Julia Exklusiv Band 226

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Scarlett schäumt vor Wut: Ihr Exmann, der Millionär Liam, platzt mitten in ihre Verlobungsfeier und entführt sie! Wieso muss er unbedingt jetzt auftauchen - als sie ein neues Leben mit Henry beginnen will. Doch in Liams Nähe schlägt ihr Herz immer noch wie wild …


  • Erscheinungstag 14.09.2012
  • Bandnummer 0226
  • ISBN / Artikelnummer 9783864946561
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sharon Kendrick, Stephanie Howard, Helen Bianchin

JULIA EXKLUSIV, BAND 226

SHARON KENDRICK

Wir waren noch so jung

Zehn Jahre ist es her, dass die zauberhafte Scarlett ihm das Jawort gab. Und obwohl ihr Glück nur kurz währte, ist es für den Multimillionär Liam Rouse bis heute unvergesslich. Deshalb kehrt er zurück – gerade als Scarlett sich mit dem langweiligen Henry verloben will. Das muss er verhindern! Aber wird es ihm gelingen, Scarlett erneut zu erobern?

STEPHANIE HOWARD

Geheimnis um Abbotsdale Castle

Wer ist diese atemberaubende Fremde, die sich sein Schloss ansehen möchte? Die umwerfende Frau stellt sich als Liza Blake vor, eine amerikanische Touristin, die Ferien in England macht. Richard hätte nichts dagegen, wenn Liza länger bei ihm auf Abbotsdale Castle bleiben würde. Doch ist Liza wirklich die harmlose Touristin, für die sie sich ausgibt?

HELEN BIANCHIN

Hand in Hand durch die Stadt der Liebe

Der millionenschwere Rafe Valdez weiß sofort: Danielle ist genau die Richtige, um ihm einen Erben zu schenken. Darum fackelt Rafe nicht lange und unterbreitet ihr ein brisantes Angebot: Er bewahrt ihre Dessous-Boutique vor dem Ruin, im Gegenzug wird sie seine Frau. Rafe hat alles haargenau geplant. Womit er allerdings nicht gerechnet hat, ist Liebe …

1. KAPITEL

„Ich habe keine Lust, über Liam zu reden“, sagte Scarlett, und es kostete sie ziemliche Mühe, gleichmütig zu klingen. Während sie sich einen schwarzen Seidenstrumpf anzog, fügte sie hinzu: „Und schon gar nicht an dem Abend, an dem ich mich mit einem anderen Mann verlobe.“

„Wirklich nicht?“ Camilla lächelte süffisant. „Gedacht hast du aber gerade an ihn. Das sehe ich dir an der Nasenspitze an.“

Scarlett setzte eine lässige Miene auf, eine Miene, die sie oft zur Schau und wie eine Maske trug, hinter der sie sich versteckte. Es gelang ihr sogar, amüsiert zu wirken, als sie die gleichaltrige Camilla, die sie seit ihrem dritten Lebensjahr kannte, ansah. „Ich soll an Liam gedacht haben? Bist du verrückt?“

„Nein, aber du warst verrückt, als du …“

Scarlett hatte genug. „Hör auf, Camilla, und lass mich jetzt bitte in Ruhe, damit ich mich anziehen kann. Sonst komme ich am Ende noch zu spät zu meiner eigenen Party.“

Camilla ging wirklich, und als die Tür hinter ihr zugefallen war, blickte Scarlett auf ihre zitternden Hände. Genügte immer noch die bloße Erwähnung seines Namens, sie so in Aufruhr zu versetzen?

„Verdammt!“, sagte sie gepresst. „Verdammter Liam Rouse!“

Sie nahm das Kleid, das sie sich für ihre Verlobungsfeier gekauft hatte, vom Bügel und betrachtete es kopfschüttelnd. Es war das ideale Partykleid für einen Winterabend – langärmlig, aus schwarzem Samt figurbetont geschnitten und mit einem Überrock aus schwarzem goldgesprenkelten Tüll. Schwarz wie ihr Haar, Gold wie der Schimmer ihrer Augen – perfekt, aber so gar nicht ihr Stil.

Nachdem sie das Kleid angezogen hatte, stellte sie sich vor den Spiegel. Das bin doch nicht ich, dachte sie beim Anblick des verführerischen Geschöpfs, das ihr entgegensah. Sogar ihr Haar wirkte fremd. Normalerweise hing es glatt bis knapp über die Schultern, aber für diesen Abend hatte es der Dorffriseur in große weiche Wellen gelegt. Bernsteinfarben, fast golden, funkelten ihre Augen unter dem dichten schwarzen Pony.

Jetzt wird es aber langsam Zeit, hinunterzugehen und nach Henry zu schauen, dachte sie, als sie durch das gardinenlose Fenster eine Bewegung wahrnahm. Sie sah hinaus in die dunkle Nacht und ließ den Blick über das weitläufige Gelände von Seymour House schweifen, bis er schließlich bei der mächtigen alten Eiche verweilte, deren kahle Äste schwer mit Schnee beladen waren. War da nicht ein Schatten? Furcht ergriff sie, und ihr Herz schlug schneller. Ja, da stand ein Mann …

Scarlett schloss kurz die Augen und sah wieder zu dem großen alten Baum, aber dort war niemand. Natürlich war da niemand! Wer wäre schon so verrückt gewesen, sich in der kältesten Nacht des Jahres unter eine tief verschneite Eiche zu stellen?

Kopfschüttelnd über ihre Schreckhaftigkeit und ihre grundlosen Ängste, verließ sie ihr Schlafzimmer und schritt die breite Treppe hinunter, die in die Eingangshalle führte, wo der Butler ihrem Verlobten Henry gerade den Mantel abnahm. Henrys hellbraunes Haar, das schon etwas schütter wurde, glänzte im Licht des Kronleuchters.

Als er sie bemerkte, blickte ihr Verlobter auf und kratzte sich an der Nase, wie er es in Momenten starker Gefühle – sofern man bei ihm überhaupt von starken Gefühlen reden konnte – gern tat.

Wenn er doch nur diese Kratzerei lassen würde, dachte Scarlett, empfand diesen Gedanken aber sofort als illoyal und lächelte strahlend. „Hallo, Henry!“

„Guten Abend, Scarlett.“ Er räusperte sich, als wollte er eine Rede halten, und blickte sie verzückt an. „Ich muss schon sagen, meine Liebe, dein Kleid ist wirklich – umwerfend.“

„Der Preis war es auch“, antwortete Scarlett trocken.

Henry runzelte die Stirn. „Das ist aber keine sehr nette Art, auf ein Kompliment zu reagieren.“

„Tut mir leid.“ Scarlett seufzte. „Vielleicht liegt es daran, dass du mir gewöhnlich keine machst.“

„Soll das heißen, dass ich es tun sollte?“

Es sollte heißen, dass sie überrascht war, über Henrys romantische Anwandlungen, denn Romantik spielte in ihrer Beziehung keine allzu große Rolle. „Nein, natürlich nicht. Ach Henry, lass uns nicht streiten. Besonders nicht am heutigen Abend.“

„Nein, streiten wollen wir heute bestimmt nicht.“ Henry sah auf sie hinunter. „Komm mit“, sagte er unvermittelt und nahm sie bei der Hand.

„Warum?“

„Das wirst du schon sehen“, meinte er geheimnisvoll.

Bis sie auf der Terrasse waren, sagte er kein Wort. Und dort, im schimmernden Licht des Mondes, blickte er sich erst um, als wollte er sich vergewissern, dass die Luft rein war, bevor er in die Tasche griff und lächelnd ein kleines türkisfarbenes Kästchen herauszog.

Scarlett schauderte, aber das war eher der Kälte zuzuschreiben.

„Na? Bist du nicht neugierig, was drin ist?“

Sie ließ sich auf das Spiel ein. „Sag es mir.“

„Immer mit der Ruhe.“ Henry drohte gespielt mit dem Finger. „Nur nicht so ungeduldig.“ Dann klappte er den Deckel des Kästchens auf, und zum Vorschein kam ein riesiger Diamant, der im Mondlicht seine ganze kalte Schönheit funkelnd entfaltete.

Scarlett fühlte sich wie eine unbeteiligte Beobachterin, als sie zusah, wie Henry den Solitär an ihren linken Ringfinger steckte. Da der Ring etwas zu weit war, rutschte der schwere Stein zwischen ihren gespreizten Fingern durch, sodass nur noch der schmale Goldreif zu sehen war – wie ein Ehering …

Wieder schauderte Scarlett.

„Kein Problem, ich lasse ihn enger machen“, sagte Henry beiläufig. „Ich wollte dich überraschen.“

„Er ist … wunderschön.“ Scarlett war nun doch etwas ergriffen.

„Ja, das finde ich auch!“ Henry zog sie an sich und wollte sie küssen, aber Scarlett wandte genau in diesem Moment den Kopf, weil sie glaubte, hinter sich etwas gehört zu haben, sodass seine Lippen ihre linke Wange berührten.

Er lachte befangen und drückte einen schnellen Kuss auf ihren Mund, bevor er sie wieder freigab. „Keine Angst, Mädel, ich werde dich mit diesem Zeug schon nicht allzu sehr belästigen.“ Er senkte die Stimme. „Über kurz oder lang werden wir uns zwar um einen Erben kümmern müssen, aber überbewerten wollen wir diesen ganzen Schweinkram doch nicht.“

Scarlett sah ihren Verlobten nur an. Seine Worten hatten sie getroffen wie ein Schlag. „Dieses Zeug.“

„Dieser ganze Schweinkram.“ Sie schluckte, denn Sex mit Henry war ein Thema, das sie bis jetzt nur zu gern ignoriert hatte. Sex mit irgendeinem anderen als Liam war unvorstellbar. Aber wenn sie mit Henry erst verheiratet wäre …

„Keine Sorge“, fuhr Henry fort, „dass ich als Ehemann keine großen Forderungen stellen werde, habe ich dir ja schon gesagt. Und nun lass uns reingehen, ein Glas Champagner trinken und deinen Ring herumzeigen.“

Sie fühlte sich etwas elend, als sie sich von ihm wieder hineinführen ließ, und die erste Person, die ihnen über den Weg lief, war Scarletts Stiefvater.

„Schönen guten Abend, Sir Humphrey!“, rief Henry überschwänglich. „Wollen Sie mal einen tollen Klunker sehen?“

„Zeig her, Scarlett!“ Sir Humphrey begutachtete den Ring. „Gerade die richtige Größe, Henry! Gute Geldanlage. Wo haben Sie ihn gekauft?“

„Bei Tiffany’s“, sagte Henry strahlend. „Getreu Ihrer Empfehlung, Sir Humphrey.“

„Gute Wahl!“ Sir Humphrey klopfte Henry anerkennend auf die Schulter.

„Gefällt er dir, Scarlett?“

„Und ob.“ Lächelnd sah sie ihren Stiefvater an, und da fiel ihr plötzlich auf, wie alt er wirkte und wie tief die Falten waren, die sich in sein Gesicht gegraben hatten. Dass er geschäftliche Probleme hatte, wusste sie. Er hatte zwar nie direkt mit ihr darüber gesprochen, aber sie hatte Gerüchte gehört, dass seine Firma nicht so gut laufe, wie sie es sollte. Die Rezession hatte auch vor den Seymours nicht haltgemacht.

Scarlett war schon aufgefallen, dass das Dach von Seymour House dringend einer Reparatur bedurfte, wofür anscheinend das Geld fehlte. Andererseits gab Sir Humphrey – vor allem seit er in den Adelsstand erhoben worden war – Unsummen für Personal aus, was in ihren Augen in diesem Umfang nicht nötig gewesen wäre.

Warum ihr Stiefvater sich für ihre Verlobungsparty, der ein noch viel rauschenderes Hochzeitsfest folgen sollte, so in Unkosten stürzte, hatte sie sich auch schon oft gefragt. Aber jedes Mal, wenn sie ihn darauf angesprochen hatte, hatte er im Brustton der Überzeugung nur gesagt: „Adel verpflichtet.“

Scarlett hätte mit der kostspieligen Hochzeit gern gewartet, bis sich die finanzielle Lage etwas entspannt hätte, aber Sir Humphrey hatte hartnäckig darauf bestanden, sie so bald wie möglich abzuhalten, denn er wollte seine Stieftochter glücklich und in geordneten Verhältnissen lebend sehen. Von ihrer Mutter, die Sir Humphrey abgöttisch liebte und die ihm jeden Wunsch von den Augen ablas, hatte sie sich schließlich überreden lassen, einem frühen Hochzeitstermin zuzustimmen.

Als die Gästeschar einzutrudeln begann, verscheuchte Scarlett ihre Gedanken und setzte ein strahlendes Lächeln auf. Mäntel wurden abgelegt, und zum Vorschein kamen festlich schimmernde Roben in leuchtenden Farben, die in heiterem Kontrast zu den schwarzen Smokings der männlichen Gäste standen. Der Adel hatte sich versammelt, und bald war die Party in vollem Gang.

Zum Abendessen gab es fangfrischen Lachs mit allen erdenklichen Beilagen und danach wunderbar aromatische Erdbeeren mit Schlagsahne. Den Abschluss machten riesige Käseplatten, die – ein Augenschmaus – mit exotischen Früchten garniert waren.

Große Reden wurden nicht gehalten, denn dafür stand die Hochzeit zu unmittelbar bevor, aber der große Salon war ausgeräumt und zum Ballsaal umfunktioniert worden, und als Henry mit Scarlett den Tanz eröffnete, applaudierten die Gäste.

„Es läuft hervorragend.“ Henry lächelte zufrieden, als sie zu einer getragenen Melodie übers Parkett glitten.

Scarletts bernsteinfarbene Augen funkelten. „Freu dich nicht zu früh, vielleicht trete ich dir gleich auf die Zehen.“

„Ernst kannst du wohl nie sein?“ Er lachte. „Nein“, bestätigte sie lächelnd, denn was Ernsthaftigkeit anbelangte, hatte sie ihre Lektion gelernt. Nahm man die Dinge ernst, brach es einem das Herz, nahm man sie leicht, kam man mit heiler Haut davon.

Das Lied war zu Ende, und Henry ließ Scarlett los. „Schau, dein Vater winkt mir. Ich gehe mal zu ihm und sehe nach, was er will. Misch dich doch einfach unter die Gäste, Liebes.“

Scarlett sah ihm nach, ließ den Blick über die Tanzpaare schweifen, von denen sie viele nicht einmal vom Sehen kannte, und empfand plötzlich eine große innere Leere. Sie fühlte sich wie eine Außenstehende, die nur zusah und nicht dazugehörte. Fühlte sich so, wie sie sich in diesem Haus schon immer gefühlt hatte.

Hör auf, das ist doch lächerlich, schalt sie sich im Stillen, als sie auf die Terrasse ging, um etwas Luft zu schnappen. Der Champagner hat mich sentimental gemacht, dachte sie und atmete tief den süßen Duft des Winterjasmins ein, der gerade blühte.

Still und ohne die Kälte zu spüren, genoss sie den Anblick, der sich ihr bot. Der schneebedeckte Rasen schimmerte wie Silber, und hoch droben am Himmel stand wie eine weiße Scheibe der Mond. Langsam schob sich eine dunkle Wolke davor.

Scarlett kniff die Augen zusammen, um sich an das dunklere Licht zu gewöhnen, doch dann riss sie sie erschrocken auf. Am Rand der Terrasse stand ein Mann und blickte zu ihr herüber.

Ihr Herz schlug schneller, als sie registrierte, wie groß und breitschultrig dieser Mann war. Entsetzt schüttelte sie den Kopf, als könnte sie die Gestalt damit verscheuchen, aber die ließ sich nicht verscheuchen, sondern kam langsam auf sie zu.

Als der Mann ihr schon ziemlich nahe war, wurde Scarlett blass. Sein Gesicht wirkte wie gemeißelt und der Mund darin wie ein harter Strich. Er war größer als alle anderen Gäste, und seine Schultern waren breit wie die eines Rugbyspielers. Er hatte das gleiche tiefschwarze Haar wie Scarlett, und auch seine Augen, die blauen Augen, die sie so gut kannte, wirkten in diesem Moment schwarz. Schwarz wie seine Seele, dachte sie bitter. Als sich ihre Blicke trafen, verzog er den Mund zu dem wohlbekannten spöttischen Lächeln.

Einen Moment lang schüttelte Scarlett den Kopf, als hätte sie sich nur eingebildet, Liam Rouse vor sich zu sehen. Dieser Mann in schwarzem Smoking, weißem Seidenhemd und schwarzer Fliege konnte doch gar nicht Liam sein. Liam trug Jeans. Und zwar immer.

Sie war sprachlos und sah ungläubig zu ihm auf. Der funkelnde Blick aus seinen Augen ließ ihr Herz rasen, und ihr Mund war ganz trocken, als sie am Terrassengeländer Halt suchte. Das ist nicht fair, das ist einfach nicht fair, dachte sie verzweifelt. Wie konnte er nur nach so langer Zeit immer noch diese Wirkung auf sie haben! „Liam!“, rief sie schließlich erstickt, als das Bild des Mannes, den sie seit fast zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, vor ihren Augen verschwamm. „Liam bist du es wirklich?“

Er verzog den Mund zu einem zynischen Lächeln. „Das wirst du gleich merken“, sagte er, zog sie an sich und küsste sie.

Zuerst war Scarlett völlig überrumpelt und ließ es regungslos geschehen.

Liams Küsse waren aber auch unvergleichlich …

Oh nein, nur das nicht, dachte sie noch und drängte sich an ihn, als sein Kuss fordernder wurde. Dass sie seine stürmischen Liebkosungen zu allem Überfluss auch noch erwiderte, nahm sie nur noch verschwommen wahr, denn diese Küsse weckten in ihr Empfindungen, die sie an viel intimere Situationen erinnerten.

Liam wusste ganz genau, was ihr guttat …

„Glaubst du jetzt, dass ich es bin?“, fragte er spöttisch lächelnd, als er sich schließlich von ihr löste, „öder küsse ich etwa wie ein Geist?“

Scarlett rang nach Luft. „Du küsst nicht wie ein Geist, du küsst wie der Teufel!“, schleuderte sie ihm entgegen. „Und jetzt verschwinde, bevor ich dich rauswerfen lasse.“

„Aber Scarlett, wie eine besorgte Ehefrau klingst du nicht gerade“, höhnte er. „Willst du denn gar nicht wissen, wo ich all die Jahre gewesen bin?“

Sie blickte in das Gesicht, das ihr so vertraut war wie ihr eigenes – in das Gesicht des Mannes, der ihr Herz in tausend Stücke gerissen hatte. „Wo du gewesen bist, interessiert mich nicht im Geringsten“, erwiderte sie ärgerlich. „Du hast mich vor zehn Jahren sitzen lassen und bist ohne ein Wort gegangen – und genauso kannst du auch jetzt gehen. Wenn du nicht sofort von unserem Besitz verschwindest, rufe ich die Polizei.“

Er lachte nur und packte sie hart am Handgelenk. „Solange ich nicht das habe, weswegen ich gekommen bin, gehe ich nirgendwohin.“

Sie hörte die wilde Entschlossenheit in seinem Ton und wurde von einem unguten Gefühl beschlichen, denn sie kannte Liam, der schon als Zwanzigjähriger ziemlich bestimmend gewesen war. Dass sich dieser Wesenszug in den letzten zehn Jahren noch stärker ausgeprägt hatte, war offensichtlich.

„Wovon redest du? Weswegen bist du gekommen?“, fragte sie, aber ihre Stimme klang bei Weitem nicht so fest, wie Scarlett es sich gewünscht hätte.

Er heftete den Blick auf ihre dunkelroten bebenden Lippen und antwortete, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt: „Deinetwegen, Scarlett.“

„Meinetwegen?“, flüsterte sie ungläubig. „Du musst verrückt sein.“

Im weißen Licht des Mondes wirkte sein Mund hart. „Kommst du nun still und unauffällig mit?“

„Mit dir? Mit dir gehe ich nirgendwohin!“

„Ich glaube schon, Scarlett. Ein kleines Gespräch unter vier Augen wirst du deinem Ehemann doch nicht verwehren wollen.“

„Du bist verrückt!“, rief sie fassungslos. „Wir sind geschieden, und ich heirate bald einen anderen!“

Er schüttelte den Kopf. „Du täuschst dich, meine Liebe. Das Scheidungsurteil wurde zwar gesprochen, aber rechtskräftig wird es erst in fünf Wochen.“ Zynisch lächelnd fuhr er fort: „Vor dem Gesetz bist du noch meine Frau, und ich habe dir einen Vorschlag zu machen. Ich frage dich also noch mal: Kommst du still und unauffällig mit?“

Es dauerte einen Moment, bis Scarlett antworten konnte, denn sie schien erst jetzt zu begreifen: Liam war wieder da! Als sie dann aber antwortete, tat sie es sehr heftig. „Mitkommen?“, schrie sie. „Mit dir? Du machst wohl Witze! Du bist der Letzte, mit dem ich irgendwohin ginge, du verkommenes Subjekt, du Mistkerl, du …“

Als er ihr Handgelenk packte, umspielte wieder dieses zynische Lächeln seinen Mund. „Oh Scarlett, dass du Zicken machst, hätte ich mir eigentlich denken können.“

„Lass mich los“, fuhr sie ihn an, „oder ich schreie die ganze Gesellschaft zusammen.“

„Du bist also immer noch die Alte“, stellte er amüsiert fest. „Ich habe eigentlich gehofft, dass wir diese Angelegenheit wie zivilisierte Menschen erledigen können, an dein Temperament habe ich dabei allerdings nicht gedacht.“

Sie versuchte sich loszumachen, aber es gelang nicht. Und als sie mit der freien Hand nach ihm schlug, führte es nur dazu, dass er sich bückte, sie um die Kniekehlen fasste und sich Scarlett über die Schulter warf. Da hing sie nun kopfüber, das Gesicht ganz nah an seinem breiten Rücken, und fühlte seine Hand, die knapp oberhalb ihres halterlosen Seidenstrumpfs besitzergreifend auf ihrem nackten Oberschenkel lag.

„Mmm“, raunte Liam, und es war wie ein erotisches Versprechen, als er zart über ihren Schenkel strich. „Wie verlockend.“

Und dann geschah etwas Unglaubliches.

Scarlett hing über seiner Schulter, spürte seine Berührung – und lächelte. Nach so vielen Jahren hatte Liam immer noch die Fähigkeit, sie zum Lächeln, diesem entrückten Lächeln zu bringen. Er war wirklich der unkonventionellste Mann, dem sie je begegnet war! Und er war wieder bei ihr! Hielt sie wieder fest! Bevor sie sich jedoch ganz in diesen trügerischen Empfindungen verlieren konnte, führte sie sich vor Augen, was er ihr angetan hatte.

Liam hatte sie am Tiefpunkt ihres Lebens verlassen, und das würde sie ihm nie verzeihen. „Ich hasse dich“, sagte sie gepresst, als er mit seiner Last in Richtung Auffahrt marschierte.

„Das beruht ganz auf Gegenseitigkeit“, erwiderte er in einem eigenartig bitteren Tonfall.

2. KAPITEL

„Lass mich runter!“, schrie Scarlett in die kalte winterliche Nacht, aber Liam ignorierte sie und schritt unbeirrt durch den Schnee auf ein schnittiges schwarzes Auto zu, das am Band der Auffahrt geparkt war.

Irgendjemand würde sie doch sicher sehen? Und es seltsam finden, dass dieser Riese von einem Mann die Gastgeberin über der Schulter durch den Schnee trug. Wo, zum Teufel, steckte Henry oder ihr Stiefvater? „Lass mich sofort runter, oder ich schreie zetermordio!“

„Dann ersticke ich dein Geschrei mit einem Kuss“, drohte Liam.

Um das zu riskieren, traute Scarlett ihren Gefühlen zu wenig und schloss lieber den Mund, den sie gerade geöffnet hatte, um ihren schrillsten Schrei loszulassen.

Beim Auto angelangt, öffnete er die Fahrertür, bückte sich und schob Scarlett mit einer einzigen fließenden Bewegung auf den Beifahrersitz, wo er sie anschnallte. Dann – erstaunlich elegant für einen so großen, kräftigen Mann – ließ er sich selbst hinters Steuer gleiten, legte den Sicherheitsgurt um und startete den PS-starken Motor. Mit einem tiefen Röhren schoss der Wagen davon.

„Vergiss es“, meinte Liam lächelnd, als er bemerkte, dass Scarlett versuchte, die Beifahrertür zu öffnen. „Die Türen haben eine Sicherheitsverriegelung und gehen nur auf, wenn das Auto steht.“

„Dann halte sofort an!“ Was da mit ihr passierte, konnte einfach nicht wahr sein. Sicher würde sie gleich wieder auf ihrer Party sein und ohne irgendwelche erotischen Hintergedanken von Henry in die Arme genommen werden.

„Nein.“

„Wo bringst du mich hin?“

„Das wirst du schon sehen.“

Den entschlossenen Zug um seinen Mund kannte sie von früher – er signalisierte, dass sich Liam von seiner unerbittlichen Seite zeigte. Aber so leicht wollte sie sich nicht geschlagen geben. Sie lehnte sich in dem komfortablen Ledersitz zurück und schloss kurz die Augen, um sich zu sammeln.

„Ist dir eigentlich klar, dass das eine Entführung ist?“, herrschte sie ihn schließlich an.

„Eine Entführung? Der Scheidungsrichter würde es vielleicht anders sehen – nämlich als den Versuch eines Mannes, sich in letzter Minute mit seiner Frau zu versöhnen …“

Scarlett wurde es plötzlich ganz schwer ums Herz, als sie an die Nächte dachte, in denen sie in ihr Kopfkissen geschluchzt hatte und einfach nicht hatte glauben können, dass Liam sie wirklich verlassen hatte. Oh, dieser herzlose schwarze Teufel! „Liam“, sagte sie kühl, „der Anlass für die Party, in die du hineingeplatzt bist, ist dir doch nicht entgangen, oder? Ich werde in fünf Wochen heiraten, und zwar Henry.“

„Wirklich?“, meinte er samtweich.

„Ja! Wirklich!“, antwortete sie bestimmt, doch der Klang seiner tiefen dunklen Stimme hatte sie erschauern lassen, und dafür hasste sie sich. Was hatte dieser Mann nur an sich, das ihre Gefühle so leicht in Wallung brachte? „Wo bringst du mich hin?“, fragte sie wieder, allerdings ohne großen Nachdruck, denn sie wusste, dass sie gegen ihn keine Chance hatte. Er war zu stark – und das nicht nur physisch.

Er erwiderte nichts, sondern warf ihr nur einen kurzen Blick zu, gerade in dem Moment, als ihr Oberkörper von einem Zittern geschüttelt wurde. „Du frierst ja“, bemerkte er und stellte die Heizung höher.

„Natürlich friere ich! Es ist mitten im Winter, es schneit, und ich habe nur ein dünnes Partykleid an!“

„Und ziemlich dünne Unterwäsche, soweit ich sehen konnte. Als wir beide noch zusammen waren, hast du nie so scharfe Dessous getragen!“

„Was hast du da gesagt?“ Ungläubig wandte sie sich ihm zu. „Du hast mich beobachtet!“, rief sie dann schockiert. „Ich wusste doch, dass mich jemand beobachtete, als ich am Fenster stand. Du warst das also!“

„Was hast du denn gedacht?“, spöttelte er. „Hast du die Vorstellung etwa für den lieben Henry gegeben, damit sich wenigstens etwas Leidenschaft in ihm regt? Wenn er sich im Bett so ungeschickt wie beim Küssen anstellt, na dann gute Nacht!“

„Oh, du …!“ Wütend hob Scarlett die Hand.

„Das lässt du besser bleiben“, meinte er lässig. „Vergiss nicht, ich sitze am Steuer.“

„Du kannst mich an gar nichts hindern!“

„Nein? Dich könnte ich doch an allem hindern, und du weißt auch ganz genau, wie. Soll ich anhalten und es dir beweisen?“

Errötend ließ Scarlett ihre Hand in den Schoß sinken. Das war doch verrückt! Total verrückt! Liam entführte sie, und sie saß einfach nur da und ließ es geschehen.

„Das kannst du mit mir nicht machen!“, protestierte sie.

„Du siehst doch, dass ich es kann.“

„Denkst du denn gar nicht an andere? Mein Stiefvater ist sicher schon ganz krank vor Sorge.“

„Er wird’s überleben“, erwiderte Liam kalt.

Ebenso kalt sagte Scarlett: „Er wird die Polizei rufen.“

„Na und?“

„Man wird dich verhaften. Ins Gefängnis werfen.“ Ihr Ton wurde schrill. „Aber das wird dir wohl nicht zum ersten Mal passieren, oder, Liam?“

Amüsiert zog er die Mundwinkel hoch. „Glaubst du, ich sei schon im Knast gewesen?“

„Bei dir würde mich nichts, aber auch gar nichts wundern!“, rief sie.

„Na, dann ist es ja gut, Scarlett“, meinte er. „Unterschätze nie deinen Gegner – eine der wichtigsten Kampfregeln.“

Sie empfand Zorn und war gleichzeitig traurig. Sie stritten wieder, genauso wie sie damals gestritten hatten. Genau genommen war ihre ganze kurze Beziehung ein einziger Kampf gewesen, der nur von flüchtigen Friedensphasen in Form ekstatischer Liebesakte unterbrochen worden war. Fieberhaft suchte Scarlett nach etwas, womit sie ihn verletzen konnte. „Wie ausgerechnet du diesen exklusiven Wagen finanzieren konntest, frage ich mich allerdings schon“, meinte sie spitz.

Einen Moment umklammerte er das Lenkrad fester, sodass die Fingerknöchel weiß hervortraten, aber er klang belustigt, als er sagte: „Tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss, Scarlett, aber dein hoheitsvolles Getue beeindruckt mich überhaupt nicht.“

„Früher tat es das aber schon“, erinnerte sie ihn. „Oder hat dich meine gehobene Ausdrucksweise etwa nicht angemacht? Dir hat es doch gefallen, in adlige Kreise hineinzuschnuppern – genauso wie es mir gefallen hat, mich mit dir unters gemeine Volk zu mischen.“

Sie hatte überzeugend gelogen – fand sie zumindest. Er sollte glauben, dass ihre Leidenschaft für ihn nur das Hirngespinst eines naiven, aber experimentierfreudigen jungen Mädchens gewesen sei. Nie erfahren sollte er jedoch, dass er die große Liebe ihres Lebens gewesen war, der Mann, an dem sie fortan alle anderen gemessen hatte. Und kein einziger hatte dem Vergleich mit ihm standgehalten. Und hatte sie nicht deshalb der äußerst „passenden“ Heirat mit Henry zugestimmt – weil sie den Versuch, Liebe zu finden, aufgegeben hatte?

„Unters gemeine Volk mischen“, wiederholte er nur kopfschüttelnd … Der Liam von früher wäre bei einer derartigen Stichelei vor Wut explodiert, aber nur um Scarlett im nächsten Moment an sich zu reißen und ihr mit brutaler Leidenschaft die Flausen auszutreiben.

Dieser Liam jedoch – dieser Fremde im Smoking – griff lediglich zu einer Kassette und legte sie ein.

Scarlett hätte schreien mögen, als die Liebes-Arie aus Carmen ertönte und mit ihren leidenschaftlichen Klängen voll bittersüßer Sinnlichkeit den Wagen erfüllte. Am liebsten hätte sie sich die Finger in die Ohren gesteckt, um diese quälend schöne Musik wenigstens etwas zu dämpfen. Starr blickte sie auf die dunkle leere Straße hinaus und fragte sich mit einem seltsamen Anflug von Eifersucht, wann und durch wen Liam seine Liebe zur Oper entdeckt haben mochte.

Als er noch mit ihr zusammen gewesen war, hatte er von Opern jedenfalls nichts gehalten, aber damals hatte er ja auch kein teueres Auto gefahren. Nein, während ihrer jämmerlich kurzen Ehe hatte er nicht einmal eine Rostlaube gefahren, denn sie waren immer knapp bei Kasse gewesen, und Liam hatte sich stur geweigert, sich von seinem Schwiegervater finanziell unter die Arme greifen zu lassen. Deshalb hatten sie auch in dem kleinen, schäbigen Apartment über einer Gaststätte gewohnt, wo es ständig durchdringend nach gekochtem Kohl roch und Scarlett die Hausfrau spielte, während Liam mit harter körperlicher Arbeit die Brötchen verdiente.

Schluss mit den Gedanken. Sie musste einen klaren Kopf bewahren. Liam war wieder da, aber was hatte er vor? Und warum nahm sie es einfach hin, dass er sie entführte? Hatte sie in seiner Gegenwart denn keinen eigenen Willen?

Sie straffte die Schultern, setzte sich kerzengerade hin und versuchte, Details der schneebedeckten Landschaft zu erkennen, die an ihnen vorbeizog. Als sie ein Dorf und dann am Ortsrand den zugefrorenen Dorfteich passierten, schlug ihr Herz schneller. Das Dorf kannte sie.

Die Straße wurde nun schmal und kurvig. Scarlett schloss die Augen und wagte es nicht, sie wieder zu öffnen, obwohl sie den Anblick, der sich ihr zu ihrer Linken geboten hätte, nur zu gut kannte: Winterkahle Kastanienbäume, die wie Gespenster ihre dürren Arme in den schneeverhangenen Nachthimmel reckten.

Wie kann er das nur tun, dachte sie hilflos. Mich ausgerechnet hierher zu bringen …

„Hast du Angst hinauszusehen, Scarlett?“, fragte er spöttisch. Zögernd öffnete sie die Augen und hoffte, dass es nicht wahr sein möge. Aber sie hoffte vergebens. Als der Wagen vor dem kleinen Cottage zum Stehen kam, wurde ihr flau in der Magengrube, doch gleichzeitig wurde sie von einer ungeheuerlichen Erregung erfasst.

Scarlett löste ihren Sicherheitsgurt und wandte sich Liam mit erhobenen Händen zu, als wollte sie ihm mit ihren langen Fingernägeln, die wie die Krallen einer Katze wirkten, im nächsten Moment das Gesicht zerkratzen. Wie ein Tiger, der mit einem lässigen Prankenhieb eine lästige Mücke verscheucht, schob Liam ihre Hände weg.

Als er sah, wie sich Scarletts Lippen bei diesem kurzen Hautkontakt öffneten, verzog er den Mund zu einem kalten, niederträchtigen Lächeln. „Bevor du die Krallen zeigst, Scarlett – wie wär’s mit einem Schäferstündchen?“

Bevor Scarlett auf diese Unverschämtheit etwas erwidern konnte, war er ausgestiegen und um den Wagen herumgegangen. „Bring mich sofort nach Hause!“, forderte sie, als er die Beifahrertür öffnete. „Wenn du das tust und mich in Ruhe lässt, vergesse ich diese ganze Entführungsgeschichte.“

„Willst du denn wirklich nicht wissen, was dein geliebter Gatte die ganzen Jahre gemacht hat?“

„Nein, es interessiert mich nicht.“ Angelegentlich ließ sie den Blick über das edle, hervorragend geschnittene Tuch seines teuren Anzugs gleiten. „Da du offenbar in Geld schwimmst, werden es wohl kaum saubere Geschäfte gewesen sein.“

„Meinst du?“, fragte er unbeeindruckt von ihrem spitzen Ton.

Tu ihm weh, forderte eine innere Stimme. Tu ihm weh, wie er dir wehgetan hat. Herablassend lächelnd erkundigte sie sich schließlich: „Wie bist du denn dann zu all dem Geld gekommen, Liam? Etwa durch harte Arbeit?“

„Ach, jetzt interessiert es dich auf einmal doch“, bemerkte er süffisant und blieb ihr die Antwort schuldig.

„Oh, du arroganter Mistkerl!“, brach es aus Scarlett heraus. „Jetzt habe ich aber genug! Bring mich sofort heim!“

„Noch nicht. Erst will ich mit dir reden“, sagte er bestimmt und schüttelte die Schneeflocken ab, die sich auf sein pechschwarzes Haar gesetzt hatten.

„Wende dich an meine Anwältin, wenn du etwas von mir willst.“

„Was ist los, Scarlett?“, spöttelte er. „Ist deine Angst reinzugehen so groß? Macht dir die Vergangenheit so zu schaffen?“

Als er auf das Cottage zu sprechen kam, bedachte sie ihn mit der herablassendsten Miene, die sie zustande brachte, und kniff die Augen so zusammen, dass ihm der Schmerz, den die Erinnerung hervorrief, verborgen bleiben musste. Ausgerechnet hierher hatte er sie bringen müssen, hierher, wo ihre Liebe zu ihm erwacht war. Denn hier, in diesem Cottage, an einem wundervollen Sommernachmittag, hatte sie sich ihm hingegeben und sich ihm geschenkt.

Auf dem staubigen Fußboden hatte er sie ausgezogen, hatte sie geküsst und schließlich genommen. Danach, als sein Körper langsam wieder zur Ruhe kam, hatte sie geweint und heiße Tränen voll Freude und Dankbarkeit vergossen. Doch neben ihrer eigenen Freude hatte sie bei ihm auch Ärger gespürt – als ob er geahnt hätte, welches Nachspiel diese erste wilde Vereinigung noch haben würde.

„Um ehrlich zu sein, ich kann mich an dieses Cottage kaum erinnern“, log sie. „Aber wie du sicher weißt, gehört es meinem Stiefvater. Zusätzlich zur Entführung machst du dich also auch noch unbefugten Betretens schuldig.“

Liam lachte kurz auf. „Das sehe ich aber anders“, stellte er trocken fest. „Komm, Scarlett, gehen wir rein. Ich muss mit dir reden, und hier draußen ist es zu kalt.“

Er zog sie aus dem Auto, nicht grob, aber mit jener ganz gewissen Härte, die sie unterschwellig auch immer in seinem Liebesspiel gespürt hatte, und einen Moment lang war Scarlett versucht, sich in seine starken Arme zu werfen.

„Das verzeihe ich dir nie!“, rief sie, als sie ihre Gefühle wieder im Griff hatte und von Liam zur Haustür geführt wurde, die er aufschloss.

Scarlett trat ein und sah sich überrascht um. Sie hatte erwartet, das Cottage unverändert vorzufinden – ungemütlich, vernachlässigt, heruntergekommen –, aber es war renoviert worden. Jemand hatte es wirklich geschmackvoll renoviert.

Die Dielenböden waren gewachst und gebohnert, und darauf lagen persische Läufer in leuchtenden Grün- und Türkistönen. An den frisch getünchten Wänden hingen verschiedene wahrhaft meisterliche Aquarelle. Das Mobiliar war modern, wobei helle Farben dominierten, und sogar eine Zentralheizung war eingebaut worden. Wer immer diesen Raum eingerichtet haben mochte, er hatte Geschmack und teilte auf keinen Fall die Schwäche, die Scarletts Eltern für altmodisches, auf Hochglanz poliertes Mahagoni hatten.

„Seltsam“, wunderte sich Scarlett schließlich. „Von den Renovierungsarbeiten hat mein Stiefvater mir gar nichts gesagt.“

„Er hat sie ja auch nicht durchführen lassen“, erwiderte Liam trocken. „Das Cottage gehört mir.“

„Nein! Das glaube ich nicht!“, rief sie, obwohl Liams Tonfall keinen Zweifel an der Wahrheit seiner Worte zuließ.

„Dann lässt du es eben bleiben“, meinte er schulterzuckend.

Verwirrt sah Scarlett ihn an. „Aber mein Stiefvater würde das Häuschen nie verkaufen – und schon gar nicht an dich!“

„Bist du dir da so sicher?“ Liams hochgezogene Mundwinkel deuteten ein Lächeln an, aber seine Augen wirkten kalt wie die Winternacht. Irgendetwas an seiner selbstbewussten Haltung flößte Scarlett Furcht ein. Aber nein, ihr Stiefvater hätte ihm das Cottage nie verkauft! Warum, um alles in der Welt, hätte er auch ausgerechnet mit dem Mann Geschäfte machen sollen, den er fast genauso verabscheute wie sie selbst?

„Nimm Platz, Scarlett, ich schüre gleich das Kaminfeuer. Möchtest du Kaffee oder lieber etwas Stärkeres?“

Das war doch verrückt! Man hätte meinen können, sie wären zu einem Plauderstündchen hergekommen! Scarlett hatte das Gefühl, es keine Minute länger auszuhalten. Sie musste raus, bevor die Vergangenheit mit all ihren schmerzlichen Erinnerungen sie vollends einholte. „Ich will weg“, rief sie. „Ich will zurück zu meiner Party, und wenn du etwas zu sagen hast, Liam, dann sag es. Ich gebe dir genau fünf Minuten.“

„Jetzt lass mich erst mal einschüren.“ Liam ging vor dem Kamin in die Hocke und entfachte das Feuer. Flammen loderten auf und gaben dem Raum eine heimelige Atmosphäre. Scarlett ließ sich auf einem der dick gepolsterten Ledersofas nieder und beobachtete Liam, der Brandy in zwei Gläser goss und diese auf einen kleinen Tisch vor dem Sofa stellte. Alles kam ihr so unwirklich vor – als würde ihre ganze Welt plötzlich auf dem Kopf stehen.

Sie sah auf die Uhr. Fast elf. „Lang kann es nicht mehr dauern, bis mein Stiefvater kommt“, sagte sie hoffnungsvoll, obwohl sie selbst nicht wusste, was ihren Stiefvater auf die Idee bringen sollte, sie ausgerechnet in diesem Cottage zu suchen.

„Nach Henry hast du wohl keine Sehnsucht?“

„Henry?“ Scarlett blickte starr auf ihre im Schoß verschränkten Finger, als ihr bewusst wurde, dass sie an ihren Verlobten noch keinen Gedanken verschwendet hatte. „Henry wird dich in Stücke reißen“, drohte sie dann. „Einfach bei uns einzudringen und mich gegen meinen Willen wegzubringen … Das kannst du doch nicht machen, du verdammter Brutalo!“

„Ich habe es aber gemacht, wie du siehst“, bemerkte er ungerührt.

„Warum hast du nicht einfach angerufen und mich um eine Verabredung gebeten, wenn du mich schon unbedingt sprechen wolltest?“

„Du willst doch nicht behaupten, dass du dich mit mir getroffen hättest?“

„Doch, warum auch nicht?“

„Also gut“, lenkte er ein, um das Thema zu beenden, und erhob sein Glas. „Worauf wollen wir trinken?“

„Auf die Scheidung“, schlug sie vor.

„Wie grausam du bist“, erwiderte er gespielt entrüstet und fuhr süffisant lächelnd fort: „Dass ich derjenige bin, dem übel mitgespielt wurde, ist dir aber schon klar? Schließlich bin ich derjenige, der in die Ehefalle gelockt wurde – und zwar von dir.“

„Ich habe dich nicht …“ Nein, sie konnte es nicht abstreiten, denn irgendwie hatte er ja recht. Sie hatte ihn in die Falle gelockt, weil sie ihn gewollt hatte. Ein verwöhntes und berechnendes junges Ding war sie damals gewesen und hatte es schließlich auch geschafft, ihn zu kriegen. Aber sie hatte ihn auch geliebt – oder es zumindest geglaubt. Und bezahlt hatte sie. Oh ja, hundert-und tausendfach hatte sie für ihr jugendliches Sehnen nach Liam Rouse bezahlt.

Er sieht toll aus, dachte sie widerstrebend, als er sich ihr gegenüber auf das andere Sofa setzte und seine langen Beine von sich streckte. Immer noch der gleiche muskulöse Körper. Kein Gramm Fett. Die gleiche breite Brust, die gleichen schmalen Hüften und die gleichen kräftigen Oberschenkel. Und doch hatte er sich verändert.

Als sie ihn kennengelernt hatte, war Liams Männlichkeit gerade erwacht, war ungestüm gewesen und gesteuert von purem Verlangen. Jetzt hatte sich etwas hinzugesellt und war unterschwellig immer vorhanden: Entschlossenheit und eiserne Selbstbeherrschung. Diese neuen Wesenszüge spiegelten sich in der gelassenen Wachsamkeit seines markanten Gesichts wider, mit der er Scarletts prüfenden Blicken standhielt.

Sie atmete tief durch und sah ihm direkt in die Augen, als könnte sie dort die Antwort auf ihre Fragen finden. Was hatte Liam verändert? Wodurch war der wunderbar wilde Liebhaber, den sie gekannt hatte, zu diesem beherrschten und kultivierten Mann geworden, der nun vor ihr saß?

„Warst du die ganzen Jahre in England?“

„Warum fragst du?“ Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Hast du mich vermisst?“

Ja, und zwar sehr, aber das würde er nie erfahren. „Ich bin auch ohne dich ganz gut über die Runden gekommen.“

„Aber meinen Körper wirst du doch wenigstens vermisst haben, oder, Scarlett?“

Entsetzt bemerkte sie, wie ihr eigener Körper auf den bloßen Gedanken an seinen reagierte: das vertraute Ziehen in ihren Brüsten; das Hartwerden der Knospen, die sich aufrichteten; das Kribbeln zwischen ihren Beinen, das sie kaum still sitzen ließ. Erregung und Scham trieben ihr gleichermaßen die Röte ins Gesicht, denn als sie seinem Blick begegnete, sah sie darin, dass Liam nichts vermisst hatte.

„Ja, Scarlett“, bekräftigte er sanft. „Meinen Körper hast du gewaltig vermisst.“

Gewaltig war das richtige Wort – oh, dieser Teufel! Er hatte sie durchschaut. Scarlett trank einen Schluck Brandy und zwang sich zu einer souveränen Miene. „Manchmal kannst du einen richtig anöden, Liam. Die Kunst gepflegter Unterhaltung hast du wohl total verlernt.“ Höhnisch lächelte sie ihn an. „Ach, wie dumm von mir! Jetzt hätte ich doch beinahe vergessen, dass du diese Kunst ja nie beherrscht hast.“

„Scarlett, Scarlett“, meinte er kopfschüttelnd, „was soll dieses herablassende Getue? Hat dir noch niemand gesagt, dass das nicht gerade ein Zeichen von Intelligenz ist?“

Warum nur gelingt es mir bei ihm nie, die Oberhand zu gewinnen? dachte sie und fuhr ihn ärgerlich an: „Geh zum Teufel!“

Er quittierte ihren Wunsch mit einem kurzen Lachen. „Wo waren wir doch gleich stehen geblieben, bevor du beschlossen hast, albern zu werden? Wolltest du mich nicht über mein Leben ausfragen?“

Eigentlich hätte sie ihm jetzt sagen müssen, dass sie an nichts, was ihn betraf, auch nur im Geringsten interessiert sei, und deshalb fand sie es ziemlich merkwürdig, dass sie ihn fragte: „Wo bist du all die Jahre gewesen?“

Er trank einen Schluck Brandy und stellte das Glas zurück auf den Tisch. „Zuerst ging ich nach Australien. Dann in die Staaten. Meinen Hauptwohnsitz habe ich immer noch in Australien.“

Und nun? dachte sie, und es fiel ihr das Sprichwort „Aus den Augen, aus dem Sinn“, ein. Aus den Augen hatte sie Liam wohl verloren gehabt, aus dem Sinn aber nie. Er hatte doch nicht etwa vor, wieder in ihr Leben einzudringen? „Und was willst du nun wieder in England?“, formulierte sie vorsichtig ihre Befürchtung.

„Das kommt ganz auf das Ergebnis unseres Gesprächs an“, erklärte er vage.

Etwas an der Art, wie er das gesagt hatte, ließ Scarlett wachsam werden. Misstrauisch blickte sie ihn aus zusammengekniffenen Augen an. „Kannst du vielleicht noch etwas deutlicher werden?“

„Ich habe es dir vorhin schon gesagt. Ich will dir einen Vorschlag machen.“

Nun war sie doch langsam neugierig geworden. „Welchen Vorschlag?“

„Ich möchte, dass du mir einen Gefallen tust“, rückte er heraus und lächelte sie verführerisch an.

Scarlett musste lachen. „Das ist doch die Höhe! Da tauchst du nach zehn Jahren wieder auf und bildest dir ein, ich würde dir einen Gefallen tun. Dazu bist du nun wirklich nicht in der richtigen Position.“

„Du täuschst dich, Scarlett.“ Sein Lächeln war einem Ausdruck kühler Selbstsicherheit gewichen. „Das Leben hat mich einen wichtigen Grundsatz gelehrt, und an den halte ich mich: Wenn ich etwas tue, tue ich es nur aus einer starken Position heraus.“

Etwas an diesem neuen Liam verursachte Scarlett Unbehagen. Er kam ihr vor wie der sprichwörtliche Wolf im Schafspelz. Die wilde, fast primitive Männlichkeit, die er früher offen zur Schau getragen hatte, schien nun verborgen unter dem Mantel kühler Beherrschtheit.

Obwohl, dachte sie verbittert, kühl war er damals schon. Um nicht zu sagen kalt. Kalt und gefühllos. Er hatte sie verlassen ohne ein Wort, kein Blick zurück – nein, ihn würde sie kein zweites Mal in ihr Leben eindringen lassen! Nein, so dumm war sie nicht!

Als sie ihn ansah, gelang es ihr, völlig unvoreingenommen zu wirken. „Welchen Gefallen soll ich dir also tun?“, fragte sie sachlich, fügte aber mit verletzendem Unterton hinzu: „Falls du Geld willst, ist die Antwort nein.“

Und dieser Satz provozierte eine Reaktion. Es war eine so flüchtige Reaktion, dass jemand, der dieses markante Gesicht nicht in- und auswendig kannte, sie gar nicht bemerkt hätte. Aber Scarlett bemerkte sie, sah den Zorn in Liams blauen Augen aufblitzen, und es war ein Zorn, der auf unheimliche Weise wie eine Drohung wirkte. Ihr Herz schlug schneller, und da erkannte sie, dass diese Drohung sexueller Natur war, gerichtet an ihren verräterischen, bereitwilligen Körper.

So schnell Liams Zorn aufgeblitzt war, so schnell war er wieder verschwunden und unverhohlener Missbilligung gewichen. „Denkst du, ich brauche dein Geld?“, fragte er kopfschüttelnd. „Und selbst wenn ich Geld bräuchte, glaubst du, ich käme gekrochen und würde ausgerechnet dich darum bitten? Was du als Gegenleistung gern hättest, kann ich mir übrigens gut vorstellen.“ Verächtlich verzog er den Mund. „Ich muss dich enttäuschen, Scarlett. Den Sexprotz habe ich einmal im Leben gespielt, und das war genau einmal zu viel.“

Starr vor ungläubigem Entsetzen blickte Scarlett ihn an. Nein, das konnte er nicht glauben – das doch nicht! Glaubte er etwa, dass sie ihn nur fürs Bett gebraucht habe? Er war doch ihr Ein und Alles gewesen, ihre ganze Welt hatte sich nur um ihn gedreht. Die Erinnerung ließ sie erschauern.

„Es mag ja sein, dass du Zeit und Lust hast, hier herumzusitzen und über eine Episode unseres Lebens zu diskutieren, die man besser ein für alle Mal vergessen sollte – ich nicht.“ Herausfordernd sah sie auf ihre Uhr. „Meine Party ist in vollem Gang, und meine Gäste werden mich vermissen – also los, Liam, raus damit.“

Liam lächelte nur, und das brachte Scarlett auf die Palme. „Jetzt sag endlich, was du willst! Spuck ihn aus, deinen Vorschlag!“

„Wie gewählt du dich wieder ausdrückst“, spöttelte er und schlug lässig die langen Beine übereinander. „Na gut, dann will ich es dir eben sagen. Scarlett, ich brauche nicht dein Geld, ich brauche dich.“

Ihr Puls begann zu rasen. Lang vergessenes Sehnen erwachte tief in ihrem Innern. Ihr Mund wurde trocken. „Was hast du gesagt?“, flüsterte sie.

Er lächelte weich. „Ich möchte, dass du mir einen kleinen Gefallen tust, Scarlett.“

Das Sehnen wich Verwirrung. Wollte er nun sie oder einen Gefallen? Verblüfft fragte sie nach: „Welchen Gefallen?“

Ihre Verwirrung schien ihn zu amüsieren. „Ich stehe kurz vor einer großen geschäftlichen Transaktion. Die Unterzeichnung der Fusionsverträge ist praktisch nur noch Formsache, und ich möchte die erfolgreichen Verhandlungen mit einem würdigen Abschluss krönen. Deshalb gebe ich für meine zukünftigen Geschäftspartner und deren Frauen ein Fest. Es wird in meinem Haus in Australien stattfinden, und ich will, dass alles wie am Schnürchen läuft. Dazu brauche ich natürlich eine Gastgeberin, jemand, der diese Rolle perfekt spielt – und wer könnte das besser als du, Scarlett?“

3. KAPITEL

Scarlett sah Liam an, als würde der Leibhaftige vor ihr sitzen. Wie in Zeitlupe schüttelte sie ungläubig den Kopf. „Das ist ja absurd! Lachhaft! Dieses Ansinnen ist so hirnrissig, dass es nicht einmal eine Antwort verdient.“

Ihre negative Reaktion schien ihn nicht im Geringsten zu beunruhigen. „Du wirst es also nicht tun?“

Fast wäre sie an dem letzten Schluck Brandy erstickt, den sie hinuntergekippt hatte, um sich gegen Liam und dessen seltsame Vorschläge zu wappnen. „Natürlich werde ich es nicht tun! Wie kannst du die Stirn haben, es auch nur in Erwägung zu ziehen! Ich bin heilfroh, wenn ich keine Minute länger als unbedingt nötig in deiner Gesellschaft verbringen muss, und du bildest dir ein, ich würde bei diesem Fest die Gastgeberin spielen, um deine komischen Geschäftsfreunde zu beeindrucken. Würde ich sie kennenlernen, wäre es mir allerdings eine große Freude, ihnen zu erzählen, wie …“

„Wie toll ich im Bett bin?“, fiel er ihr ins Wort und lachte, als sie tiefrot wurde.

Allein mit ihm in einer Gegend, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten, waren derartige Anspielungen das Letzte, was sie vertragen konnte. Sie musste ein für alle Mal klare Fronten schaffen, und zwar sofort!

„Wie oft muss ich es dir noch sagen? Ich bin verlobt und werde heiraten! Und wir, Liam, wir werden in fünf Wochen geschiedene Leute sein! Hast du das jetzt endlich kapiert?“

„Soll das heißen, du lehnst meinen Vorschlag ab?“

„Bist du wirklich so schwer von Begriff, oder tust du nur so?“, fragte sie, der Verzweiflung nahe. „Natürlich lehne ich ihn ab!“

Kopfschüttelnd, als würde ihn ihre Ablehnung irritieren, sah er sie an. „Und ich hatte gedacht, wir könnten uns gütlich einigen.“

„Dann hast du dich eben getäuscht.“

„Tja, Scarlett, dann muss ich dir wohl etwas sagen, das nicht gerade erfreulich ist“, meinte er zögernd.

„Nur zu, Erfreuliches hätte ich von dir sowieso nicht erwartet.“

Unbeeindruckt von ihrem Seitenhieb, fragte er: „Ist dir eigentlich klar, was dein Stiefvater so treibt?“

„Mein Stiefvater? Der ist treu wie Gold und treibt gar nichts!“

„Oh Scarlett, du denkst doch immer nur an das eine. Nein, ich meine geschäftlich.“

„Geschäftlich?“ Scarlett verstand nun gar nichts mehr. Was wusste denn Liam von Humphreys Geschäften?

„Dein Stiefvater steht kurz vor dem Bankrott“, eröffnete er ihr kurz und bündig.

Die Art, wie Liam diese Feststellung getroffen hatte, ließ keinen Zweifel an deren Wahrheitsgehalt, und doch weigerte sich Scarlett, es zu glauben. Sie spürte, wie Angst ihr die Kehle zuschnürte. „Das glaube ich nicht“, sagte sie tonlos.

„Es ist aber so.“ Liams blaue Augen funkelten kalt. „Dieses Cottage gehört jetzt mir – und ebenso der Großteil seiner anderen Besitztümer.“

Scarletts Herz klopfte wie wild. „Du lügst“, flüsterte sie.

Er ignorierte ihren Vorwurf. „Sein Geschäft steckt in Schwierigkeiten, und sein Haus ist bis unters Dach mit Hypotheken belastet.“ Liam steigerte die Dramatik, indem er eine kurze Pause machte, bevor er fortfuhr: „Und wenn die Bank ihm die Kredite kündigt …“

„Warum sollte die Bank das tun?“, wollte Scarlett wissen. „Und was hat das alles mit dir zu tun? Und mit mir?“

„Es hat sehr viel mit uns zu tun“, sagte er mit dieser rauen Stimme, die sie an früher und damit an das ganze Gefühlswirrwarr aus Freude und Kummer erinnerte, das Liam bei ihr angerichtet hatte.

„Der Mehrheitsanteil an der Bank, bei der Humphrey mit seinen Hypotheken und Geschäftskrediten in der Kreide steht, gehört nämlich ebenfalls mir“, erklärte er. „Wenn du mich dazu zwingst, kann ich dafür sorgen, dass ihm auf einen Schlag sämtliche Kredite gekündigt werden.“

„Ich verstehe nicht“, flüsterte sie. „Was soll das heißen?“

„Das habe ich dir bereits gesagt, Scarlett. Ich möchte, dass du bei meinem Fest die Gastgeberin spielst. Tu es – und nur das – und ich lasse ihn in Ruhe.“

Sie sah den Mann an, der ihr gegenübersaß und sie mit kalten Blicken maß. Sein Gesicht war ausdruckslos wie das eines Pokerspielers. „Du Mistkerl!“, rief sie dann. „Humphrey ist nicht mehr der Jüngste, und du wagst es …“

„Halt die Klappe“, befahl er barsch, und das Blitzen in seinen Augen verriet, dass er kurz davor war, die Beherrschung zu verlieren. „So töricht unsere kurze Ehe auch gewesen sein mag, eine Entschuldigung für das Verhalten deines Stiefvaters kann ich darin beim besten Willen nicht erkennen.“

Scarlett schoss die Röte ins Gesicht. Sie wusste genau, worauf er anspielte. „Wenn du das mit deiner Mutter meinst … ich habe mir von ihm versprechen lassen, dass er ihr …“

Du hast dir von ihm etwas versprechen lassen? Dass ich nicht lache! Als könnte ein junges Ding, wie du es damals warst, gegen einen Mann von Humphreys Rang und Namen etwas ausrichten!“, rief er aufgebracht und wurde dann plötzlich ganz ruhig, was Scarlett aber mehr beunruhigte als sein Zorn. „Soll ich dir sagen, was dein Stiefvater getan hat? Oder weißt du es bereits?“

„Er sagte, dass er ihr eine andere Arbeit besorgt …“ Die Verachtung in Liams Blick ließ Scarlett verstummen.

„Er hat gelogen“, sagte er kalt. „Und du wusstest es. Sie bekam keinen neuen Job.“

„Was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen? Einen Job aus dem Ärmel schütteln? Ich war gerade mal achtzehn, und außerdem …“

„Und außerdem war dein Stolz verletzt, weil ich dich verlassen hatte. Stimmt’s? Und deshalb fandest du es ganz in Ordnung, wie meine Mutter behandelt wurde.“

Im ersten Moment vielleicht – aber dann nicht mehr. „Ich habe deine Mutter immer gemocht und respektiert“, sagte sie.

„Schade nur, dass es mit Humphreys Respekt nicht weit her war“, meinte er sarkastisch. „Nachdem sie jahrelang für ihn geschuftet hatte, warf er sie einfach hinaus und gab ihr nicht einmal ein Arbeitszeugnis.“

Scarlett empfand plötzlich tiefe Scham. Ob er es bemerkte, wusste sie nicht, denn er stand auf und wandte ihr den Rücken zu. Seine breiten Schultern waren gestrafft, und seine ganze Haltung wirkte beherrscht, aber irgendwie wusste Scarlett, dass es in ihm drin ganz anders aussah. Der Mann, der so selten Gefühle zeigte, war innerlich in Aufruhr.

Am liebsten wäre sie zu ihm hingegangen, hätte ihn in die Arme genommen und ihn gestreichelt. Aber sie waren kein Paar mehr, und sie wusste, dass er sie wegstoßen würde, wenn sie sich die Freiheit nehmen würde, ihn zu berühren.

„Wie ist es ihr dann ergangen?“, erkundigte sie sich.

Seine Stimme war ruhig. Ruhig, kühl, sachlich. „Wie es Frauen, die nicht mehr ganz jung sind, keinen Mann haben und wieder von vorn anfangen müssen, eben so ergeht. Ich habe ihr von meinem Lohn für die Arbeit, die du so verachtet hast, gegeben, was ich erübrigen konnte. Sozialhilfe musste sie aber trotzdem beantragen, und das hat sie am meisten gewurmt“, berichtete er und fügte leise, wie zu sich selbst, hinzu: „Sie war eine stolze Frau.

Nach langem Suchen fand sie in einem anderen großen Haushalt schließlich doch noch eine Stelle, aber es war nicht mehr wie früher. Sie kannte niemanden und war wohl schon zu alt, um neue Freundschaften zu schließen. Dazu kam natürlich, dass ich nicht mehr daheim und sie allein war. Einsamkeit, Geldsorgen – sie verlor allen Lebensmut. Zwei Jahre später starb sie an einem Herzleiden.“

„Oh Liam, das tut mir leid“, sagte Scarlett mitfühlend.

Er wandte sich um, und seine blauen Augen blitzten teuflisch. „Wirklich?“, fragte er schroff. „Dir tut es leid?“

Sein anklagender Ton ließ sie zusammenzucken. Unsicher sah sie zu ihm auf. „Um Himmels willen, Liam, du gibst doch nicht etwa mir die Schuld am Tod deiner Mutter? So tragisch es ist, aber das kannst du doch mir nicht vorwerfen!“

„Ich weiß nicht, was ich dir vorwerfe!“, stieß er hervor. „Vielleicht werfe ich dir vor, dass du immer noch das willst – nach all den Jahren.“

Sie schnappte nach Luft und strauchelte, als er sie hochriss und in die Arme zog, sie festhielt und wild, wie ein marodierender Krieger auf sie herabsah. Und sie empfand genau das Gleiche wie damals, als er sie zum ersten Mal geküsst hatte – Leidenschaft pur.

Seine Lippen brannten heiß auf ihrem Mund und entfachten sofort ein wildes Feuer. Er küsste sie hart und fordernd und stieß auf keinerlei Widerstand, denn Scarlett wusste, dass er sie strafen wollte – und hatte nichts dagegen. Aus der Art, wie sie seinen Kuss erwiderte, war herauszuspüren, dass auch sie ihm wehtun wollte. Sie wollten sich gegenseitig bestrafen, wollten sich verletzen und wussten beide, dass es in diesem heißen Konflikt nur eine einzige befriedigende Lösung gab.

Er ließ einen Moment von ihr ab, um zu Atem zu kommen. „Ja, du kleine Schlampe“, flüsterte er dann heiser. „Du machst mich immer noch verrückt – auch wenn ich mich selbst dafür verachte.“

Scarlett durchlief ein Schauer, aber nicht einmal diese harten Worte brachten sie auf den Gedanken, sich aus seiner Umklammerung zu befreien. Stattdessen schloss sie die Augen und ließ es zu, dass er sich an sie drängte und quälend aufreizend an ihrem flachen Bauch rieb.

Eine Hand schob sich auf ihren Po, gespreizte Finger pressten sich in schwarzen Samt und hielten sie unerbittlich fest. „Oh ja, Scarlett“, stieß er hervor und lachte rau auf. „Ich möchte dir dein hübsches Kleidchen vom Leib reißen und diese scharfen schwarzen Strümpfe und Strapse sehen. Ich will das sehen. Verstehst du, Scarlett? Dich so zu sehen, soll nur mir vergönnt sein. Und dann will ich dich ausziehen, erst einen Strumpf, dann den anderen und dann den Rest … Langsam, ganz langsam – so, wie du es magst.“

Die einzige Reaktion, zu der Scarlett fähig war, war ein Zittern, und so fuhr er fort: „Ich will endlich wieder all die zarte weiße Haut sehen, will mein Gesicht an deine festen Brüste drücken und an deinen Knospen saugen, bis du vor Erregung schreist. Ich will auf dir sein, in dir sein, mich in dir verlieren. Willst du das auch? Sag mir, Scarlett, ist es das, was auch du willst?“

Unfähig, auch nur ein Wort zu formulieren, stimmte sie wie in Trance mit einem Nicken zu. Nichts anderes zählte mehr, nur das, nur er und sie. Dieses brennende Verlangen war das einzig Wahre. Es gab nur einen Mann, in dessen Armen sie zur wilden, leidenschaftlichen Frau erwachte, und das war Liam. Bei Henry hatte sie nie …

Der Gedanke an Henry wirkte wie eine kalte Dusche. Ernüchtert riss sie die Augen auf und sah Liam bestürzt an, fand in seinem Gesicht jedoch keine Spur von Leidenschaft. Er musste gefühlt haben, dass sie sich im Geiste von ihm distanziert hatte, denn er blickte kühl und nachdenklich auf sie herab. Nur seine Lippen, feucht glänzend und leicht geschwollen, erinnerten an die wilden Küsse von eben.

Beschämt registrierte Scarlett die Erregung, die in ihrem eigenen Körper noch tobte. Ein Blick in Liams blaue Augen zeigte ihr, dass auch er darum wusste, denn anders konnte man das Flackern darin nicht deuten. Sollte sie ihm nun Vorwürfe machen, weil er sie geküsst hatte? Nein, lieber nicht, denn mit Vorwürfen würde sie nur Spott und Hohn ernten – und das zu Recht. Denn sie hätte ihn bremsen können, ja, sie hätte ihn sogar bremsen müssen.

Aber dann hätte sie sich um dieses berauschende Glücksgefühl gebracht, das sie – leider viel zu kurz – erfüllt hatte.

Das Beste war wohl, so zu tun, als wäre nichts passiert.

Ruhig sah sie ihn an, die Erregung war nun fast aus ihrem Körper gewichen. „Es ist doch nicht dein Ernst, dass ich mit nach Australien kommen soll? Oder, Liam?“

„Natürlich ist es mein Ernst. Mein voller sogar.“

Sie schluckte. „Und wenn ich mich weigere, lässt du meinem Stiefvater die Kredite kündigen.“

„Du hast es erfasst.“

„Mistkerl“, sagte sie, ohne die Stimme zu erheben. „Und wie soll ich das Henry erklären?“

„Wozu ihm groß etwas erklären?“, meinte er grinsend und warf einen so lüsternen Blick auf Scarletts Brüste, die sich immer noch rascher als sonst hoben und senkten, dass sie ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst hätte. Aber Handgreiflichkeiten hätten die ohnehin emotionsgeladene Atmosphäre nur noch mehr aufgeheizt.

„Dir wird schon was einfallen, Scarlett. Du bist doch eine fantasievolle Frau. Hinterlass ihm einfach die Nachricht, dass du in spätestens vierzehn Tagen zurück seist. Schreib, dass du Hochzeitseinkäufe machst, und deute an, dass ihn in der Hochzeitsnacht etwas sehr Aufregendes erwarten wird – damit sollte er sich zufriedengeben, oder meinst du nicht?“

Er kniff die Augen zusammen und sah sie nachdenklich an. „Obwohl, vielleicht gibt er sich doch nicht damit zufrieden, denn möglicherweise ist ja auch er total frustriert.“ Zynisch lächelnd fügte er hinzu: „Dass du frustriert bist, ist jedenfalls klar, denn so, wie du mich geküsst hast, küsst nur jemand, der seinen Frust loswerden will.“

„Spar dir deine Bosheiten!“, fuhr Scarlett ihn an. „Du bist und bleibst ein ganz gemeiner und brutaler Kerl!“

„Und du hasst sie, meine Brutalität, nicht wahr? Das hast du ja auch ganz deutlich gezeigt, als du meinen Kuss erwidert hast“, spottete er. „Aber lassen wir deine sexuellen Neigungen jetzt mal beiseite. Bist du bezüglich meines Vorschlags schon zu einem Entschluss gekommen?“

Sie warf ihm einen finsteren Blick zu und beschloss, ihn so gegen sich aufzubringen, dass er gern darauf verzichten würde, sie mitzunehmen. „Lass mich eines klarstellen: Wenn ich mich einverstanden erkläre, mit nach Australien zu kommen, tue ich das in erster Linie, um dir Manieren beizubringen. Ich werde dir zeigen, wie man sich bei Tisch benimmt, wie man Servietten benutzt und Artischocken isst …“

Zu ihrer Verblüffung wurde er nicht wütend, sondern lachte nur. „Das Messer abzulecken habe ich mir auch noch nicht abgewöhnen können – vielleicht schaffe ich es jetzt endlich mit deiner Hilfe.“

Irritiert sah sie ihn an. Ja, er veralberte sie, und das Schlimmste daran war, dass es wehtat. Es tat weh, und es verwirrte sie, denn ihr war schlagartig bewusst geworden, dass ihre kurze, unglückselige Ehe eigentlich nur aus einer fast erbitterten Leidenschaft bestanden hatte. Waren sie je albern gewesen oder ausgelassen? Hatten sie je miteinander gelacht? Scarlett konnte sich nicht daran erinnern, dabei konnte ein Lachen doch so etwas Vertrauliches sein, wie sie gerade festgestellt hatte …

„Und wie lange, denkst du, werde ich bleiben?“, fragte sie und wusste im gleichen Moment, dass sie mit dieser Frage ihr Schicksal besiegelt hatte.

„Länger als eine Woche brauche ich dich sicher nicht“, stellte er in geschäftsmäßigem Ton fest.

„Und du drückst ein Auge zu bei meinem Stiefvater, wenn ich mit dir komme?“, vergewisserte sie sich.

Er schüttelte den Kopf. „Ich werde kein Auge zudrücken, sondern lediglich dafür sorgen, dass man ihm genug Zeit lässt, seine Angelegenheiten zu regeln.“

Und dann würde Liam wieder aus ihrem Leben gehen. „Versprichst du, dass du uns dann alle in Ruhe lässt?“

Sein Lächeln war ein Versprechen, und zwar ein erotisches. „Das kann ich beim besten Willen nicht. Denn bis dahin, meine liebe Scarlett, wünschst du dir vielleicht nichts sehnlicher, als dass ich zumindest dich nicht in Ruhe lasse.“

4. KAPITEL

„Also, wie lautet die Antwort?“, wollte Liam wissen. „Ja oder nein?“

„Aber warum willst du ausgerechnet mich?“, fragte Scarlett verständnislos. „Es muss doch eine ganze Reihe Frauen geben, die bei deinem Fest die Gastgeberin spielen könnten?“ Sie war überzeugt, dass sich viele Frauen um diese Rolle geradezu reißen würden.

„Stimmt, die gibt es“, pflichtete er ihr bei. „Aber die will ich nicht, Scarlett – ich will dich.“

„Aber warum gerade mich?“, fragte sie noch einmal, obwohl sie einkalkulierte, dass ihr die Antwort nicht gefallen könnte.

Und sie hatte recht. Sie gefiel ihr nicht.

„Nun komm schon“, spöttelte er. „Lass deine Fantasie spielen, Scarlett. Siehst du nicht die feine Ironie, die in dieser Sache steckt? Du schmückst mit deiner Anwesenheit meine Festtafel. Oder gefällt dir die Vorstellung nicht? Vielleicht war ich dir als einfacher Arbeiter ja lieber – weil leichter zu manipulieren, wie?“

Hatte sie ihn wirklich manipuliert? Rückblickend mochte es ja so aussehen, aber damals … Damals hatte sie aus dem Bauch heraus gehandelt, wie getrieben von einer übermächtigen Kraft, die keinen Raum für Logik oder vernünftiges Denken ließ. Damals hatte sie es Liebe genannt. Rückblickend hatte sie so ihre Zweifel.

Sie räusperte sich und legte bittend die Hände aneinander, ohne sich dessen bewusst zu sein. „Wenn ich mich einverstanden erkläre, musst du mir dein Wort geben, dass du nach diesem Fest wieder aus meinem Leben verschwindest. Das ist mir das Wichtigste – viel wichtiger, als Humphreys Haut zu retten.“

„Und warum ist das so?“

„Das weißt du ganz genau.“

„Ja, weil du glaubst, ich sei immer noch scharf auf dich“, sagte er und lächelte zynisch. „So scharf wie du auf mich. Armer Henry. Stell dir vor, da seid ihr verheiratet, und du hast nur eines im Kopf – und das bin ich.“

„Du Schuft“, erwiderte sie, empört über seine Direktheit. „Du hast keine Moral.“ Das Schlimmste aber war, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.

„Beschimpf mich ruhig, wenn dir dann wohler ist“, meinte er unbeeindruckt und fragte abschließend: „Also machst du es?“

„Mir bleibt wohl keine Wahl.“

„Gut, dann schlage ich vor, dass wir ein paar Stunden schlafen, denn wir haben morgen einen langen Tag vor uns.“

„Schlafen? Hier?“ Scarlett schüttelte heftig den Kopf. „Ohne mich!“

„Stell dich doch nicht so an, Scarlett.“ Sein Blick glitt zu einer Tür. „Es ist warm, es ist gemütlich, und dort drüben wartet ein großes Bett …“

„Liam, in diesem Haus schlafe ich nicht“, fiel sie ihm ins Wort. „Und damit basta!“

„Und wenn ich auf dem Sofa schlafe?“, versuchte er sie umzustimmen, aber das Funkeln seiner Augen verriet, dass er es dort wohl nicht lange aushalten würde. Da Scarlett ihm an diesem Abend schon einmal fast erlegen wäre, glaubte er vermutlich, leichtes Spiel zu haben und letztendlich auch in ihr Bett gelassen zu werden.

Wie kann er nur so unsensibel sein, dachte Scarlett erbost. War ihm denn nicht klar, dass sie es nicht ertragen würde, hier zu schlafen? Hier, wo sie sich zum ersten Mal geliebt hatten? Kein Auge würde sie zutun angesichts all der Erinnerungen. Und, viel schlimmer noch, würde sie nicht doch der Versuchung erliegen und ihn einlassen, wenn er an ihre Tür klopfte? Würde sie es wirklich schaffen, ihn abzuweisen, wenn er sein Glück versuchte? Dass er es versuchen würde, bezweifelte sie nicht, denn dafür kannte sie ihn zu gut.

„Nein, hier bleibe ich nicht“, sagte sie entschlossen. „Das ist mein letztes Wort.“

Seufzend rieb er mit dem Daumen über die Bartstoppeln auf seinem Kinn und streckte sich gähnend. „Na gut, wie du meinst. Dann fahren wir eben zurück nach London. Morgen müssen wir dort ja sowieso dein Visum besorgen. Hast du deinen Pass dabei?“

„Nein, der ist in London, in meiner Wohnung.“

„Prima, dann fahren wir gleich und übernachten bei dir, und morgen stehen wir mit den Hühnern auf.“

„Halt!“ Scarlett bedachte ihn mit einem frostigen Lächeln. „Ich übernachte in meiner Wohnung. Du gehst ins Hotel – oder schläfst auf einer Parkbank, wenn du kein Zimmer findest.“

„Aber Scarlett“, spöttelte er. „Könntest du nach all den Gelübden, die wir abgelegt haben, deinen armen Mann wirklich auf die Straße jagen?“

Scarlett erstarrte. „Eines lass dir sagen, Liam. Mach dich nie, nie wieder lustig über diese Gelübde. Hast du mich verstanden? Dir mögen sie ja nichts bedeutet haben, aber …“

Mit einem Schlag hatte sich seine Stimmung gewandelt, und sein Ton war schneidend, als er jetzt sagte: „Was hätten sie mir auch bedeuten sollen? War nicht alles Lug und Trug, Scarlett? War es nicht eine Lüge, mit der du mich zum Traualtar geschleppt hast? Für dich war ich doch nur ein begehrtes Objekt, etwas, das du unbedingt haben wolltest. Und um mich zu bekommen, war dir jedes Mittel recht – sogar Lügen.“

Unverhohlene Aggression verzerrte sein Gesicht und ließ Scarlett zurückschrecken, denn ihr wurde zum ersten Mal so richtig bewusst, wie sehr dieser Mann sie verabscheute. Und sie, wie empfand sie für ihn? Verabscheute sie ihn auch? Hasste sie ihn? Nein, sie konnte ihn einfach nicht hassen, denn dafür hatte er in ihrem Herzen einen viel zu festen Platz. Solange Liam in ihrer Nähe war, würde er immer eine schier unwiderstehliche Versuchung darstellen.

Sie sah zu ihm auf und sah in eiskalt blickende blaue Augen.

„Gehen wir?“, fragte er scharf, und Scarlett nickte stumm und fragte sich, ob er sie und ihre Familie wirklich in Ruhe lassen würde, nachdem sie ihm diesen „Gefallen“, getan hatte. Es war schon seltsam, aber irgendwie hatte sie wirklich den Wunsch, ihm zu helfen, obwohl sie natürlich auch neugierig war zu erfahren, wie er jetzt lebte. Außerdem schuldete sie ihm etwas. Oder hatte sie etwa nicht vor all den Jahren sein Leben gründlich durcheinandergebracht – und zwar viel gründlicher als er ihres?

„Hier. Zieh den an.“ Er half ihr in einen schwarzen Kaschmirmantel, der so weich und flauschig war, dass sie sich darin wie in einem Kokon geborgen fühlte. Zweifellos war es Liams Mantel, denn er trug unverwechselbar dessen ganz eigenen männlichen Duft. Da Liam ein beachtliches Stück größer war als Scarlett, schleifte der Mantelsaum im Schnee, als sie das Cottage verließen und zum Wagen gingen.

Die verschneite Landschaft wirkte im Mondlicht wie eine Zauberwelt, und Scarlett fühlte sich wie das Mädchen in ihrem Lieblingsmärchen, das eine Schranktür öffnet und dahinter eine ganz neue, fremde Welt vorfindet.

Sie würde auf der Hut sein müssen, denn war es nicht genau das, was Liams Charme schon immer ausgemacht hatte – seine Fähigkeit, das Normale in etwas Wundervolles und Außergewöhnliches zu verwandeln? Und deshalb reiste sie mit ihm schließlich nicht den ganzen Weg nach Australien. Er zwang sie, etwas für ihn zu tun, weil er ihr auf eine gewisse primitive Art all das heimzahlen wollte, was vor Jahren geschehen war. Für ihn war diese Rache mit Sicherheit eine ganz besonders süße. Dass Scarlett ihn immer noch für den attraktivsten Mann auf der Welt hielt, machte die ganze Sache für sie aber nur noch komplizierter.

Dass er sie genauso anziehend fand, schien ihm allerdings kein Kopfzerbrechen zu machen. Wahrscheinlich würde es ihm sogar gefallen, ihre Beziehung auch auf körperlicher Ebene wieder aufleben zu lassen, nur um sich dann von Scarlett erneut abzuwenden und zu gehen. Und genau davor hatte sie Angst.

Es begann wieder zu schneien, als sie losfuhren, und bald fielen die Flocken so dicht vom Himmel, dass der Scheibenwischer fast überfordert war.

„Verdammt!“, fluchte Liam leise und versuchte mit zusammengekniffenen Augen, die Straße zu erkennen. „Ich wusste, dass es keine gute Idee war, heute Nacht noch zu fahren. Wenn wir im Schnee stecken bleiben, kannst du was erleben.“

„Es scheint dir zur Gewohnheit zu werden, an allem mir die Schuld zu geben“, erwiderte Scarlett schroff. „Übernimmst du nie selbst die Verantwortung für das, was du tust?“

Er warf ihr einen raschen Seitenblick zu und sagte: „Natürlich“, sagte es aber in einem so eigenartigen Ton, dass Scarlett nicht wusste, auf welche ihrer Äußerungen Liam sich bezog. Da er bei diesem Wetter seine ganze Aufmerksamkeit der Straße widmen musste, ließ sie es jedoch dabei bewenden.

Die Fahrt war der reinste Albtraum, und Liam fuhr so vorsichtig wie nur möglich, aber dann kam der Porsche doch ins Rutschen. Ein Aufprall, Scarlett wurde nach vorn geschleudert und sah ihren Kopf schon gegen die Scheibe schlagen, aber der Sicherheitsgurt bewahrte sie davor. Liam stellte sofort den Motor ab und packte sie bei den Schultern. „Bist du verletzt?“

„Nur ein bisschen durcheinandergeschüttelt. Ist … ist alles in Ordnung?“

„Klar, es könnte gar nicht besser sein“, sagte er grimmig. „Wir stecken in einer Schneewehe, und draußen tobt der vielleicht schlimmste Schneesturm des Jahrhunderts.“

Scarlett ignorierte seinen Sarkasmus. „Und was machen wir jetzt?“

Er warf ihr einen finsteren Blick zu. „Das beste Mittel gegen Erfrieren ist bekanntlich Aneinanderkuscheln, aber wozu das bei uns führen würde, kann ich mir lebhaft vorstellen.“

„Spar dir deine Fantasien.“

„Schon gut, schon gut.“ Er öffnete die Wagentür, schwang die Beine hinaus und fluchte, als sie bis über die Waden im Schnee versanken. „Ich habe einen Spaten dabei – vielleicht kann ich die Räder freischaufeln.“

„Ich helfe dir.“

„Du bleibst, wo du bist.“

„Aber ich will …“

„Was du willst, ist mir verdammt egal, Scarlett!“, schrie er sie an. „Deinetwegen stecken wir hier fest. Und wenn du jetzt nicht sofort die Klappe hältst und still sitzen bleibst, lege ich dich übers Knie“, polterte er und fügte dann völlig überraschend mit diesem umwerfend verführerischen Lächeln hinzu: „Und das könnte auch zu etwas ganz anderem führen. Also tu mir den Gefallen, Scarlett, bleib hier und halt dich warm.“

Und so blieb sie im Wagen sitzen und beobachtete, wie er mit kraftvollen Bewegungen die Schneemassen wegschippte, die den Porsche gefangen hielten. Als wäre es erst gestern gewesen, erinnerte sie dieses Bild an früher, wenn sie Liam bei der Arbeit zugesehen hatte. Damals hatte er in Jeans und mit nacktem Oberkörper geschaufelt, heute tat er es im Smoking. Er muss doch frieren, schoss es ihr da plötzlich durch den Kopf, und sie stieß die Autotür auf.

„Liam!“, schrie sie gegen den eisigen Wind, der ihr fast den Atem nahm.

„Mach die verdammte Tür wieder zu!“, befahl er, ohne auch nur einen Moment innezuhalten.

„Liam, du holst dir doch den Tod! Willst du den Mantel?“

Autor

Sharon Kendrick
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