Neue Chance für die Liebe - das Erbe der Moorehouses (3-teilige Miniserie)

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Man nehme: Dich und mich!
Gehofft, gebangt – und trotzdem verloren? Entmutigt glaubt Frankie, dass ihre Pension endgültig vor dem Aus steht: Mitten in der Saison hat der Küchenchef gekündigt. Da steht, wie vom Himmel geschickt, der Vier-Sterne-Koch Nate Walker vor ihr und bietet kurz entschlossen seine Hilfe an. Frankie muss nur Ja sagen! Doch diesem charmanten, unverschämt selbstsicheren Mann das Sagen in der Küche zu überlassen, fällt ihr nach Jahren einsamer Entscheidungen unendlich schwer. Genauso schwer, wie an die Liebe zu glauben, als er sie eines Tages zärtlich küsst.

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  • Erscheinungstag 06.07.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783733787035
  • Seitenanzahl 480
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Jessica Bird

Neue Chance für die Liebe - das Erbe der Moorehouses (3-teilige Miniserie)

Jessica Bird

Man nehme: dich und mich!

IMPRESSUM

BIANCA erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG,
20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Brieffach 8500, 20350 Hamburg
Telefon: 040/347-25852
Fax: 040/347-25991

© 2005 by Jessica Bird
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V., Amsterdam

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA
Band 1640 (19/1) - 2008 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Stefanie Rudolph

Fotos: Masterfile

Veröffentlicht im ePub Format im 04/2011 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86349-876-4

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

1. KAPITEL

Ein einzelner harmloser Tropfen war die einzige Vorwarnung für den Sturzbach. Er fiel auf die Monatsabrechnung, die vor Frances Moorehouse auf dem Schreibtisch lag, und zeigte ihr noch deutlicher als die roten Zahlen, wie schlecht es um die Hotelpension White Caps stand.

War das Dach etwa schon wieder undicht? So elegant und verwunschen die alte Villa mit ihren vielen Erkern und Türmchen wirkte, die Dachkonstruktion war ein Albtraum. In den vielen Winkeln und Überständen sammelten sich ständig Feuchtigkeit und Laub, und irgendwo gab es bei Regen immer eine undichte Stelle.

Stirnrunzelnd blickte Frankie aus dem Fenster. Aber es regnete doch gar nicht!

Als sie zur Decke schaute und den riesigen dunklen Fleck sah, blieb ihr gerade noch Zeit für ein entsetztes „Was, zum Teufel …“, bevor an die hundert Liter Wasser über sie und den Schreibtisch hereinbrachen.

Leider war es auch kein sauberes Regenwasser, sondern eine übel riechende Brühe, vermischt mit Gipsbrocken aus der Decke und verrotteten Pflanzenteilen. Als der Sturzbach endlich verebbte, nahm Frankie die Brille ab und hob hilflos die Arme.

Dann hörte sie im Flur Schritte, und sie stand hastig auf und zog die Bürotür von innen zu.

„Hey, Frankie, ist was passiert?“, erklang von draußen Georges unverkennbare Bassstimme. Doch von ihm war leider keine Hilfe zu erwarten. George arbeitete jetzt seit sechs Wochen im White Caps, und manchmal hatte sie das Gefühl, eine Schnecke bewege sich schneller als er.

Eigentlich hatte sie ihn als Hilfskoch eingestellt, aber die meiste Zeit stand er nur herum und den anderen im Weg – was bei seiner Größe von fast zwei Metern bei an die hundertfünfzig Kilo Lebendgewicht kein Wunder war.

Am liebsten hätte Frankie ihn schon am zweiten Tag wieder gefeuert, aber er brauchte den Job nun mal. Außerdem hatte er ein gutes Herz und war nett zu ihrer Großmutter.

„Ist alles okay bei dir?“, fragte er besorgt.

„Ja, alles bestens.“ Es war ihre Standardantwort auf die verhasste Frage. „Kümmere dich um das Brot für die Brotkörbe, ja?“

„Ist gut, Frankie.“

Erschöpft schloss sie die Augen. Von der Decke tropfte es noch immer, und sie freute sich nicht darauf, hier sauber zu machen. Aber zum Glück funktionierte wenigstens der Nasssauger noch, die Aufgabe war also zu bewältigen.

Die finanziellen Probleme von White Caps dagegen schienen nie ein Ende zu nehmen. Die große Hotelpension mit angeschlossenem Restaurant stand am Ufer des Saranac Lake in den Adirondack Mountains. Das Haus befand sich seit dem Bau im Besitz ihrer Familie, und zehn der geschichtsträchtigen Räume dienten als Gästezimmer. Doch seit einigen Jahren lief das Geschäft schleppend. Die Leute reisten nicht mehr so viel, es gab weniger Übernachtungen, und auch das Restaurant warf nicht genug ab, obwohl es fast das einzige in der Gegend war.

Ein Grund für die schlechte Auftragslage war das Haus selbst. Es war im 18. Jahrhundert als Sommerresidenz gebaut worden und musste eigentlich von Grund auf renoviert werden. Ein neuer Anstrich hier und hübsch bepflanzte Blumenkästen dort konnten nicht mehr verbergen, dass überall die Trockenfäule saß, die Dachrinnen sich lösten und die Verandastufen durchhingen.

Und jedes Jahr kam etwas Neues dazu. Entweder leckte das Dach, oder ein Boiler gab seinen Geist auf. Bitter starrte Frankie zur Decke hinauf, wo durch das fußballgroße Loch marode Leitungen zu sehen waren. Dieses Jahr war es dann wohl die Installation.

Sie knüllte den durchnässten Computerausdruck zusammen und warf ihn in den Papierkorb. Mutlos zupfte sie sich Gipsbröckchen aus dem Haar. Nicht nur das Haus wurde immer älter und weniger anziehend – auch vor ihr machte die Zeit nicht halt. Mit einunddreißig fühlte sie sich an den meisten Tagen wie Mitte fünfzig. Seit zehn Jahren arbeitete sie nun schon sieben Tage die Woche. Wann war sie das letzte Mal beim Friseur gewesen? Oder shoppen? Ihre Fingernägel brachen ständig ab, die Brille war ein Kassengestell, und sie lebte von Kaffee und Brot, weil ihr die Zeit für richtiges Essen fehlte.

Mit sehr lustlosen Bewegungen machte sie sich ans Aufräumen.

„Frankie?“

Das war Joy, ihre Schwester. Frankie musste sich schwer zusammennehmen, um nicht zu brüllen: Frag jetzt nicht, ob alles okay ist!

„Ist alles okay?“

Seufzend schloss sie die Augen. „Ja, alles bestens.“

Eine Weile blieb es still. Frankie stellte sich vor, wie Joy vor der Tür stand, eine Hand auf den Rahmen gelegt, das wunderschöne, engelhafte Gesicht besorgt.

„Wo ist Grand-Em?“, fragte Frankie. Wenn sie die Sprache auf ihre Großmutter Emma brachte, ließ sich Joy vielleicht ablenken.

„Sie liest das Telefonbuch.“

Sehr schön, das würde sie eine Weile beschäftigen. Die alte Dame litt unter immer schwererer Demenz und brauchte fast ständig Betreuung.

„Ach, Frankie, weshalb ich hier bin …“

„Ja?“

Die Antwort war so leise, dass Frankie mit dem Aufräumen innehielt, um ihre Schwester besser zu hören. „Kannst du etwas lauter reden, ich versteh dich ja kaum.“

„Tja, äh … Chuck hat angerufen.“

Mit Schwung warf Frankie einen größeren Gipsbrocken in den Papierkorb.

„Sag jetzt nicht, dass er wieder zu spät kommt. Heute ist nicht irgendein Freitag, Herrgott, sondern der vorm Feiertagswochenende!“

Frankie hoffte sehr, dass wie schon letztes Jahr zum vierten Juli wieder ein paar Pärchen aus der Stadt zum Abendessen kommen würden. Die vier Übernachtungsgäste mitgerechnet, würden sie vielleicht neun oder zehn Menüs servieren – nicht so viele wie früher, aber doch immerhin mehr als sonst.

Wieder sprach Joy so leise, dass Frankie sie nicht verstand. Entnervt riss sie die Tür auf. „Was sagst du?“

Erschrocken prallte Joy zurück. Ihre blauen Augen weiteten sich, als sie Frankies klatschnasses Haar und das Chaos hinter ihr sah.

„Sag jetzt lieber nichts“, warnte Frankie. „Ich will nur hören, was Chuck wollte, und sonst kein Wort.“

Hastig sprudelte Joy die Nachricht des Kochs hervor: Er und seine Freundin wollten heiraten und nach Las Vegas ziehen. Deshalb würde er nicht mehr kommen – weder heute Abend noch am Wochenende. Also eigentlich überhaupt nicht mehr.

Mit zitternden Knien lehnte sich Frankie an den Türrahmen. Die nassen Kleider klebten ihr am Leib. Als Joy die Hand nach ihr ausstreckte, wehrte sie sie jedoch ab, atmete tief durch und richtete sich auf. „Also schön, dann werde ich jetzt erst mal duschen. Und dann machen wir Folgendes …“

Lucille hauchte mitten auf einer verlassenen Landstraße irgendwo in den Adirondack Mountains im nördlichen Teil des Staates New York ihr Leben aus.

Gerade war der rüstige Saab Baujahr 1987 noch mit achtzig Sachen durch die Berge gekurvt, doch dann gab es einen lauten Knall, der Motor ging aus – und das war’s.

Nate Walker fluchte leise vor sich hin. Er hatte den Wagen damals neu gekauft und seitdem gehegt und gepflegt. Doch als er den Zündschlüssel umdrehte, gab nur der Anlasser ein Geräusch von sich, nicht der Motor.

„Ach kommt, Lucy, sei doch nicht so“, bettelte er und strich zärtlich übers Lenkrad. Doch er ahnte schon, dass sich das, was den lauten Knall verursacht hatte, nicht mit gutem Zureden aus der Welt schaffen ließ. Es hatte eher nach einer größeren Reparatur geklungen.

Er stieg aus und streckte sich. Seit vier Stunden war er nun schon unterwegs von New York City nach Montreal in Kanada, aber diese Art von Zwangspause gefiel ihm gar nicht. Die Straße, auf der er stand, war nicht besonders breit, deshalb beschloss er, zuerst einmal Lucille aus dem Weg zu schieben.

Viel Verkehr gab es zum Glück nicht – jedenfalls hatte er schon seit zwanzig Minuten kein anderes Auto mehr gesehen. Über den Wald um ihn herum senkte sich immer schneller die Dunkelheit. Es war bedrückend still.

Nate nahm den Gang raus und stemmte die Schulter in die Türöffnung, wobei er mit der rechten Hand lenkte. Als der Wagen sicher auf dem Randstreifen stand, holte er eine Taschenlampe aus dem Kofferraum, öffnete die Motorhaube und versuchte herauszufinden, wo das Problem lag.

Je älter Lucille wurde, desto mehr hatte er über Autoreparaturen gelernt – sogar, wie man die wichtigsten selbst ausführte. Doch aus dem Motorraum stieg eine Dampfwolke auf, und es zischte. Das deutete auf ein Leck hin, gegen das sich im Moment nicht viel machen ließ.

Nate schlug die Motorhaube wieder zu und lehnte sich dagegen, um seine Situation zu überdenken. Es war jetzt fast ganz dunkel und für Anfang Juli ziemlich kühl. Die letzte Ansiedlung, die er passiert hatte, lag weit zurück, also beschloss er, es lieber in Fahrtrichtung zu versuchen.

Da er sich auf einen längeren Marsch einstellte, fischte er seine alte Lederjacke vom Rücksitz und zog sie über. Dann stopfte er eine Flasche Wasser und den Rest eines belegten Brotes in seinen Rucksack. Damit würde er zur Not durch die Nacht kommen.

Bevor er den Wagen abschloss, griff er noch nach seiner Messertasche. Die schwere Lederhülle, die mit einem breiten Lederstreifen zugebunden war, lag schwer in seiner Hand. Sie enthielt sechs kostbare Küchenmesser mit japanischen Stahlklingen, und er hätte sie niemals zurückgelassen. Wie jeder Spitzenkoch, der etwas auf sich hielt, arbeitete Nate mit seinen eigenen Messern, und wie jeder Spitzenkoch ließ er sie nie aus den Augen – nicht einmal in einem verschlossenen Wagen auf einer Landstraße.

Um den Rest seiner Sachen machte er sich keine Sorgen, viel besaß er sowieso nicht. Seine Messer dagegen waren das Beste vom Besten und mehr wert als seine abgetragenen Klamotten und Lucille zusammen.

Nate hauchte einen Kuss auf die Handfläche, legte sie auf die noch warme Motorhaube und machte sich auf den Weg.

Beim Laufen schob er sich den Rucksack bequem zurecht und schaute zum Himmel hinauf. Die Sterne leuchteten hier unglaublich hell, besonders einer, der direkt über ihm stand und ihn zu begleiten schien.

Nach einer Weile tauchten am Straßenrand die ersten eindrucksvollen Gartentore auf. Vermutlich gehörten sie zu einer der Ferienkolonien aus Viktorianischer Zeit, von denen er gelesen hatte. Reiche Leute aus New York und Philadelphia hatten sich in dieser Gegend Prachtvillen errichtet und die Sommertage im angenehmen Bergklima verbracht, wenn es in den Städten drückend heiß wurde. Auch heute noch waren die Berge und Seen der Adirondacks ein beliebtes Ferienziel für die Gutbetuchten.

Wieder schaute Nate zum Himmel hinauf. Dieser Stern blinkte wirklich besonders hell. Vielleicht war es gar kein Stern, sondern ein Satellit, aber dann hätte er sich bewegen müssen …

Als er mit der Stiefelspitze hängen blieb und kopfüber in den Graben flog, stieß Nate einen lauten Fluch aus. Er rollte sich im Fallen so gut es ging zusammen und machte sich auf eine harte Landung gefasst. Zum Glück war der Graben dicht bewachsen, was den Sturz abdämpfte, doch im letzten Moment schoss ein scharfer Schmerz durch seinen umgeknickten Knöchel. Verflixt, der war bestimmt verstaucht!

Vorsichtshalber blieb er erst mal liegen, bis er die Orientierung wiedergewann. Seinen Stern konnte er von hier aus nicht mehr sehen, aber er hatte gute Sicht auf die Schlucht, in die er beinahe gerollt wäre. Langsam setzte er sich auf und streifte sich ein paar Blätter von der Jacke. So weit fühlte er sich unverletzt. Doch als er aufstand und sein linkes Bein belastete, war der Schmerz im Knöchel sofort wieder da.

Na wunderbar. Mitten in der Nacht mit einem verstauchten Knöchel über die Landstraße zu humpeln, entsprach nicht gerade seiner Vorstellung von einem angenehmen Abend. Aber was blieb ihm anderes übrig?

Er biss die Zähne zusammen und ging weiter. Mehr als ein paar hundert Meter würde er es allerdings nicht schaffen, das merkte er gleich. Also konzentrierte er sich darauf, den nächsten Briefkasten zu erreichen. Mit etwas Glück war jemand zu Hause und würde ihn telefonieren lassen, damit er sich ein Nachtquartier besorgen konnte. Morgen würde es seinem Knöchel schon wieder besser gehen, dann konnte er sich um Lucille kümmern.

Frankie hielt schnuppernd die Nase in die Luft und stürzte dann panisch zum Herd. Sie war so darin vertieft gewesen, Birnen für den Nachtisch zu schälen, dass sie die Hähnchen im Ofen völlig vergessen hatte.

Als sie die Klappe öffnete, quoll eine Rauchwolke hervor. Hastig griff sie nach zwei Geschirrtüchern, um das heiße Blech herauszuziehen und auf der freistehenden Edelstahlarbeitsplatte abzustellen.

Da gleichzeitig auf dem Herd mit lautem Zischen die Kartoffeln überkochten, waren Frankies Flüche kaum zu hören.

Aus dem Speisesaal kam Joy in die Küche gerannt. „Die Littles sind ziemlich sauer. Sie warten jetzt seit einer Dreiviertelstunde und wollen auf der Stelle – oh.“

Frankie atmete tief durch. Die lieben Littles. Sie waren heute angereist und hatten seitdem eigentlich an allem etwas auszusetzen. Nicht nur eine klemmende Schranktür hatte sie – verständlicherweise – gestört, sondern auch die zu flachen Kopfkissen, die fleckigen Fensterscheiben und die Tatsache, dass im Schrank nur einfache Drahtbügel hingen. Nicht auszudenken, welchen Aufstand sie veranstalten würden, wenn sie ein fast schwarzes Huhn serviert bekämen.

„Und was jetzt?“, fragte Joy.

Frankie streckte die Hand aus, um den Ofen auszuschalten, und sah, dass sie die Temperatur viel zu hoch eingestellt hatte. Was für ein dummer, unnötiger Fehler …

„Frankie?“

Sie spürte, dass Joy und George sie hoffnungsvoll anstarrten, als könne sie mit einer Handbewegung ein perfekt gebratenes, saftiges Huhn herbeizaubern. Widerwillig hob sie den Kopf. „Ja, schon gut“, murmelte sie. „Lasst mich nachdenken.“

Sie brauchten Ersatz für die Hähnchen. Hatten sie noch eins in der Kühlkammer? Nein, nur große Rinderstücke, die erst filetiert werden mussten. Und tiefgefroren? Zum Auftauen blieb keine Zeit. Reste. Was gab es an Resten? Ließ sich daraus etwas …

Ein plötzliches, lautes Klopfen an der Hintertür unterbrach ihre Gedanken.

Joy schaute sie fragend an.

„Mach auf!“, befahl sie ihrer Schwester. „George, du bringst den Littles noch mehr Brot.“

Sie selbst ging in die Kühlkammer und durchsuchte hektisch die Regale, in der Hoffnung, Ersatz für die Hähnchen zu finden.

Als Joy ein überraschtes „Hallo!“ hören ließ, sah Frankie über die Schulter – und erstarrte.

Ein Riese hatte die Küche betreten.

Der Mann war mindestens so groß wie George, wenn auch nicht so breit. Ganz im Gegenteil: Wo George nur Masse war, schien der Fremde Muskeln zu haben – und auch sonst war er unglaublich attraktiv.

Mit seiner abgetragenen schwarzen Lederjacke und dem abgenutzten Rucksack sah er aus wie ein Wanderarbeiter, doch er wirkte ziemlich selbstsicher.

Sein dichtes schwarzes Haar trug er relativ lang, und sein etwas abgerissener Aufzug passte nicht so recht zu seinen geradezu aristokratischen Gesichtszügen, die man sonst eher bei Marmorskulpturen von Michelangelo sah. Das Faszinierendste aber waren seine Augen: groß und dunkel, umrahmt von langen Wimpern.

Und der Blick aus diesen Augen ruhte auf ihrer Schwester.

Joy war außerordentlich zierlich und schaute zu diesem Riesen auf wie ein staunendes Kind. Frankie konnte sich das strahlende Lächeln ihrer Schwester nur zu gut vorstellen, es war also kein Wunder, dass der Fremde wie vor den Kopf gestoßen dastand. Jeder Mann, der diese Bezeichnung verdiente, musste einfach hingerissen sein, wenn eine blonde, engelhafte Frau ihn so anhimmelte.

Na wunderbar. Das hatte ihr gerade noch gefehlt: ein verirrter Tourist, der nach dem Weg fragte – oder, noch schlimmer, ein Wanderarbeiter, der einen Job suchte. Es war schon schlimm genug, Joy und George bei der Stange zu halten. Noch ein planloser „Helfer“, und sie würde sich die Kugel geben.

„Guten Abend, Engelchen“, sagte der Fremde. Er wirkte etwas verwirrt, als hätte er noch nie ein Geschöpf wie Joy gesehen.

„Also, eigentlich heiße ich Joy.“ Frankie hörte an der Stimme ihrer Schwester, dass sie tatsächlich lächelte.

Besser, sie ging dazwischen, bevor der Fremde noch mitten in der Küche dahinschmolz.

„Können wir was für Sie tun?“, fragte sie scharf.

Stirnrunzelnd wandte sich der Mann von Joy ab und Frankie zu. Als er sie ansah, traf sie der Blick aus diesen unglaublichen Augen unvorbereitet, und sie musste schlucken. Dieser Mann war weder langsam noch schwer von Begriff. Ganz im Gegenteil. Sie hatte das Gefühl, dass er sie unverhohlen taxierte – und er ließ sich alle Zeit der Welt dabei.

Peinlicherweise wurde sie rot – doch dann machte sie sich klar, dass sie irgendwie ein Abendessen auf den Tisch bringen, ihre wenig nützlichen Mitarbeiter motivieren und ihr Restaurant führen musste. Im Gegensatz zu ihrer kleinen Schwester konnte sie sich nicht den Luxus erlauben, tagelang einen Wildfremden anzustarren.

Auch wenn der es wirklich wert war …

„Nun?“, fragte sie kühl.

„Ich bin etwa drei Kilometer von hier mit dem Wagen liegen geblieben und müsste mal telefonieren“, sagte er.

Also war er nur auf der Durchreise. Sehr gut.

„In meinem Büro ist ein Telefon. Ich zeig’s Ihnen.“ Frankie schloss die Tür zur Kühlkammer hinter sich.

„Danke.“ Als er auf sie zukam, verzog er schmerzerfüllt das Gesicht, doch dann fiel sein Blick auf die verkohlten Hähnchen, und er lachte. „Ach je, arbeitet Ihr Koch in der Freizeit als Brandstifter? Oder ist es andersrum?“

Wortlos von zehn rückwärts zählend fixierte Frankie seine Halsschlagader und stellte sich vor, was ein wohlgezielter Messerstich dort anrichten konnte. Dieser unverschämte Mensch wagte es, ihre kostbare Zeit mit dummen Witzen zu verschwenden!

Mühsam beherrscht wollte sie ihn gerade ins Büro abdrängen, als die Tür zum Speisesaal aufflog und George mit noch immer vollem Brotkorb hereinkam. Er war den Tränen nahe.

„Sie haben Hunger. Großen Hunger, Frankie“, erklärte er kläglich. „Und sie wollen kein Brot mehr, haben sie gesagt.“

Frankie presste die Lippen aufeinander. Armer George. Schon für sie war das mäkelige Ehepaar schwer zu ertragen.

„Ich hab’s versucht“, stammelte George. „Ich habe gesagt, dass es nicht mehr lange dauert, aber …“

„Schon gut, schon gut. Du kannst nichts dafür. Warum nimmst du dir nicht einen Keks?“ In Stresssituationen war das die beste Methode, um den Jungen zu beruhigen.

Finster starrte sie auf die Hähnchen, als könne sie es durch strenge Blicke in etwas Essbares verwandeln. Halbherzig griff sie nach einem Messer. Wenn man die schwarze Haut abzog … Aber was dann?

Erst als sie einen dumpfen Schlag hörte, fiel ihr der Fremde wieder ein. Er hatte den Rucksack abgestellt und war gerade dabei, sich die Jacke auszuziehen. Mit Schwung warf er sie quer durch den Raum, und sie landete zielgenau auf einem Stuhl in der Ecke.

Frankie betrachtete den Mann verstohlen. Sein schwarzes T-Shirt saß eng und war ziemlich verwaschen, sodass sich seine beeindruckenden Muskeln deutlich abzeichneten. Entschlossen riss sie sich von dem Anblick los – und landete wieder bei seinen Augen. Aus der Nähe erkannte sie, dass sie gar nicht so dunkel waren, sondern dass in dem warmen Braun Fünkchen von Grün und Gold tanzten.

Unglaublich anziehend, dieser Blick. Wenn so ein Mann einen leidenschaftlich ansah …

Frankie schüttelte heftig den Kopf, um die ungebetenen Bilder zu verscheuchen. Was wollte dieser Kerl überhaupt in ihrer Küche?

„Verzeihung“, sagte sie. „Zum Telefon geht’s durch diese Tür und dann rechts ins Büro. Ach ja, und machen Sie sich nichts aus dem Wasser.“

Der Mann sah sie lediglich stirnrunzelnd an und schob sie dann ganz sanft zur Seite, bis er selbst vor den Hähnchen stand.

Sprachlos schaute Frankie zu, wie er in seinen Rucksack griff und ein Lederfutteral hervorzog. Mit einer schnellen Handbewegung entrollte er es, und sechs lange, glänzende Messer kamen zum Vorschein.

Entsetzt sprang Frankie zur Seite. Vielleicht sollte sie jetzt zum Telefon stürzen und die Polizei anrufen?

„Wie viele?“, fragte er streng.

„Wie bitte?“

Mit hochgezogenen Brauen schaute er sie an und wiederholte gelangweilt: „Wie viele?“

Langsam dämmerte es ihr, was der Mann, der sich jetzt über das Geflügel beugte, vorhatte.

„Sie sind Koch?“, fragte sie.

„Nein, Chirurg.“

Er nahm sie offenbar nicht ernst – aber blieb ihr denn eine Wahl? Entweder verließ sie sich auf ihre eigenen miserablen Kochkünste – oder sie vertraute diesem Fremden und seinen blitzenden Messern.

„Zwei Zweiertische, eine Sechsergruppe“, antwortete sie rasch.

„Okay.“ Er wandte sich an Joy, und sofort wurde seine Stimme wieder sanft. „Engelchen, bitte nimm einen von den Töpfen da drüben und setz ihn mit einem Viertelliter Wasser auf, ja?“

Joy reagierte sofort und tat, wie ihr geheißen.

„Und du bist George, richtig?“

George nickte eifrig, nach der überstandenen Krise und dem Keks sichtlich entspannter.

„Schnapp dir den Salatkopf da drüben und wasch ihn unter fließendem kalten Wasser ab. Du musst jedes einzelne Blatt streicheln wie eine Katze. Verstanden?“

Strahlend ging George an die Arbeit.

Währenddessen machte sich der Fremde über die Hähnchen her und zog ihnen mithilfe eines Messers die verkohlte Haut ab. Er arbeitete so geschickt und schnell, dass Frankie nur wie gebannt zusehen konnte.

Joy hatte den Topf aufgesetzt und blickte erwartungsvoll zu dem Fremden auf.

„Sehr schön, Engelchen.“ Wieder diese sanfte Stimme. „Jetzt bring mir bitte Butter, Sahne und Senf. Draußen habe ich eine Estragonpflanze gesehen – davon brauche ich ein paar Stängel. Und habt ihr tiefgefrorenes Gemüse da?“

Frankie kam sich langsam überflüssig vor und warf trotzig ein: „Wir servieren hier nur frisches. Wir haben Brokkoli, Rosenkohl …“

„Ich brauche etwas Kleines, Engelchen“, unterbrach er sie, an Joy gewandt. „Erbsen vielleicht? Oder geschnittene Karotten?“

„Mais hätten wir, glaube ich“, antwortete Joy eifrig.

„Sehr gut. Dann bring mir den – und ein Stück Bindfaden.“

Missmutig machte Frankie ihr Platz. Ich sollte auch etwas tun, dachte sie. Aber mich fragt ja keiner.

George kam mit dem gewaschenen Salat an, und wider Willen war Frankie beeindruckt. Unter Chuck, dem früheren Koch, hatte George es nie geschafft, irgendetwas richtig zu machen – aber jetzt stand er stolz mit perfekt gewaschenen Salatblättern da.

„Gut gemacht, George“, lobte der Fremde und reichte ihm ein Messer. „Jetzt schneid die Blätter in daumenbreite Streifen. Du musst aber nicht jedes Mal nachmessen, es braucht nicht genau zu sein. Mach es hier drüben, wo ich dich sehen kann, okay?“

Joy kam mit einem Beutel tiefgefrorenem Mais und Bindfaden zurück. Sie lächelte selig und war offenbar bereit, alles zu tun, um dem Fremden eine Freude zu machen. „Soll der Tiefkühlmais ins Wasser?“, fragte sie.

„Nein.“ Er hob sein linkes Bein leicht an. „Den bindest du bitte um meinen Knöchel, sonst werd ich noch verrückt vor Schmerzen.“

2. KAPITEL

Keine zehn Minuten später konnte Frankie die Salate servieren. George waren perfekte, knackige Streifen gelungen, und das nicht nur beim Eisbergsalat, sondern auch noch bei den roten und gelben Paprika. Das Dressing hatte der Fremde aus Olivenöl, Zitronensaft und ein paar Gewürzen gezaubert.

Inzwischen waren die sechs Besucher aus der Stadt allerdings wieder gegangen – schließlich hatten sie es nicht weit zu ihren eigenen Küchen. Die Pensionsgäste dagegen sahen aus, als würden sie Frankie vor Hunger gleich anfallen. Deshalb machte sie sich wegen des Essens auch keine großen Sorgen – egal, wie es schmeckte, Hauptsache, es kam bald auf den Tisch.

Die Littles starrten sie vorwurfsvoll an, als sie den Salat servierte.

„Wie schön, dass Sie es doch noch geschafft haben“, bemerkte Mr. Little bissig. „Mussten Sie erst warten, bis die Blätter groß genug waren, oder wie?“

Angestrengt lächelnd stellte sie die Teller ab und machte sich so schnell wie möglich auf den Rückweg, hörte aber gerade noch, wie Mr. Little sagte: „Mein Gott. Das ist … essbar.“

Fantastisch, der Salat war dem Superman-Küchenchef also schon mal gelungen. Aber ob er bei dem Hähnchen auch solches Talent bewies?

Als Frankie wieder in die Küche kam, fragte sie sich nebenbei, warum sie so überkritisch war – schließlich rettete der Fremde ihr gerade das Leben. Doch entglitt ihr der Gedanke vor Überraschung, als sie George sah: Er war gerade dabei, seine geliebten Rosinen Vollkornkekse auf einem Tuch auszubreiten.

„Und wenn wir so weit sind, halten wir sie über das kochende Wasser, okay, George?“, sagte der Fremde mit dieser sanften Stimme. „Dadurch werden sie schön weich.“

Völlig hingerissen sah Frankie zu, wie der Mann, ohne ein einziges Mal innezuhalten, aus verbranntem Huhn, Resten und Vollkornkeksen ein Abendessen kreierte. Zwanzig Minuten später richtete er auf den Tellern mit dem White-Caps-Logo Hähnchen in einer cremigen Sauce an, von der ein himmlischer Duft aufstieg.

„Jetzt bist du dran, Engelchen, folge mir.“

Direkt hinter ihm streute Joy Kräuter auf die Tellerreihe, dann fing der Fremde wieder vorne an, packte Reis in Kaffeetassen und stürzte die runden Formen auf die Teller. Schließlich befahl er: „Servieren!“

Frankie reagierte sofort und nahm alle vier Teller auf einmal, so wie sie es schon als Teenager gelernt hatte.

„Joy, du räumst ab“, rief sie auf dem Weg nach draußen.

Joy überholte sie auf dem Weg in den Speisesaal und räumte die Salatteller ab, bevor Frankie das Hauptgericht auftrug.

Zwei Stunden später war alles vorbei. Nach dem Dessert, einer traumhaften Schichtspeise, der niemand mehr die Herkunft aus einer Packung Kekse ansehen konnte, verließen die Gäste den Speisesaal satt und zufrieden. Ja, sie schwärmten geradezu vom Essen – sogar die mäkeligen Littles. Die Küche war wieder aufgeräumt, und Joy und George glühten vor Stolz über die gute Arbeit, die sie unter Anweisung des Fremden geleistet hatten.

Nur Frankie war nicht zufrieden.

Sie hätte dem Mann mit den glänzenden Messern und flinken Händen eigentlich auf Knien danken müssen. Aber normalerweise war sie diejenige, die jede Situation rettete, und es gefiel ihr gar nicht, ihren Heldenstatus an einen Wildfremden abzutreten. Schon gar nicht an einen, der mit einem Beutel Tiefkühlmais um den Knöchel ihre Küche als sein Zuhause zu betrachten schien.

Er ließ sich alle Zeit der Welt, seine Messer zu säubern und wieder sorgfältig in dem Futteral zu verstauen, das er in den Rucksack zurücksteckte. Erst jetzt fiel Frankie ein, dass er noch immer nicht in die Nähe des Telefons gekommen war.

„Wollen Sie jetzt telefonieren?“, fragte sie. Es klang barscher als beabsichtigt, denn eigentlich hätte sie ihm danken müssen – aber darin war sie ziemlich ungeübt.

Der Mann sah sie abwartend an, ohne eine Miene zu verziehen. Es störte sie etwas, dass er sich ihr gegenüber so kühl verhielt, wo er doch bei Joy und George so freundlich gewesen war. Wahrscheinlich mochte er sie einfach nicht. Und wenn schon! Sie würde ihn nie wiedersehen und wusste nicht mal, wie er hieß.

Wieder ignorierte er ihre Frage und blickte an ihr vorbei zu Joy, die gerade die Treppe zum Wohntrakt hinaufgehen wollte. „Gute Nacht, Engelchen. Du hast heute wirklich gute Arbeit geleistet.“

Joy schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Danke, Nate.“

Auf diese Weise erfuhr Frankie endlich auch seinen Namen, nach dem sie im Trubel gar nicht gefragt hatte.

Nate schloss seinen Rucksack und erwiderte den etwas angriffslustigen Blick der Frau vor ihm gelassen.

Hinter ihrer feindseligen Maske verbarg sich bestimmt pure Erschöpfung. Sie wirkte abgekämpft, und ihre hängenden Mundwinkel verrieten, dass sie schon zu lange versuchte, mit unzureichenden Mitteln und Mitarbeitern einen aussichtslosen Kampf zu gewinnen.

Er hatte in den letzten Jahren in der Branche viele solcher Unternehmer kennengelernt. Das White Caps war früher vielleicht einmal ein glanzvolles Hotel gewesen, doch jetzt sah alles verdächtig nach Niedergang und Verfall aus. Aus der einst prächtigen Villa wurde langsam aber sicher eine Ruine, und diese Frau vor ihm schien entschlossen zu sein, mit dem Haus unterzugehen.

Wie alt mochte sie sein? Er schätzte sie auf Anfang dreißig, obwohl die Müdigkeit sie älter wirken ließ. Auch ihr Aufzug trug dazu bei: die herausgewachsene Ponyfrisur und die schmucklose Brille, die viel zu weite Kellnerinnenuniform – weißes Oberteil und schwarze Hose –, die lustlos an ihr herunterhing.

Wahrscheinlich hatte sie sich große Hoffnungen gemacht, als sie die viktorianische Villa kaufte, aber schon nach kurzer Zeit gemerkt, dass es ein undankbarer Job war, verwöhnte, reiche Wochenendgäste zu beherbergen. Und dann waren die ersten Reparaturrechnungen eingetrudelt, und ihr war klar geworden, wie teuer allein der Erhalt eines so alten Hauses sie zu stehen kam.

Realistisch gesehen würde das White Caps in spätestens einem Jahr entweder neue, finanzkräftige Besitzer haben oder vom Staat wegen baulicher Mängel geschlossen werden.

„Was ist nun mit dem Telefon?“, unterbrach sie seine Gedanken.

Ganz offensichtlich war sie eine Kämpfernatur und würde nicht so einfach aufgeben. Aber was brachte ihr das? Noch mehr Schulden und schlaflose Nächte? Vielleicht gehörte der alte Kasten ja ihrem Mann, und sie versuchte zu retten, was zu retten war. Einen Ehering konnte er allerdings nicht entdecken.

„Hallo? Nate, oder wie Sie heißen, entweder machen Sie jetzt Ihren Anruf oder Sie verschwinden. Wir schließen gleich.“

„Okay. Danke“, sagte er und ging in die Richtung, in die sie vorhin gedeutet hatte. Als er das dunkle Büro betrat, wunderte er sich, dass er auf einmal durch Pfützen watete, und schaltete eilig das Licht an.

Ach herrje, der Raum war ein halbes Schwimmbad! Kopfschüttelnd schaute er zur Decke hoch, wo durch ein Loch Rohre zu sehen waren, die fast so alt sein mussten wie das Haus.

Vermutlich hatte er noch Glück, wenn das Telefon überhaupt funktionierte. Er griff nach dem Hörer und wählte die Handy-Nummer seines Freundes Spike, mit dem er ein eigenes Restaurant eröffnen wollte. Sie kannten sich seit ihrer Ausbildung an dem renommierten Culinary Institute of America, und ihre Restaurantpläne waren auch der Grund für Nates Reise nach Montreal: Dort gab es ein vielversprechendes Angebot, ein bereits gut geführtes Restaurant zu übernehmen.

Nachdem er Spike von seinem unplanmäßigen Zwischenstopp unterrichtet hatte, legte er auf und blickte zu der Frau, die im Türrahmen stand.

„Was ist mit Ihrem Koch passiert?“, fragte er.

„Er hat heute Nachmittag gekündigt.“

Nate nickte. So war das nun mal im Restaurantgeschäft – man konnte fristlos gefeuert werden, aber auch jederzeit gehen.

Die Frau trommelte ungeduldig mit den Fingern an den Türrahmen, aber Nate hatte es nicht eilig und sah sich in Ruhe um. Ein ganz normales Büro mit Schreibtisch, Computer, Aktenschränken, ein paar Stühlen und einem Bücherregal. Dort stand ein altes, gerahmtes Foto von einer jungen Familie, die glücklich in die Kamera lächelte. Mutter und Vater, drei Kinder, gekleidet im Stil der siebziger Jahre.

Er ging hin und nahm das Bild in die Hand, um es sich genauer anzusehen, aber sie war mit zwei Schritten bei ihm und entriss ihm den Rahmen. „Also hören Sie mal!“

Als sie so dicht vor ihm stand, spürte er plötzlich erstaunliche Schwingungen zwischen ihnen. Trotz der Ponyfrisur und des Kassengestells, trotz der weiten Sachen und der dunklen Ringe unter ihren Augen reagierte sein Körper auf ihre Nähe. Sie machte große Augen und trat hastig einen Schritt zurück, als spürte sie es auch.

„Suchen Sie einen neuen Koch?“, fragte er unvermittelt.

„Weiß ich noch nicht“, erwiderte sie unbestimmt.

„Na, heute Abend haben Sie jedenfalls ganz sicher einen gebraucht. Wenn ich nicht hereingeschneit wäre, hätten Sie ganz schön alt ausgesehen.“

„Dann lassen Sie es mich so sagen: ich weiß nicht, ob ich Sie gebrauchen kann.“ Mit einer heftigen Bewegung legte sie den Rahmen mit dem Foto nach unten aufs Regal zurück.

„Denken Sie, ich kann nicht genug?“ Als sie störrisch schwieg, dämmerte ihm, wie sehr es ihr widerstrebte, ihm etwas schuldig zu sein. „Dann verraten Sie mir doch, was ich heute Abend wohl falsch gemacht habe.“

„Sie waren ganz okay, aber deswegen muss ich Sie ja nicht gleich einstellen.“

Kopfschüttelnd sah er sie an. „Ganz okay? Meine Güte, Komplimente sind nicht Ihre Stärke, was?“

„Ich habe keine Zeit, jemandem Honig um den Bart zu schmieren, schon gar nicht, wenn er sowieso schon so von sich eingenommen ist wie Sie.“

„Aha. Also fühlen Sie sich unter Depressiven wohler.“

„Was soll das denn bitte heißen?“

Nate zuckte die Achseln. „Ihre Mitarbeiter sind so fertig, dass sie kaum noch geradeaus laufen können. Das arme Mädchen wäre heute Abend für ein gutes Wort durchs Feuer gegangen, und George hat auf jedes Lob so enthusiastisch reagiert, als hätte er seit Monaten nichts Nettes mehr gehört.“

„Und woher wollen Sie das alles wissen?“, fragte sie, die Hände angriffslustig in die Hüften gestemmt.

„Weil es offensichtlich ist. Wenn Sie ab und zu mal Ihre Scheuklappen abnehmen würden, könnten Sie selbst sehen, was Sie den beiden antun.“

„Was ich ihnen antue? Das erklär ich Ihnen gerne.“ Sie stach mit dem Finger in die Luft. „Ich sorge dafür, dass Joy ein Dach über dem Kopf hat. Und George würde ohne mich im Heim leben. Also behalten Sie Ihre Pauschalurteile mal lieber für sich.“

Während sie ihn wütend anfunkelte, fragte er sich, warum er sich überhaupt mit ihr stritt. Hatte die arme Frau nicht schon genug durchzustehen? Und ihm konnte es ja sowieso egal sein.

„Wissen Sie was – wir fangen einfach noch mal ganz von vorn an“, schlug er vor. „Waffenstillstand?“

Er streckte ihr die Hand hin, weil ihm gerade klar geworden war, dass er die nächsten Wochen hier verbringen würde – obwohl sie ihm den Job noch gar nicht offiziell angeboten hatte. Aber er hatte sowieso vorgehabt, sich über den Sommer was dazuzuverdienen, und sie brauchte dringend Hilfe. Das White Caps war so gut wie jedes andere Restaurant – vielleicht sogar noch besser, weil er hier weitab vom Schuss ein paar neue Rezepte ausprobieren konnte, ohne dass er gleich wieder von Restaurantkritikern bedrängt wurde.

Doch sie reagierte nicht auf sein Friedensangebot, sondern starrte ihn nur finster an. Er streckte seine Hand noch etwas weiter aus, woraufhin sie die Arme vor der Brust verschränkte. „Sie gehen jetzt wohl besser.“

„Sind Sie immer so unvernünftig?“

„Gute Nacht.“

Er ließ die Hand sinken. „Ist das Ihr Ernst? Sie brauchen dringend einen Koch, und vor Ihnen steht einer, der bereit wäre, für Sie zu arbeiten – und zwar ab sofort. Aber das kümmert Sie gar nicht, denn Sie können mich nicht leiden und lehnen deshalb ab – auch wenn Sie Ihren Gästen dafür morgen Dosenfutter servieren müssen.“

Als sie weiterhin feindselig schwieg, schüttelte er den Kopf. „Meine Güte, Frau, haben Sie schon mal dran gedacht, dass Sie selbst vielleicht das größte Problem hier sind?“

Das hätte er besser nicht sagen sollen. Er erkannte es daran, dass sie zu zittern begann. Er wollte sich schon ducken, doch statt ihn zu ohrfeigen, begann sie zu weinen. Hinter den Brillengläsern sah er Tränen über ihre Wangen rollen.

„Ach, verdammt“, murmelte er und fuhr sich verlegen durchs Haar. „Ich meinte doch nicht …“

„Sie kennen mich nicht“, unterbrach sie ihn. Trotz der Tränen klang ihre Stimme zornig. „Sie haben keine Ahnung, was hier los ist. Sie wissen nicht, was wir alles durchgemacht haben. Also nehmen Sie jetzt endlich Ihre Sachen und verschwinden Sie.“

Etwas verunsichert streckte er die Hand nach ihr aus, wobei er selbst nicht so genau wusste, was daraus werden sollte. Sie in den Arm zu nehmen schied wohl aus. Vielleicht ein aufmunterndes Schulterklopfen? Nein, das würde wohl auch nicht gut ankommen.

Bevor er sich entschieden hatte, schob sie seine Hand zur Seite und ließ ihn in dem überfluteten Büro einfach stehen.

Frankie floh in die Kühlkammer, um sich zu beruhigen. Sie wischte sich mit bloßen Händen die Tränen ab, zog ein paar Mal die Nase hoch und zupfte dann ihre Kleidung zurecht. Unglaublich, dass sie einfach die Fassung verloren hatte – und das vor einem Wildfremden! Wenigstens war es ihr nicht in Joys Anwesenheit passiert, das wäre noch schlimmer gewesen.

Zu dumm, dass dieser Kerl ausgerechnet ihren wunden Punkt getroffen hatte: die ständige Angst, die katastrophale Situation des White Caps könnte tatsächlich ihre Schuld sein. Allein der Gedanke daran brachte sie wieder zum Weinen.

Was sollte sie bloß Joy sagen, wenn sie hier wegziehen mussten? Und wohin konnten sie überhaupt gehen? Wie sollte sie woanders genug Geld verdienen, um für ihre Schwester und Grand-Em zu sorgen? Und was würde Alex sagen?

Erschöpft schloss sie die Augen und lehnte sich an die Wand. Die ständige Sorge um ihren Bruder Alex zehrte noch zusätzlich an ihr. Als professioneller Regattasegler reiste er von einem Cup zum anderen, und die Tatsache, dass Hochseesegeln nicht ganz ungefährlich war, trug nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei. Aber man lernte eben, damit umzugehen.

Nach einer Reihe von Schicksalsschlägen war sie für ihre kleine Familie ganz allein verantwortlich, und sie gab ihr Bestes. Sollte sie dabei auch noch fröhlich pfeifen? Bei den Problemen, mit denen sie sich jeden Tag herumschlug, konnte ihr wohl niemand übel nehmen, wenn sie leicht reizbar war. Und jetzt hatte sie nicht mal mehr einen Koch …

Ihr fiel ein, wie schnell und geschickt Nate aus den verunglückten Hähnchen ein erstklassiges Gericht gezaubert hatte. Er hatte ja recht – sie brauchte dringend einen Koch, und die Bewerber standen nicht gerade Schlange. Er war der einzige, um genau zu sein – und durch einen unglaublichen Glücksfall war er auch noch gut. Sie straffte sich und stürzte aus der Kühlkammer, bereit, ihm bis zur Straße nachzulaufen – und prallte zurück, als sie ihn gelassen an der Arbeitsplatte lehnen sah.

„Ich wollte nicht einfach gehen, ohne zu wissen, ob Sie okay sind“, erklärte er.

„Wollen Sie den Job noch?“

Offenbar völlig unbeeindruckt von ihrem Sinneswandel hob er eine Augenbraue. „Ja. Ich könnte bis zum Labor Day Anfang September bleiben.“

„Viel zahlen kann ich nicht, aber andererseits werden Sie auch nicht gerade in Arbeit ertrinken.“

Er zuckte die Achseln. „Geld ist mir nicht wichtig.“

Na, das ist doch mal eine gute Eigenschaft, dachte sie, bevor sie ihm das in der Tat sehr geringe Gehalt nannte. „Plus freie Kost und Logis“, fügte sie schnell hinzu. „Aber eins möchte ich gleich klarstellen.“

„Lassen Sie mich raten“, unterbrach er sie trocken. „Sie sind der Boss?“

„Ja, das auch. Aber noch wichtiger: Finger weg von meiner Schwester.“

„Sie meinen das Engelchen?“

„Sie heißt Joy. Und sie ist nicht interessiert.“

Er lachte kurz und trocken. „Meinen Sie nicht, das sollte sie selbst entscheiden?“

„Nein, meine ich nicht. Haben wir uns verstanden?“

Sein amüsiertes Lächeln verwirrte sie. Was war daran so komisch?

„Nun?“, fragte sie streng.

„Ja, ich verstehe Sie vollkommen.“ Wieder streckte er die Hand aus. „Geben Sie mir diesmal die Hand darauf?“

Es war eine Herausforderung, und mit denen kannte Frankie sich aus. Sie ergriff seine Hand fest wie ein Schraubstock, um ihm gleich zu zeigen, dass es hier lediglich ums Geschäft ging. Doch als sie ihn berührte, passierte etwas Seltsames: Ein prickelnder Schauer schoss ihren Arm hinauf und breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. Sie blinzelte verwirrt.

Auch er schien es zu spüren, denn er senkte den Blick. Sie genoss seinen warmen, festen Griff und hatte auf einmal die verrückte Idee, dass er sie zu sich heranziehen und küssen würde.

Als Nächstes sah sie sich mit ihm in einem Bett, verführerisch nackt unter dünnen Laken …

Hastig machte sie sich los und trat einen Schritt zurück. Besser, sie setzte sich wieder an ihren Schreibtisch – denn sie schien schon wieder eine kalte Dusche nötig zu haben.

„Vergessen Sie es nicht“, wiederholte sie scharf. „Finger weg von meiner Schwester.“

Beiläufig kratzte er sich am Hals und steckte dann die Hände in die Taschen. Offenbar gefiel es ihm nicht sehr, herumkommandiert zu werden, aber das war zum Glück nicht ihr Problem. Er war jetzt ihr Angestellter, also hatte sie das Sagen. Basta.

Und das Letzte, was Frankie gebrauchen konnte, war eine Schwester mit gebrochenem Herzen. Oder, noch schlimmer, eine schwangere Schwester, die von einem attraktiven Nichtsnutz pünktlich zum Herbstanfang sitzen gelassen wurde.

„Alles klar?“, fragte sie. „Dann zeige ich Ihnen jetzt Ihr Quartier.“

Sie schaltete das Licht in der Küche aus und ging zur Treppe.

Ganz früher waren die Moorehouses reich gewesen und hatten natürlich im vorderen Teil des Hauses gewohnt – in den großen, eleganten Räumen, die zum See hinausgingen und jetzt den Gästen vorbehalten waren. Doch Weltwirtschaftskrisen und schlechte Investitionen hatten über die Generationen das Vermögen zusammenschmelzen lassen, und mittlerweile waren auch die letzten Kunstgegenstände und Schmuckstücke versetzt. Heute lebte die Familie Moorehouse im Dienstbotenflügel auf der Rückseite des Hauses. Dort gab es niedrige, schmucklose Räume, Dielenböden und wenig Komfort. Im Winter war es zugig, im Sommer stickig, und die Wasserleitungen ächzten. Das taten sie allerdings mittlerweile im ganzen Haus.

Am Ende der Treppe erstreckte sich zu beiden Seiten ein Flur, und Frankie entschied sofort, dass der neue Koch auf ihrer Seite schlafen würde. So konnte sie ihn im Auge behalten, auch wenn sie sich dafür das Bad mit ihm teilen musste. Wenigstens war er damit so weit wie möglich von Joys Zimmer entfernt.

Sie stieß die Tür auf. „Ich hole Bettzeug“, verkündete sie. „Wir teilen uns ein Bad, die Tür ist gleich hier links.“

Der Schrank mit der Bettwäsche befand sich am anderen Ende des Flurs, und als sie zurückkam, hörte sie den Fremden reden.

„Nein, Ma’am, ich bin der neue Koch.“

Ach herrje, er sprach mit Grand-Em!

Frankie beschleunigte ihre Schritte, um ihre Großmutter so schnell wie möglich von dem Fremden loszueisen. Sie wollte nicht, dass er zu viel mit ihrer Familie zu tun hatte.

„Der neue Koch?“ Grand-Em musste zu ihm aufschauen, wirkte aber dennoch königlich. „Wir haben doch schon drei. Wieso hat Papa Sie bloß eingestellt?“

Grand-Em war noch zierlicher als Joy und wirkte mit ihren knapp eins sechzig neben dem riesigen Fremden wie eine Elfe – zumal sie wie immer ein altmodisches Abendkleid trug. Das lange weiße Haar fiel ihr in weichen Wellen über die Schultern, und trotz ihrer fast achtzig Jahre zeigte ihr Gesicht kaum Falten, denn sie war nie ohne einen Sonnenschirm an die frische Luft gegangen.

„Grand-Em …“, begann Frankie, doch Nate unterbrach sie mit einer ungeduldigen Handbewegung. Ohne den Blick von ihrer Großmutter zu wenden, machte er eine tiefe Verbeugung.

„Ma’am, es ist mir ein Vergnügen, Ihnen zu Diensten zu stehen. Ich heiße Nathaniel, rufen Sie mich, wenn Sie irgendetwas brauchen.“

Grand-Em betrachtete ihn nachdenklich und wandte sich dann zur Tür. „Ich mag ihn“, bemerkte sie im Hinausgehen.

Seufzend blickte Frankie ihr nach. Früher war ihre Großmutter eine Frau mit hellwachem Verstand gewesen, den ihr die Altersdemenz nun immer schneller raubte. Es war schrecklich, jemanden zu vermissen, obwohl man ihn jeden Tag sah.

„Wer ist sie?“, fragte Nate leise.

Erschrocken drehte Frankie sich um. Wie lange hatte sie gedankenverloren hier herumgestanden?

„Meine Großmutter“, erwiderte sie. „Hier ist Ihre Bettwäsche. Im Bad finden Sie Gästepackungen mit Toilettenartikeln. Waschmaschine und Trockner stehen in der Abstellkammer dort drüben, und mein Zimmer liegt gegenüber, falls Sie noch Fragen haben.“

Beinahe hätte sie hinzugefügt, dass er sich auch von Grand-Em fernzuhalten hatte, aber das wäre dann wohl doch etwas lächerlich gewesen.

„Eine Frage hätte ich“, sagte er, als sie sich zum Gehen wandte.

„Was?“ Sie blieb stehen, drehte sich aber nicht um.

„Wie soll ich Sie eigentlich anreden? Außer mit ‚Boss‘ natürlich.“ Wobei er das Wort nicht spöttisch, sondern eher wie einen Kosenamen aussprach.

Ihr wäre es allerdings lieber gewesen, er hätte sich über sie lustig gemacht.

„Ich bin Frankie.“

„Eine Abkürzung von Frances?“

„Genau. Gute Nacht.“

Sie ging zu ihrem Zimmer. Als sie die Tür hinter sich schloss, sah sie gerade noch, dass Nate auf seiner Seite des Flurs lässig am Türrahmen lehnte und ihr nachschaute. Er sah unglaublich sexy aus, und ihre Blicke trafen sich.

„Gute Nacht, Frances.“ Diesmal sprach er mit ihr so sanft wie mit Joy vorher, und sie spürte die Worte wie ein Streicheln. Ungläubig schaute sie an sich hinunter. Der Mann musste verrückt sein. Auf ihrer Bluse prangte ein großer Fleck, ihre Haare waren strähnig, und die Hose hing wie ein Kartoffelsack an ihr herunter.

Hastig schloss sie die Tür und lehnte sich von innen dagegen. Ihr Herz klopfte schnell und heftig. Es war so lange her, dass ein Mann in ihr die Frau gesehen hatte und nicht nur eine Anlaufstelle für Beschwerden. Und wann hatte sie sich das letzte Mal wie eine richtige Frau gefühlt und nicht nur wie ein mehr oder weniger gut funktionierender Automat?

David, dachte sie entsetzt. Mit ihm war sie das letzte Mal unbeschwert und glücklich gewesen. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Zehn Jahre. Im täglichen Kampf um das White Caps hatte sie fast ein ganzes Jahrzehnt ihres Lebens verloren und es bis heute nicht einmal gemerkt.

Wenn sie noch länger hier stehen blieb, würde sie wieder zu weinen anfangen, also riss sie sich zusammen, ging zum Bett und zog sich aus. Sie war todmüde, aber duschen musste sie trotzdem. In einen dicken Bademantel gewickelt spähte sie aus der Tür, um zu sehen, ob die Luft rein war.

Hastig durchquerte sie den Flur, schloss sich im Badezimmer ein und schaffte es in knapp sechs Minuten, zu duschen, die Haare zu waschen und sich abzutrocknen. Auf den zusätzlichen Stress, ihr Badezimmer mit dem neuen Koch zu teilen, hätte sie gut verzichten könnten. Andererseits war es immer noch besser, als das Risiko einzugehen, dass der Fremde und ihre Schwester über kurz oder lang zusammen unter der Dusche standen.

3. KAPITEL

Nate wachte davon auf, dass ihn etwas am Hals juckte. Er rieb im Halbschlaf über die Stelle, fluchte leise, als es nicht aufhörte, und öffnete die Augen.

Im ersten Moment wusste er nicht gleich, wo er sich befand, und schaute sich verwirrt im Zimmer um. Kiefernmöbel, zwei schmale Fenster, ein bequemes Bett. Geschlafen hatte er jedenfalls gut.

Er setzte sich auf und beugte sich vor, um aus dem Fenster zu schauen. In der Ferne schimmerte Wasser.

Der See. Die Adirondack Mountains. Frankie.

Er lachte leise, als er an seine neue dickköpfige Chefin dachte. Sie konnte einen bis zur Weißglut treiben, aber er mochte sie. Mehr als das, sie faszinierte ihn.

Kopfschüttelnd dachte er daran, wie nachdrücklich sie ihn gewarnt hatte, etwas mit ihrer Schwester anzufangen. Wenn sie nur wüsste, dass da überhaupt keine Gefahr bestand! Sicher, als er Joy zum ersten Mal gesehen hatte, war er von ihrer überirdischen, zerbrechlichen Schönheit beeindruckt gewesen – aber mehr im künstlerischen Sinn. Als Mann gefielen ihm richtige Frauen viel mehr als engelhafte Wesen. Starke Frauen. So wie Frankie.

Ob er es wohl schaffen würde, ihre harte Schale zu knacken? Pfeifend schwang er die Beine aus dem Bett und kratzte sich dabei wieder am Hals. Das fast unerträgliche Jucken ließ kurz nach, setzte dann aber wieder ein. Ein schlechtes Zeichen.

Er stand auf, merkte dabei, dass sein Knöchel bei Belastung noch immer schmerzte, und humpelte zum Spiegel.

Von seinem linken Ohr bis zum Schlüsselbein zog sich eine Reihe von winzigen, geröteten Bläschen. Verflixt. Gift-Efeu!

Das Grünzeug, das im Graben seinen Sturz gedämpft hatte, gehörte wohl zu diesen heimtückischen Arten, bei denen der kleinste Kontakt zu allergischen Reaktionen führte. Zum Glück hatte er die Lederjacke angehabt und war nicht mit dem Gesicht in den Ranken gelandet – aber schon diese relativ kleine Stelle würde ihn mindestens eine Woche quälen, bis sie abgeheilt war.

Er nahm sich ein Handtuch aus der Kommode und ging ins Bad. Sicher wollten die Pensionsgäste bald frühstücken. Er duschte, zog die Sachen vom Vortag an und machte sich auf in die Küche.

In der Kühlkammer fand er zwar Milch, Eier, Käse und ein paar frische Gemüsesorten, aber ansonsten sah es schlecht aus. Wenn er verwöhnten Pensionsgästen ordentliche Mahlzeiten bieten sollte, brauchte er zumindest Fetaund Ziegenkäse, Artischocken und Frühlingszwiebeln. Immerhin entdeckte er noch ein Körbchen frischer Blaubeeren.

Die Situation in der Fleischabteilung war besser: Rindfleisch, Lammrücken und ein Truthahn. Es gab also Hoffnung.

Es war erst kurz vor sechs, also hatte er genügend Zeit, fürs Frühstück seine berühmten Blaubeer-Muffins zu backen. Als Nate eine halbe Stunde später das erste Blech aus dem Ofen nahm, hörte er Schritte auf der Treppe und lächelte Frankies Schwester an, die hereinkam.

„Guten Morgen, Engelchen.“

„Mmmmh, die sehen lecker aus“, erwiderte Joy, beugte sich über das Blech und atmete den Duft ein.

„Nimm dir eins.“

„Nein, die sind doch für die Gäste.“

„Das ist nur das erste Blech. Und du siehst aus, als solltest du mal wieder ordentlich frühstücken.“ In dem übergroßen Bademantel wirkte sie noch zierlicher.

„Kann ich irgendwas tun?“, fragte sie.

„Du könntest Kaffee kochen. Und die Tische decken.“

„Mach ich, kein Problem.“

„Wunderbar.“ Bisher hatte Nate dem Drang, sich die wunde Stelle am Hals zu kratzen, heldenhaft widerstanden, aber so langsam wurde das Jucken unerträglich, und er verzog das Gesicht.

„Ist alles okay?“, fragte Joy besorgt.

„Ja, bis auf die Stelle, wo der Gift-Efeu mich erwischt hat.“

„Ach je, du Armer. Lass mal sehen.“ Joy kam auf ihn zu und stellte sich auf Zehenspitzen, um die Pusteln zu begutachten.

Frankie streckte sich genüsslich. Sie musste besonders gut geschlafen haben, denn sonst war sie um diese Zeit nicht so ausgeruht. Ein Blick auf die Uhr vertrieb ihr Behagen. Verflixt!

Sie hatte vergessen, den Wecker zu stellen, und jetzt war es schon Viertel nach sieben! In Windeseile zog sie sich an. Als sie sich das Haar zu einem Knoten aufsteckte, stieg ihr ein verführerischer Duft in die Nase, und sie hielt kurz inne. Nate musste schon bei der Arbeit sein.

Im Laufschritt stürzte sie in die Küche – und blieb dann unvermittelt stehen. Hinter der Arbeitsfläche standen ihr neuer Koch und ihre Schwester so nah beieinander, dass sie sich hätten küssen können. Nate hielt den Kopf gesenkt, und Joy balancierte auf Zehenspitzen, um an sein Ohr heranzureichen. Flüsterte sie ihm etwas zu? Berührte sie ihn etwa? Und dabei trug sie nur einen Bademantel!

„Tut mir leid, wenn ich störe“, sagte Frankie laut. „Aber vielleicht sollten wir lieber ans Frühstück denken?“

Joy wurde rot und trat einen Schritt zurück, doch Nate hob völlig gelassen den Kopf.

„Das Frühstück ist schon fertig“, antwortete er und deutete auf das Blech mit den Muffins. „Und die Gäste sind noch nicht mal aufgestanden.“

„Joy? Bitte lass mich und Mr. …“ Herrgott, sie wusste nicht mal seinen Nachnamen, „äh, einen Moment allein.“

Als Joy hinausgegangen war, starrte Frankie den neuen Koch wütend an. „Welchen Teil von ‚Finger weg‘ verstehen Sie eigentlich nicht?“

Er wandte sich ab und spähte konzentriert in den Backofen. „Sind Sie morgens immer so gut gelaunt?“

„Antworten Sie mir!“

„Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee?“

„Verdammt, wollen Sie mir jetzt endlich erklären, was Sie mit meiner Schwester gemacht haben?“

„Nein, eigentlich nicht.“

Je mehr sie sich aufregte, desto ruhiger wurde er, und so langsam wusste sie nicht mehr, was sie machen sollte. „Ich dachte, wir hätten eine Abmachung? Entweder halten Sie sich von Joy fern, oder Sie sind gefeuert.“

Er lachte laut. „Und was, glauben Sie, hatte ich vor? Dachten Sie, ich würde sie auf den Küchenboden werfen, sie aus dem Bademantel wickeln und …“

Entnervt hob Frankie die Hand. „Sie brauchen nicht ins Detail zu gehen.“

„Und Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.“

Zweifelnd sah sie ihn an. Einem Mann wie ihm konnte keine Frau trauen. Und wenn er es mit seinen braunen Augen schaffte, sogar sie durcheinanderzubringen, wie sollte dann Joy ihm widerstehen?

Liebe Güte, was hatte sie sich da nur eingebrockt? Sie kannte nicht mal seine Referenzen. Am Ende war er ein Serienmörder oder wurde wegen Vergewaltigung gesucht!

Vor Frankies Augen liefen gleich mehrere Horrorszenarien ab. Wenn Joy etwas zustieß, würde sie sich das niemals vergeben, und …

„Gift-Efeu“, sagte er trocken.

„Wie bitte?“

„Sie hat sich meinen Ausschlag vom Gift-Efeu angeschaut. Hier, sehen Sie?“ Er zeigte auf seinen Hals. Als sie sich nicht rührte, bemerkte er: „Sie können ruhig näher kommen, ich beiße nicht. Es sei denn, man bittet mich darum.“

Widerstrebend ging sie auf ihn zu. Tatsächlich war die Haut gerötet und mit den typischen Bläschen übersät.

„Das muss scheußlich jucken“, sagte sie statt einer Entschuldigung.

„Ja, angenehm ist es nicht gerade.“ Damit drehte er sich um und holte ein zweites Blech mit goldgelben, duftenden Muffins heraus.

„Möchten Sie einen? Ich hab Ihre Schwester auch schon gefragt, aber sie wollte nicht.“

Er nahm einen der Muffins und brach ihn auseinander, bestrich ihn mit Butter und reichte ihr die dampfende Hälfte.

Nach kurzem Zögern nahm sie an, pustete auf das heiße Gebäck und biss schließlich ab. Wider Willen schloss sie genüsslich die Augen, als sich der köstliche Geschmack in ihrem Mund ausbreitete.

„Nicht schlecht, was?“, fragte er lachend.

Ja, kochen konnte er wirklich, und backen offenbar auch. Trotzdem würde sie ihn nach seinen Referenzen fragen.

„Lecker“, bestätigte sie trocken. „Ich bräuchte übrigens Namen und Telefonnummer von Ihrem letzten Arbeitgeber. Und Ihren Nachnamen natürlich.“

„Walker. Ich heiße Walker.“

Nathaniel Walker? Der Name kam ihr bekannt vor, doch ihr wollte nicht einfallen, woher. Bevor sie fragen konnte, fuhr er fort: „Und mein letzter Arbeitsplatz war das La Nuit in New York. Fragen Sie nach Henri, er wird Ihnen alles erzählen.“

Jetzt machte Frankie große Augen. Ja, vom La Nuit hatten sie selbst hier im Hinterland schon gehört. Es war eins dieser Vier-Sterne-Restaurants, das in den teuren Magazinen besprochen wurde, die die Gäste manchmal hier liegen ließen. Wieso hatte jemand wie er dort gearbeitet?

„Ach übrigens, ich wollte Sie wegen der Vorräte fragen“, fuhr er fort. „Wann wird geliefert?“

„Samstags und mittwochs Gemüse und Fleisch, die Milchprodukte montags und bei Bedarf freitags.“

„Gut. Wie erreiche ich den Lieferanten? Vielleicht erwische ich ihn noch.“

„Sie wollen mit Stu reden?“

Nate runzelte die Stirn. „Ja, natürlich. Oder kann er Gedanken lesen?“

„Ich mache die Bestellungen. Sagen Sie mir, was Sie brauchen.“

„Das kann ich erst sagen, wenn ich in etwa weiß, was er liefern kann.“

Sie deutete auf die Kühlkammer. „Alles das, was wir schon haben.“

Nate verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich dachte, ich soll hier kochen?“

„Ja und?“

„Dann lassen Sie mich meinen Job machen.“

Am liebsten hätte sie ihn darauf hingewiesen, dass das hier immer noch ihre Küche war, aber ohne ihn konnte sie leider nicht viel damit anfangen. Also atmete sie tief durch und erklärte: „Wie Sie selbst schon festgestellt haben, hat das White Caps gewisse finanzielle Schwierigkeiten. Es gibt für alles ein festes Budget, das auf keinen Fall überschritten werden darf, und ich werde ganz sicher nicht zusehen, wie Sie in der Küche das Geld zum Fenster hinauswerfen.“

„Aha. Aber Sie wünschen sich doch sicher ein paar mehr Gäste als gestern? Und dass die Leute wiederkommen, wenn sie einmal hier waren? Dann brauchen Sie die entsprechende Speisekarte dafür. Mit Kantinenessen kommen Sie da nicht weiter. Man muss Geld ausgeben, wenn man Geld verdienen will, Herzchen.“

„Ach ja, und was verstehen Sie davon, wenn ich fragen darf?“ Sie deutete auf seine abgerissene Kleidung. „Wollen Sie mir etwa erzählen, wie man ein Restaurant führt?“

„Jetzt steigen Sie aber mal von Ihrem hohen Ross“, entgegnete er und trat einen Schritt auf sie zu. „Sie wissen doch gar nichts über mich – außer, dass Sie mich wirklich brauchen.“

Erschrocken riss Frankie die Augen auf. Sie war es nicht gewohnt, dass jemand ihr die Stirn bot, und wusste im ersten Moment nicht, was sie sagen sollte. Schließlich trat sie einen Schritt zurück und hob kämpferisch das Kinn. „Ich weiß aber, dass Sie für mich arbeiten und dass ich deshalb das Sagen habe.“

Schweigend starrte er sie an, und sie dachte schon, dass er gleich wieder kündigen würde. Angesichts ihrer Kochkünste war das zwar schade, aber wenn er sich ihren Anordnungen nicht fügte, wollte sie ihn nicht im Haus haben.

Wenn man genügend Geld zur Verfügung hatte, konnte man ja vielleicht großzügig damit umgehen, aber sie musste jeden Cent zweimal umdrehen.

„Hören Sie“, begann sie etwas versöhnlicher, „schreiben Sie doch einfach eine Liste mit den Sachen, die Sie gerne hätten, und ich sehe, was ich machen kann, okay? Und hören Sie auf, sich zu kratzen. Ich fahre nachher in die Stadt und bringe Ihnen aus der Apotheke Salbe mit.“

Damit ging sie hinaus, denn noch mehr Zeit für lange Diskussionen hatte sie wirklich nicht. Sie musste ins Büro und ihr Budget neu kalkulieren, um irgendwie noch Geld für den Klempner rauszuholen.

Nate stützte sich auf die Arbeitsfläche und versuchte, sich zu beruhigen. Was dachte sie denn wohl, was er bestellen würde? Trüffel, Gänseleberpastete und Kaviar? Er wusste doch, wie schlecht es um das White Caps stand. Trotzdem brauchte er ein paar ordentliche Zutaten.

Einen Moment später beschloss er, nach ihren Regeln zu spielen – eine Weile jedenfalls. Er würde ihr Listen vorlegen und ihr beweisen, dass man ihm vertrauen konnte. Wenn sie merkte, dass er nicht auf den Kopf gefallen war, würde sie ihn schon in Ruhe lassen. Als Hotelmanagerin sollte sie sich um die Gäste und die Buchhaltung kümmern, nicht darum, ob er vier oder fünf Köpfe Eisbergsalat bestellte.

Liebe Güte, wie lange war es her, dass er eine Lieferliste zur Prüfung hatte abgeben müssen?

Sein Plan schien zunächst daran scheitern zu wollen, dass es in der Küche kein Papier gab. Also ging er ins Büro, wo er Frankie dabei antraf, wie sie versuchte, den schweren Schreibtisch unter dem Loch in der Decke wegzuschieben.

„Warten Sie, ich helfe Ihnen“, bot er an.

„Geht schon, danke.“

Doch es ging ganz offensichtlich nicht, also trat er ein, hob das entgegengesetzte Ende an und zog den Schreibtisch zum Fenster. Danach nahm er den ebenfalls massiven Stuhl und trug ihn an seinen neuen Platz.

„Hätten Sie ein Blatt Papier für mich?“, fragte er beiläufig, als er sah, wie überrascht sie von seinem Eingreifen war.

„Dort drüben im Schrank.“

Er nickte kurz, nahm sich, was er brauchte, und ließ sie wieder allein. Sie würde sich wohl daran gewöhnen müssen, nicht mehr alles selbst zu machen.

Völlig verblüfft legte Frankie den Telefonhörer auf. Der Besitzer des La Nuit hatte in den höchsten Tönen von Nate geschwärmt. Laut Henri hatte Nate das Culinary Institute of America, die berühmteste Kochschule des Landes, mit Auszeichnung abgeschlossen, und danach in Paris gearbeitet.

Ein echter Glücksfall also. Wenn er lange genug blieb, würde sich sein Können zumindest in der Gegend herumsprechen, und dann kamen vielleicht den Sommer über mehr Restaurantgäste. Und danach konnten sie vielleicht …

Als Frankie aufschaute, sah sie Nate in der Tür stehen. Sie versuchte, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen, und hob fragend die Augenbrauen.

„Hier ist meine Liste, Boss.“ Wieder klang die Anrede wie ein Kosename. Er kam an den Schreibtisch und reichte ihr das Blatt. Seine Handschrift war ordentlich, die Liste nach Nahrungsmittelgruppen geordnet und sehr übersichtlich.

„Ich bin davon ausgegangen, dass wir nächste Woche nicht mehr als zehn Gäste am Abend haben. Ach ja, und ich werde die Speisekarte ändern. Was Sie jetzt anbieten, ist zu langweilig.“

Sie nickte abwesend. „Ich habe gerade mit Henri gesprochen.“

Nate lächelte. „Wie geht es dem alten Drachen?“

„Er hat mir erzählt, dass Sie … sehr gut sind.“

„Deshalb habe ich ihn ja als Referenz genannt. Ich dachte mir, dass Sie dann endlich aufhören, sich Sorgen zu machen. Ich habe übrigens keine Vorstrafen und bin noch nie verhaftet worden. Allerdings bezahle ich meine Strafzettel nie, ist das ein Problem?“

Frankie unterdrückte ein Lächeln. „Ich verstehe nur eins nicht …“

„Nämlich?“

„Wieso nimmt jemand mit Ihrem Können einen Job wie diesen an?“

Lässig zuckte er die Achseln. „Ich brauche das Geld. Und es ist ja nur für den Sommer.“

„Aber warum suchen Sie sich dann nicht ein Restaurant wie das La Nuit? Dort würden Sie viel mehr verdienen.“

Nate schien zu überlegen, wie offen er bei seiner Antwort sein sollte, dann erwiderte er: „Ein Freund und ich wollen unser eigenes Restaurant eröffnen. Wir suchen jetzt schon seit vier Monaten – in New York City, Boston, Washington D.C. und Montreal, aber bis jetzt war noch nicht das Richtige dabei.“ Er grinste. „Oder vielleicht sollte ich sagen, es war noch nichts dabei, was wir uns leisten konnten. Im Moment lebe ich von meinen Ersparnissen, die eigentlich für die Anzahlung gedacht sind. Und da mein Auto nun mal vor Ihrer Haustür den Geist aufgegeben hat, kann ich den Sommer über genauso gut hierbleiben und im Herbst weitersuchen.“

„Tja, das leuchtet mir ein.“

„Außerdem fällt es mir schwer, Nein zu sagen, wenn ich für jemanden wie Sie arbeiten kann.“

Überrascht blickte sie auf. „Wie mich?“

Wie in Zeitlupe ließ er den Blick von ihren Augen zu ihren Lippen wandern, sodass sie unwillkürlich den Atem anhielt. Wieso schaute er sie an, als ob er sie küssen wollte? Das musste ein Irrtum sein. Unbehaglich wandte sie den Kopf ab, als sie die Spannung nicht mehr aushielt.

„Hey, Herzchen“, sagte er leise.

Sie atmete tief durch und sah ihn wieder an. Eigentlich sollte sie sich diese Anrede verbitten, aber sie gefiel ihr sogar.

„Lächeln Sie doch mal für mich. Unterdrücken Sie es diesmal nicht.“

„Vielleicht später“, erwiderte sie errötend.

„Ich kann warten“, sagte er lächelnd. Und damit wandte er sich um und ging hinaus.

Frankie stützte den Kopf in die Hände. Sie war nun wirklich keine Frau, die auf Süßholzgeraspel hereinfiel. Doch obwohl sie genau wusste, dass er es nicht so meinte, wirkte sein Charme entwaffnend. Schon allein seine tiefe, ruhige Stimme ließ ihr Herz höher schlagen.

Das war gar nicht gut.

Sie hatte schon genug Probleme, auch ohne dass sie sich von ihrem neuen Koch den Kopf verdrehen ließ.

Als das Telefon klingelte, war sie für die Ablenkung dankbar – bis sich herausstellte, dass der Anrufer seine Reservierung für das kommende Wochenende absagen wollte. Nach dem Gespräch schaute sie nachdenklich aus dem Fenster. Der Rasen musste schon wieder gemäht werden. Mit dem altmodischen mechanischen Mäher würde das wieder Stunden dauern, doch der Rasentraktor hatte schon lange den Geist aufgegeben.

Der Blick auf ihren Schreibtisch war leider auch nicht erfreulicher. Dort lag das Schreiben ihrer Bank, in dem man sie informierte, dass sie mit ihren Hypothekenzahlungen sechs Monate im Rückstand war. Ihr Berater, Mike Roy, hatte handschriftlich darunter notiert: Wir finden schon einen Weg, lassen Sie uns bald mal einen Termin ausmachen.

Was für ein Glück, dass sie es mit Mike zu tun hatte, der immer wieder ein Auge zudrückte! Es lief immer nach dem gleichen Muster – bis zum Sommer geriet sie mit den Zahlungen in Rückstand, konnte die fehlende Summe aber nach der Feriensaison auf einen Schlag abzahlen. Bis zum letzten Jahr – da hatte sich das Minus nicht einmal nach der Hauptsaison ausgleichen lassen.

Vielleicht kam sie irgendwann doch nicht mehr drum herum, das Haus zu verkaufen. Bisher hatte sie diesen Gedanken immer weit von sich gewiesen, aber wie lange würde sie noch durchhalten?

Allein die Vorstellung trieb ihr die Tränen in die Augen. Ihr einziges Zuhause aufgeben? Das Familienerbe Fremden überlassen? Undenkbar!

Irgendwie musste es weitergehen. Das Einzige, was ihr von ihren Eltern noch blieb, war das White Caps. Und sie hatte nicht ein ganzes Leben lang geschuftet, um ihr Erbe jetzt doch noch zu verlieren.

Vielleicht lief diese Saison besser. Immerhin hatte sie jetzt Nate, einen ausgebildeten Spitzenkoch. Und sie konnte mal wieder einen Artikel über das Lincoln-Zimmer an die Zeitungen der Umgebung schicken. Am Wochenende vor dem Labor Day waren sie normalerweise ausgebucht, und außerdem ging es mit dem Tourismus insgesamt wieder aufwärts.

Nein, wenn sie nur durchhielt, wurde alles wieder gut. Mit einem Blick auf die Uhr stand sie auf und griff nach ihrer Handtasche. Sie musste in die Stadt, um Geld aufs Konto einzuzahlen und ein paar Besorgungen zu erledigen. Danach war der Rasen dran.

Sie ging durch die Küche, wo Nate am Herd stand, und rief die Treppe hinauf: „Joy, ich fahre in die Stadt, brauchst du etwas?“

„Können Grand-Em und ich mitkommen?“

„Na gut, aber beeilt euch.“

Während sie wartete, schaute sie Nate zu. „Das riecht gut. Was wird das?“

„Brühe aus den Überresten des Huhns.“

Fasziniert beobachtete sie, wie er mit Überschallgeschwindigkeit eine Zwiebel würfelte. „Ach ja, ich habe dem Abschleppwagen gesagt, dass er Lucille herbringt, ist das okay? Ich muss erst mal rausfinden, was sie hat“, bemerkte er.

Autos kann er auch noch reparieren, dachte sie. Und er gibt ihnen Namen.

„Kein Problem. Stellen Sie sie einfach in die Scheune hinterm Haus.“

„Danke.“

Kurz darauf erschien Joy mit Grand-Em, die wie immer in großer Robe auftrat. Diesmal war es ein fliederfarbenes Satinkleid, das mindestens fünfzig Jahre alt war, aber immer noch schön aussah. Irgendwie schaffte es Joy, die Kleider in Form zu halten. Sie verbrachte Stunden damit, sie von Hand auszubessern, und das schon seit Jahren. Frankie bewunderte ihre Geduld.

„Brauchen Sie irgendwas?“, fragte sie Nate.

Er grinste. „Nichts, was man kaufen kann.“

Frankie presste die Lippen aufeinander und verließ fluchtartig die Küche. Schlimm genug, dass der neue Koch ständig mit ihr flirtete – aber wieso ließ sie sich davon auch noch so durcheinanderbringen?

4. KAPITEL

Frankie strich sich mit dem Handrücken über die Stirn, stemmte sich mit aller Kraft gegen den Rasenmäher und versuchte, das rostige Teil noch stärker anzuschieben. Wenn sie sich beeilte, schaffte sie vielleicht bis zum Nachmittag wenigstens den vorderen Rasen des riesigen Grundstücks.

„Frankie!“

Sie hob den Kopf und entdeckte Joy an einem der Fenster.

„Telefon für dich! Es ist Mike Roy.“

„Ich komme!“ Frankie ließ den Mäher einfach stehen und eilte zum Haus. Wieso rief ihr Banker sie an einem Samstag an? Als sie die Hintertür erreichte, fuhr gerade Stu, der Lebensmittellieferant, vor.

„Ich bin gleich bei dir“, rief sie ihm zu.

Er nickte nur, zündete sich eine Zigarette an und schien sich über die Pause zu freuen.

Frankie hastete durch die Küche, wo Nate am Herd stand. „Ist das die Lieferung?“, fragte er.

„Ja. Ich komme gleich wie…“

„Sehr gut“, meinte er nur und ging zur Hintertür.

Am liebsten hätte Frankie ihn zurückgerufen, aber ihr Banker hatte Vorrang. Im Büro zupfte sie nervös an ihrem T-Shirt. Zum Glück konnte Mike nicht sehen, dass sie verschwitzt und bis zu den Knien mit Rasenschnitt bedeckt war. Beunruhigt griff sie zum Telefon. Was, wenn er ihr mitteilte, dass die Bank ihr die Hypothek kündigte und sie White Caps verkaufen musste?

„Hi, Mike“, begrüßte sie den Banker. „Was gibt’s?“

„Ich wollte nur fragen, ob ich mal mit einem Besucher vorbeikommen kann. Er macht hier Urlaub, und ich zeige ihm die Gegend. Da kann ich das Zimmer, in dem Abraham Lincoln übernachtet hat, schlecht auslassen, oder?“

Erleichtert atmete sie auf. „Natürlich, ihr könnt jederzeit kommen. Wir haben zwar im Moment Gäste in Abes Zimmer, aber sie haben sicher nichts dagegen, wenn jemand kurz reinschaut.“

„Wunderbar.“

Offenbar schien er auf etwas zu warten, und Frankie biss sich auf die Lippe. „Ach, Mike, wegen der ausstehenden Zahlungen … Ich würde gerne mal vorbeikommen und dir meinen Finanzplan zeigen.“

„Das wäre gut. Nächste Woche bei mir im Büro? Aber jetzt bringe ich dir erstmal meinen Besucher vorbei. Wir sind in etwa einer Stunde da.“

Nachdem sie aufgelegt hatte, ging Frankie das Gespräch in Gedanken wieder und wieder durch. Gab es einen Hinweis darauf, dass die Bank die Geduld verlor?

Joy streckte den Kopf zur Tür herein. „Frankie? Hast du den Scheck für Stu?“

Frankie zuckte zusammen. „Ja, hier. Sag ihm, dass ich gleich komme und beim Ausladen helfe.“

„Ach, das hat Nate schon erledigt.“

Eilig griff Frankie nach ihrem Scheckbuch und dem Klemmbrett, um Joy nach draußen zu folgen.

„Netter alter Kauz“, bemerkte Nate, als sich die Tür wieder hinter Stu geschlossen hatte.

Frankie ging nicht darauf ein, sondern eilte in die Kühlkammer. Zum Glück schien Nate auch bei der Warenlagerung ordentlich zu sein, denn sie fand alles an den Plätzen, an die sie es auch selbst gepackt hätte. Sie hakte die einzelnen Positionen auf ihrem Klemmbrett ab, als Nate hinter sie trat.

„Überprüfen Sie meine Arbeit?“, fragte er trocken und griff über ihre Schulter hinweg nach einer Staude Sellerie.

Sie duckte sich unter seinem Arm hindurch und zupfte an ihrem T-Shirt. Auf einmal kam es ihr in der Kühlkammer furchtbar warm vor. Entweder hatte nun auch noch der Kompressor den Geist aufgegeben, oder es lag an Nates Anwesenheit.

„Was schreiben Sie da?“, fragte er und deutete auf das Klemmbrett.

Angestrengt versuchte sie, mit dem Blick nicht an seinen muskulösen Oberarmen hängen zu bleiben, über denen sich der Stoff des T-Shirts spannte.

„Ich habe mein eigenes Inventursystem entwickelt“, erwiderte sie. Sie hielt das Blatt so, dass er es sehen konnte. „Damit habe ich die Kosten aller Nahrungsmittel immer im Blick und kann die Restaurantpreise besser kalkulieren.“

Er nahm ihr das Klemmbrett ab und blätterte interessiert die Seiten um. „Das ist sehr durchdacht.“

„Ich gebe nachher alles in den Computer ein und kann für jede Sparte Auswertungen ausdrucken. Waren- und Personalkosten, Einnahmen, Schuldzinsen, was auch immer. Nach Monaten und Jahren. So weiß ich immer, wo wir stehen.“

„Wow. Wo haben Sie Betriebswirtschaft studiert?“

„Habe ich nicht.“

Er hob die Augenbrauen. „Das haben Sie sich alles ganz allein ausgedacht?“

„Na ja, ich habe mir nur überlegt, was ich alles wissen muss, um Entscheidungen treffen zu können. Leider nützt das allein auch nichts, aber ich habe einfach ein besseres Gefühl, wenn ich die Lage überblicken kann.“

Nachdenklich schaute er sie an.

„Brauchen Sie noch was von hier?“, fragte sie.

Sein Lächeln war umwerfend.

„Nein, im Moment nicht.“ Er deutete auf das Klemmbrett. „Das ist wirklich ein gutes System.“

Unbehaglich wich sie seinem Blick aus und versuchte sich einzureden, dass seine Hochachtung ihr nichts bedeutete. Doch während sie die Kartoffelsäcke durchzählte, musste sie doch lächeln.

„Hey, Frankie?“

Sie hob den Kopf.

Autor

Jessica Bird
Ihren ersten Liebesroman las Jessica Bird als Teenager ganz romantisch in einem Rosengarten. Sie wurde augenblicklich süchtig nach mehr. Als sie mit dem College begann, besaß sie bereits Kartons über Kartons mit Romances. Ihre Mutter fragte sie jedes Jahr, warum alle diese Bücher das Haus vollstellen mussten – und Jessica...
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