Julia Collection Band 191

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Seit ihrer Kindheit sind die „Gingerbread Girls“ unzertrennlich: Die Freundinnen Emily, Andrea und Casey verbrachten jedes Jahr mit ihren Familien die Ferien imGingerbread Inn. Nun treffen sie sich erneut in dem alten Gasthaus – und erleben ein Weihnachtsfest voller Überraschungen … und mit sehr viel Liebe!

DIE STILLE NACHT DER KLEINEN WUNDER von SHIRLEY JUMP
Nur noch ein verzweifelter letzter Kuss, dann geht Emily: Ihre Ehe mit Cole ist gescheitert und damit ihr Traum vom Glück. Doch als Weihnachten naht, steht Cole unvermittelt vor ihr. Und so sehr sie sich auch dagegen wehrt, träumt Emily von einer Nacht voller Wunder …

VERLOBUNG UNTERM MISTELZWEIG von REBECCA WINTERS
Auf ihrem Wunschzettel stehen nur zwei Namen: Rick und Tessa. Andrea ist rettungslos verliebt, seit der Single-Dad mit seiner süßen Tochter ihren festlich geschmückten Spielzeugladen betreten hat! Aber um Rick zu erobern, braucht es mehr als einen Mistelzweig …

KÜSS MICH ZUM FEST DER LIEBE von CARA COLTER
Unter ihr splittert das Eis, Casey versinkt im kalten See! Da hört sie die Stimme des Mannes, der sie einst so schmählich verließ: Turner rettet sie. Beschützend zieht er sie in seine starken Arme, doch können seine zärtlichen Küsse den Eispanzer um ihr Herz zum Schmelzen bringen?


  • Erscheinungstag 11.11.2023
  • Bandnummer 191
  • ISBN / Artikelnummer 9783751519465
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

SHIRLEY JUMP, REBECCA WINTERS, CARA COLTER

JULIA COLLECTION BAND 191

1. KAPITEL

Emily war auf der Flucht aus ihrem alten Leben, allerdings mit Stil. Sie trug dunkelblaue Skinny Jeans, Stiefeletten mit zehn Zentimeter hohen Absätzen, eine perlmutt schimmernde Soft-shelljacke und darüber einen grünen Oversize-Cardigan mit Gürtel. Jedes Stück von einem bekannten Designerlabel, die Schuhe maßgefertigt. Aber Emily machte sich nichts daraus. Designerkleidung war ihr nie wichtig gewesen, und manchmal dachte sie wehmütig an die Zeit zurück, in der sie Secondhand-Jeans vom Flohmarkt mit einem ausgeblichenen T-Shirt trug, so dünn vom vielen Waschen, dass es sich weich wie Seide anfühlte.

Entschlossen hievte sie zwei Koffer in den alten Volvo-Kombi, den sie sich gekauft hatte, obwohl Cole ihn abscheulich fand, schlüpfte hinters Steuer und fuhr los. Fort von dem Haus, das nicht mehr länger ihr Zuhause war.

Vier Stunden später rollte sie über die hügeligen Straßen von Brownsville, einer kleinen Stadt in Massachusetts, dann am Barrow Lake entlang, bis sich die großen Bäume über ihr lichteten und vor ihr die lang gestreckte Schotterstraße lag, die zum Gingerbread Inn führte. Ein vertrautes handbemaltes Holzschild mit inzwischen verblassten Farben wies die Anhöhe hinauf zum Gasthaus.

Emily kurbelte die Seitenscheibe hinunter und genoss die frische, würzige Herbstluft – zusammen mit dem wundervollen Gefühl, zu Hause zu sein. Endlich.

Kiesel knirschten unter den Reifen, spritzten beiseite, als sie ihren Volvo die Straße hinauflenkte. Emily verspürte freudige Erwartung. Ja, sie war wieder hier. An dem einzigen Ort, wo ihr Leben einen Sinn machte, wo sie Frieden gefunden hatte. Wie sehr hoffte sie, dass sie auch wieder zu sich selbst finden würde!

Zärtlich legte sie eine Hand auf ihren Bauch. „Wir sind gleich da, Sweet Pea.“ Zuckererbse hatte sie ihr Baby genannt, das wirklich noch nicht viel größer war als eine Erbse.

Und hier, so schwor sie sich, würde sie ein neues Leben beginnen. All das, was ihr altes ausmachte, hatte sie hinter sich gelassen, um nachzudenken, zu planen und zu überlegen, wie es weitergehen sollte. Denn egal, was kommen würde, Emily Watson wollte nie mehr zu dem alten Zustand zurückkehren. Auch nicht zu Cole, dem Mann, den sie einst geliebt und geheiratet hatte.

Einst war schon lange, lange her. Die vielen Jahre ihrer einsamen, unerfüllten Ehe hatten sie gelehrt, dass nur Dumme an Märchen glaubten.

Das zweistöckige Gebäude aus dem 19. Jahrhundert kam in Sicht. Durch die tief stehende Herbstsonne lag es bereits im Schatten und machte einen merkwürdig verlorenen Eindruck. Und als Emily nahe genug heran war, um Einzelheiten zu erkennen, verflog ihre frohe Erwartung schlagartig. Was war passiert?

Das strahlende Weiß der Fensterrahmen war zu einem schmutzigen Grau verblasst, Farbe blätterte von den hölzernen Wandschindeln, und die vordere Veranda war in der Mitte eingesunken. Gras wuchs zwischen den Steinplatten des Wegs, und die früher liebevoll gepflegten Flächen um das Gasthaus waren von Unkraut überwuchert. Schwer zu glauben, dass sie einmal als leuchtendes Beispiel in einer Gartenzeitschrift abgebildet gewesen waren.

Noch viel mehr traf Emily jedoch das rot-weiße Schild, das ein wenig schief an der Hauswand hing, so als hätte selbst der Makler die Hoffnung aufgegeben. ZU VERKAUFEN, stand darauf.

Sie hielt an, stieg aus, blieb aber erst einmal stehen. Was nun? Sie war davon ausgegangen, dass sie im Gingerbread Inn bleiben und ihr Leben neu ordnen könnte. Ihre schönsten Erinnerungen waren mit diesem Ort verbunden. Erinnerungen an die Zeit mit Andrea und Casey und Melissa …

Oh, Melissa …

Ihr wurde das Herz schwer, als sie an ihre verstorbene Freundin dachte. Aber das hätte Melissa nicht gewollt. Wie hatte sie in ihrem Abschiedsbrief geschrieben? Sie solle ihr Leben leben und versuchen, sich ihre Träume zu erfüllen. Und sich durch nichts davon abhalten lassen.

Durch nichts? Auch nicht von diesem Verkaufsschild?

Wieder glitt ihre Hand zu ihrem Bauch. Ich muss es tun, dachte sie. Nicht nur meinetwegen, sondern auch für Sweet Pea. Zwar konnte sie es sich leisten, in ein Hotel zu ziehen oder sogar nach Italien zu fliegen, um sich dort für eine Woche in einer Villa einzumieten. Aber das wollte sie nicht. Dieser Ort bedeutete ihr so viel.

Emily warf einen Blick auf ihre Hand, auf den Platinring mit dem wunderschönen Diamanten. Sie streifte ihn ab und steckte ihn in die Tasche. Sie musste sich endlich eingestehen, dass Schluss war.

Schluss mit Cole.

Die Gasthaustür wurde geöffnet. Eine zierliche grauhaarige Frau trat auf die Veranda. Sie trug eine orangefarbene Schürze mit gelber Paspel, ein hellrosa T-Shirt, Jeans-Shorts und Sneakers, die schon bessere Tage gesehen hatten.

Emily strahlte sie an und eilte auf die ältere Frau zu. „Carol!“

Die Besitzerin des Gasthauses kam die Stufen herunter. „Emily? Du meine Güte, ich kann es kaum glauben!“

Die beiden Frauen umarmten sich herzlich. Sie waren seit vielen Jahren befreundet. In ihrer Kindheit hatte Emily hier so viele Ferien verbracht, dass Carol für sie fast so etwas wie eine Tante oder weitere Großmutter geworden war. Der Duft nach frisch gebackenem Brot gehörte genauso zu ihr wie das aufmunternde Lächeln, und Emily verband alles Gute der Welt mit Carol Parsons.

Da stupste etwas gegen ihr Bein. Lächelnd sah sie auf die struppige Hündin hinunter. „Ist das Wesleys Tochter?“

Carol nickte. „Darf ich dir Harper vorstellen? Sie ist ein wenig schusselig, aber lieb und anhänglich. Hat all das, was man sich bei einem Hund wünscht.“

Emily bückte sich und kraulte Harper die Ohren. „Dann schlägst du ja nach deiner Mutter, kleines Fräulein.“

Die Hündin wedelte mit dem Schwanz und blickte Emily treuherzig an. Urplötzlich wirbelte sie dann herum und schoss laut bellend ins Gebüsch. Wahrscheinlich hatte sie ein Eichhörnchen gewittert.

Emily richtete sich auf. „Ich bin so froh, dich zu sehen, Carol. Als ich das Verkaufsschild sah, habe ich schon befürchtet …“

„Keine Sorge, ich bin immer noch hier. Wenn auch am seidenen Faden. Doch das ist eine traurige Geschichte, über die wir ein andermal reden können.“ Sie deutete auf das Gasthaus. „Willst du nicht hereinkommen? Bleibst du ein paar Tage?“

„Ehrlich gesagt …“ Emily deutete auf ihr Gepäck im Kofferraum. „… wollte ich sogar eine ganze Weile bleiben.“

Carol schaute sie mit ihren grünen Augen prüfend an. „Gerne, und solange du willst, meine Liebe“, sagte sie schließlich. „Für dich ist hier immer Platz.“

Das liebte Emily an Carol so sehr. Sie stellte keine Fragen, versuchte nicht, jemanden auszuhorchen, sondern bot einfach nur Hilfe an oder eine Schulter zum Ausweinen. So eine enge Bindung hatte Emily zu ihrer eigenen Mutter nicht gehabt. Wie sehr hatte sie sich immer auf die Sommerferien bei Carol gefreut. Wie über Sonnenschein an einem bewölkten Tag.

Die beiden Frauen stiegen die Treppe hoch. Die halb verrotteten Verandadielen knackten verdächtig unter ihren Füßen. Einige Verandapfosten lagen im Rasen vor dem Haus, und die Hollywoodschaukel musste dringend neu gestrichen werden. Die Eingangstür mit den großen geschliffenen Scheiben zeigte noch immer die alte Eleganz, aber drinnen im Haus war alles alt, abgenutzt und abgestoßen. Eins der Fenster im Salon klapperte im Wind, der durch den undichten Rahmen hereinzog. An der Decke zeugte ein brauner Fleck von einem Wasserschaden, und die uralte Heizung, die die Kühle vertreiben sollte, zischte und blubberte.

Emily stellte ihre Tasche an der Tür ab und folgte Carol in die Küche. Auch dieser Raum hatte schwer unter dem Zahn der Zeit gelitten. Die einst freundliche und helle Sonnenblumentapete löste sich teilweise von den Wänden, und der weiße Vinylbelag war an einigen Stellen zerschrammt und abgetreten. Doch der lange Tisch aus massivem Ahornholz, an dem sie immer gemeinsam gegessen hatten, beherrschte wie eh und je den Raum.

„Möchtest du eine Tasse Kaffee?“ Carol griff nach der Kanne. „Und es gibt auch frisch gebackenes Brot, direkt aus dem Herd. Es ist noch warm.“

„Danke, keinen Kaffee, aber eine Scheibe Brot nehme ich gern. Hast du vielleicht auch etwas Honig?“

„Aber natürlich. Wenn es jemand hier gibt, der immer noch etwas produziert, dann sind es die Bienen.“ Carol lächelte, aber Emily sah den Schmerz hinter der Fassade. Carol schenkte sich einen Becher ein, stellte einen Korb mit duftenden Brotschnitten und ein Glas Honig auf den Tisch und setzte sich. Ihren Becher in den Händen, als wollte sie sich wärmen, blickte sie Emily an und seufzte schwer. „Bestimmt fragst du dich, wieso es hier so aussieht und warum ich verkaufen will, oder?“

„Ja, aber du musst nicht darüber reden, wenn du nicht magst.“ In ihrem eigenen Leben war genug schiefgelaufen, über das sie auch nicht unbedingt reden musste.

„Schon gut. Am schwersten war es für mich, es den Stammgästen beizubringen. Sie sind wie eine Familie für mich, und der Gedanke, dass das Gingerbread Inn bald nicht mehr existiert … es bricht mir einfach das Herz.“ Sie senkte den Blick. „Seit mein Mann tot ist, schaffe ich es einfach nicht mehr. Für einen allein ist es zu viel Arbeit. Durch die Wirtschaftskrise kommen weniger Gäste, und deshalb kann ich mir keine Handwerker leisten. Dies ist ein wundervoller Ort, und ich liebe ihn, aber ich bin an einem Punkt angelangt, wo mich alles überfordert. Ich weiß nicht einmal, wo ich mit den Reparaturen und Renovierungen anfangen soll. Deshalb habe ich das Inn zum Verkauf angeboten. Vielleicht bekomme ich ja genügend Geld für ein kleines Cottage in Strandnähe.“

Harper drängte sich durch die Hundeklappe in der Küchentür, warf den beiden Frauen einen Blick zu und machte es sich dann unter dem Tisch bequem. Carol tätschelte sie.

„Ich finde es schrecklich, dass du verkaufen musst. Mir bedeutet es sehr viel, zu wissen, dass es das Gasthaus hier gibt, wenn …“ Emily seufzte. „Wenn ich es brauche.“

Carol sah sie besorgt an und berührte Emilys Hand. „Was ist los, Kleines?“

„Im Moment tut sich viel in meinem Leben.“ Noch mehr untertreiben konnte sie nicht.

Heute Morgen hatte sie ihre zehnjährige Ehe hinter sich gelassen. Seit sechs Monaten lebten sie getrennt. Cole sah das anscheinend nicht so. Mindestens einmal die Woche ließ er sich blicken, sei es, um seinen Lieblingsgolfschläger zu holen, oder um sich davon zu überzeugen, dass im Rasenmäher genügend Benzin war, weil der Gärtner in den nächsten Tagen kam.

So, als wollte er nicht akzeptieren, dass es aus und vorbei war. Andererseits war sie auch nicht sehr konsequent gewesen und hatte noch einmal mit ihm geschlafen. In einer verrückten Nacht, erfüllt von schönen Erinnerungen und nostalgischen Gefühlen, ließ sie sich dazu hinreißen und vergaß all die Gründe, warum sie nicht zueinanderpassten. Die Gründe, warum sie nicht mehr mit einem Mann zusammenleben konnte, der ihr jeden Tag das Herz brach.

Irgendwann begriff sie, dass sie Freiraum für sich brauchte. Und mit dem neuen Leben, das in ihr heranwuchs, benötigte sie einen klaren Kopf, um eine große Entscheidung treffen zu können.

Ob sie sich scheiden lassen oder es noch einmal versuchen sollte.

„Also, bleib so lange, wie du möchtest“, meinte Carol. „Wenn es einen guten Ort zum Nachdenken gibt, dann diesen hier.“

„Darauf vertraue ich.“ Emily nahm sich eine zweite Scheibe Brot. Sie hatte das sichere Gefühl, am richtigen Ort zu sein, sie konnte es spüren. Und dieses Gefühl war jetzt am allerwichtigsten für sie.

Cole Watson sprang die Treppe zu seinem Haus hinauf – okay, eigentlich war es nicht mehr seins, auch wenn er weiterhin die Hypothek abzahlte. In der einen Hand hielt er eine Flasche Wein, in der anderen einen Blumenstrauß. Er griff nach der Türklinke, verharrte dann aber.

Dies war jetzt Emilys Zuhause. Er durfte also nicht einfach hereinplatzen, das hatte sie ihm mehr als einmal sehr deutlich gemacht. Er selbst lebte in einem Apartment auf der anderen Stadtseite. Ein Apartment, in dem die Leere wohnte und die Einsamkeit, was ihm jeden Abend, wenn er es betrat, bewusst wurde. Das war sein Zuhause, ob es ihm gefiel oder nicht. Hier nicht mehr. Er konnte nicht wie selbstverständlich hereinkommen, sich die Fernbedienung greifen und die Füße auf den Couchtisch legen. So drückte er die Klingel, auch wenn es merkwürdig war, an seinem eigenen Haus zu klingeln. Er wartete. Niemand öffnete. Er klingelte noch einmal.

Nichts.

Cole fischte seinen Schlüssel aus der Jackentasche – Emily hatte das Schloss nie ausgewechselt, was er für ein hoffnungsvolles Zeichen hielt –, schloss auf und ging hinein. Im Foyer blieb er stehen. Und auch hier spürte er die gleiche Leere wie in seiner Wohnung. Sechshundertfünfzig Quadratmeter Wohnfläche mit schimmerndem Marmor und Granit umgaben ihn, und doch wirkte alles …

Irgendwie traurig und verlassen.

Auf dem Tisch im Foyer wartete die Kupferschale, die sie im Urlaub in Mexiko gekauft hatten, immer noch auf seine Schlüssel. Unter der Tiffanylampe neben der Lampe lag ein Stapel Briefe. Die Lampe hatte er Emily zum ersten Hochzeitstag geschenkt. Zu seiner Rechten, im Wohnzimmer, sah er das weiße Sofa und die Sessel, die Emily hasste, die er aber dennoch gekauft hatte. Und am anderen Ende der Halle standen immer noch die schmiedeeisernen Stühle mit dem dazu passenden Tisch, ein Geschenk seiner Mutter.

Das Haus schien wie immer – und war dennoch anders. Als würde hier niemand mehr leben.

Da entdeckte er einen Zettel auf der Post. Cole stellte Flasche und Blumen ab und griff nach der Notiz.

Ich habe die Stadt verlassen und weiß nicht, wann ich zurückkomme. Ruf mich nicht an. Ich brauche Zeit zum Nachdenken. Um herauszufinden, wie es weitergeht.

Emily

Die kühlen, deutlichen Worte waren wie ein Schlag in die Magengrube.

Sie hatte die Stadt verlassen. Wohin? Warum? Mit jemand anders?

Dieser Gedanke peinigte ihn am meisten und machte ihm noch etwas anderes klar. Wenn sie ihre Ehe nicht kitten konnten, dann würde sie irgendwann endgültig gehen und einen anderen finden. Einen anderen Mann, dem sie ihr zauberhaftes Lächeln schenkte. Einen anderen Mann, der sie zum Lachen brachte und sie nachts in seinen Armen hielt.

Und zu Recht, denn ihre Ehe war gescheitert, und das schon lange. Da spielte es keine Rolle, dass er es nicht akzeptieren wollte.

Sein Handy vibrierte, und er holte es aus der Hosentasche. „Hier Cole.“

„Wir haben ein Problem mit dem Nachschub“, erklärte Doug, sein Projektmanager. „In Japan hat ein Taifun die Display-Fabrik schwer beschädigt. Sie wissen nicht, wann sie die Produktion wieder aufnehmen können.“

„Ruf jemand anders an.“

„Schon geschehen. Uns fehlt das Material, der Lagerbestand geht auf null. Es wird ungefähr zwei Wochen dauern, bis sie mehr produzieren können …“

„Ich kümmere mich darum. Buche mich für den ersten Flieger nach …“ Unruhig blickte Cole auf Emilys Nachricht. Ich brauche Zeit zum Nachdenken. Emily wollte nicht mehr, das begriff selbst ein Dummkopf.

Ruf mich nicht an.

Sie wollte nicht, dass er sich bei ihr meldete. Als er mit dem Wein und den Rosen vor der Tür stand, hatte er noch Hoffnung gehabt, aber die war nun verschwunden.

Seine Ehe war am Ende.

„Cole, willst du nach Japan fliegen? Oder zu dem Fabrikanten nach Polen?“

Cole Watson, der niemals unentschlossen war, stand im Foyer seines Hauses, in dem er nicht länger wohnte, und zauderte. „Ich …“

Wieder blickte er auf den Zettel. Um herauszufinden, wie es weitergeht.

Dann warf er einen Blick auf seine linke Hand. Auf den Ehering, den er seit zehn Jahren trug. Er stellte sich vor, er hätte ihn nicht mehr, und das Haus wäre verkauft. Es machte ihm so gut wie nichts aus.

Dann sah er wieder auf die fünf Buchstaben am Ende des Briefes. Emily.

Emily war weg. Unerreichbar für ihn.

Es fühlte sich an wie ein Stich mitten ins Herz. Cole knüllte den Zettel zusammen und warf ihn in die Kupferschale. „Die Bildschirme können warten“, sagte er zu Doug. „Ich muss mich zuerst um etwas Wichtigeres kümmern.“

„Aber …“

„Keine Sorge, Doug. Ich schaffe das.“ Der Mann geriet zu leicht in Panik. „Glaub mir, wenn ich die Sache geregelt habe, wird uns das im Nachhinein wie ein Problemchen erscheinen. Ein momentaner Rückschlag.“

Doch als Cole das Gespräch beendete und überlegte, wohin seine Frau wohl verschwunden war und wie es weitergehen sollte, wurde ihm klar, dass er überhaupt nicht über die Bildschirme geredet hatte. Sondern über seine Ehe.

2. KAPITEL

In dem kleinen, aber gemütlichen Zimmer, in dem Emily viele Sommer ihrer Kindheit verbracht hatte, starrten sie ein blanker Monitor und der blinkende Cursor an, warteten darauf, dass sie den Bildschirm mit Worten füllte.

Und das schon seit geschlagenen zwanzig Minuten.

Sie hatte ein Wort geschrieben, wieder gelöscht. Ein neues geschrieben, wieder gelöscht. Was war nur los mit ihr? Im College hatte sie Kurzgeschichten produziert wie eine Henne Eier. Und nun, wo sie endlich Zeit und Ruhe zum Schreiben hatte, brachte sie nicht einen einzigen Satz zustande. Die Umstände waren so, wie sie es sich oft erträumt hatte, aber es nützte nichts. Sie konnte sich einfach nicht konzentrieren.

Schon seit Monaten nicht mehr, wenn sie ehrlich war. Sie musste es unbedingt schaffen, wieder Prioritäten zu setzen. Irgendwie.

Eine leichte Abendbrise wehte durch das angekippte Fenster herein und ließ die weißen Spitzenvorhänge tanzen. Von unten drang leise Radiomusik herauf, wahrscheinlich hatte Carol in der Küche zu tun. Es war eine schöne, friedliche Umgebung, der Traum jedes Schriftstellers. Nun ja, solange er keine Schreibblockade hatte.

Emily stand auf und zog einen Briefumschlag aus ihrer Reisetasche. Es war Melissas letzter Brief an sie, den sie auch an die anderen beiden Freundinnen geschrieben hatte.

Liebe Gingerbread-Girls,

ich muss lachen, während ich unseren Spitznamen schreibe. Erinnert Ihr Euch noch an die tollen Sommer im Gingerbread Inn? An all die Abenteuer in der Stadt und die verbotenen nächtlichen Ausflüge? Kein Wunder, dass wir irgendwann den Namen Gingerbread-Girls weghatten. Wisst Ihr noch, was Carol immer gesagt hat? Ihr haltet zusammen wie Pech und Schwefel.

Das fehlt mir. Ich weiß, wir sind alle älter geworden, und jede hat ihr eigenes Leben gelebt, aber mir fehlen diese Sommer und die innige Beziehung zu Euch. Das ist das Einzige, was ich jetzt richtig bedaure – dass wir nie Zeit gefunden haben, uns wieder einmal zu treffen. Nun ist es zu spät. Ich werde Euch alle nicht mehr sehen.

Versprecht mir, dass Ihr Euch verabredet. Versprecht mir, dass es die Gingerbread-Girls auch in Zukunft geben wird. Versprecht mir, dass Ihr Euren Träumen folgt, über die wir uns damals am See unterhalten haben. Meinen Stein besitze ich noch. Manchmal nehme ich ihn in die Hand und denke an jene herrliche Zeit.

Für mich wart und seid Ihr die besten Freundinnen, die man sich denken kann, und ich werde für die gemeinsamen Sommer mit Euch immer dankbar sein.

Melissa

Die Buchstaben verschwammen vor Emilys Augen. Bebend holte sie Luft, ließ den Brief neben den Computer sinken und legte den kleinen Stein darauf, den sie seit fünfzehn Jahren wie einen Schatz verwahrte. Vielleicht sollten die Gingerbread-Girls, wie sie sich damals nannten, sich wirklich wieder einmal treffen.

Kurz entschlossen schickte sie an Andrea und Casey eine Mail mit ihrer Handynummer und lud sie ins Gingerbread Inn ein. Ob sie es wohl einrichten konnten, spontan herzukommen?

Jemand klopfte an die Tür. Es war Carol. „Du kommst genau richtig!“ Emily lachte bitter. „Ich habe eine echte Schreibblockade. Mir fällt nicht einmal das erste Wort ein.“

„Und ich habe Kaffee und Kekse für dich, das sollte helfen“, meinte Carol. „Aber deswegen bin ich nicht hier. Jemand möchte dich sprechen.“

„Mich?“ Wie konnte das sein? Sie hatte niemandem gesagt, wohin sie fahren würde. Niemand war in der Lage, sie so schnell zu finden. Niemand außer … „Cole. Ist Cole da?“

Carol lächelte verschmitzt. „Wie hast du das erraten? Ja, er wartet unten. Er möchte mit dir reden.“ Anscheinend war Emilys Gesicht wie ein offenes Buch. „Ist alles in Ordnung, Kleines? Soll ich ihm sagen, dass er später wiederkommen möchte?“

„Nein.“ Emily kannte Cole. Ein Nein würde er nicht akzeptieren. Das machte ihn beruflich so außerordentlich erfolgreich, aber gleichzeitig zu einem unerträglichen Ehemann. Er musste gewinnen, koste es, was es wolle. Als sie sich kennenlernten, dachte sie, dass er sie unbedingt haben und mit ihr zusammenleben wollte, mehr als alles andere auf der Welt. Sie täuschte sich. Ihm ging es nur um den Erfolg. Und diese Haltung übertrug sich im Lauf der Jahre auch auf alle privaten Dinge, auf alles und jedes. Emily hatte endgültig genug davon. Sie wollte die Trennung.

Doch Cole akzeptierte ihren Entschluss nicht.

„Gib mir nur eine Minute, dann komme ich runter.“

„Natürlich. Nimm dir so viel Zeit, wie du willst.“ Mitfühlend berührte sie Emily am Arm. „Falls es dir hilft – er sieht richtig schlecht aus.“

Emily bedankte sich und schloss die Tür hinter ihr, bevor sie sich in dem ovalen Spiegel über der antiken Kommode betrachtete. Sie hatte noch ihren hellblauen Pyjama an, die Haare waren nachlässig auf dem Kopf zusammengebunden und sie trug kein Make-up. Ein Bild, das nicht im Mindesten dem entsprach, das die Welt von Cole Watsons Ehefrau kannte.

Perfekt.

Emily machte sich nicht einmal die Mühe, die widerspenstigen Haarsträhnen zurückzustreichen, sondern stand auf, verließ den Raum und ging nach unten. Ihr war es egal, was Cole denken mochte. Früher hätte sie sich wegen jeder Falte, jedes kleinen Flecks und ständig darüber Gedanken gemacht, wie sie als Frau des Firmenchefs wirkte. Damit war Schluss. Sie würde wieder die werden, die sie vorher gewesen war.

Cole stand am Fenster, mit dem Rücken zu ihr. Er trug einen maßgeschneiderten dunkelblauen Anzug, der seine breiten Schultern betonte. Sein dunkles Haar war jetzt ein wenig länger und berührte knapp den Hemdkragen. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus, wie jedes Mal, wenn sie ihn sah. Das hatte sich nicht geändert – noch immer fand sie ihn unglaublich attraktiv.

Er drehte sich langsam um, als sie auf ihn zukam, so, als hätte er ihre Anwesenheit gespürt. „Was machst du hier?“, wollte er barsch wissen.

Die knappen Worte waren wie eine eisige Dusche. Was hast du denn erwartet? fragte sie sich. Sie waren nicht mehr zusammen, das musste auch ihr Herz irgendwann begreifen. „Wie hast du mich gefunden?“

„Es gibt nur einen Ort auf der Welt, der dir wirklich fehlt, hast du einmal gesagt. Also habe ich zuerst hier gesucht. Zu Recht, wie man sieht.“

Aha, daran hatte er sich erinnert. Warum hatte er sich dann geweigert, die gemeinsamen Probleme zu sehen? „Wo ich mich aufhalte und was ich dort tue, geht dich nichts mehr an, Cole.“

„Du bist meine Frau, Emily.“

„Wir leben seit einem halben Jahr getrennt. Es ist aus, Cole.“

Flüchtig glaubte sie, einen schmerzlichen Ausdruck über sein männlich markantes Gesicht gleiten zu sehen. Doch sie konnte sich auch getäuscht haben.

„Trotzdem sollte ich zumindest wissen, wo du dich aufhältst. Falls irgendetwas passiert.“

„Nun, jetzt weißt du es.“ Sie wandte sich ab.

Er kam hinterher, streckte die Hand nach ihrer aus, besann sich jedoch, als wäre ihm eingefallen, dass sie nicht länger zusammen waren. „Warte“, sagte er. „Geh nicht. Ich möchte mit dir reden.“

Als sie in seine blauen Augen blickte, hielt sie unwillkürlich den Atem an. Emily ärgerte sich darüber, dass er immer noch diese Wirkung auf sie hatte. „Wozu, Cole? Es würde ja doch nichts ändern. Und jetzt …“ Sie seufzte schwer. „… lass mich gehen. Bitte.“

Emily verließ den Raum, und Cole folgte ihr nicht. Oben an der Treppe blieb sie stehen, bis sie hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel. Dann ging sie zurück in ihr Zimmer, legte eine Hand auf ihren Bauch und sagte sich, dass sie richtig gehandelt hatte.

Minutenlang stand Cole auf der maroden Veranda. Wie hatte es so weit kommen können? Was hatte er übersehen?

Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der er Emily anlächeln oder mit ihr essen gehen konnte, und danach war zwischen ihnen alles wieder gut gewesen. Zumindest für eine Weile. Aber diesmal hatte er die Distanz gespürt wie eine undurchdringliche Wand, die früher nie da gewesen war. Oder es war ihm einfach nicht aufgefallen.

Bis seine Frau zwei Bundesstaaten durchquerte, um von ihm wegzukommen. Hierher.

Gedankenvoll betrachtete Cole das heruntergekommene Gasthaus und die überwucherte Grünanlage. Warum war Emily ausgerechnet hierhergefahren? Mit dem Geld auf ihrem gemeinsamen Konto hätte sie sich ein Fünfsternehotel im Süden Frankreichs leisten können. Stattdessen war sie hier …

Verdammt!

Frustriert und wenig begeistert von der Aussicht, unverrichteter Dinge nach New York zurückfahren zu müssen, verließ Cole die Veranda. Kaum hatte er den Fuß auf die erste Stufe gesetzt, gab sie krachend unter ihm nach. Cole fluchte, als sein Fuß auf der weichen Erde darunter landete, und zog ihn verärgert aus dem Loch.

Die Tür öffnete sich. Coles spontane Hoffnung verpuffte, als er sah, dass nicht Emily, sondern die Gasthausbesitzerin herauskam. „Alles okay?“, fragte Carol. „Ich dachte, ich hätte etwas gehört.“

„Mir ist nichts passiert.“ Cole hob beruhigend die Hand. „Aber die Treppe ist nicht mehr sicher. Sie sollten sie absperren oder jemand kommen lassen, der die Stufen repariert.“

„Ja, natürlich …“ Sie seufzte unterdrückt.

Cole war lange genug Geschäftsmann, um zu erkennen, wenn jemand finanziell klamm war und mehr unbezahlte Rechnungen als Geld hatte. „Ich könnte jemanden beauftragen“, bot er an. „Da ich die Stufe zerbrochen habe, sollte ich sie auch reparieren lassen.“ Er empfand Mitleid mit der Frau. Nur zu gut erinnerte er sich an die Zeit, als er seine Firma aufbaute, auf jeden Cent hatte achten müssen und deswegen möglichst alles selbst gemacht hatte.

Carol schüttelte den Kopf. „Ich kann unmöglich von Ihnen erwarten …“

„Schon so gut wie erledigt“, unterbrach Cole sie.

Die Treppenstufe zu reparieren wäre eine Sache von wenigen Minuten. Jemand damit zu beauftragen, würde jedenfalls erheblich länger dauern.

„Wenn Sie Nägel und ein Brett haben, erledige ich das im Handumdrehen“, hörte Cole sich sagen und war von sich selbst überrascht. Wie lange hatte er schon keinen Hammer oder eine Säge in den Händen gehalten?

„Es ist alles da“, erwiderte Carol und deutete auf einen Schuppen. „Nehmen Sie sich, was Sie brauchen.“

„Alles klar.“ Vielleicht würde es ihm guttun, mit den Händen zu arbeiten. Oder wollte er nur Zeit gewinnen, weil er auf ein Wunder mit Emily hoffte?

Carol ging wieder hinein, und Cole machte sich auf den Weg zum Schuppen. Er musste erst suchen, fand dann aber einen Zollstock, Holzbretter, Hammer und Nägel. Nachdem er die Stufenlänge ausgemessen hatte, sägte er das Brett passend zurecht und nagelte es fest. Die Arbeit ging ihm erstaunlich leicht von der Hand.

Die Sonne brannte ihm im Nacken, und auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Seine Anzugjacke hatte er über das Verandageländer gehängt, die Krawatte gelockert und die Ärmel aufgerollt. Doch schließlich waren alle Stufen ausgetauscht. Sicher, es hatte länger gedauert, da hätte er auch jemanden kommen lassen können. Aber es verschaffte ihm das befriedigende Gefühl, körperlich etwas geleistet zu haben. Etwas, das er sehen und anfassen konnte, ganz anders als sonst, wenn er am Schreibtisch eine Entscheidung traf.

Emily kam aus dem Haus und sah ihn überrascht an. „Was machst du da?“

„Ich repariere die Treppe, die ich kaputt gemacht habe. Als ich die erste Stufe auswechselte, habe ich gesehen, dass auch die anderen morsch waren, und sie ebenfalls ersetzt.“

Sie beugte sich über das Geländer. „Du weißt noch, wie das geht?“

„Das ist wie Radfahren. Einmal gelernt, für immer gelernt.“ Cole lehnte sich gegen den Handlauf, den er gleichfalls mit ein paar Nägeln sicherer gemacht hatte. „Es war wie früher.“

Erinnerte sie sich daran? An die winzige Wohnung, in der sie gelebt hatten, daran, wie sie damals nach der anstrengenden Arbeit möglichst schnell nach Hause wollten, um den anderen zu sehen? Sie hatten es sich dann oft mit einem Glas billigem Wein vor dem Kamin gemütlich gemacht, während langsam die Dunkelheit hereinbrach.

„Manches vergisst man eben nicht.“

„Stimmt.“ Nicht nur Dinge, die mit Handwerken zu tun hatten. „Erinnerst du dich noch an damals, Emily?“

„Natürlich.“ Ihre Stimme klang sanft, in ihren Augen lag ein weicher Ausdruck, doch dann räusperte sie sich und richtete sich auf. „Es ist lange her, heute ist vieles anders.“

Er stieß sich vom Handlauf ab. „Und wenn wir wieder zu dem zurückkehren, was damals war? Wenn wir wieder zu den Menschen werden, die wir einmal waren? Hätten wir dann eine echte Chance?“

„Ein paar Stufen zu reparieren, bringt uns nicht wieder zusammen, Cole. Du hast dich geändert … ich habe mich geändert. Was wir wollen, hat sich geändert. Man kann die Uhr nicht zurückdrehen.“ Emily klopfte aufs Geländer. „Gute Heimreise.“

Sie ging zurück ins Haus und zog die Tür hinter sich zu. Schloss ihn aus.

Cole stand lange da, dann sammelte er die Werkzeuge ein, brachte sie zurück in den Schuppen, stieg in seinen Mietwagen und fuhr davon. Ich habe getan, was ich konnte, dachte er dabei. Und je eher er das akzeptierte, umso besser für ihn.

Doch als die Gebäude im Rückspiegel kleiner und kleiner wurden, fragte sich Cole … wenn er die Uhr zurückdrehen konnte, was das Gasthaus betraf, würde es vielleicht auch mit seiner Frau gelingen?

3. KAPITEL

Zur Frühstückszeit hatte Emily bereits zehn Seiten geschrieben und fühlte sich zunehmend optimistischer, auch wenn sie vielleicht ihren hohen Ansprüchen noch nicht unbedingt genügten. Aber sie waren besser als alles, was sie die letzten Jahre geschrieben hatte, und brachten sie ihrem Traum, endlich einen Roman zu veröffentlichen, ein Stückchen näher. Jetzt, da sie ungestört schreiben konnte, blühte ihre Kreativität förmlich auf, und die Worte flossen nur so aus ihr heraus.

Sie stand auf und reckte sich ausgiebig nach dem langen Sitzen auf dem hölzernen Schreibtischstuhl. Unerwartet wurde ihr speiübel. Emily hielt sich an der Stuhllehne fest und atmete ein paarmal tief durch.

„Hey, Kleines“, sagte sie zu ihrem Bauch. „Und ich dachte, das hört nach drei Monaten auf.“

Natürlich gab ihr Baby keine Antwort, und die Übelkeit machte ihr richtig zu schaffen. Emily hatte gerade den dritten Schwangerschaftsmonat hinter sich gebracht. Noch immer trug sie normale Kleidung, auch wenn diese schon an einigen Stellen etwas eng war. Aber sie wusste, lange würde es nicht mehr dauern, bis jeder sehen konnte, dass sie schwanger war.

Und das bedeutete, dass sie anderen von dem Kind erzählen musste. Cole, zum Beispiel.

Emily seufzte. Sie liebte ihren Mann – liebte ihn wirklich –, aber ihre anfangs so innige Beziehung war nach und nach schwächer geworden, kaum merklich, wie ein Luftballon, aus dem langsam die Luft entwich. Und eines Morgens war Emily aufgewacht und hatte gewusst, dass es vorbei war. Sie würden sich nur noch mehr verletzen, wenn sie einfach so weitermachten. Also bat sie Cole, auszuziehen, und er war gegangen. Einfach so, ohne jede Auseinandersetzung. Das war vor sechs Monaten gewesen.

Knapp drei Monate später kam er jedoch eines Abends zurück und versprach, alles zu tun, um sie zurückzugewinnen. Er wirkte so aufrichtig, so voll tiefem Bedauern, dass sie ihm glaubte. Die Leidenschaft, die sie so vermisst hatte, war sofort wieder da. Es wurde eine verrückte, glückliche Nacht, in der sie neue Hoffnung schöpfte.

Am nächsten Morgen stand er früh auf, gab ihr einen Kuss und brach zu einer mehrtätigen Geschäftsreise auf. Wieder einmal. Wieder einmal war sie allein in dem großen Haus. Emily hatte sich fast die Augen aus dem Kopf geheult und dann einen Anwalt angerufen.

Zwei Wochen danach wartete sie vergeblich auf ihre Periode, und es stellte sich heraus, dass sie in dieser einen Nacht bekommen hatte, was sie sich immer sehnlich gewünscht hatte – ganz im Gegensatz zu Cole.

Ein Kind.

Fest entschlossen, es allein zu schaffen, hatte sie niemandem davon erzählt.

Emily zog sich Jogginghose und ein altes T-Shirt an und ging hinunter in die Küche. Vielleicht half eine trockene Scheibe Toast gegen die Übelkeit, danach konnte sie sich dann wieder an den PC setzen.

Sie griff gerade nach dem Toastbrot auf dem Küchentresen, als sie draußen Hämmern hörte. Verwundert beugte sie sich über die Spüle und blickte nach draußen.

Im spätherbstlichen Sonnenlicht stand Cole auf einer Leiter an der Hauswand und nagelte neue Schindeln an. Statt des Anzugs trug er eine brandneue Jeans und ein dunkelblaues T-Shirt, das sich an seinen muskulösen Oberkörper schmiegte. Eine Sonnenbrille verdeckte seine blauen Augen, und auf seinen schmalen Hüften hing ein gut bestückter Werkzeuggürtel. Emily rieselte es prickelnd über die Haut. Cole sah ziemlich sexy aus.

„Er war hier, als ich heute Morgen aufwachte“, erklärte Carol, die in diesem Augenblick hereinkam.

Emily drehte sich um und stellte sich mit dem Rücken zum Fenster. „Warum?“

„Keine Ahnung. Aber ich bin froh über die Hilfe. Alles, was er in Ordnung bringt, hilft mir, das Gasthaus zu verkaufen.“

Emily seufzte. „Schon seltsam, dass eines Tages hier alles anders sein wird. Das Gingerbread Inn gehört zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen.“

Carol blieb bei der Kaffeemaschine stehen. „Möchtest du eine Tasse?“

„Nein, danke. Ich trinke lieber einen Tee.“ Emily füllte den Wasserkessel und stellte ihn auf den Herd. Das Hämmern draußen hatte aufgehört. Emily widerstand der Versuchung, hinauszusehen. Wenn sie ihn einfach ignorierte, würde er möglicherweise wieder verschwinden. Sie würde wieder allein sein, mit ihrem Baby, und genau das wollte sie auch. Unbewusst legte sie schützend eine Hand auf ihren Bauch.

Als sie aufblickte, bemerkte sie, dass Carol sie betrachtete. „Was ist?“

„Tee?“

Emily fischte sich einen Früchteteebeutel aus dem Glas und hielt ihn hoch. „Da ist er.“

„Und keinen Kaffee am Morgen.“ Carol sah sie forschend an. „Hast du mir vielleicht etwas zu sagen?“

„Nein, wieso?“ Das hatte viel zu hastig geklungen. Aber Emily wollte noch nicht von ihrem Baby erzählen. Sie deutete mit dem Daumen zu ihrem Zimmer. „Ich sollte mich wieder ans Schreiben machen. Es läuft nämlich gerade richtig gut.“

Wenn sie noch länger in der Küche blieb, würde Carol die Wahrheit in ihrem Gesicht lesen. Der Kessel pfiff, und Emily wandte sich ab, um den Tee aufzugießen. Da hörte sie Schritte und drehte sich um.

Cole stand in der Küche, sah sie an. In Jeans und T-Shirt glich er so sehr dem Mann, in den sie sich damals verliebt hatte. Ihr Herz begann zu hämmern. Cole war immer noch so schlank wie früher an der Uni, und sie erinnerte sich nur zu gut an seinen starken männlichen Körper, an seine nackte Haut, die kraftvollen Arme. Es überlief sie heiß.

Carol murmelte etwas davon, Wäsche waschen zu müssen, und verschwand nach draußen. Emily senkte den Blick und tunkte den Teebeutel auf und ab, damit sie Cole nicht ansehen musste. „Was machst du hier?“, fragte sie schließlich.

„Ich greife Carol ein bisschen unter die Arme.“

„Das sehe ich.“ Sie seufzte frustriert. „Warum?“

„Sie steckt offensichtlich im Moment in Schwierigkeiten, also …“

„Cole, die Ausreden kannst du dir schenken. Ich war zehn Jahre mit dir verheiratet, und niemals hast du auch nur ein einziges Bild aufgehängt. Erzähl mir nicht, dass du plötzlich zum Heimwerker mutiert bist.“

„Heimwerker?“ Sie konnte das Lächeln in seiner Stimme heraushören, als er zur Kaffeemaschine ging und sich eine Tasse Kaffee einschenkte. „Es sind keine Ausreden, Emily. Ich habe gesehen, dass Carol Unterstützung braucht, und will ihr einfach nur helfen. Seit der Uni habe ich nicht mehr mit meinen Händen gearbeitet, und ich merke hier, wie gut es tut.“

„Dann fahr nach Hause und bau dir eine Kiste oder sonst was.“

Cole blieb vor ihr stehen und wartete, bis sie aufblickte. „Ich habe kein richtiges Zuhause mehr.“

Sie weigerte sich, ein schlechtes Gewissen zu haben, auch wenn es ihr schwerfiel. Ihre Ehe war zerbrochen, und Cole wusste das ebenso gut wie sie. „Warum bist du wirklich hier, Cole?“

Sein Blick wurde weich, und für einen Moment sah sie wieder den alten Cole vor sich. Den Cole, in den sie sich damals auf dem Campus der New York University verliebt hatte. „Weil dieser Ort dir so viel bedeutet“, erwiderte er ruhig.

Die Wand aus Eis zwischen ihr und ihm begann zu schmelzen, und Emily wollte die Hand nach Cole ausstrecken. Da klingelte sein Handy, und sie erkannte am Klingelton, dass sein Geschäftsführer anrief. Cole trat einen Schritt zurück, zog das Handy aus der Tasche und bedeutete ihr, einen Moment zu warten.

Emily schüttelte den Kopf, nahm ihren Tee und verließ die Küche, bevor sie wieder so dumm war, zu glauben, dass sich irgendetwas geändert hatte.

Den Mails, SMS und Anrufen nach zu schließen, die Cole in der letzten Stunde erhalten hatte, war in den Büros seiner Firma Watson Technology Development das reinste Chaos ausgebrochen. Er war keine achtundvierzig Stunden fort, und schon drehten seine Leute durch.

Kein Wunder, dachte er selbstkritisch, schließlich wohne ich fast schon in der Firma. Seit er sie gegründet hatte, verbrachte er dort die meiste Zeit des Tages. Anfangs war das auch nötig gewesen, schließlich hatte er mit einem Einmannbetrieb angefangen und diesen inzwischen zu einem weltweit agierenden Unternehmen ausgebaut, das Computer, Handys und Software produzierte.

Bestimmt eine Stunde dauerte es, bis er seinen Geschäftsführer beruhigt und alles Wesentliche mit ihm besprochen hatte. Die ganze Zeit über drängte es ihn, zurück ins Büro zu fahren, aber der Blick auf die Werkzeuge und das Holz erinnerte ihn dann wieder daran, warum er wirklich hier war.

Nicht um dringende Reparaturen im Gingerbread Inn vorzunehmen, sondern um seine Ehe zu kitten. Und er wusste, dass seine Chancen schlecht standen. Wenn er Emily diesmal gehen ließ, würde seine Ehe sterben wie eine Pflanze, die man in eine dunkle Ecke gestellt hatte. Cole war klar, dass es teilweise seine Schuld war. Wenn er das in Ordnung bringen wollte, musste er bleiben. Zeit investieren wie in jedes Projekt, das er anpackte.

Nach dem Gespräch stellte er eine Liste der Reparaturen zusammen, die notwendig waren, um das Gingerbread Inn überhaupt verkaufen zu können. Beim fünfzigsten Posten wurde ihm klar, dass er zwei Dinge brauchte: professionelle Hilfe, weil er nicht alles selbst reparieren konnte, und jemanden, der mit anpackte.

Eine weitere halbe Stunde später hatte er mit einem Klempner, einem Elektriker und einem Dachdecker Termine vereinbart. Der letzte Anruf galt jemandem, von dem er wusste, dass er alles stehen und liegen lassen würde, wenn ein Freund ihn um etwas bat.

„Hi, Joe“, sagte Cole, als sich Jemand am anderen Ende meldete. „Was hältst du davon, über die Feiertage Urlaub in Massachusetts zu machen?“

Joe lachte. „Habe ich richtig gehört – der viel beschäftigte Cole spricht von Urlaub?“

„Es wird kein langer Urlaub, aber ja, ich habe mir ein paar Tage freigenommen. Ich habe hier draußen ein Projekt zu erledigen und könnte gut etwas Hilfe gebrauchen.“ Cole erklärte ihm die Situation. „Außerdem ist Emily hier.“

„Tatsächlich? Wie läuft’s denn so?“

„Nicht so gut. Ich versuche nur …“ Er presste einen Finger an die Schläfe. „… uns eine Chance zu geben. Ich hoffe, sie versteht, dass sie mir immer noch wichtig ist. Sonst wäre ich ja nicht hier.“

„Und ich hatte immer gedacht, ihr zwei würdet für alle Zeiten miteinander glücklich sein“, meinte Joe.

„Ja, das dachte ich auch.“ Cole unterdrückte ein Seufzen.

„Okay, ich brauche ein paar Tage, um hier alles zu regeln, dann komme ich.“

„Danke, Joe.“

Cole beendete das Gespräch, schob das Handy in die Tasche und studierte seine Liste. Kein Zweifel, es gab eine Menge zu tun. Sein Blick wanderte hinauf zum ersten Stock, wo Emilys Zimmer lag. Ein paar Meter nur, aber es hätte genauso gut auf dem Mond liegen können.

Vorhin in der Küche, da hatte er einen winzigen Moment lang geglaubt, dass es doch noch eine Brücke zueinander gab. Irgendwie musste er es schaffen, dass es mehr solcher Momente gab, damit die Brücke hielt.

Er ging zurück ins Haus. Emily war in der Küche und öffnete gerade eine Tüte mit Kräckern. Sie hatte sich umgezogen und trug eine Jeans und ein hübsches T-Shirt. Beides betonte ihre wundervolle Figur, die gertenschlanke Taille, den weiblichen Po, und Cole verspürte plötzlich heftiges Verlangen. Verdammt, sie fehlte ihm. In jeder Beziehung.

„Hey, Emily“, sagte er.

Sie drehte sich um. „Hallo, Cole.“

Das klang ausdruckslos. Er räusperte sich und ging einen Schritt auf sie zu.

„Ich dachte, eine Mittagspause wäre nicht schlecht. Hast du Lust, mit mir in die Stadt zu fahren? Ich müsste ein paar Sachen besorgen.“

„Danke, aber ich … bin beschäftigt.“

„Womit?“

„Es ist persönlich.“ Sie wandte sich zum Schrank, um ein Glas herauszuholen.

Die Tür zwischen ihnen hatte sich geschlossen, und Emily schien den Schlüssel weggeworfen zu haben. Am besten machte er hier und jetzt Schluss, fuhr nach New York zurück und vergrub sich in seine Arbeit. Zu tun hatte Cole genug. Warum nicht die Scheidung akzeptieren und allein weitermachen, so wie Emily?

Aber hier stand er, unschlüssig wie ein liebeskranker Teenager. Cole nahm sich ein Glas und füllte es mit Wasser, um Zeit zu gewinnen. Er hatte keinen Durst, aber er hoffte, dass Emily mit ihm redete.

Doch sie nahm ihr Glas, die Schale mit den Kräckern und wandte sich zum Gehen.

„Emily?“

Sichtlich widerstrebend drehte sie sich um. „Ja?“

„Haben wir überhaupt noch eine Chance?“

Wie eine graue Wolke hing seine Frage in der sonnigen Küche in der Luft. Emily sah ihn an, und er machte sich Hoffnungen. Da schüttelte sie den Kopf und senkte den Blick. „Nein.“

Dann eilte sie an ihm vorbei hinaus in den Flur. Cole fühlte sich einsamer als je zuvor in seinem Leben.

Als Emily zurück ins Zimmer kam, warteten bereits zwei muntere E-Mails auf sie. Andrea und Casey waren begeistert, dass sie sich gemeldet hatte. Beide waren erstaunt, dass das Gasthaus verkauft werden sollte, und wollten auf jeden Fall versuchen, noch vor den Feiertagen zu kommen.

Emily überlegte, wie viel sie ihren Freundinnen von ihrer gegenwärtigen Lage berichten sollte. „Mir geht es blendend“, log sie schließlich. „Ich kann es kaum erwarten, euch zu sehen!“ Sie schickte die Mails ab und setzte sich wieder an ihren Roman.

Aber die Worte wollten nicht kommen. Die Übelkeit hatte sich zwar gelegt, nachdem sie die Kräcker gegessen hatte, aber dann knurrte ihr Magen und erinnerte sie daran, dass Mittagszeit war. Hätte sie Coles Einladung angenommen, säße sie jetzt mit ihm beim Essen.

Besser nicht, dachte sie, es wäre eine zu große Versuchung gewesen. Und genau das konnte sie jetzt am allerwenigsten gebrauchen. Sie legte eine Hand auf ihren Bauch. „Wir kommen schon zurecht, Sweet Pea. Das verspreche ich dir.“

Es klopfte, und Carol steckte den Kopf ins Zimmer. „Ich habe einen Salat gemacht. Möchtest du mitessen?“ Sie bemerkte Emilys Zögern und fügte hinzu: „Cole ist in die Stadt gefahren.“

„Danke, ich esse gern mit. Ich habe wirklich Hunger.“ Sie klappte ihren Laptop zu und folgte Carol in die Küche. Harper lag auf einem kleinen Teppich an der Hintertür, schnarchte leise und zuckte mit den Läufen. Wahrscheinlich jagte sie im Traum Kaninchen.

Carol stellte zwei Teller mit einem Salat aus frischem Spinat, Erdbeeren, Schafskäse und gerösteten Pecannüssen in einer Himbeer-Vinaigrette auf den Tisch. „Na?“, fragte sie, als sie beide saßen. „Wann kommt es denn?“

„Wann … was?“ Emily wurde knallrot im Gesicht. „Wovon redest du?“

„Honey, ich mag zwar nicht wissen, wie ich dieses Haus retten soll, aber ich weiß, wann eine Frau schwanger ist. Der Tee, die Übelkeit, die Kräcker. Außerdem sehe ich es dir an.“

„Wie denn?“

„Diese Mischung aus Glück und Furcht.“ Carol lächelte. „Meine Schwester hatte drei Kinder, und jedes Mal sah sie so aus wie du jetzt.“

Emily stocherte im Salat. „Am siebzehnten Mai.“

Da strahlte Carol übers ganze runde Gesicht, sprang auf und umarmte Emily. „Ich freue mich so für dich, Kleines.“

„Danke.“ Zum ersten Mal empfand Emily Freude über ihren Zustand. Dass es außer ihr noch jemand wusste, machte es realer. So konnte sie sich die Zukunft mit einem Kind, das sie sich immer ersehnt hatte, noch besser vorstellen.

Cole wollte keine Kinder, das hatte sie irgendwann begriffen. Von Anfang an hatte er sie immer wieder auf später vertröstet. Warum, wusste sie auch nicht. Doch er hatte immer eine Ausrede parat gehabt.

Es spielte keine Rolle mehr, sie und Cole waren fertig miteinander. Sie würde das Kind allein großziehen.

„Cole ist vor Freude bestimmt an die Decke gesprungen“, vermutete Carol.

„Er weiß es nicht. Und ich werde es ihm auch nicht sagen. Wir leben schon eine ganze Weile getrennt, und sobald ich wieder in New York bin, werde ich mich scheiden lassen.“

„Wieso ist er dann hier?“

„Weil er nicht verlieren kann. Selbst wenn es nichts mehr zu gewinnen gibt.“ Sie zuckte mit den Schultern und ärgerte sich, dass ihr die Tränen kamen. „Unsere Ehe ist schon lange kaputt, aber er will es nicht akzeptieren.“

Carol legte ihre Hand auf Emilys. „Aber du bekommst ein Kind von ihm.“

„Diese eine Nacht war ein Fehler.“ Emily schüttelte den Kopf. „Ein Fehler, der nicht wieder vorkommen wird. Meine Ehe ist am Ende, Carol. Nur mein Kind und ich, das ist mein neues Leben.“

Da klingelte es an der Haustür. „Wir können uns später weiter unterhalten“, sagte Carol. „Ich öffne, und du isst schön deinen Salat auf. Und keine Sorge, ich erzähle Cole nichts.“

Emily lächelte. „Danke.“

Eine Minute später kehrte Carol mit einem hochgewachsenen, schlanken weißhaarigen Mann zurück. „Ich weiß noch nicht, was alles gemacht werden muss“, meinte sie, als beide hereinkamen. „Mit solchen Sachen kenne ich mich nicht besonders gut aus.“

„Sieht so aus, als müsste überall etwas getan werden.“ Er blickte zur Decke mit den dunklen Wasserflecken, dann auf die tropfenden Hähne und die zerschrammte Arbeitsplatte. „Aber die Grundsubstanz scheint okay, und das ist wichtig. Es ist ein wundervolles Anwesen, Miss.“

Carol lächelte ungewohnt scheu. „Oh, eine Miss bin ich schon lange nicht mehr.“

Der Mann strahlte sie mit seinen blauen Augen an. „Das sehe ich anders.“

Carol lachte leise. „Danke für die Blumen, Martin.“

Sie flirten miteinander, dachte Emily überrascht. So etwas hatte sie bei Carol noch nie erlebt.

Carol riss ihren Blick von dem Mann los und deutete auf Emily. „Dies ist Emily, eine alte Freundin, die früher oft im Gingerbread Inn zu Gast war“, stellte sie vor. „Emily, das ist Martin Johnson. Cole hat ihn engagiert, hier ein paar Arbeiten zu erledigen.“

Emily schüttelte ihm die Hand. „Nett, Sie kennenzulernen, Martin.“

„Eigentlich bin ich Klempner, aber ich kenne mich auch in anderen Bereichen aus, seit ich vor zwanzig Jahren ein älteres Haus gekauft habe, das renoviert werden musste.“ Er grinste. „Es ist immer noch nicht richtig fertig – ein Handwerker kommt nie zu seinen eigenen Reparaturen …“

„Bestimmt macht Ihnen Ihre Frau die Hölle heiß“, meinte Carol.

„Sicher, wenn ich eine hätte. Aber meine Sarah ist vor zehn Jahren gestorben.“

„Das tut mir leid“, erwiderte Carol. „Martin, wir haben gerade gegessen. Wollen Sie nicht auch einen Happen, und wir unterhalten uns währenddessen darüber, was gemacht werden muss? Im Kühlschrank ist noch Bratenfleisch, ich kann Ihnen ein Sandwich anbieten.“

Martin grinste noch breiter. „Das habe ich schon jahrelang nicht mehr gegessen. Aber ich will Sie nicht von der Arbeit abhalten. Bestimmt haben Sie viel zu tun.“

Carol kicherte. Sie kicherte tatsächlich. „Oh, es ist wirklich kein Aufwand. Setzen Sie sich, das Sandwich ist gleich fertig.“

Emily brachte ihren leeren Teller zur Spüle und wandte sich an Carol. „Ich setze mich wieder an meine Arbeit.“

„Tu das, Liebes. Aber willst du nicht erst ein bisschen an die frische Luft gehen? Die Sonne scheint, es ist ein wunderschöner Herbsttag.“

Emily warf einen Blick aus dem Fenster. „Du hast recht. Ich werde meinen Block nehmen und runter an den Bootssteg gehen.“

Sie ging auf ihr Zimmer, zog sich ein dickes Sweatshirt an, nahm Notizblock und Bleistift mit und verließ das Haus. Coles Mietwagen war nirgends zu sehen. Im Stillen hoffte sie, dass er wieder weggefahren war, nachdem er jemand für die Reparaturen eingestellt hatte.

Während ihrer Ehe war es genau umgekehrt gewesen. Wie oft hatte sie sich gewünscht, dass Cole neue Bilder selbst aufhängte, das Sofa umstellte oder den alten Ahornbaum beschnitt. Denn dann wäre er mehr als nur zwei Minuten im Haus gewesen und hätte ihr das Gefühl gegeben, ein gemeinsames Leben zu haben.

Stattdessen griff er zum Hörer und beauftragte jemanden, die Sachen zu erledigen. Und mehr und mehr verfestigte sich bei Emily das Gefühl, dass aus einem gemeinsamen Lebensweg zwei geworden waren. So als säßen sie und Cole in rasend schnellen Zügen, die zwar noch in dieselbe Richtung fuhren, aber nebeneinanderher.

4. KAPITEL

Der See glitzerte im hellen Sonnenlicht wie funkelnde Diamanten. Noch immer stand die Holzbank am Ende des Bootsstegs, verwittert und grau. Emily setzte sich mit dem Rücken an eine Seitenlehne und zog die Knie an. Die Sonne wärmte ihr Gesicht und Schultern, und bald schon flog ihr Stift über den Block, so schnell kamen die Ideen.

„Na, genießt du den Tag?“

Emily fuhr zusammen, als plötzlich Coles Stimme ertönte. „Hast du mich erschreckt!“

„Tut mir leid. Du warst wohl so in Gedanken, dass du mein Trampeln auf dem Landesteg nicht gehört hast.“

„Du trampelst nicht, Cole.“ Sie lachte leise. „Dazu bist du viel zu kultiviert.“

„Ach, soll das heißen, dass ich hinter meinem Schreibtisch verweichlicht bin?“

Davon konnte bei ihm wirklich keine Rede sein. Er schien regelmäßig Sport zu treiben, sonst wäre er nicht so durchtrainiert. In der schwarzen Lederjacke zu der blauen Jeans und dem T-Shirt sah er richtig verwegen aus. Als sie ihn damals kennenlernte, hatte er eine ähnliche Lederjacke getragen.

Sie sah sich auf einmal wieder auf dem Fußweg stehen und sich bei Cole entschuldigen, nachdem sie, den Arm voller Bücher und in eins davon vertieft, gegen ihn geprallt war. Er half ihr, die Fachbücher, die sie vor Schreck fallen gelassen hatte, wieder aufzusammeln. Dabei kamen sie ins Gespräch. Sie verabredeten sich, und als die Semesterferien begannen, hatte sie sich bis über beide Ohren in ihn verliebt. Am Ende des Wintersemesters machte Cole ihr einen Heiratsantrag, den sie überglücklich annahm.

He, was ist denn mit dir los? schoss es ihr durch den Kopf. Und wenn er in der Lederjacke noch so sexy aussieht, du wolltest doch nichts mehr von ihm wissen!

„Darf ich mich setzen?“, fragte er. „Eine kleine Pause kannst du dir bestimmt gönnen, oder?“

„Sicher.“ Sie nahm die Füße von der Bank und rutschte beiseite, um ihm Platz zu machen. Im nächsten Moment bereute sie es. Die Bank war nicht groß und Cole auf einmal viel zu nahe.

„Ich habe dir etwas mitgebracht“, sagte er und schwenkte eine braune Papiertüte.

„Was denn?“

Er hielt sie ihr hin. „Mach sie auf.“

Sie nahm die Tüte und schaute hinein. „Meine Lieblingsminikuchen … Warum?“

„Ich dachte, du hättest vielleicht Appetit darauf.“

Eine panische Sekunde lang dachte sie, er wüsste von der Schwangerschaft.

Aber da lachte er leise auf. „Wenn ich mich recht erinnere, warst du verrückt danach. Was hast du damals ständig gesagt?“ Er lehnte sich zurück und dachte kurz nach. „Es gibt immer einen Grund …“

„Kuchen zu essen.“ Sie griff in die Tüte und holte eine der durchsichtigen Packungen mit dem bekannten Firmenlogo heraus. „Stimmt, das habe ich gesagt. Aber damals hatte ich noch den Stoffwechsel einer Zwanzigjährigen.“

Cole hob die Hand, als wollte er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht streichen, ließ sie aber wieder sinken. Emily war merkwürdig enttäuscht. „Du bist noch immer genauso so schön wie an dem Tag, als ich dich kennenlernte, Emily.“

Sie stand auf. „Cole …“

Er griff nach ihrer Hand. Als er sie berührte, durchfuhr es sie heiß, und ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. „Ich habe doch nur gesagt, dass du schön bist, Emily. Das ist kein Grund, wegzulaufen.“

Er hatte recht. Emily setzte sich wieder. „Okay, aber lass uns freundschaftlich bleiben, ja?“

„Klar.“ Wenn er enttäuscht war, so zeigte er es nicht. Er legte die Füße auf das Geländer vor ihnen, lehnte sich zurück und hob das Gesicht zur Sonne, die Augen geschlossen.

Es war, als wären all die Jahre mit Stress und endlosen Arbeitsstunden von ihm abgefallen. Cole sah jünger und glücklicher aus. Vielleicht tat ihm die Arbeit am Haus gut. Jahrelang hatte sie befürchtet, er würde irgendwann einen Herzinfarkt erleiden, weil er so unglaublich viel arbeitete, unregelmäßig aß und mehr Stress ertragen musste als jeder andere, den sie kannte.

„Ich habe Martin kennengelernt“, sagte sie, riss die Zellophanhülle auf und biss in den saftigen Kuchen. Hm, die Vanillefüllung schmeckte einfach köstlich. „Hast du ihn beauftragt, hier alles zu reparieren?“

„Nein, er soll mir nur bei Sachen helfen, die ich selbst nicht so gut kann. Ich werde deswegen wohl noch ein paar Tage bleiben. Ist das okay für dich?“ Er sah sie an.

Wie konnte sie da Nein sagen? Er wollte Carol helfen, die so sehr Hilfe brauchte. Außerdem wirkte Cole so entspannt, wie sie ihn lange nicht erlebt hatte.

„Für mich ist das in Ordnung, Cole. Ich wundere mich nur, dass du das übernehmen willst.“

„Wieder mit den Händen zu arbeiten, hat mir das Gefühl gegeben, etwas … Nützliches zu tun.“ Er lachte leise. „Ich weiß natürlich, dass ich in der Firma gebraucht werde, aber dies hier ist etwas anderes. Hier sehe ich sofort, was ich geleistet habe. Ich habe das Gefühl, dass jede Ecke und jeder Winkel meine Aufmerksamkeit will.“

Beinahe hätte sie gesagt, dass sie sich diese Aufmerksamkeit schon seit Jahren von ihm wünschte, sie aber nie bekommen hatte. „Vielleicht hätten wir ein altes Haus kaufen sollen, anstatt ein neues zu bauen. Dann hättest du daran arbeiten können.“

„Was ist mit der Liste der Dinge, die im Haus erledigt werden müssen? Du hast sie doch sicher noch?“

„Nein, ich habe sie Bob gegeben. Der Handwerker, der unsere Küche modernisiert hat. Er kümmert sich darum, während ich nicht da bin.“

„Oh, das ist gut.“ Irrte sie sich, oder klang er enttäuscht?

„Cole …“ Sie legte die Hände in den Schoß, ihr war der Appetit vergangen. „Ich denke, wir sollten das Haus verkaufen. Für mich ist es zu groß, du wohnst da auch nicht mehr und …“

„Lass uns damit warten“, sagte er. „Gib uns noch etwas Zeit …“

„Wir leben seit einem halben Jahr getrennt, die Scheidung ist nur noch eine Formsache. Je eher wir es hinter uns bringen, desto eher kann jeder sein eigenes Leben leben.“

„Und wenn ich das gar nicht will?“

Der Schmerz in seiner Stimme tat ihr weh. Zweifellos mochte er sie immer noch, aber aus leidvoller Erfahrung wusste sie, wie es enden würde. „Cole, wir haben alles versucht. Denk an unsere Auseinandersetzungen, den Streit, die endlosen Gespräche danach. Du kommst zurück, versuchst es für ein paar Tage, und dann bist du wieder im Büro oder sonst wo – und ich führe wieder eine Ehe ohne Mann. Lass es uns offiziell machen. Wir können nicht länger so tun, als würden wir irgendwann eine richtige Familie sein.“ Sie nahm ihre Sachen und stand auf.

Als sie an ihm vorbeigehen wollte, griff er nach ihrer Hand. „Emily.“

Seine Stimme klang rau, voller Bedauern und Verlangen zugleich. Es war ein Echo ihrer eigenen Gefühle. Zögernd stand sie da, die wärmenden Strahlen der Novembersonne im Gesicht. Sie hörte die Wellen sanft an die Stegpfosten schwappen und blickte auf den Mann, dem sie einst versprochen hatte, ihn für immer zu lieben.

„Es tut mir leid, Cole, wirklich“, sagte sie leise und beugte sich vor, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben.

Eine flüchtige Geste nur, doch als sie sich aufrichten wollte, wandte Cole den Kopf. Ihre Lippen berührten sich, warm, verführerisch, und heiße Lust durchzuckte Emily. Cole sprang auf, riss sie an sich, schob beide Hände in ihr Haar. Alles um sie herum versank, ihre Schutzmauern barsten. Alles, was gegen Cole sprach, war wie weggewischt, und einen paradiesischen Moment lang fand sich Emily Watson in dem wundervollen Traum wieder, von dem sie gedacht hatte, es gäbe ihn nicht mehr.

Coles Welt war wieder in Ordnung, ja, vollkommen.

Doch der süße Augenblick endete schnell. Emily löste sich von ihm und taumelte zurück. „Das … dürfen wir nicht, Cole … Wir lassen uns doch scheiden.“

„Und wenn nicht?“

„Cole, hör auf damit. Es hat keinen Sinn. Vor einigen Monaten haben wir den gleichen Fehler schon einmal gemacht.“

„Dann gibst du also auf, einfach so?“

Ihr Blick wurde weich, aber es war nur Mitgefühl, das in ihren schönen Augen schimmerte. Keine Liebe. „Nein, Cole, ich habe niemals aufgegeben. Du bist derjenige, der uns schon vor langer Zeit aufgegeben hat. Jetzt kämpfst du nur, um zu gewinnen, weil ein Cole Watson nicht verliert, niemals. Leider ist dir nie klar geworden, dass du mich längst verloren hast.“

Er stand da und lauschte ihren leisen Schritten, als sie davonging. Das Wasser glitzerte in der hellen Sonne, um ihn herum herrschte pure Idylle. Doch Cole fragte sich, wieso er hier war und versuchte, seine Ehe zu retten, wenn seine Frau es doch gar nicht wollte.

Gedankenverloren starrte er vor sich hin, während Erinnerungen von vor zehn Jahren in ihm auftauchten. An den Strand in Florida, ein heruntergekommenes Hotel und die glücklichsten fünf Tage seines Lebens. Damals war alles so viel einfacher gewesen. Bevor er die Firma gegründet, viel Geld verdient und ein großes Haus gekauft hatte … zusammen mit allem, was das Leben unkompliziert machen sollte. Stattdessen hatte es ihn alles gekostet, was ihm kostbar war.

Irgendwie musste er es schaffen, wieder zu diesem Leben zurückzufinden, in eine Welt, in der nur Emily und er zählten.

Sein Handy klingelte – wie zum Beweis, dass es schwer werden würde.

Die nächsten zwei Stunden vergrub Emily sich in ihre Arbeit. Sie öffnete das Fenster einen Spalt weit, um die frische, saubere Luft hereinzulassen. Ab und an durchbrach das Zwitschern der Vögel oder das Kreischen einer Kreissäge die nachmittägliche Stille. Ungestört davon schrieb Emily Seite um Seite, und mit jedem neuen Kapitel wuchs ihre Zufriedenheit. Sie würde es schaffen. Endlich.

Schließlich lehnte sie sich zurück und reckte sich. Wenn ihre persönlichen Probleme doch so einfach zu lösen wären wie die ihrer Romanhelden.

Es half nicht gerade, dass sie Cole geküsst hatte. Ihr Herz schien in zwei Hälften geteilt zu sein. Eine, die sich an die Entfremdung erinnerte, die Streitigkeiten, den kalten Krieg zwischen ihnen all die Jahre. Und die zweite, die ihr Glück am Anfang, die Verliebtheit und die lustvollen Stunden in Coles Armen nicht vergessen konnte.

Im Bett hatten sie...

Autor

Shirley Jump
<p>Shirley Jump wuchs in einer idyllischen Kleinstadt in Massachusetts auf, wo ihr besonders das starke Gemeinschaftsgefühl imponierte, das sie in fast jeden ihrer Romane einfließen lässt. Lange Zeit arbeitete sie als Journalistin und TV-Moderatorin, doch um mehr Zeit bei ihren Kindern verbringen zu können, beschloss sie, Liebesgeschichten zu schreiben. Schon...
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Rebecca Winters

Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

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Cara Colter
<p>Cara Colter hat Journalismus studiert und lebt in Britisch Columbia, im Westen Kanadas. Sie und ihr Ehemann Rob teilen ihr ausgedehntes Grundstück mit elf Pferden. Sie haben drei erwachsene Kinder und einen Enkel. Cara Colter liest und gärtnert gern, aber am liebsten erkundet die begeisterte Reiterin auf ihrer gescheckten Stute...
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