doch die werden mit der Zeit vergehen.“

Ihr Retter stieß einen hitzigen Fluch in Arabisch aus. Verwirrt sah Belle ihn an. Seine Miene war so wild, so ungestüm, dass er plötzlich wie ein Fremder auf sie wirkte. Ein bedrohlicher, todbringender Fremder.

Doch dann beherrschte er seine Emotionen, seine Züge glätteten sich, und als er sie ansah, stand wieder die kühl-kontrollierte Maske auf seinem Gesicht. „Verzeihen Sie mir, Miss Winters – Belle.“ Er deutete auf den blauen Fleck auf ihrem Bein. „Es ist unvertretbar, dass meine Landsleute Ihnen so etwas angetan haben. Eine Entschuldigung reicht für ein solches Verbrechen nicht aus. Dennoch möchte ich für diesen Vorfall um Vergebung bitten.“

Verständnislos schüttelte sie den Kopf. „Es ist doch nicht Ihre Schuld. Sie haben Ihr Leben riskiert, um uns zu retten.“

Mit einer unwirschen Geste wischte er ihren Einwand beiseite. „Es macht mich krank, wenn ich mir vorstelle, was Sie durch diese Männer erlitten haben. Sobald Sie auf der Hauptinsel zurück sind, werden Sie die beste medizinische Pflege erhalten, eine Therapie … was immer nötig ist. Und Ihre Entführer werden zur Rechenschaft gezogen werden. Sie können ihrer Strafe nicht entgehen.“ Das wilde Glitzern in seinen Augen jagte ihr einen Schauer über den Rücken. „Wir haben sehr kompetente Ärztinnen, die sich um Sie kümmern und mit Ihnen über Ihre … Erfahrung reden können.“

Er wandte den Blick von ihr, so als wolle er ihr ihre Privatsphäre lassen, und mit einem Mal erkannte Belle den Grund, weshalb er so wütend über ihre Verletzungen war. Verlegenheit und der Wunsch, ihn zu beruhigen, vermischten sich.

„Rafiq.“ Sie legte ihre Hand auf seine Finger, bevor sie es sich anders überlegen konnte. „Sie haben mich nicht …“ Sie zögerte. „Sie haben mich nur herumgestoßen, damit ich ihre Anweisungen befolge. Sie haben mich nicht …“

„Vergewaltigt?“ Seine Stimme war nur ein heiseres Murmeln.

„Nein.“ Mit ihr war alles in Ordnung. Sie hatte überlebt, die Verletzungen waren wirklich nicht so schlimm. Aber warum sah sie dann ständig die lüsternen Augen der Entführer vor sich? Warum saß ihr ein Kloß in der Kehle?

„Habibti.“ Rafiq strich ihr über die Wange und öffnete damit die Pforte, hinter der sie ihre Emotionen verschlossen hielt, noch ein Stückchen mehr. „Sie haben so viel durchgemacht. Sie müssen nicht auch noch gegen sich selbst kämpfen. Sie brauchen nicht verlegen zu sein, es ist nur verständlich, dass Sie aufgewühlt sind.“

Seine tiefe Stimme klang so warm, so beruhigend, und Belles Selbstbeherrschung bröckelte mehr und mehr. Als sich der erste Schluchzer ihrer Kehle entrang, hob er sie auf seine Arme und hielt sie an sich gedrückt wie ein kleines Kind. Die Lippen an ihrem Haar, flüsterte er beruhigende Worte auf sie ein und wiegte sie sanft. Die Wärme seines Körpers verjagte die Kälte aus ihrem Innern, sein Duft, vermischt mit der Meeresluft, ließ den bitteren Geschmack aus ihrem Mund schwinden, sein kräftiger regelmäßiger Herzschlag klang an ihrem Ohr und beruhigte sie. Und endlich, endlich legte sich der Sturm der Gefühle in ihr.

In seinen Armen meinte Belle zu schweben. Die Tränen waren versiegt, und noch immer hielt er sie, murmelte Worte an ihrem Haar.

Sie wünschte, er würde sie nie wieder loslassen.

Und dann hörte sie ein sich näherndes rotierendes Geräusch in der Ferne. Ein Hubschrauber. Er kam, um sie abzuholen. Seltsam, aber hier, in Rafiqs Armen, fühlte sie nicht einmal Erleichterung darüber.

Der Helikopter landete, die Rotoren wirbelten Sand auf, der Belle in die Haut stach. Sie wollte sich umsehen, doch mit einer Hand presste Rafiq ihren Kopf zurück an seine Brust.

„Schh. Es besteht kein Grund, sich zu bewegen.“

Nur zu willig blieb sie ruhig. Er richtete sich gerader auf, hielt sie noch immer fest. Mit verweinten Augen beobachtete Belle die Gruppe Männer, die auf sie zukam. Zwei davon kannte sie – Dawud, der jetzt mit den grauen Bartstoppeln und den schwarzen Augen noch mehr wie ein Bandit aussah, und ein junger Mann, in dem sie den britischen Konsul wiedererkannte. Sie hatte ihn bei ihrer Einreise getroffen, da Australien keine diplomatische Vertretung in Q’aroum besaß. Duncan jedoch war Brite, und seine Regierung unterstützte das Forschungsprojekt, sehr darauf bedacht, die Beziehungen zu dem Land mit den reichen Ölvorkommen zu festigen.

Dawud redete jetzt eindringlich auf ihren Retter ein, sie spürte, wie Rafiq sich verspannte. Er sagte etwas, das wie eine Anweisung klang, dann schwiegen beide, und David Gilliam, der britische Konsul trat vor.

„Hoheit, darf ich das Wort ergreifen?“

Hoheit? Belles erstaunter Laut wurde an Rafiqs Brust erstickt.

David Gilliam sah sie mit ernstem Gesicht an. „Miss Winters, erinnern Sie sich an mich?“

Sie nickte und versuchte sich in Rafiqs Armen aufzurichten. „Ja, natürlich, Mr. Gilliam. Freut mich, Sie wiederzusehen.“

„Ich freue mich erst recht, Sie heil und wohlbehalten zu sehen.“ Sein Blick glitt zu Rafiq. „Erlauben Sie mir, die Formalitäten zu übernehmen.“

Rafiq nickte knapp.

David Gilliam räusperte sich. „Miss Winters, ich möchte Ihnen Scheich Rafiq Kamil Ibn Makram al Akhtar vorstellen, herrschender Fürst von Q’aroum.“

3. KAPITEL

Rafiq nickte der vor Belles Krankenhauszimmer postierten Wache knapp zu.

„Hoheit.“ Ein Arzt kam auf ihn zugeeilt. „Miss Winters schläft. Vielleicht möchten Sie später wiederkommen …“

„Dann wird es bei einem kurzen Besuch bleiben.“ Rafiq ließ sich von dem Wachposten die Tür aufhalten.

Er konnte sich diesen seltsamen Drang, sie zu sehen, nicht erklären. Den ganzen Tag über hatte er seine Pflichten erledigt, war zu den Gebieten gefahren, die der Zyklon heimgesucht hatte, hatte sich mit dem Kabinett zusammengesetzt, um die Wiederaufbaumaßnahmen zu veranlassen. Hatte mit seinen politischen Beratern debattiert, welche möglichen Auswirkungen die Entführung von zwei Ausländern international haben könnte, und hatte den Sicherheitsbehörden den Auftrag erteilt, die Verantwortlichen für die Entführung dingfest zu machen. Pflichten für sein Land, eine dringender und notwendiger als die andere.

Und jetzt würde er etwas für sich selbst tun. Etwas, das er hatte tun wollen, seit er Isabelle Winters mit dem Helikopter zur Klinik gebracht und sie den fähigen Händen der Ärzte überlassen hatte. Er holte tief Luft und betrat das Krankenzimmer.

Jalousien wehrten die Nachmittagssonne ab, das Zimmer lag im Halbdunkel. Rafiqs Puls schlug härter, als er die schmale Gestalt in dem Bett liegen sah. Die Augen waren geschlossen, und er konnte keine Bewegung ausmachen, nicht einmal das Heben und Senken ihrer Brust beim Atmen.

Langsam ging er auf das Bett zu, als er die Stimme des Arztes hinter sich hörte: „Sie schläft seit Stunden, Hoheit. Wahrscheinlich wird sie vor morgen nicht aufwachen. Wir benachrichtigen Sie, sobald sie zu sich kommt.“

Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, hielt er den Blick ohne eine Regung auf Belle gerichtet. Ein regierender Scheich musste zu allen Zeiten gelassen und beherrscht wirken. Jetzt sah er auch die makellos weißen Laken sich heben und senken. Sie atmete, und der Druck auf seiner Brust milderte sich etwas.

Natürlich lebte sie! Hatte er seine Ärzte für Dilettanten gehalten? Erschöpfung, so hatte die Diagnose gelautet. Sonnenbrand und Dehydration. Nichts Lebensbedrohliches.

Sie hatte Glück gehabt.

Rafiq richtete den Blick auf die Verbände an ihren Handgelenken. Für die Flüssigkeitszufuhr war ihr ein Tropf angelegt worden. Sie wirkte erschreckend verletzlich. Kalte Rage erfasste ihn, als er an die Männer dachte, die ihr das angetan hatten.

Sie hatte wirklich Glück gehabt! Glück gehabt, dass ihre Entführer auf die Insel zurückgekehrt waren. Dass die Kerle beschlossen hatten, sie verdursten zu lassen, sie eines langsamen Todes sterben zu lassen, anstatt ihr mit einem Messer die Kehle aufzuschlitzen. Oder Schlimmeres.

Sie hatte Glück gehabt, weil der Anführer nicht persönlich dabei gewesen war. Selim al Murnah war berüchtigt für seine Grausamkeit. Er hätte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, seine abartigen Vorlieben an einer hübschen Frau wie dieser auszulassen. Wenn Rafiq sich Belle in Selims Gewalt vorstellte, erfasste ihn Übelkeit. Selim hätte sie zu Tode gefoltert.

Schon nach so kurzer Zeit schien ihm ihr Anblick so vertraut – das goldene Haar, die gerade Nase, die schönen, fein gemeißelten Züge. Ihre Lippen waren rissig, dennoch war die sinnliche Form ihres Mundes zu erkennen. Ein Mund, der einem Mann unendliche Freuden bereiten würde. Ein Mund, der ihn verfolgte, seit er sie zum ersten Mal im Licht der Taschenlampe gesehen hatte, halb nackt, geschunden und herzergreifend tapfer.

„Euer Hoheit?“

Die gemurmelte Anrede riss ihn aus seinen Gedanken. Er drehte sich um und sah das besorgte Gesicht des Arztes.

„Nun gut. Ich sehe, dass Sie alles für Miss Winters tun. Dafür gebührt Ihnen mein Dank. Miss Winters und Mr. MacDonald sind wichtige Gäste unseres Landes. Halten Sie mich über alle Fortschritte auf dem Laufenden.“

Anstatt bei Belle zu verbleiben, folgte er dem Arzt hinaus auf den Gang und widerstand auch dem Drang, sich noch einmal nach ihr umzudrehen.

Duncan MacDonalds Zimmer war identisch mit dem Raum, in dem Belle lag, nur dass hier das Fenster offen stand. Die Nachmittagssonne fiel herein und ließ Duncans rötliches Haar aufleuchten. Sein Bein hing vergipst in einer Schlaufe über dem Bett, der Oberkörper war straff verbunden. Er war verletzt worden, als er Belle Winters vor den Entführern hatte schützen wollen.

Ein tapferer Mann. Warum also widerstrebte es Rafiq, ihm gegenüberzutreten?

„Mr. MacDonald, es ist eine Freude zu sehen, dass es Ihnen schon so viel besser geht.“

„Euer Hoheit. Ich muss mich bei Ihnen bedanken. Wie mir gesagt wurde, haben Sie uns gerettet.“

„Sie brauchen mir doch nicht zu danken, Mr. MacDonald. Wir alle sind sehr froh, dass Sie und Miss Winters in Sicherheit sind.“

„Wie geht es Belle?“ Die Sorge in seiner Stimme war nicht zu überhören.

„Miss Winters schläft. Die Ärzte haben mir versichert, dass sie wieder ganz gesund wird.“

Duncan ließ sich in die Kissen zurückfallen. „Ich fühle mich verantwortlich für sie.“

Rafiq konnte das Gefühl nachempfinden. Allerdings fühlte er auch die Schuld auf seinen Schultern lasten, schließlich war er der ausschlaggebende Grund für diese Entführung. Dieses Bewusstsein quälte ihn.

„Im Namen aller Q’aroumis möchte ich Ihnen unser tiefstes Bedauern über diesen Vorfall aussprechen. Unsere Sicherheitskräfte durchkämmen in diesem Moment das ganze Land, um die Verbrecher zu fassen.“

„Sie werden vor Gericht gestellt?“

„Natürlich.“ Rafiq lächelte grimmig. „Die Zeiten der Lynchjustiz in Q’aroum sind vorbei. Sie werden als Zeuge bei der Verhandlung aussagen müssen.“

Duncan nickte. „Wenn Sie sie schnappen.“

„Ich kann Ihnen garantieren, dass diese Männer gestellt werden.“ Dafür würde er persönlich sorgen. Nach dem, was sie getan hatten, würden Selim und seine Anhänger gejagt werden wie räudige Hunde.

Eine andere politische Ansicht war eine Sache, Gewalt eine ganz andere. Gewalt würde er in seinem Land nicht tolerieren. Die Entführung war Teil einer groß angelegten Intrige, um die Demokratie in Q’aroum zu destabilisieren. Selim versteckte sich hinter einer radikalen Ideologie, obwohl es ihm in Wirklichkeit um die Machtergreifung ging.

„Wenn Sie nicht rechtzeitig gekommen wären …“, setzte Duncan an, doch Rafiq hieß ihn mit einer Geste schweigen.

„Sie hätten überlebt.“ Er wollte keinen Dank von MacDonald. „Miss Winters hätte alles dafür getan. Sie ist eine beeindruckende Frau.“ Dabei wusste er, wie heikel die Situation gewesen war. Nur gut, dass er darauf bestanden hatte, persönlich bei der Suche mitzumachen. Nur weil er Selim, seinen Cousin zweiten Grades, so genau kannte, hatte er sich auf das richtige Gebiet konzentriert. „Sagen Sie, gibt es irgendetwas, das ich für Sie tun kann, um Ihnen Ihren Aufenthalt angenehmer zu machen?“

„Nun, etwas gäbe es schon.“ Duncan zögerte kurz. „Meine Freundin hat kein Visum für Q’aroum, und ich weiß, die Ausstellung dauert Wochen.“

Es war das erste Mal seit Beginn dieser Angelegenheit, dass ein echtes Lächeln auf Rafiqs Miene zog. So, MacDonald hatte also eine Freundin in England. „Ich werde mich sofort darum kümmern.“ Er machte eine kunstvolle Pause. „Wir sollten Miss Winters fragen lassen, ob sie einen ähnlichen Wunsch hat.“

Duncan schüttelte den Kopf. „Das wird nicht nötig sein, Belle hat keinen Freund.“

Aha. Das wurde immer interessanter.

Erleichtert lehnte Belle sich in die ledernen Polster der Limousine zurück. Zumindest fuhren sie jetzt endlich los.

Nach drei Tagen im Krankenhaus hätte sie vor Ungeduld die Wände hinaufkriechen können! Doch die Ärzte wollten sie nicht gehen lassen, sie wollten absolut sicher sein, dass keine Komplikationen mehr auftreten würden. Und hätte Belle sich nicht selbst entlassen, läge sie wahrscheinlich noch immer in dem Bett dort.

Und jetzt das. Sie sah sich in dem luxuriösen Innern des Wagens um. Ein einfaches Taxi hätte doch gereicht. Schließlich war sie keine bedeutende Persönlichkeit.

Sie konnte es kaum erwarten, endlich wieder in ihr Quartier zu kommen, ebenso wie sie sich auf ihre Arbeit freute. Die Meeresarchäologie war seit Jahren das Zentrum ihres Lebens, inzwischen konnte sie sogar behaupten, sich einen ansehnlichen Ruf als Wissenschaftlerin erarbeitet zu haben.

Sie hatte einiges aufzuholen. Sie würde im Zentrum für Meeresarchäologie anrufen und einen Ersatz für Duncan besprechen müssen. Hoffentlich hatte der Zyklon das Schiffswrack nicht wieder verschüttet. Oder schlimmer, beschädigt. Für ein fast zweitausend Jahre altes Schiff war es in erstaunlich gutem Zustand gewesen. Und natürlich würde sie heute Abend ihre Mutter anrufen, um sie zu beruhigen. Danach ein langes heißes Bad – der pure Luxus!

Dennoch, etwas nagte an ihr: Angst. Angst, dass sie, allein in dem Haus, das dem Forschungsteam zur Verfügung gestellt worden war, nicht sicher sein würde. Dass die brutalen Kerle mit vorgehaltenen Waffen in das Haus einbrechen würden.

Aber das musste doch jetzt vorbei sein? Der Arzt hatte etwas von politischen Beweggründen erwähnt. Hatte behauptet, sie und ihr Kollege seien lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.

Dennoch blieb die Angst. Belle fragte sich, ob sie je wirklich schwinden würde.

Sie starrte aus dem Fenster und fand etwas Trost in den Szenen der geschäftigen Stadt. Sie liebte die Altstadt mit dem Labyrinth aus engen Gassen, die unerwartet in große offene Marktplätze ausliefen.

Die Limousine bog um eine Ecke, und Belle sah den Palast hell erleuchtet direkt vor sich liegen. Ein Märchenpalast, der sie an die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht erinnerte, an Dschinns und fliegende Teppiche. Auf den beiden Seiten, die zum Meer hin standen, glichen die jahrhundertealten Mauern einer Festung, doch die Vorderseiten hätten einem arabischen Märchen entstammen können mit den üppigen Gärten, den Springbrunnen und Pavillons, den Kuppeln und Bögen und filigranen Mosaiken.

„Hier sind wir falsch“, versuchte Belle den Fahrer aufmerksam zu machen.

Er ignorierte sie, fuhr stattdessen bis vor das schmiedeeiserne Tor. Die Wache salutierte, und die Flügel schwangen auf.

„Was machen Sie denn?“ Belle war völlig perplex. „Hier wollte ich nicht hin.“

Der Fahrer blieb ungerührt. „Mir wurde aufgetragen, Sie herzubringen, Ma’am.“

Sie lehnte sich in den Sitz zurück, während der Wagen weiter auf den erleuchteten Palast zufuhr. Dafür gab es nur eine logische Erklärung: Sie war hergebracht worden, um ihn zu treffen. Den Mann, den sie als Rafiq kannte. Der sich als der regierende Fürst von Q’aroum entpuppt hatte.

Der Mann, den sie seit Tagen zu vergessen versuchte.

Gab es eine Möglichkeit, diesem Treffen irgendwie auszuweichen? Nein, natürlich nicht.

Dawud, bekleidet mit einer langen Robe, trat auf den Wagen zu, sobald dieser anhielt, um Belle die Tür zu öffnen. Hastig fuhr sie sich noch einmal über das blonde Haar. Sie war kaum passend angezogen für eine Audienz beim Fürsten, aber das war ja nichts Neues. Immerhin war sie dieses Mal wenigstens angezogen.

Rafiq al Akhtar hatte ihr das Leben gerettet, sie schuldete ihm ihren Dank. Sein wissender Blick würde ihr peinlich sein, doch nach diesem Treffen brauchte sie ihn nie wiederzusehen.

Masa’a alkair, Miss Winters. Guten Abend.“

Masa’a alkair, Dawud. Es freut mich, Sie wiederzusehen.“ Er sah so ganz anders aus in fließendem Kaftan und mit Turban, dennoch fragte Belle sich, ob irgendwo zwischen den Falten wohl sein Dolch steckte.

„Kommen Sie bitte.“ Er deutete auf die großen Türen und geleitete sie in den Palast.

Als sie ihm durch die mit schneeweißem Marmor ausgelegte Halle folgte, hörte sie hinter sich die hohen Türen zuschlagen. Der Laut ließ sie zusammenzucken. Es klang fast, als hätte man eine Zellentür zufallen lassen. Belle reckte die Schultern und schalt sich für ihre überaktive Fantasie. Sie war keine Gefangene. Wegen eines kurzen Gesprächs mit dem Fürsten musste sie nicht gleich in Panik ausbrechen.

Dawud blieb schließlich vor hohen Flügeltüren stehen und klopfte an.

„Herein.“

Ihre Nackenhärchen richteten sich auf, als Belle Rafiqs Stimme erkannte. Diese Stimme hatte sie in ihren Träumen verfolgt. Manchmal hatte sie Trost in den samtenen Tönen gefunden, doch ebenso oft hatte diese Stimme sie erregt und sie aus einem unruhigen Schlaf auffahren lassen. Und dann hatte sie sich für ihre Schwäche gehasst.

Wie viel davon mochte auf ihre Einbildung zurückzuführen sein? Es war doch sicherlich unmöglich, dass ein Mann, ganz gleich, wie gut er aussah, eine so elementare Wirkung auf sie ausübte, oder?

Dawud hielt jetzt die Tür für sie auf. Belle atmete einmal tief durch. Nein, die Wirklichkeit konnte nicht so schlimm sein, wie sie sich ausgemalt hatte. Sie trat über die Schwelle und erstarrte.

Ihre Fantasie hatte ihr keinen Streich gespielt, im Gegenteil. Rafiq glich nicht nur dem Bild aus ihrer Erinnerung, sondern er übertraf es noch.

„Belle, so treten Sie doch ein.“ Jetzt kam er auf sie zu und schloss sie in seine Aura ein. Obwohl er mehrere Schritte vor ihr stehen blieb, fühlte sie sich von seiner Energie eingehüllt wie in einen Kokon.

Groß, mit breiten Schultern, das tiefschwarze Haar zurückgebunden, blickte er sie mit undurchdringlichen meergrünen Augen an. Die Robe aus feiner Baumwolle war grau meliert, abgesetzt mit gebrochenem Grün. Unwillkürlich musste Belle an die stürmische See denken, an ahnungsvolle Geheimnisse. An das Bild, wie er an jenem Morgen nackt aus dem Wasser gestiegen war …

Sie riss sich zusammen und atmete tief durch, machte einen Schritt vor. „Hoheit …“

„Nein, Rafiq“, bat er sofort. Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich weiter in den Raum hinein.

„Rafiq“, wiederholte sie und blieb atemlos stehen, als er lächelte. Smaragdgrüne Punkte schimmerten in seinen Augen, das Lächeln hellte sein Gesicht auf und ließ ihn umwerfend aussehen. Automatisch erwiderte sie dieses Lächeln. Ihr Herz begann hart zu klopfen. Die Wärme seiner Hand weckte die Erinnerung an die Nacht, in der er sie im Sturm sicher in seinen Armen gehalten hatte.

„Ich freue mich, dass Sie sich wieder erholt haben.“ Seine tiefe Stimme fuhr prickelnd wie eine Liebkosung über ihre Haut. „Sie sehen gut aus.“

Von hinten durchschnitt Dawuds Stimme die aufgeladene Atmosphäre. „Miss Winters ist gerade erst aus der Klinik entlassen worden. Sie wird erschöpft sein.“

„Natürlich, ich werde sie nicht lange aufhalten.“ Mit gerunzelter Stirn sah Rafiq an Belle vorbei zu Dawud, ganz offensichtlich verärgert über die Unterbrechung. „Du kannst uns nun allein lassen.“

Mit einer tiefen Verbeugung schloss Dawud die Tür hinter sich.

„Kommen Sie.“ Rafiq geleitete Belle zu einer Sitzgruppe. Seine Hand an ihrem Arm sandte Hitze durch ihren ganzen Körper. Sie atmete seinen Duft ein – markant, männlich. Etwas tief in ihr rührte sich, etwas, das reiner Instinkt war.

„Nehmen Sie Platz.“ Er deutete auf ein tiefes Sofa mit einladenden Kissen. „Machen Sie es sich bequem.“

Sobald sie sich setzte, ließ Rafiq sich auf dem Sofa ihr gegenüber nieder. Doch selbst auf diese Distanz hin fühlte Belle das schwelende Verlangen durch ihren Körper pulsieren, diese Hitze, die ihre Haut von innen verbrannte. Die seltsame Verbindung zwischen ihnen ließ sich nicht ignorieren. Vielleicht hatten die Ärzte doch recht. Vielleicht brauchte sie mehr Ruhe. Eine solche Reaktion konnte unmöglich normal sein.

„Wie fühlen Sie sich?“, fragte er.

„Wie neugeboren“, antwortete sie viel zu hektisch. „Alle im Krankenhaus waren so nett. Einfach wunderbar.“ Und sie plapperte!

„Die Ärzte wollten Sie länger dabehalten.“

„Sie haben mit ihnen gesprochen?“

Er nickte. „Wir alle haben uns große Sorgen um Sie und Mr. MacDonald gemacht.“

Natürlich. Es wäre ein Schlag für die Regierung gewesen, wenn sie oder Duncan ums Leben gekommen wären. Seine Fragen hatten nichts mit persönlichem Interesse zu tun. Wieso auch? Und dennoch, wider besseres Wissen und gegen alle Vernunft quälte es sie immer noch, dass er sie nicht im Krankenhaus besucht hatte. Tagelang hatte sie dort gelegen und an ihn gedacht, hatte sich gewünscht, die Tür würde aufgehen und er würde im Zimmer stehen.

Und während ihre Enttäuschung wuchs, wurde ihr auch die Unsinnigkeit dieses Wunsches bewusst. Erwartete sie wirklich, der Herrscher des Landes würde an ihrem Krankenbett auftauchen? Lächerlich! Absolut albern!

Sie nahm sich zusammen, setzte ein strahlendes Lächeln auf und sah ihm in die Augen. „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.“ Sicher bildete sie sich nur ein, dass sie etwas in seinem Blick erkannte, das ihr einen angenehmen Schauer über den Rücken jagte. Also ignorierte sie beides. „Ohne Ihr Eingreifen wären Duncan und ich jetzt tot. Wir verdanken Ihnen unser Leben.“

„Sie schulden mir nichts, Belle. Sie sind unschuldig Opfer geworden. Es war meine Pflicht, Sie zu finden.“ Er hielt inne. „Und jetzt ist es meine Pflicht, für Ihre Sicherheit zu sorgen.“

Belle runzelte die Stirn. „Aber ich bin doch in Sicherheit.“

Oder? Die Entführer konnten doch unmöglich erneut … Eine eiskalte Hand griff nach ihrem Herzen, machte ihr das Atmen schwer. Bilder von maskierten Gesichtern tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Bei dem Gedanken an das abgelegene Atoll und die zerfallene Hütte erschauerte sie.

„Dafür werde ich sorgen.“ Rafiq sprach leise, mit entschlossener Miene. „Wir gehen kein Risiko mehr ein. Solange die Banditen nicht gefasst sind, werden Sie hier im Palast wohnen.“

4. KAPITEL

Im Palast? Mit ihm unter einem Dach? Wo sie ihn jeden Tag sehen und ihre Fantasie völlig aus dem Ruder laufen würde? Danke, aber … nein, danke.

„Das wird sicher nicht nötig sein.“ Belle war stolz auf sich, dass sie so gelassen und vernünftig klang, trotz des Tumults, der in ihr tobte.

„Es ist nötig, und deshalb wird es auch so sein.“ Rafiqs Ton ließ keinen Widerspruch zu.

Unwillkürlich strich Belle sich über die Stirn. Sie glaubte, plötzlich in eine Art Paralleluniversum getreten zu sein, das nichts mit ihrer Realität zu tun hatte. Eines, in dem das Unvorstellbare geschehen konnte. Obwohl … nach den Ereignissen der letzten Tage war eigentlich alles denkbar.

„Haben Sie Schmerzen?“ Seine Stimme und seine ganze Haltung verrieten seine Sorge.

Langsam schüttelte Belle den Kopf. „Nein. Ich bin nur verwirrt.“ Und müde, plötzlich unendlich müde.

„Sie brauchen Ruhe. Wir werden morgen früh weiterreden.“

„Nein!“

Er hob eine Augenbraue, jeder Zoll an ihm der regierende Fürst, mit der Arroganz eines Mannes, der zum Herrschen geboren worden war.

„Ich würde lieber jetzt darüber reden“, sagte sie gefasster. „Diese Entführer werden Duncan oder mich doch bestimmt nicht mehr behelligen?“ Noch während sie die Worte aussprach, musste sie an die bewaffneten Wachposten auf dem Krankenhausgang denken, und ihr Magen verkrampfte sich.

„Machen Sie sich keine Gedanken, Belle. Hier sind Sie sicher. Hier wird Ihnen nichts passieren, Sie haben mein Wort darauf.“

Seine unverbrüchliche Zuversicht beruhigte Belle. Es war nicht zu erklären, und doch vertraute sie Rafiq, seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Instinktiv wusste sie, er würde sie beschützen.

„Aber ich werde auch kein Risiko eingehen“, fuhr er fort. „Diejenigen, die hinter Ihrer Entführung stehen, sind skrupellos und verzweifelt. Verzweifelte Männer handeln unbedacht und überstürzt, vor allem, wenn ihr ursprünglicher Plan zerschlagen wurde. Daher werde ich Sie in meiner Nähe halten, um für Ihre Sicherheit garantieren zu können.“

Unmerklich schüttelte sie den Kopf. In seiner Nähe würde ihre Fantasie nur unvernünftige Kapriolen schlagen. Außerdem konnte sie seiner Begründung nicht ganz folgen. In der Klinik hatte sie aufgeschnappt, dass es sich bei ihrer Entführung um eine politisch motivierte Tat handelte. Man hatte einen internationalen Zwischenfall provozieren wollen. Jetzt würde sie doch sicherlich niemanden mehr interessieren, es war ja nicht so, als hätten die Entführer etwas gegen sie persönlich.

„Ich würde es vorziehen, in das Haus des Forschungsteams zurückzukehren.“ Wenn sie sich in ihre Arbeit vertiefen und die Ereignisse endlich hinter sich lassen konnte, würde sie auch dieser Schwäche für Rafiq besser Herr werden. Diese letzten Tage waren irgendwie irreal gewesen, doch die wirren Gefühle für ihn waren nur zu echt – der rasende Puls, das unruhige Atmen, das Blut, das ihr heiß durch die Adern schoss. So etwas hatte sie noch nie erlebt, und es ängstigte sie halb zu Tode. „Ich komme zurecht, und sicher bin ich dort auch.“ Wen wollte sie überzeugen, Rafiq oder sich selbst?

„Sie bleiben hier.“ Mit seinem Blick ließ er sie wissen, dass nichts ihn umstimmen konnte, vor allem nicht etwas so Banales wie ihr Wunsch.

Was prompt ihren Widerspruchsgeist anfachte. „Meine Entscheidung steht fest“, fauchte sie und hätte sich am liebsten sofort auf die Zunge gebissen. Immerhin war er ihr Gastgeber und nicht zuletzt ein königlicher Herrscher.

„Für die Dauer Ihres Aufenthalts in Q’aroum bin ich verantwortlich für Ihre Sicherheit.“ Er sprach geduldig wie zu einem Kind. „Solange ich die Erlaubnis für Ihre Forschungsarbeiten in unseren Gewässern gebe.“

Belle schnappte unmerklich nach Luft. Hatte er ihr etwa gerade gedroht – sehr subtil natürlich –, seine Erlaubnis zurückzuziehen, falls sie nicht im Palast blieb? Aber nein, das wäre ja lächerlich!

„Kommen Sie.“ Abrupt erhob er sich. „Ich werde Ihnen später alle Fragen beantworten und Ihnen die Details erklären. Doch jetzt sollten Sie sich erst einmal ausruhen.“

Obwohl sie nur wenige Tage im Bett gelegen hatte, wurde ihr schwindlig, als sie aufstand. Sie wankte ein wenig. Sofort spürte sie seine warme Hand an ihrem Ellbogen. Belle war dankbar für die Stütze. Dennoch würde sie sich nicht in ein solches Arrangement zwängen lassen. „Ich danke Ihnen für Ihr großzügiges Angebot, Hoheit, aber …“

„Aber Sie wollen sich unbedingt mit mir streiten?“ Humor blitzte in den kühlen Augen auf. „Morgen früh können Sie mit mir debattieren, so viel Sie wollen.“

Jetzt lächelte er, und Belle konnte nichts anderes mehr tun, als ihn anzustarren. Innerhalb eines Sekundenbruchteils hatte er sich vom autokratischen Herrscher zu einem faszinierenden Mann verwandelt, allein indem er seine Lippen verzog. Sein Daumen streichelte ihre Armbeuge, und sie klammerte sich an die Hoffnung, dass nur die Müdigkeit Grund für ihre plötzlich weichen Knie war.

„Miss Winters“, hob er mit tiefer Stimme an, „würden Sie mir die Ehre erweisen und heute Nacht als mein Gast in meinem Haus bleiben? Es wäre nur eine winzige Wiedergutmachung für die Tortur, die Sie haben durchstehen müssen. Und es wäre mir ein Vergnügen, Ihnen die wahre Gastfreundschaft der Q’aroumis zu zeigen.“

Nun, wenn er es so ausdrückte … „Ich …“ Sie brachte keinen Ton heraus. Wusste dieser Mann überhaupt, wie viel Sex-Appeal er ausstrahlte, wenn er es darauf anlegte? „Das wäre wirklich sehr nett“, hörte sie sich sagen. Er hatte sie ausgetrickst, und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. „Danke für die Einladung.“

„Das freut mich.“ Er nahm ihre Hand in seine und schickte damit einen Stromstoß durch ihren ganzen Körper. Belle starrte in seine Augen und fühlte sich in unbekannte Tiefen gezogen. „Und morgen früh können wir dann alles für Ihren restlichen Aufenthalt besprechen.“

Die Sonne stand hoch am Himmel, als Belle am nächsten Tag in dem großen luxuriösen Bett erwachte. Sie lauschte auf das Konzert der Vögel und betrachtete das Lichtspiel der Sonnenstrahlen, die in das geräumige Zimmer fielen.

Autor

Annie West
Annie verbrachte ihre prägenden Jahre an der Küste von Australien und wuchs in einer nach Büchern verrückten Familie auf. Eine ihrer frühesten Kindheitserinnerungen besteht darin, nach einem Mittagsabenteuer im bewaldeten Hinterhof schläfrig ins Bett gekuschelt ihrem Vater zu lauschen, wie er The Wind in the Willows vorlas. So bald sie...
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