Romana Exklusiv Band 308

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MALLORCA - SÜßE KÜSSE UND EIN BRISANTES GEHEIMNIS von STEVENS, DANIELLE
Bei einem Überfall hat sie ihr Gedächtnis verloren. Was hat sie hier auf die Sonneninsel Mallorca geführt, zu Miguel Valdéz? Der gut aussehende Geschäftsmann lädt sie in seine Luxusvilla mit dem atemberaubenden Blick aufs Meer ein. Aber sie verspürt in Miguels Nähe nicht nur Verlangen, sondern auch einen Hauch von Gefahr ...

VERLOCKUNG UNTER ITALIENS SONNE von WINTERS, REBECCA
Irena ist nach Riomaggiore gereist, um eine Reportage zu schreiben. Als sie den reichen Geschäftsmann Vincenzo trifft, ist es um sie geschehen: An der wildromantischen Steilküste erlebt sie unvergessliche Stunden in seinen Armen. Bis es Zeit wird, nach Hause zu fahren. Dorthin, wo der Mann wartet, dem sie die Ehe versprochen hat.

MEIN SPANISCHER GELIEBTER von BROOKS, HELEN
Georgies Welt steht Kopf, nachdem der glutäugige Matt de Capistrano in ihrem Leben aufgetaucht ist. Mit Händen und Füßen wehrt sie sich dagegen, dass der stolze Spanier die Firma ihres Bruders kauft! Ebenso vehement versucht sie, dieses sinnliche Knistern zu ignorieren ...


  • Erscheinungstag 05.04.2019
  • Bandnummer 0308
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744915
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Danielle Stevens, Rebecca Winters, Helen Brooks

ROMANA EXKLUSIV BAND 308

1. KAPITEL

Heiß brannte die Mittagssonne vom wolkenlosen Himmel herab. Die Luft flirrte. Mit einer Hand die Augen gegen die gleißende Helligkeit beschirmend, blickte die dunkelhaarige junge Frau an der sandfarbenen Mauer hinauf. Dann unterdrückte sie einen Fluch.

Auch hier gab es keine Chance, unbemerkt hinüberzugelangen. Das Gebäude, das sie nun mittlerweile bereits zum zweiten Mal umrundet hatte, glich mehr einer alten maurischen Festung als einem Firmensitz. Für jeden, der hineinwollte, schien es nur einen einzigen Weg zu geben: geradewegs durch die Vordertür.

Mit dem Handrücken wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Und was nun? Sie konnte doch nicht einfach da hineinspazieren und … nein, unmöglich! Allein der Gedanke erschien ihr völlig abwegig. Es musste einfach eine andere Lösung geben!

Das Geräusch eines sich nähernden Wagens ließ sie zusammenschrecken. Hastig zog sie sich in den Schatten einer knorrigen Steineiche zurück, die dicht an der Mauer wuchs. Dann wartete sie angespannt und mit heftig klopfendem Herzen. Natürlich war es nicht verboten, sich hier aufzuhalten. Doch ihre Anwesenheit würde unbequeme Fragen aufwerfen.

Fragen, die sie lieber nicht beantworten wollte.

Der Wagen verschwand durch das große schmiedeeiserne Tor auf dem Innenhof des Firmengeländes, und sie atmete erleichtert auf. Diese ganze Aufregung war nichts für sie, so viel stand fest. Am liebsten wäre sie umgehend zurück zum Flughafen gefahren, um sich in die nächste Maschine heimwärts zu setzen. Doch das ging nicht.

Sie hatte hier eine Aufgabe zu erfüllen.

Ein leises elektrisches Summen erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie blickte sich um, doch da war es auch schon verstummt, ohne dass sie die Quelle hatte ausfindig machen können. Die kleine Kamera, die an der Krone der Mauer angebracht war, bemerkte sie nicht.

Miguel Valdéz stieg aus seinem silberfarbenen Porsche Cabriolet, einem Oldtimer aus der legendären 356er-Serie, den er neben dem Haupteingang seiner Firmenzentrale abgestellt hatte, und nahm das Handy aus der Freisprecheinrichtung.

„No!“, unterbrach er seinen Anwalt Tómas Nuñez. „Ich bin sicher, dass Jaime keine Gelegenheit hatte, etwas aus dem Haus zu schaffen, ehe er verunglückte. Meine Sekretärin hat ihn ertappt, als er die Papiere gerade aus meinem Safe nahm. Er tischte ihr eine wenig glaubhafte Geschichte auf, woraufhin sie mich sofort anrief. Ihm muss klar gewesen sein, dass seine einzige Chance darin bestand, die Pläne loszuwerden. Als ich ihn ein paar Minuten später im Garten zur Rede stellte, verlor er die Nerven und rannte davon. Bei dem Versuch, über die Begrenzungsmauer des Grundstücks zu entwischen, ist er sehr unglücklich gestürzt. Ich habe natürlich sofort den Notarzt alarmiert, doch seine Verletzungen sind ziemlich schwer. Er ist nicht ansprechbar, und die Ärzte sind nicht sehr zuversichtlich, dass er in absehbarer Zeit das Bewusstsein zurückerlangt. Darauf, dass er uns etwas verraten könnte, brauchen wir also vorerst nicht zu hoffen. Und genau deshalb musst du so schnell wie möglich herausfinden, wer ihn beauftragt hat, uns zu bestehlen. Ich werde in der Zwischenzeit die Pläne suchen lassen. Wir haben zu viel Zeit und Geld in dieses Projekt investiert, um uns jetzt einfach ausbooten zu lassen! Melde dich wieder, sobald du etwas Neues weißt. Adiós!

Er beendete die Verbindung, ohne seinen Anwalt noch einmal zu Wort kommen zu lassen.

Uno, dos, tres …

Stumm bis drei zu zählen war ein Ritual, das er sich im Laufe der Jahre angeeignet hatte. Es half ihm dabei, seine Gedanken zu sortieren und sein aufbrausendes spanisches Temperament unter Kontrolle zu halten. Im Geschäftsleben kam es darauf an, stets einen kühlen Kopf zu bewahren und im rechten Moment die richtige Entscheidung zu treffen – auch wenn das nicht immer einfach war.

So wie jetzt.

Er hatte Aguatec gleich nach dem Studium als kleines Ein-Mann-Unternehmen gegründet. Damals gestand ihm kaum jemand eine Chance zu. Doch mit harter Arbeit und innovativen Ideen war es ihm gelungen, sich zuerst auf Mallorca, dann auf dem spanischen Festland und schließlich auch in den angrenzenden europäischen Nachbarländern als der führende Hersteller von Meerwasserentsalzungsanlagen zu etablieren.

Inzwischen arbeiteten europaweit mehr als einhundert Angestellte für Aguatec, die Firma erwirtschaftete geradezu traumhafte Gewinne, und die Auftragsbücher für die kommenden Monate waren prall gefüllt.

Und doch stand nun alles, was er sich im Laufe der vergangenen Jahre aufgebaut hatte, auf dem Spiel …

Er trat durch den gläsernen Haupteingang in die angenehme Kühle des klimatisierten Gebäudes, nickte der jungen Frau am Empfang knapp zu und durchquerte dann die Eingangshalle. Er war schon beinahe bei den Aufzügen, als er eilige Schritte hinter sich vernahm und sich umdrehte.

Pedro Vayol, einer seiner Mitarbeiter aus dem Sicherheitsteam, sprach ihn an. „Señor Valdéz“, rief er. „Haben Sie einen Augenblick Zeit? Da ist etwas, das Sie sich ansehen sollten!“

Obwohl Miguel eigentlich ganz andere Dinge beschäftigten, wollte er seinen Angestellten nicht vor den Kopf stoßen, also folgte er ihm in den Überwachungsraum. Pedro deutete auf den Monitor, der die Bilder der Außenkamera zeigte, und Miguel trat näher.

Fasziniert betrachtete er das Gesicht der jungen Frau, die ihn geradewegs anzusehen schien. Sie war wunderschön: sinnliche Lippen, hohe Wangenknochen, große, von dichten Wimpern beschattete Augen und langes dunkles Haar, das sich über ihre Schultern ergoss.

„Was tut sie da?“ Er riss sich von ihrem Anblick los und sah Pedro fragend an.

Der zuckte mit den Schultern. „Ich kann es Ihnen nicht sagen, aber sie treibt sich schon seit mehr als einer halben Stunde hier herum, streift um das Gebäude und schaut sich ziemlich auffällig um. Und weil Sie doch wünschten, dass ich Sie informieren soll, wenn irgendetwas Außergewöhnliches passiert …“

Miguel nickte. „Ja, es war absolut richtig, dass Sie mir Bescheid gesagt haben. Ich werde mich um die junge Dame kümmern.“ Er verließ den Überwachungsraum, fest entschlossen herauszufinden, warum die schöne Unbekannte um das Gelände von Aguatec herumschlich.

Ihr Verhalten war mehr als verdächtig. Die Art und Weise, wie sie an der Mauer hinaufgeblickt hatte, die das Firmengelände umgab … So als würde sie nach einem Weg suchen, hinüberzugelangen.

Ob sie etwas mit Jaime zu tun hatte? Steckten die zwei womöglich unter einer Decke? Vielleicht sollte Jaime ihr die Pläne übergeben, und nun wollte sie, da er nicht am vereinbarten Treffpunkt erschienen war, nach dem Rechten sehen …

Er hatte inzwischen das Gebäude verlassen und ging auf das schmiedeeiserne Tor zu, um die Frau zur Rede zu stellen. Doch noch bevor er hindurchgetreten war, drang ein schriller Schrei an sein Ohr.

„Nein!“, hörte er eine verzweifelt klingende Frauenstimme auf Englisch rufen. „Meine Tasche!“

Miguel rannte los.

„Señorita? Señorita, hören Sie mich?“

Das Erste, was sie wahrnahm, als sie aufwachte, war diese fremde, aber gleichzeitig ungemein aufregende Stimme eines Mannes, der Englisch mit spanischem Akzent sprach.

Sie versuchte die Augen zu öffnen, schloss sie aber sofort wieder, weil grelles Licht sie blendete.

„Señorita?“

Wieder diese Stimme. Also noch ein Versuch. Es fiel ihr schwer, die Lider erneut aufzuschlagen. Die Versuchung, sich fallen zu lassen und sich dieser finsteren, aber angenehmen Schwerelosigkeit einfach hinzugeben, war groß, dennoch widerstand sie ihr.

Sie blinzelte – und schaute direkt in das Gesicht eines ihr unbekannten Mannes.

Eines äußerst attraktiven Mannes.

Sein olivfarbener Teint wies ihn eindeutig als Südländer aus. Aus dunklen, fast schwarzen Augen musterte er sie eindringlich – ob argwöhnisch oder besorgt konnte sie nicht mit Sicherheit sagen. Kurz hielt sein Blick sie gefangen, und ihr Herz begann, heftiger zu pochen. Zugleich spürte sie sofort, dass von diesem Mann mit dem leicht herrischen Zug um den Mund Gefahr ausging. Er …

Aufhören! Sofort aufhören!

Sie schnappte nach Luft und zwang sich, den Kopf abzuwenden, bereute es jedoch schon in der nächsten Sekunde, als ein hämmernder Schmerz in ihren Schläfen einsetzte, der für einige Sekunden die Welt vor ihren Augen verschwimmen ließ.

Als sie wieder einigermaßen klar sehen konnte, zwang sie sich, ruhig und tief durchzuatmen.

Etwas stimmte nicht mit ihr, das fühlte sie deutlich, sie konnte nur nicht genau festmachen, um was es sich handelte. Und die Nähe dieses umwerfend gut aussehenden Mannes machte es ihr auch nicht unbedingt leichter, einen klaren Gedanken zu fassen.

Noch einmal unternahm sie einen Versuch, sich aufzusetzen, doch der Fremde drückte sie sanft, aber bestimmt zurück.

„Nichts da, Señorita! Sie bleiben schön ruhig liegen, bis ich Ihnen erlaube, aufzustehen.“

„Wie bitte?“, begehrte sie auf, doch das kontinuierliche Pochen hinter ihrer Stirn hielt sie davon ab, seine Anweisung zu missachten, auch wenn sie sich über seine Bevormundung ärgerte.

„Seien Sie vernünftig, es ist zu Ihrem Besten. Sie haben sich böse den Kopf angeschlagen.“

„Den Kopf?“, fragte sie verwirrt. „Aber … wobei denn?“

Er sah sie irritiert an. „Na, als Sie bei dem Versuch, dem Dieb Ihre Reisetasche wieder zu entreißen, gestürzt sind. Mit so einer Verletzung ist nicht zu spaßen!“ Seine Miene nahm einen leicht spöttischen Ausdruck an – und er fügte auf Spanisch hinzu: „Lernt man dort, wo Sie herkommen, denn nicht, dass man bei einem Überfall besser keine Gegenwehr leistet?“

„Überfall? Dieb? Ich …“ Sie schluckte hart und kämpfte gegen die aufsteigende Panik an. „Ich wurde angegriffen?“

„Sie sprechen also meine Sprache“, stellte er fest. „Gut, das vereinfacht vieles. Und an den Überfall erinnern Sie sich nicht?“

Sie horchte in sich hinein und musste zu ihrem Entsetzen feststellen, dass sie sich nicht nur an keinen derartigen Vorfall erinnerte. Nein, es war, als gliche ihr Gedächtnis einem Schrank mit vielen Hundert Fächern, und jedes Mal, wenn sie eines öffnete, fand sie es leer vor.

Der Schock musste ihr ins Gesicht geschrieben stehen, denn der Fremde runzelte die Stirn. „Ein Arzt ist bereits verständigt und wird in wenigen Minuten eintreffen, um Sie gründlich zu untersuchen. Die Polizei wurde ebenfalls informiert. Würden Sie mir Ihren vollständigen Namen verraten und mir sagen, in welchem Hotel Sie gebucht haben, damit ich dort Bescheid geben kann?“

„Meinen Namen?“ Angestrengt versuchte sie, diese Information abzurufen, Ordnung in das Chaos zu bringen, das in ihrem Kopf herrschte. Doch sosehr sie sich auch bemühte, das Erste, woran sie sich erinnern konnte, war sein Gesicht, als sie aus der Bewusstlosigkeit erwachte.

Alles, was sich davor in ihrem Leben ereignet haben mochte, war wie ausgelöscht. Sie konnte sich an absolut überhaupt nichts erinnern – und diese Erkenntnis raubte ihr schier den Atem.

Oh nein, oh nein, oh nein!

„Ich … kann Ihnen meinen Namen nicht sagen, weil ich ihn nicht mehr weiß“, stieß sie heiser hervor. Tränen der Verzweiflung traten ihr in die Augen. „Es ist alles weg! Wer ich bin, woher ich komme, was geschehen ist … An nichts von alldem kann ich mich erinnern!“

Er musterte sie für einen Moment mit einer Mischung aus Erstaunen und offenem Misstrauen. „Sie wollen mir weismachen, dass Sie nicht einmal mehr wissen, wie Sie heißen?“

Sie blinzelte die Tränen fort. War er wirklich so unsensibel, dass er sich nicht vorstellen konnte, wie es gerade in ihr aussah? „Es tut mir leid, ich …“ Sie setzte sich wieder auf und ignorierte den Schmerz in ihrem Kopf, der sofort wieder anschwoll. „Es ist wohl besser, wenn ich jetzt geh…“ Sie versuchte aufzustehen, sackte jedoch augenblicklich in sich zusammen, weil ihre Beine sie nicht trugen.

Der Unbekannte reagierte blitzschnell und fing sie auf, als ihr schwarz vor Augen wurde. Sie war ihm jetzt so nah, dass ihr der herb-männliche Duft seines Aftershaves in die Nase stieg, und ihre Knie wurden noch weicher, als sie es ohnehin schon waren.

„Concho!“, stieß er ärgerlich hervor, doch die Art und Weise, wie er ihr dabei half, sich wieder zu setzen, war angesichts seines wütenden Ausrufs überraschend sanft. „Habe ich mich irgendwie unklar ausgedrückt, als ich Ihnen sagte, Sie sollen liegen bleiben?“

Es vergingen ein paar Sekunden, ehe das heftige Schwindelgefühl in ihrem Kopf ein wenig nachließ. Dann sah sie sich zum ersten Mal in den Raum, in dem sie aufgewacht war, um.

Sie saß auf einer Couch, deren weiches cappuccinofarbenes Leder sich wie Samt auf ihrer Haut anfühlte. Riesige Panoramafenster, die vom Fußboden bis zur Decke reichten, gestatteten einen freien Blick hinaus auf einen geradezu unwirklich blauen Himmel. Die Einrichtung bestand aus einer edlen Mischung aus modernen Einzelstücken und kostbar aussehenden Antiquitäten und erweckte den Eindruck, dass es sich hier um ein Arbeitszimmer oder Vorstandsbüro handelte.

„Was habe ich Ihnen eigentlich getan, Señor …“ Sie stockte. „Wie heißen Sie überhaupt?“

„Valdéz“, erwiderte er. „Mein Name ist Miguel Valdéz. Und um Ihre Frage zu beantworten: Sie haben mir gar nichts getan. Ich kann es nur nicht ausstehen, wenn man meine Anweisungen infrage stellt, das ist alles.“

Sie holte tief Luft. „Ich würde jetzt gern sagen, dass es mir eine Freude ist, Sie kennenzulernen, Señor Valdéz, aber das wäre gelogen.“ Hilflos zuckte sie die Schultern. „Diese ganze Situation …“ Jetzt konnte sie die Tränen nicht mehr länger zurückhalten. Aufschluchzend barg sie das Gesicht in den Händen.

„Nicht doch“, sagte er, und sie war überrascht, wie beruhigend seine Stimme auf sie wirkte. „Ich bin sicher, es kommt alles wieder in Ordnung. Wahrscheinlich ist Ihr Gedächtnisverlust nur eine Folge des Sturzes. In ein paar Stunden werden Sie sich bestimmt wieder erinnern können. Und selbst wenn nicht – die Polizei wird alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um Ihre Identität herauszufinden.“

Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen und schaute ihn an. „Glauben Sie das wirklich, Señor?“

„Miguel“, korrigierte er sie. „In unserer augenblicklichen Situation erscheinen mir Förmlichkeiten eher unangebracht, finden Sie nicht? Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich Sie einfach Samantha nennen.“

Sofort war er wieder da, dieser forschende Blick. Es erschien ihr fast so, als würde er auf eine Reaktion ihrerseits warten, doch sie musste ihn enttäuschen.

„Samantha?“, wiederholte sie nachdenklich. Nein, der Name sagte ihr nichts. Gut möglich, dass sie so hieß, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. „Heiße ich so?“

„Ich hoffte eigentlich, das könnten Sie mir beantworten.“ Er seufzte. „Ich habe das hier in Ihrer Jackentasche gefunden.“ Er reichte ihr einen teuer aussehenden Kugelschreiber, auf dessen Kappe ein Name eingraviert war: Samantha. „Da der Dieb mit Ihren übrigen Habseligkeiten flüchten konnte, ist dies leider der einzige Anhaltspunkt, den wir haben. Ihre Handtasche mit den Papieren hatten Sie vermutlich der Einfachheit halber im Reisegepäck deponiert, denn Sie trugen, soweit ich feststellen konnte, keine bei sich.“ Missbilligend schüttelte er den Kopf. „Touristen! Im Grunde kann man es den Gaunern und Betrügern auf dieser Insel nicht einmal verübeln, dass sie eine kriminelle Karriere einschlagen, wenn man bedenkt, wie einfach Leute wie Sie es ihnen machen. Die Diebe müssen lediglich in einer Gegend wie dieser hier, in der ein paar halbwegs berühmte Personen der Insel leben, abwarten – früher oder später wird schon eine lohnende Beute auftauchen.“

Sie bekam kaum mit, was er sagte, dazu war sie viel zu durcheinander. Samantha …

Erst kurz darauf wurde ihr die Bedeutung seiner Worte bewusst. „Sagten Sie gerade Insel?“, fragte sie überrascht. „Wo sind wir denn?“

„Auf Mallorca – genauer gesagt in meinem Büro in der direkten Umgebung von Sóller an der Nordwestküste. An den Flug nach Palma und die Weiterfahrt hierher erinnern Sie sich demnach auch nicht? Allzu lange können Sie sich ja noch nicht hier aufgehalten haben, da Sie noch Ihre Reisetasche mit sich herumtrugen.“

Sie atmete tief durch, dann schüttelte sie den Kopf. Forschend blickte sie an sich herab. Sie trug Ballerinas, kakifarbene Leinenshorts und ein helles ärmelloses Top. Offenbar gehörte sie zu den Frauen, die praktische Garderobe bevorzugten. Daran, diese Kleidungsstücke gekauft und am Morgen angezogen zu haben, konnte sie sich allerdings nicht erinnern.

Und dann wurde ihr auf einmal klar, dass sie nicht einmal wusste, wie sie aussah, und ihr Herz fing an, heftiger zu klopfen.

„Haben Sie vielleicht einen Spiegel?“

Er runzelte die Stirn. „Wozu das denn?“, fragte er eindeutig genervt. „Hören Sie, ich kann Ihnen versichern, dass Ihr Gesicht bei dem Überfall keinen Schaden genommen hat. Sie sehen tadellos aus und …“

„Ich …“ Sie schluckte hart. „Ich möchte wissen, ob ich mich selbst erkenne.“

Seine leicht spöttische Miene wurde schlagartig ernst. „Naturalmente, einen Augenblick, bitte!“

Er stand auf und verließ den Raum. Kurz darauf kehrte er mit einer Puderdose zurück, die er ihr überreichte. „Por favor – mit den besten Wünschen meiner Sekretärin Sofia. Wenn Dr. Hernández Sie nachher durchgecheckt hat, können Sie sich in einem der Waschräume in all Ihrer Pracht begutachten. Für den Moment muss das hier reichen.“

Ihre Hände zitterten, als sie den Deckel des Döschens öffnete, dann ließ sie es sinken und kämpfte darum, den Mut aufzubringen, ihr eigenes Spiegelbild zu betrachten.

Sie atmete tief durch und hob die Dose. Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, war ein wenig blass, aber durchaus als hübsch zu bezeichnen. Leicht herzförmig, mit hohen Wangenknochen, wurde es von langen, fransig geschnittenen Haaren umrahmt, die in einem dunklen Bronzeton schimmerten. Die großen Augen waren von einem klaren Graublau, und sie wurden von langen, dichten Wimpern beschattet.

Alles in allem sah sie durchaus passabel aus. Der Haken an der Sache war nur: Sie kannte dieses Gesicht nicht, und es fiel ihr schwer zu akzeptieren, dass sie selbst es war, die sie da sah.

„Na, zufrieden?“

Erschrocken zuckte sie zusammen, als Miguels Stimme sie abrupt in die Realität zurückholte. Er hatte sich ein paar Schritte entfernt, lehnte lässig am Rahmen der nur angewinkelten Tür und betrachtete sie von dort aus. Sein Anblick büßte auch aus der Entfernung nichts von seiner anziehenden Wirkung ein.

Sofort spürte sie wieder, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Sie verstand sich selbst nicht. Hatte sie denn keine anderen Sorgen?

Sie hob die Schultern. „Es ist das Gesicht einer Unbekannten“, entgegnete sie mutlos.

„Einer äußerst attraktiven Unbekannten“, erwiderte er lächelnd, und sie fragte sich nicht zum ersten Mal, ob er auch nur ansatzweise nachvollziehen konnte, wie ungemein schwierig diese Situation sich für sie anfühlte.

Sie musterte ihn unauffällig, doch seine Miene war so undurchschaubar wie er selbst. Wer bist du? Und warum glaube ich zu wissen, dass du gefährlich bist, obwohl ich mich doch an sonst nichts erinnere?

„Ein etwas weniger attraktives Gesicht, das ich dafür im Spiegel wiedererkenne, wäre mir im Augenblick sehr viel lieber“, entgegnete sie mit bebender Stimme. „Im Übrigen fühle ich mich schon besser, es wird daher nicht nötig sein, Ihre Gastfreundschaft noch länger in Anspruch zu nehmen.“

Sein Blick nahm einen spöttischen Ausdruck an. „Nur zu, ich werde Sie gewiss nicht zurückhalten, schließlich sind Sie nicht meine Gefangene. Ich an Ihrer Stelle würde diese Entscheidung allerdings noch einmal gründlich überdenken. Sie haben weder einen Cent Bargeld noch Papiere, um sich auszuweisen. Es dürfte also schwierig werden, irgendwo auf Mallorca ein Zimmer zu bekommen.“

In diesem Moment wurde ihr zum ersten Mal wirklich bewusst, in was für einer ausweglosen Situation sie steckte, und die Panik, die schon die ganze Zeit unter der Oberfläche gelauert hatte, brach nun mit aller Macht über sie herein. Sie musste hier raus. Auf der Stelle!

„Vielen Dank für Ihre Hilfe – muchas gracias“, stieß sie heiser aus, „aber ich bin sicher, dass ich von nun an allein zurechtkommen werde.“

Sie sprang von ihrem Platz auf und ignorierte den Schmerz, der wie ein Blitz durch ihren Schädel zuckte.

Doch sie kam nicht weit.

Sie hatte die Tür kaum erreicht, als ihr schwarz vor Augen wurde. Sie spürte noch, wie starke Arme sie umfassten und verhinderten, dass sie zu Boden sank – danach nichts mehr.

2. KAPITEL

Als Samantha die Augen wieder aufschlug, blickte sie in das Gesicht eines freundlich lächelnden älteren Mannes. „Ah, die Señorita ist endlich aufgewacht“, sagte er und half ihr, sich aufzusetzen. „Mein Name ist Dr. Hernández, Señor Valdéz hat mich gerufen, um Sie zu untersuchen. Wie geht es Ihnen?“

Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Sie stellte fest, dass sie sich noch immer in Miguels Büro befand. Neben der Couch stand die aufgeklappte Arzttasche des Doktors. Sie horchte in sich hinein. Da war noch ein leichtes Pochen hinter den Schläfen, doch das stellte kaum mehr als ein Echo des Schmerzes dar, den sie bei ihrem ersten Erwachen verspürt hatte. Außerdem blieb das Schwindelgefühl aus, und ihr wurde auch nicht übel.

„Es geht schon besser“, antwortete sie. „Aber erinnern kann ich mich immer noch an nichts.“

, Señor Valdéz unterrichtete mich bereits darüber, dass es Schwierigkeiten mit Ihrem Gedächtnis gibt. Aber ich würde mir an Ihrer Stelle keine Gedanken machen. Es ist vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis sich alles ganz von allein wieder einrenkt.“

„Vermutlich?“ Sie sah ihn fragend an. „Heißt das, Sie können nichts Genaues sagen?“

Der Arzt blickte sie bedauernd an. „Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie schwer die Situation für Sie sein muss. Allerdings trifft leider genau das zu: Ich kann nicht mehr sagen und vor allem nichts weiter tun. Da Sie sich an nichts aus Ihrer Vergangenheit erinnern, handelt es sich bei Ihrer Art der Gedächtnisstörung offenbar um eine totale Amnesie, die sämtliche Erinnerungen betrifft, also auch jene, die identitätsbezogen sind. Sie kommt nur sehr selten vor und hält so gut wie nie dauerhaft an.“

„Und wie lange kann so etwas schlimmstenfalls anhalten? Ich meine, sprechen wir hier von Stunden, Tagen, Wochen oder Jahren?“

„Es tut mir leid, aber das ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann“, erklärte Dr. Hernández. „Ob und wann eine Besserung eintrifft, wage ich nicht vorauszusagen. Die einzige Medizin lautet jetzt: abwarten. Allerdings schlage ich vor, dass Sie sich in einem Krankenhaus noch einmal genauestens neurologisch untersuchen lassen.“

„Das ist alles?“ Sie spürte, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich. „Ich soll einfach abwarten und darauf hoffen, dass mir wieder einfällt, wer ich bin und woher ich komme?“

„Haben Sie ein wenig Geduld mit sich selbst. Ihre Amnesie wurde vermutlich ausgelöst durch den Schock des Überfalls oder ein anderes traumatisches Erlebnis in Ihrer Vergangenheit, das Ihr Unterbewusstsein nicht hat verarbeiten können. Ruhe und Erholung sind für Sie im Augenblick die beste Medizin.“

In diesem Moment betrat Miguel das Zimmer, und Dr. Hernández verabschiedete sich, nachdem er ihn kurz über den Stand der Dinge in Kenntnis gesetzt hatte.

„Ich bin froh zu hören, dass es Ihnen besser geht, Samantha!“ Lächelnd kam Miguel auf sie zu. Er deutete zu einer Tür am anderen Ende des Raumes. „Dort hinten finden Sie ein Badezimmer. Sie wollen sich sicher noch ein wenig frisch machen, ehe wir aufbrechen?“

„Aufbrechen? Wohin?“

„Ich habe auf meinem Anwesen ein Gästezimmer für Sie vorbereiten lassen. Vorher werde ich Sie allerdings noch in ein Krankenhaus bringen. Dr. Hernández meint zwar, dass Ihre Erinnerung früher oder später ganz von allein zurückkehren wird, aber ich möchte sichergehen, dass Sie durch den Sturz auch wirklich keinen körperlichen Schaden davongetragen haben. Und nach der Untersuchung werden Sie dann bei mir wohnen.“

Ungläubig starrte Samantha ihn an. „Ich soll – was? Bei Ihnen wohnen?“ Energisch schüttelte sie den Kopf. „Nein, das kommt überhaupt nicht infrage. Sie haben bereits mehr als genug für mich getan! Von jetzt an komme ich allein zurecht.“

„Ohne Geld, ohne Papiere?“

„Macht es Ihnen eigentlich Spaß, mir meine Situation immer wieder vor Augen zu führen?“, fragte sie verärgert.

„Ganz und gar nicht. Aber ich halte es für dringend notwendig, Sie zur Vernunft zu bringen. Mein Haus verfügt über ein halbes Dutzend Gästezimmer, die so gut wie nie genutzt werden. Davon abgesehen, wird die Polizei Sie in den nächsten Tagen sprechen wollen, um Ihnen ein paar Fragen zu stellen. Ich war so frei, die Beamten darüber zu informieren, dass Sie vorübergehend bei mir unterkommen werden, bis die Frage um Ihre Identität geklärt ist.“

Samantha wusste, dass sein Angebot die einfachste und angenehmste Lösung für zumindest einen Teil ihrer dringendsten Probleme darstellte. Doch allein der Gedanke, die nächsten Tage, womöglich Wochen, mit ihm unter einem Dach zu verbringen, jagte ihr Angst ein. Und das hatte nichts damit zu tun, dass sie sich vor ihm fürchtete, sondern lag vielmehr daran, dass sie nicht wusste, ob sie sich selbst trauen konnte.

In seiner Gegenwart bekam sie Herzklopfen und weiche Knie. Trotz der verzweifelten Situation, in der sie sich befand, konnte sie doch nicht verleugnen, dass sie sich körperlich ungemein stark zu ihm hingezogen fühlte.

Sie stand auf und ging schweigend an ihm vorbei ins angrenzende Badezimmer.

Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, stützte sie sich schwer auf den Waschbeckenrand. Und nun? Sie beschloss, jetzt lieber nicht über diese Frage nachzugrübeln, und drehte stattdessen den Wasserhahn auf.

Keine fünf Minuten später trat sie erfrischt zurück in Miguels Arbeitszimmer. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand und musterte sie.

„Nein“, sagte sie knapp.

„Nein was?“ Seufzend schüttelte er den Kopf. „Hören Sie, ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor.“

„Wieso? Sie haben mir vorgeschlagen, bei Ihnen zu wohnen, und …“

„Ich schlage das nicht vor, ich bestimme es!“

Sie schluckte. „Ich glaube kaum, dass Sie das Recht haben, mir gegenüber irgendetwas zu bestimmen.“

„Sie täuschen sich. Ich habe gesehen, wie Sie überfallen wurden, und bin Ihnen zu Hilfe geeilt. Ich war es, der Sie in mein Büro gebracht und die Polizei informiert hat. Und nicht zuletzt haben Sie es mir zu verdanken, dass Sie von meinem Privatarzt untersucht und versorgt wurden. Sie gehören zu mir, bis Sie mir sagen können, wer Sie sind und wo Sie wohnen. Und jetzt kommen Sie endlich – ich habe nicht ewig Zeit!“

Entgeistert starrte Samantha ihn an. „Ich danke Ihnen für alles, was Sie für mich getan haben, aber ich werde jetzt gehen – und zwar allein!“

Bevor er etwas erwidern konnte, wandte sie sich ab und stürzte so hastig aus dem Zimmer, dass es fast wie eine Flucht wirken musste. Doch warum kümmerte sie das überhaupt? Sie würde Miguel Valdéz vermutlich niemals in ihrem Leben wiedersehen. Es konnte ihr also gleichgültig sein, was er von ihr dachte.

Die neugierigen Blicke der jungen Frau im Vorzimmer ignorierend, lief sie einen langen Flur hinunter und stieg in einen Aufzug, der sie ins Erdgeschoss des Gebäudes brachte. Keine zwei Minuten später trat sie hinaus ins Freie, wo sie von strahlendem Sonnenschein und fröhlichem Vogelgezwitscher empfangen wurde.

Tief sog sie die warme, leicht nach Salz und mediterranen Kräutern duftende Luft in ihre Lungen, und für einen Moment verspürte sie ein geradezu berauschendes Gefühl von Freiheit.

Doch die Erleichterung währte nur sehr kurz, denn schon bei der Entscheidung, ob sie sich besser nach links oder nach rechts wenden sollte, stieß sie an ihre Grenzen.

In diesem Augenblick wurde ihr zum ersten Mal wirklich bewusst, dass sie völlig allein war auf der Welt. Sie besaß kein Zuhause, oder zumindest keines, an das sie sich erinnerte. Es gab keinen Ort, an den sie gehen, niemanden, an den sie sich wenden konnte. Miguel Valdéz war der einzige Mensch auf Erden, den sie ein wenig näher kannte. Ohne ihn war sie vollkommen auf sich allein gestellt!

Die Verzweiflung brach wie eine Flutwelle über sie herein, und es gab nichts, was sie hätte tun können, um die Tränen zurückzuhalten. Ein Schluchzen, das aus den tiefsten Tiefen ihrer Seele zu kommen schien, entrang sich ihrer Kehle, und sie barg das Gesicht in den Händen.

Und dann spürte sie plötzlich, dass Miguel da war, noch ehe sie seine Stimme vernahm. „Mein Wagen ist der silberne Porsche dort drüben“, sagte er und deutete in die entsprechende Richtung. „Ich warte fünf Minuten, wenn Sie dann nicht da sind, fahre ich ohne Sie.“

Samantha hörte, wie seine Schritte sich entfernten. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und atmete tief durch.

Sie wollte nicht bei ihm wohnen, nicht einmal für ein paar Tage. Allein der Gedanke, mit diesem Mann zusammen zu leben, der keinerlei Vorstellung davon besaß, was sie gerade durchmachte, und sich auch nicht die geringste Mühe gab, sich in sie hineinzuversetzen, war ihr fast unerträglich.

Doch gleichzeitig wusste sie auch, dass sie im Grunde gar keine andere Wahl hatte.

Sie straffte die Schultern und folgte ihm.

„Das ist …“ Ungläubig schüttelte Samantha einige Stunden später den Kopf. Sie fand einfach nicht den richtigen Ausdruck, um die Herrlichkeit zu beschreiben, von der sie umgeben war.

Die Untersuchung in dem Krankenhaus in der Nähe von Palma hatte die Diagnose von Miguels Hausarzt bestätigt. Was ihr Gedächtnis betraf, konnten nur Geduld und Zeit helfen, und so bemühte sie sich, nicht ständig über ihre missliche Situation nachzudenken. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Schönheit der Natur, die sie umgab, als sie sich auf dem Weg zu Miguel Privatanwesen befanden.

Über ihnen spannte sich ein makellos blauer Himmel, der am Horizont mit dem Meer zu verschmelzen schien, dessen Wellen sich weiß schäumend gegen die schroffe Felsküste warfen. Auf der anderen Seite der kurvenreichen Straße schmiegten sich in Terrassen angelegte Olivenhaine mit uralten knorrigen Ölbäumen an die Flanken der Serra de Tramuntana. Ihr würziger Duft erfüllte die Luft und vermischte sich mit dem des gelb blühenden Ginsters und des leuchtend roten Salbeis, die am Wegesrand wuchsen.

Zum ersten Mal, seit sie vor etwas mehr als einer halben Stunde vom Parkplatz des Krankenhauses aus losgefahren waren, brach Miguel sein Schweigen. „Atemberaubend, nicht wahr?“, sagte er mit einem stolzen Lächeln. „Die berühmte französische Schriftstellerin George Sand hat genau die richtigen Worte für das gefunden, was ich angesichts der wilden Schönheit dieser Insel immer wieder empfinde: Diese Landschaft macht uns stumm.“

Genau das war es, was auch Samantha in diesem Augenblick erlebte. Sie war so gebannt, dass sie mehr als ein Nicken nicht zustande brachte.

Sie folgten der Küstenstraße noch etwas mehr als einen Kilometer, ehe sie an einer Abzweigung in einen leicht ansteigenden Weg abbogen, der durch ein bezauberndes, von schmalen kopfsteingepflasterten Gassen geprägtes Dorf führte. Etwas später erreichten sie ein Tor, dessen schmiedeeiserne Flügel sich wie von Zauberhand öffneten und dann, nachdem sie es passiert hatten, auch von selbst wieder schlossen. Als sie kurz darauf vor einem riesigen Gebäude aus hellem Naturstein vorfuhren und Miguel den Wagen im Schatten eines Baums abstellte, hielt Samantha den Atem an. „Hier wohnen Sie?“, fragte sie überwältigt. „In diesem Palast?“

Das Haus war ein wahr gewordener Traum im mediterranen Stil. Mit grob behauenen Treppen, weiß umfassten Rundbögen und leuchtend grün gestrichenen Fensterläden wirkte es wie eine klassische Finca – nur sehr viel größer.

Über dem von Efeu umrankten Eingangsportal aus dunklem Eichenholz war ein riesiges Rundfenster aus Buntglas in die Fassade eingelassen worden, das ein Vermögen gekostet haben musste. Überall wuchsen Blumen und Kräuter in Töpfen und Kübeln aus Terrakotta.

„Das alles hier war früher einmal ein Kloster, doch als ich es vor ein paar Jahren kaufte, lebten in den altehrwürdigen Mauern höchstens noch Schwalben und Ginsterkatzen“, erklärte Miguel. „Die Renovierung hat einige Zeit in Anspruch genommen, aber ich finde, die Arbeit hat sich gelohnt, nicht wahr?“

„Ob es sich gelohnt hat? Ich habe nie ein schöneres Haus gesehen!“ Sie hatte die Worte schon ausgesprochen, als ihr klar wurde, wie seltsam sie aus ihrem Munde klingen mussten, angesichts der Tatsache, dass sie sich an nichts aus ihrer Vergangenheit erinnern konnte. „Ich meinte … Es ist wirklich wunderschön.“

Miguel nickte, doch sie glaubte zu spüren, wie sein misstrauischer Blick auf ihr ruhte.

Unsinn! Das bildest du dir nur ein. Er hat schließlich keinen Grund, dir gegenüber irgendwelchen Argwohn zu empfinden – oder?

Sie kam nicht dazu, länger über diese Frage nachzudenken, denn in diesem Moment öffnete sich die Eingangstür des Hauses, und eine hübsche Frau mit langen dunkelbraunen Haaren trat auf den Treppenabsatz hinaus. Volle Lippen und schwere Lider beherrschten ihr ovales Gesicht, dessen olivfarbener Teint dem von Miguel ähnelte. Sie trug ein zart geblümtes buntes Sommerkleid aus einem feinen Stoff, der sich in der Brise, die vom Meer her wehte, leicht aufbauschte.

Unwillkürlich fragte Samantha sich, wer die mallorquinische Schönheit wohl sein mochte, und ganz kurz verspürte sie einen eifersüchtigen Stich, als ihr der Gedanke kam, dass es sich womöglich um Miguels Ehefrau handelte. Was wusste sie schließlich schon von ihm? Doch lediglich, dass er eine eigene Firma besaß und offenbar über genügend Vermögen verfügte, um sich einen teuren Oldtimer und ein riesiges Haus in exklusiver Wohnlage leisten zu können.

Aber schon einen Augenblick später klärte Miguel alles auf. „Samantha“, sagte er, „das ist Pilar Ortega, meine Haushälterin. Sie und ihr Mann Gustavo, der sich gerade auf dem Festland aufhält, um dort an einem Gartenbauseminar teilzunehmen, leben auch auf dem Anwesen.“ Dann wandte er sich an seine Angestellte, die sofort eingeschüchtert den Blick senkte. „Haben Sie das Gästezimmer für Señorita Samantha hergerichtet?“, fragte er.

Pilar nickte eifrig, ohne ihn dabei anzusehen. „Es ist alles vorbereitet, Patrón.“

„Folgen Sie Pilar einfach“, erklärte er Samantha. „Sie wird Ihnen das Zimmer zeigen, in dem Sie für die Dauer Ihres Aufenthalts wohnen können. Ich muss noch einmal zurück in die Firma, wir sehen uns dann später beim Abendessen.“

Samantha blickte ihm nach, wie er zurück zu seinem Wagen ging, dann straffte sie die Schultern und drehte sich um. Sie durfte erst gar nicht damit anfangen, sich an Miguel zu klammern. Auch wenn es ihr vorkam, als wäre er der einzige Mensch auf der Welt, den sie kannte – sie musste sich stets vor Augen halten, dass sie so gut wie überhaupt nichts über ihn wusste.

Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, warum er ihr überhaupt half. War es wirklich allein die Tatsache, dass sie praktisch vor seiner Haustür überfallen worden war, oder gab es ein anderes, triftigeres Motiv, von dem sie nichts ahnte?

Das brachte sie zurück zu einem anderen offenen Punkt, der ihr einfach nicht aus dem Kopf ging: Wenn sie sich tatsächlich, wie Miguel vermutete, als Touristin auf Mallorca aufhielt und erst kurz vor dem Überfall auf der Insel eingetroffen war, was hatte sie dann überhaupt in der Nähe seines Unternehmenssitzes zu suchen gehabt? Lag es nicht viel näher, dass man sich als Urlauber zuerst einmal auf direktem Weg ins Hotel begab, um sein Zimmer zu beziehen und sein Gepäck loszuwerden? Gut, vielleicht machte man davor noch einen kurzen Abstecher an den Strand – aber auf keinen Fall zu einer Firma, die, wie Miguel ihr auf der Fahrt hierher erzählt hatte, Meerwasserentsalzungsanlagen herstellte.

Jedenfalls nicht ohne guten Grund.

„Kommen Sie, Señorita?“, fragte Pilar freundlich auf Spanisch und riss Samantha damit aus ihren Gedanken. „Ich bringe Sie zu Ihrem Zimmer.“

Sie folgte der jungen Mallorquinerin in die kühle Eingangshalle des Hauses. Doch schon auf der Türschwelle blieb Samantha stehen, wie gebannt von dem Anblick, der sich ihr bot.

Das weiche Licht der Morgensonne fiel durch das runde Buntglasfenster und tauchte die stilecht mit alten Bauernmöbeln eingerichtete Halle in ein Meer aus leuchtenden Farben und Formen. Der Fußboden bestand, ebenso wie die Wände, aus hellem Naturstein, die Fliesen waren in konzentrischen Kreisen um einen zentralen Stein ausgerichtet, auf dem auf Spanisch ein Satz stand, den Samantha mit ihren dürftigen Kenntnissen der Sprache nicht recht entziffern konnte.

„Das Licht auf Mallorca ist getränkt von reinster Poesie“, kam Pilar ihr zur Hilfe. „Ein berühmter Maler hat das gesagt, aber ich habe seinen Namen leider vergessen.“

„Joan Miró“, sagte Samantha sofort, ohne sich erklären zu können, woher sie das wusste. Es war wie mit so vielen Dingen, die sie selbst immer wieder überraschten: Sie konnte lesen und schreiben und zitierte häufig Dinge, die sie irgendwann in ihrem früheren Leben einmal gehört haben musste. Doch wirklich an etwas erinnern konnte sie sich immer noch nicht.

Ihr Zimmer lag im ersten Stockwerk des Hauses, das man über eine breite Steintreppe erreichte. Es war wunderschön eingerichtet, mit einem wuchtigen Himmelbett, dessen Pfosten aus dunklem Holz mit aufwendigen Schnitzereien verziert waren, und einem Baldachin aus luftigem blütenweißem Stoff.

Vor dem bodentiefen Fenster und der Tür zum Balkon hingen ebenfalls weiße Vorhänge, die sich in der leichten Brise bauschten. Es gab eine Sitzecke mit bequem aussehenden Polstermöbeln, einen Schreibtisch, über dem ein Ölgemälde hing, das einen Orangenhain in voller Blüte zeigte, und einen riesigen Kleiderschrank.

Als Samantha ihn öffnete, erlebte sie eine Überraschung.

„Der Patrón hat mich gebeten, einige Kleidungsstücke für Sie zu besorgen“, erklärte Pilar, die ihren erstaunten Gesichtsausdruck bemerkte, lächelnd. „Er hat Sie mir ganz genau beschrieben, sodass die Größe eigentlich stimmen müsste. Ich hoffe, ich habe Ihren Geschmack einigermaßen getroffen?“

Samantha nahm ein elegantes Abendkleid aus dem Schrank und strich beinahe ehrfürchtig mit der flachen Hand darüber. Der seidige Stoff in der Farbe von dunkler Schokolade harmonierte geradezu perfekt mit ihrem rosigen Teint und dem bronzefarbenen Haar. Unwillkürlich stellte sie sich in diesem Kleid vor, an ihrer Seite Miguel, der einen schwarzen Smoking trug und …

Leise seufzend hängte sie das Kleid zurück in den Schrank.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte Pilar, und Samantha fiel auf, dass sie beinahe ein bisschen erschrocken klang. „Gefällt Ihnen das Kleid nicht? Ich bin sicher, dass es Ihnen ganz hervorragend stehen wird!“

Sie nickte. „Schon möglich. Bloß glaube ich nicht, dass ich in nächster Zeit viel Gelegenheit haben werde, diesen Traum von einem Abendkleid zu tragen.“

Miguels Haushälterin nickte zwar, doch sie wirkte noch immer ein wenig ängstlich, sodass Samantha sich unwillkürlich fragte, was die junge Frau bedrückte. Ob es mit Miguel zu tun hatte? Fürchtete sie, er könne wütend werden, wenn ihr die Kleidungsstücke, die seine Hausangestellte für sie ausgesucht hatte, nicht gefielen?

Nachdenklich runzelte sie die Stirn, dann schüttelte sie kaum merklich den Kopf. Nein, Miguel mochte ein undurchsichtiger Mann sein, doch er gehörte gewiss nicht zu den Menschen, die ihre Angestellten drangsalierten. Sie konnte sich gut vorstellen, dass er ein strenger Arbeitgeber war, aber ganz sicher auch ein gerechter. Das entsprach zumindest dem Eindruck, den sie in der kurzen Zeit, die sie ihn nun kannte, von ihm gewonnen hatte.

„Benötigen Sie noch etwas, Señorita?“, unterbrach Pilar ihren Gedankengang.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, vielen Dank.“ Sie schenkte ihr ein, wie sie hoffte, aufmunterndes Lächeln. „Ich bin sicher, dass ich alles vorfinden werde, was ich brauchen könnte.“

Die junge Spanierin nickte schüchtern, dann wandte sie sich ab und ging zur Tür.

„Ach, Pilar“, rief Samantha. „Eine Sache wäre da doch noch.“

„Sí?“

„Tun Sie mir einen Gefallen, und hören Sie auf, mich ständig Señorita zu nennen, einverstanden?“ Sie trat auf Pilar zu und reichte ihr die Hand. „Nennen Sie mich Samantha.“

Für einen Moment schien Pilar unsicher, was sie tun sollte, doch schließlich lächelte sie scheu, und sie nickte. „Wie Sie wünschen, Señ… Samantha.“

Miguel, der eigentlich nur noch einmal zur Firma gefahren war, um in Ruhe nachdenken zu können, nahm das Handy von seinem Schreibtisch, um Tómas anzurufen und ihn anzuweisen, Nachforschungen über die schöne Engländerin durchführen zu lassen, die ihm das Schicksal so unvermutet ins Haus geschneit hatte.

Er war sich absolut sicher, dass sie sich keinesfalls für die Villen der Stars und Sternchen interessierte, die sich in der Nähe seines Firmensitzes befanden. Es lag an der Art und Weise, wie sie um das Gelände von Aguatec herumgeschlichen war und an den Mauern hinaufgeblickt hatte. So als suche sie nach einem Weg, unbemerkt hineinzugelangen. Aber warum? Was sollte für eine attraktive englische Urlauberin an einem Unternehmen interessant sein, das sich auf die Herstellung von Meerwasserentsalzungsanlagen spezialisiert hatte?

Die einzig logische Antwort lautete: nada – überhaupt nichts. Es sei denn, Samantha war nicht einfach nur irgendeine harmlose Touristin und führte etwas ganz anders im Schilde. Etwas, von dem er vermutete, dass es mit den Geschehnissen in Bezug auf seine Firma zu tun hatte, die ihm in jüngster Zeit solche Kopfschmerzen bereiteten. Womöglich litt sie tatsächlich an einer Amnesie, vielleicht aber auch nicht. Er war längst nicht überzeugt, dass er Dr. Hernández’ Einschätzung der Lage wirklich vertrauen durfte.

Immerhin war Samantha eine Frau, und schon allein deshalb durfte man ihr nicht so einfach alles glauben, was sie sagte. Wie jedes Mitglied ihres Geschlechts setzte auch sie jedes Mittel ein, um an ihr Ziel zu gelangen, und dabei war es ihr vollkommen gleichgültig, wem sie mit ihrem rücksichtslosen Verhalten schadete. Er hatte diese Erfahrung schon mehr als einmal machen müssen. Zum ersten Mal, als …

Nein, jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um über die Vergangenheit nachzugrübeln. Was gesehen war, war geschehen. Er sollte sich lieber mit der Gegenwart befassen.

War es nicht ein merkwürdiger Zufall, dass sie ausgerechnet jetzt auftauchte, wo Gerüchte umgingen, dass Paco Torés, sein schärfster Konkurrent, mit einer Technologie an den Markt gehen wollte, die eine auffallende Ähnlichkeit zu jener besaß, die er zusammen mit seinen Ingenieuren ausgetüftelt hatte. Hinzu kam, dass der Preis, von dem in diesem Zusammenhang die Rede war, es mehr als fraglich erscheinen ließ, dass Torés auch nur einen einzigen Cent in die Entwicklung gesteckt hatte.

Inzwischen wusste Miguel sicher, was er bisher nur vermutet hatte: Es war die von ihm entwickelte Technologie, von der hier die Rede war – und Jaime de Santo, einer seiner engsten Vertrauten, hatte sie an Torés verkauft.

Doch es war Jaime nicht gelungen, die entsprechenden Unterlagen aus dem Haus zu schmuggeln. Er hat sie irgendwo auf dem Grundstück meiner Villa versteckt, dachte Miguel, vermutlich, um sie später in Ruhe fortzuschaffen, ehe ich ihn erwische und zur Rede stelle. Bei der darauf folgenden Flucht war Jaime unglücklich gestürzt und hatte sich schwerste Kopfverletzungen zugezogen. Nur Jaime selbst wusste also, wo sich die Unterlagen befanden. Doch der lag im Koma, und die Ärzte rechneten nicht damit, dass sich sein Zustand sehr bald verbesserte.

Sein Auftraggeber ahnte von alldem natürlich nicht das Geringste. Er musste davon ausgehen, dass Jaime kalte Füße bekommen und das Weite gesucht hatte. Deshalb, so vermutete Miguel, war Samantha auf den Plan gerufen worden. Sie sollte den Job zu Ende bringen, den Jaime begonnen hatte. Warum sonst war sie in der Nähe seines Unternehmenssitzes herumgeschlichen?

Aber nicht mit mir! Miguel nickte entschlossen. Er würde schon zu verhindern wissen, dass ihre Mission erfolgreich verlief.

3. KAPITEL

„Ich muss schon sagen, dieser Hosenanzug steht Ihnen fantastisch“, sagte Miguel, als sie am Abend beim Dinner zusammen auf der großzügigen Terrasse des Hauses saßen, von der aus man bis zum Meer hinunterblicken konnte, das im Schein der sinkenden Sonne in feurigem Rot erglühte.

Sie waren bereits bei der Hauptspeise angelangt – Zurzuela Mallorca, einem traditionellen spanischen Fischtopf à la Mallorca. Doch obwohl er hervorragend schmeckte, konnte Samantha sich weder auf das Essen noch auf die traumhafte Landschaft wirklich konzentrieren.

Es war Miguel, der ihre gesamte Aufmerksamkeit fesselte.

Das Jackett seines hellgrauen Anzugs hatte er abgelegt und über die Rückenlehne seines Stuhls gehängt. Erstaunt stellte Samantha fest, dass das klassische weiße Hemd, das er dazu trug, an ihm keineswegs bieder oder gar langweilig wirkte. Ganz im Gegenteil sogar: Der glatte Stoff spannte sich ein wenig über seinen breiten Schultern, und er hatte die beiden obersten Knöpfe geöffnet, sodass ein Stückchen der olivfarbenen Haut seiner Brust zu sehen war.

Der Anblick raubte Samantha fast den Atem, und ihr Mund war so trocken, dass sie immer wieder an dem fruchtigen Rotwein nippte, den Miguel zum Essen ausgesucht hatte. Zu spät merkte sie, dass der Alkohol die Wirkung, die ihr attraktiver Gastgeber auf sie hatte, nur verstärkte.

Sie räusperte sich angestrengt. Auf keinen Fall durfte er merken, wie stark sie auf ihn reagierte. „Pilar hat wirklich einen außergewöhnlich guten Geschmack, was Mode betrifft“, erwiderte sie mit einer Gelassenheit, die sie keineswegs empfand. „Alles, was sie ausgesucht hat, passt, als wäre es eigens für mich angefertigt, und die Farben und Schnitte sind einfach wunderschön.“

„Dann hat Pilar also Ihren üblichen Kleidungsstil getroffen?“, fragte Miguel und bedachte sie wieder mit diesem misstrauischen Blick, der ihr schon mehrmals an ihm aufgefallen war.

Sie krauste die Stirn. Es war nicht das erste Mal, dass er ihr Fragen dieser Art stellte. Bei jedem anderen hätte sie angenommen, dass es sich um ein Versehen handelte – nicht jedoch bei Miguel. Obwohl sie ihn kaum kannte, wusste sie doch, dass er stets kühl kalkulierte. Nichts, was er tat, geschah aus einer schlichten Laune heraus. Was also bezweckte er damit?

„Die Sachen gefallen mir“, entgegnete sie ausweichend. „Aber Sie hätten wirklich nicht so viel Geld für mich ausgeben müssen.“

Miguel lachte. „Keine Sorge, diese kleine Ausgabe wird mich nicht gleich in den Ruin stürzen, außerdem …“ Er verstummte abrupt und bedeutete Samantha mit einer Handbewegung, ebenfalls still zu sein.

Fragend schaute sie ihn an. „Was ist los?“, fragte sie flüsternd und folgte seinem Blick, doch sie sah dort nur eine Gruppe von Bäumen.

„Kommen Sie“, sagte er und stand langsam, ohne das geringste Geräusch zu verursachen, auf. „Aber leise!“

Ihre Neugier siegte über den ersten Impuls, sich gegen seinen herrischen Tonfall aufzulehnen. Sie erhob sich und folgte Miguel, der jetzt ein paar Meter entfernt am Terrassengeländer stand und auf sie wartete. Als sie bei ihm war, stellte er sich hinter sie und deutete über ihre Schulter hinweg zu den Bäumen, die ein Stück weit unter ihnen am Hang wuchsen.

Er war ihr jetzt so nah, dass sie deutlich die Wärme spüren konnte, die sein Körper ausstrahlte. Der männliche Duft, der ihr dabei in die Nase stieg, verursachte ihr ein Schwindelgefühl, sodass sie sich schwer gegen die Steinmauer der Terrasse lehnen musste.

„Dort“, raunte er ihr zu. „Sehen Sie?“

Es fiel ihr nicht leicht, ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes als auf Miguel zu richten.

Schluss damit! rief sie sich selbst zur Ordnung.

Mit einer nervösen Geste fuhr sie sich durchs Haar, dann blickte sie in die Richtung, in die Miguel deutete. Im ersten Moment wusste sie nicht, was er meinte, doch dann bemerkte sie eine huschende Bewegung zwischen den Ästen des größten der vier Bäume und atmete scharf ein.

Das Tier, das jetzt halb versteckt in einer Astgabel hockte, schien sie aus seinen dunklen Knopfaugen zu mustern. Es erinnerte Samantha an eine Mischung aus Hauskatze und Fuchs, nur dass es sehr viel kleiner war und helles Fell mit dunklen Flecken und Streifen besaß. Sie war sich ziemlich sicher, so etwas nie zuvor gesehen zu haben.

Fragend blickte sie zu Miguel auf. „Was ist das?“

„Eine Kleinfleckginsterkatze“, erklärte er. „Diese Gattung von Schleichkatzen kommt ursprünglich aus Afrika, ist aber inzwischen ebenfalls in Spanien, in Südfrankreich und auf den Balearen zu finden.“

Doch Samantha bekam kaum mit, was er sagte. Sie war wie gefesselt vom Blick seiner dunkelbraunen Augen, es fühlte sich an, als müsse sie in unergründlichen Tiefen versinken.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sein Mund war ihrem ganz nah. Sie brauchte sich nur auf die Zehenspitzen zu stellen, um ihn zu küssen.

Schon glaubte sie die Berührung seiner Lippen zu spüren, das sinnliche Locken seiner Zunge, und …

„Gibt es einen besonderen Grund, warum Sie mich anstarren, als würden Sie mir am liebsten die Kleidung vom Leib reißen?“

Seine Stimme riss sie aus ihren erotischen Träumereien. Sie blinzelte heftig, und das Bild, das sie vor ihrem inneren Auge heraufbeschworen hatte, zersprang in tausend Scherben. Sein spöttischer Gesichtsausdruck besaß die Wirkung eines Kübels mit Eiswasser, der über ihrem Kopf ausgeleert wurde.

„Ich …“ Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Das Blut schoss ihr ins Gesicht, und sie blickte zu Boden. Was für eine entsetzliche Demütigung! Hastig drängte sie sich an Miguel vorbei. „Bitte entschuldigen Sie mich, ich … Ich bin furchtbar erschöpft.“

Mit diesen Worten wirbelte sie herum und lief ins Haus.

Uno, dos, tres …

Miguel zwang sich, tief und ruhig durchzuatmen. Beinahe hätte er die Kontrolle verloren – aber zum Glück eben nur beinahe. Es war nicht besonders nett von ihm gewesen, Samantha so vor den Kopf zu stoßen. Aber verdiente sie sein Mitleid überhaupt?

Nicht, wenn sie tatsächlich die ist, für die du sie hältst!

Er wusste noch immer nicht, wie er Samantha einschätzen sollte, doch er konnte sich nicht vorstellen, dass sie wirklich so unschuldig war, wie sie sich gab.

Nein, entweder ihre Amnesie war echt und sie konnte sich wirklich nicht an ihren Auftrag erinnern. Oder aber sie spielte ihm nur etwas vor, während sie nach Jaimes Verschwinden nun selbst nach den Konstruktionsplänen suchte. Er war sich nicht sicher, welche dieser beiden Möglichkeiten tatsächlich zutraf. Nur eines konnte er mit absoluter Sicherheit sagen: Mit ihrer naiv verzweifelten Art brachte sie sein Blut ganz gehörig in Wallung.

Doch natürlich gab es auch dafür eine vollkommen logische Erklärung. Seine letzte Verabredung mit einer schönen Frau lag schon eine ganze Weile zurück – nicht etwa, weil es an geeigneten Kandidatinnen mangelte. Er hatte einfach die Erfahrung gemacht, dass jede noch so unverfängliche Beziehung am Ende immer an den Punkt gelangte, an dem es um Liebe, Ehe und Familie ging. Und dafür war er schlicht und einfach nicht zu haben.

Er brauchte sich ja nur seinen Vater und seinen Bruder anzusehen, um zu wissen, wohin dieser Weg einen führte. Bis dass der Tod euch scheidet? Daran glaubte doch heute wirklich niemand mehr! Und wer sich dennoch auf dieses Glücksspiel namens Ehe einließ, bereute es spätestens nach der Scheidung, wenn man nur noch dafür schuftete, der Exfrau den kostspieligen Lebenswandel zu finanzieren.

Nein, das war nichts für ihn!

Das Klingeln seines Handys riss Miguel aus seinen Gedanken. Er blickte aufs Display. Es zeigte die Nummer von Tómas.

Samantha hatte ihr Zimmer fast erreicht, als sie stehen blieb, sich mit dem Rücken gegen die Korridorwand lehnte und sich zwang, tief durchzuatmen. Langsam ließ das Zittern ihrer Knie nach, und auch ihr Herzschlag beruhigte sich wieder einigermaßen. Doch ihre Wangen brannten noch immer wie Feuer vor Scham.

Was war bloß in sie gefahren, sich so gehen zu lassen?

Dass sie sich überhaupt – und sei es nur körperlich – zu einem Mann wie Miguel Valdéz hingezogen fühlte, war allein schon völlig unverständlich. Dass sie ihm seine Wirkung auf sie nun auch noch in aller Deutlichkeit demonstriert hatte, machte die Sache nur noch schlimmer. Am liebsten wäre sie einfach davongelaufen. Aber wohin?

Sie wollte gerade auf ihr Zimmer gehen, um sich bis zum nächsten Morgen unter ihrer Bettdecke zu verkriechen, als ihr bewusst wurde, wie albern ihr Verhalten war. So, wie die Dinge im Augenblick standen, würde sie die nächste Zeit auf Miguels Anwesen verbringen. Und auch wenn das für sie alles andere als einfach war, sollte sie ihm dankbar sein. Schließlich tat er das alles für sie, um ihr zu helfen – und das, obwohl er sie nicht einmal kannte. Zum ersten Mal stellte sie sich die Frage, wie viele andere Menschen wohl ebenso für sie da gewesen wären wie Miguel. Nach kurzem Nachdenken schüttelte sie den Kopf. Sie konnte sich nicht erinnern.

Plötzlich schämte sie sich. Die ganze Zeit über verhielt sie sich ihm gegenüber mehr oder weniger undankbar. Und das war nicht richtig. Sie sollte also schleunigst etwas an ihrem Verhalten ändern. Und dieser Beinahe-Kuss eben? Willst du den einfach vergessen?

Sie zuckte die Schultern. Was sollte sie sonst tun? Miguel von jetzt an jeden Tag aus dem Weg gehen? Sicher, sie wusste nichts über ihn, und die Reaktion ihres Körpers auf ihn erschien ihr völlig unangebracht – aber gleichzeitig war er der einzige Mensch, den sie im Moment hatte. Anstatt vor Scham im Erdboden zu versinken, sollte sie also besser locker mit dem, was eben vorgefallen war, umgehen und versuchen, sich ganz normal zu verhalten.

Entschlossen straffte sie die Schultern und ging statt auf ihr Zimmer zurück auf die Terrasse. Gerade als sie nach draußen treten wollte, drang Miguels Stimme an ihr Ohr.

„Ich weiß, wie du darüber denkst, Tómas“, sagte er. „Ja, natürlich höre ich dir zu!“

Samantha zögerte. Offenbar telefonierte er gerade, und sie wollte nicht … Doch dann sagte er etwas, das sie aufhorchen ließ.

„Mir ist klar, dass es ein Risiko ist, sie bei mir wohnen zu lassen. Ich kenne sie nicht, weiß nichts von ihr und kann nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob sie ihre Amnesie nicht nur vorspielt.“ Er hielt kurz inne. „Aber eines weiß ich genau: Solange sie bei mir wohnt, kann ich sie im Auge behalten. Und sollte ich herausfinden, dass sie etwas mit dem Ganzen zu tun hat, wird sie bereuen, jemals nach Mallorca gekommen zu sein!“

Schwer atmend lehnte Samantha sich an die kühle Steinwand des Korridors. Als sie Schritte hörte, die sich der Tür näherten, lief sie los. Sie konnte Miguel jetzt nicht gegenübertreten. Nicht nach dem, was sie soeben mit angehört hatte.

Als sie ihr Zimmer erreichte, ließ sie sich aufschluchzend aufs Bett fallen. Wie sollte es bloß weitergehen?

Miguel liebte das Licht auf Mallorca in den frühen Morgenstunden. Es war, als würde man die Welt durch einen zarten Schleier betrachten.

Schon seit ein paar Jahren begann er seinen Tag immer auf die gleiche Art und Weise: Er stand kurz nach Sonnenaufgang auf, zog seine Laufsachen an und ging joggen. Danach folgte eine eiskalte Dusche, bevor er sich für die Arbeit fertig machte und ins Büro fuhr.

Und dass er nun sämtliche geschäftlichen Termine bis zum Ende der Woche abgesagt hatte, bedeutete keineswegs, dass er deshalb auf sein morgendliches Ritual verzichtete.

Einer der Gründe dafür war, dass die körperliche Anstrengung ihm half, einen klaren Kopf zu bekommen. Mehr als eine wichtige Entscheidung hatte er bereits beim Laufen getroffen. Es schien, als konnte er immer dann am besten nachdenken, wenn er physisch bis an seine Grenzen ging.

Doch heute versagte selbst dieses bewährte Mittel in gewisser Weise.

Die Strecke durch die felsigen Ausläufer der Serra Tramuntana hatte ihm das Äußerste abverlangt, und er war verschwitzt und leicht außer Atem, als er seine Runde beendete. Doch was die Dinge betraf, die ihn schon seit gestern Abend beschäftigten, war er trotzdem keinen Schritt weitergekommen.

Natürlich galten seine Überlegungen Samantha. Wem auch sonst …?

Er wurde einfach nicht schlau aus dieser Frau. Nein, viel schlimmer: Er wusste nicht, was er von ihr halten sollte – und das war etwas, das ihm nur sehr selten passierte. Eines seiner herausragenden Talente bestand darin, Menschen auf den ersten Blick richtig einzuschätzen.

Bei Samantha jedoch versagte diese Gabe. Erst recht nach seinem Gespräch mit Tómas gestern Abend.

Sein Anwalt und engster Berater hatte ihn angerufen, weil bei der Überprüfung von Jaimes Kontobewegungen ein großer Zahlungseingang festgestellt worden war – vermutlich die Bezahlung für seine Spionagetätigkeit. Beunruhigend war außerdem, dass Paco Torés angeblich bereits in Verhandlungen mit ausländischen Interessenten stand, was bedeutete, dass er sich seiner Sache sehr sicher sein musste.

Doch die Ausdrucke der Konstruktionspläne, ohne die der Bau einer entsprechenden Anlage sich unmöglich bewerkstelligen ließ, mussten sich noch irgendwo im Haus oder auf dem Grundstück befinden, denn Jaime hatte keine Gelegenheit gehabt, sie fortzuschaffen. Um sie zu besorgen, kam also nur jemand aus seinem unmittelbaren Umfeld infrage. Oder jemand, der sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen vorübergehend in seiner Nähe aufhielt.

Jemand wie Samantha.

Er wusste so gut wie nichts über sie. Woher wollte er wissen, ob sie ihm nicht schon die ganze Zeit über etwas vorspielte? Die Sache mit der Amnesie konnte ebenso gut vorgetäuscht sein, und es gab keine Möglichkeit für ihn, ihre Angaben zu überprüfen. Auch, wenn sie nicht damit gerechnet haben konnte, dass er sie in sein Haus einladen würde, so mochte es sich dennoch um einen geschickten Schachzug handeln, um mit ihm in Kontakt zu kommen.

Die Polizei, die er nach dem Überfall auf sie eingeschaltet hatte, konnte jedenfalls nicht mit einem echten Ermittlungsergebnis aufwarten, und das, obwohl Miguel ihnen die Bilder der Überwachungskamera von Aguatec als Beweismittel überlassen hatte. Der Täter tauchte in der Kriminaldatenbank nicht auf, er schien bisher ein vollkommen unbeschriebenes Blatt zu sein. Und auch über Samanthas Identität gab es bislang keine neuen Erkenntnisse. Bisher hatte niemand sie als vermisst gemeldet, weder hier auf Mallorca noch in England. Und solange dies nicht geschah, standen die Chancen, etwas über sie herauszufinden, mehr als schlecht.

Wieder dachte er: War es nicht ein ungemein merkwürdiger Zufall, dass diese Geschichte sich ausgerechnet vor meiner Haustür abgespielt hat? Noch dazu gerade zum jetzigen Zeitpunkt? Und dann dieser Beinahe-Kuss gestern Abend. Handelte sich dabei lediglich um einen Zufall oder vielmehr um die eiskalte Berechnung einer Frau, die genau wusste, was sie tun musste, um an ihr Ziel zu gelangen? Nun, wenn sie tatsächlich eine Werksspionin war, die man zu ihm geschickt hatte, um Jaimes Arbeit zu Ende zu führen, dann mochte das alles nur Taktik sein. Vielleicht hoffte sie, sich auf diese Weise in sein Vertrauen schleichen und ihn damit angreifbar machen zu können.

Es würde ihn nicht einmal wundern, wenn es so wäre, denn im Grunde ihres Herzens waren doch die meisten Frauen skrupellose Opportunistinnen. Sie mochten ihre wahre Einstellung fast ihr ganzes Leben lang verbergen, doch wenn es darauf ankam, ging es ihnen nur um ihren eigenen Vorteil. So war es bei Dolores, der Exfrau seines Bruders, gewesen, die sofort die Scheidung eingereicht hatte, als sie die Chance sah, sich einen einflussreichen und wohlhabenden Bankier zu angeln. Und auch seine eigene Mutter …

Unwillig schüttelte Miguel den Kopf. Er war bereits vor Jahren zu dem Schluss gekommen, dass es keinen Sinn machte, über die Beweggründe dieser Frau nachzudenken, die ihn geboren hatte, nur um kurz darauf wieder aus seinem Leben zu verschwinden. Fest stand jedenfalls, dass er es nicht zulassen würde, dass ihm dasselbe passiert wie seinem Vater und seinem Bruder.

Dass er Samantha in seinem Haus beherbergte, hatte nur einen Grund: Er wollte sie benutzen, um Paco Torés zu überführen. Davon abgesehen hatte er für sie überhaupt keine Verwendung.

In Sichtweite des Hauses stützte er einen Fuß gegen die niedrige Begrenzungsmauer des Weges und begann, seine obligatorischen Dehnübungen zu machen, die verhindern sollten, dass seine überbeanspruchten Muskeln verkrampften. Es war reiner Zufall, dass er gerade in dem Moment aufblickte, als Samantha hinaus auf den Balkon des Gästezimmers trat.

Sofort wurde sein Blick wie magnetisch von ihr angezogen.

Er kam nicht umhin, erneut zu bemerken, wie schön sie war. Ihr bronzefarbenes Haar floss um ihre nackten Schultern. Sie trug ein Negligé aus mokkabrauner Seide, das ihre atemberaubenden Formen umschmeichelte. Wie schaffte sie es bloß, in diesem sündigen Männertraum so unschuldig und rein auszusehen wie frischer Morgentau?

Miguel fühlte, wie Erregung durch seine Lenden pulsierte. Rasch richtete er seinen Blick zu Boden.

Uno, dos, tres …

Er atmete tief durch, ehe er wieder zu ihr hinaufblickte, doch da war Samantha bereits wieder im Inneren des Hauses verschwunden. Nachdenklich rief er sich ihr Bild noch einmal in Erinnerung. Sah so eine skrupellose Frau aus, der jedes Mittel recht war, um ihr Ziel zu erreichen? Verdächtigte er sie vielleicht doch zu Unrecht?

Er wusste es nicht. Noch nicht.

War sie nur ein unschuldiges Opfer oder eine skrupellose Spionin?

Er würde es herausfinden und sie bis dahin keine Sekunde mehr aus den Augen lassen.

Hinter Samantha lag eine unruhige Nacht.

Erst war es ihr kaum gelungen, einzuschlafen, und als ihr dann schließlich doch die Augen zufielen, war sie immer wieder aufgeschreckt – nur um sich jedes Mal erneut die alles entscheidende Frage zu stellen: Wer bin ich?

Diese Frage stellte sie sich auch noch, als sie jetzt vom Balkon trat, auf den sie nach dem Aufstehen gegangen war, um etwas frische Luft zu schnappen. Noch immer erinnerte sie sich an rein gar nichts, was ihre Vergangenheit oder ihre Identität betraf. Aber war das ein Wunder? Die Ärzte hatten schließlich gesagt, dass ihre Genesung Zeit brauchen würde. Dennoch wusste sie nicht, wie lange sie dieser Situation noch gewachsen war.

Hör auf, dich selbst zu bemitleiden. Das bringt dich auch nicht weiter!

Sie trat in das mit wertvollen blauweißen Majolika-Fliesen ausgelegte Bad, das an ihr Zimmer grenzte. Vor dem Spiegel blieb sie stehen, stützte sich mit beiden Händen auf den Waschbeckenrand und betrachtete das Gesicht der Fremden, das ihr daraus entgegenblickte.

Wer bist du? Wo kommst du her? Und was wolltest du auf Mallorca?

Doch sie erhielt auf keine der Fragen, die sie so quälten, eine Antwort. Die Frau im Spiegel hüllte sich in geheimnisvolles Schweigen. Ihr Blick hielt Samantha gefangen, und für einen Moment schien die Welt um sie herum zu verschwimmen. Und dann veränderte sich plötzlich das Spiegelbild, und sie sah ein helles, in freundlichem Gelb gekacheltes Badezimmer. Im Hintergrund erschien nun eine hellblonde Frau, die eindringlich mit ihr redete, ohne dass auch nur ein Laut ihre Lippen verließ.

Samantha fuhr herum – doch da war niemand. Und als sie zurück in den Spiegel blickte, erkannte sie dort wieder nur ihre eigene Reflexion.

Ihre Knie fühlten sich plötzlich ganz weich an, und sie ließ sich schwer auf den Rand der Badewanne sinken. Dann fuhr sie sich mit der Hand über die Augen und zwang sich, tief durchzuatmen.

Was hatte das zu bedeuten?

Fing sie etwa an, sich an etwas zu erinnern? Oder war bei dem Sturz noch mehr in ihrem Kopf durcheinandergeraten, sodass sie sich jetzt Dinge einbildete, die gar nicht existierten?

Der Gedanke ließ sie frösteln, und auch die heiße Dusche, die sie kurz darauf nahm, vertrieb die Kälte in ihrem Inneren nicht zur Gänze.

Als sie knapp eine Viertelstunde später die Treppe hinunterkam, konnte sie am Klappern von Töpfen und Geschirr hören, dass Pilar in der Küche arbeitete. Doch im Augenblick stand ihr nicht der Sinn nach Gesellschaft. Sie brauchte Zeit für sich. Zeit, um sich darüber klar zu werden, wie es nun weitergehen sollte.

Durch den großen Salon, der, wie sie von Miguel wusste, früher einmal der Speisesaal der Mönche gewesen war, gelangte sie hinaus auf die Terrasse und von dort in den weitläufigen Garten, den Pilar am gestrigen Nachmittag als einen der schönsten von ganz Mallorca bezeichnet hatte.

Dass es sich dabei keinesfalls um eine Übertreibung handelte, hatte Samantha bereits vom Balkon ihres Zimmers aus festgestellt. Doch seine wahre Schönheit eröffnete sich ihr erst aus der Nähe. Dieser Garten, der von der Größe her eher einer Parkanlage glich, war das reinste Paradies. Abseits der niedrigen Natursteinmauern, die den schmalen Weg rechts und links begrenzten, blühte und grünte es in üppiger Pracht.

Da gab es die verschiedenartigsten Farne in allen Größen und Formen, rot blühenden Oleander und weißen Akanthus, die in großen Terrakottagefäßen wuchsen, hohe Palmen, Orangen- und Mandelbäume und wohlriechende Rosmarinsträucher.

Auf einer Bank, im Schatten einer riesigen Korkeiche, nahm Samantha Platz, schloss die Augen, reckte das Gesicht zum Himmel und ließ ihre Gedanken einfach treiben. Für einen Moment schienen all ihre Probleme und Sorgen ganz unwichtig und klein zu werden. Der Gedächtnisverlust, die peinliche Situation gestern Abend beim Dinner mit Miguel – das alles kam ihr angesichts der überwältigenden Schönheit ihrer Umgebung plötzlich so bedeutungslos vor.

Aber das ist es nicht, also hör auf zu träumen, und fang endlich an, dich mit der Realität zu beschäftigen!

Sofort wanderten ihre Gedanken zu dem Telefongespräch zwischen Miguel und einem Mann namens Tómas zurück, das sie gestern Abend unbeabsichtigt mit angehört hatte.

Daraus war eindeutig hervorgegangen, dass Miguel ihr nicht vertraute. Er schien sogar zu glauben, dass sie ihm ihre Amnesie bloß vorspielte, um – ja, aus welchem Grund eigentlich? Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, weshalb er ihr so etwas zutraute.

Doch viel wichtiger war eine andere Frage: Wie konnte sie unter diesen Umständen auch nur einen einzigen weiteren Tag mit ihm unter einem Dach leben?

Verschwinde von hier! Pack deine Sachen und geh!

Aber wohin sollte sie sich wenden? Doch egal – alles war besser als hierzubleiben. Es würde sich schon eine Lösung finden.

Sie war so sehr in sich selbst versunken, dass sie Miguel erst bemerkte, als er sich neben sie setzte und dabei mit der Hand leicht ihren Arm streifte.

Ihr wurde heiß. Und zwar nicht nur, weil sein Anblick sie daran erinnerte, dass sie sich gestern Abend in seiner Gegenwart wie ein verliebtes Schulmädchen aufgeführt hatte.

Es war das pure Verlangen, das sie durchflutete.

Oh nein, nicht schon wieder!

Mit einer nervösen Handbewegung fuhr sie sich durchs Haar und gab sich alle Mühe, dabei möglichst ruhig und gelassen zu erscheinen. Er durfte auf keinen Fall merken, wie empfindlich er ihr inneres Gleichgewicht durcheinanderbrachte.

„Miguel“, sagte sie rasch, nur um die Stille zu füllen, in der ihr eigener Herzschlag für sie so laut wie afrikanische Buschtrommeln klang. „Ich hätte nicht erwartet, Sie um diese Zeit zu Hause anzutreffen. Fürchten Sie denn gar nicht, dass in Ihrer Firma ohne Sie alles zusammenbricht?“

Sie hatte einfach geredet, ohne vorher lange darüber nachzudenken, um von ihrer Verlegenheit abzulenken. Jetzt erschrak sie selbst. Hatte sie das wirklich ausgesprochen?

Doch Miguel schüttelte bloß den Kopf. „Sie sind ganz schön vorlaut. Aber es stimmt, unter normalen Umständen würde ich jetzt nicht mit Ihnen hier im Garten sitzen, sondern ein Mitarbeitermeeting leiten. Allerdings habe ich mir kurzfristig ein paar Tage freigenommen, um mich um Sie zu kümmern.“

„Wie bitte?“, stieß Samantha erstaunt aus. Einen winzigen Moment lang vergaß sie ihr Vorhaben, ihn darüber in Kenntnis zu setzen, dass sie sein Haus verlassen würde, ganz gleich, was er davon hielt. Doch dann hatte sie sich wieder im Griff. „Das hätten Sie nicht tun sollen! Ich …“

Er legte ihr eine Hand auf den Arm, und Samantha verstummte. Nicht, weil sie nichts mehr zu sagen hatte, sondern vielmehr, weil sie befürchtete, er könne ihrer Stimme die Erregung anhören, die seine Berührung in ihr aufflammen ließ.

„Lassen Sie das ruhig meine Sorge sein“, entgegnete er sanft.

Überrascht blickte Samantha ihn an. So freundlich hatte er bisher nur ein einziges Mal im Krankenhaus mit ihr gesprochen. Und auch der Blick seiner dunkelbraunen Augen war nicht so hart und unnachgiebig wie sonst.

Vergiss nicht, was du gestern mit angehört hast! Er ist nur freundlich zu dir, weil er sich etwas davon verspricht. Dieser Mann vertraut dir nicht, und du hast umgekehrt ebenfalls keinen Grund, ihm zu vertrauen – halte dir das immer vor Augen!

Sie atmete tief durch, dann sagte sie: „Ich werde gehen. Heute noch.“

„Gehen?“ Er wirkte überrascht. „Warum? Und vor allem – wohin?“

„Lassen Sie das ruhig meine Sorge sein“, entgegnete sie, wobei sie absichtlich dieselben Worte verwendete wie er kurz zuvor. „Ich werde einfach das britische Konsulat um Hilfe bitten. Irgendjemand wird schon wissen, wie man sich in einem Fall wie meinem am besten verhält, und …“

„Das ist doch lächerlich!“, fiel er ihr ins Wort und sprang auf. „Vergessen Sie diesen verrückten Plan ganz schnell wieder. Ich sage, Sie bleiben hier!“

Samantha stand ebenfalls auf. „Sie haben mir überhaupt nichts zu sagen, Miguel! Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, aber nun trennen sich unsere Wege. Leben Sie wohl.“

Sie ließ ihn einfach stehen und ging, ohne noch einmal zurückzublicken, zum Haus zurück. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie rechnete jeden Moment damit, dass er ihr folgen würde, um zu versuchen, sie zurückzuhalten.

Doch nichts dergleichen geschah.

Eilig lief sie die Stufen ins Obergeschoss hinauf. Sie war schon beinahe bei ihrem Zimmer angelangt, als sie eine schattenhafte Bewegung am Ende des Korridors bemerkte. Auf den zweiten Blick erkannte sie Pilar, die an einer Zimmertür stand und … ja, was eigentlich tat? Im Halbdunkeln die Messingbeschläge polieren?

„Pilar?“

Die Hausangestellte wirbelte herum und fasste sich mit einer Hand ans Herz. „Madre de Dios!“, stieß sie keuchend aus. Dann senkte sie beinahe ängstlich den Blick. „Ich habe Sie gar nicht kommen hören. Stehen Sie schon lange dort?“ Sie zeigte Samantha ein Ölkännchen, das sie in der Hand hielt. „Einige der Türen quietschen ganz fürchterlich. Normalerweise kümmert sich mein Mann um solche Dinge, aber …“

Sie verstummte, und Samantha glaubte zu bemerken, wie Pilars Miene sich verdüsterte, als sie ihren Mann erwähnte. Doch dann zwang die Hausangestellte ein Lächeln auf ihre Lippen, nickte noch einmal knapp und eilte den Korridor hinunter.

Kopfschüttelnd sah Samantha ihr nach und ging schließlich auf ihr Zimmer. Dabei kreisten ihre Gedanken ununterbrochen um Pilar. Sie mochte Miguels Hausangestellte, doch es war offensichtlich, dass die Spanierin etwas bedrückte, über das sie nicht sprechen wollte oder konnte.

Bloß was?

Nachdenklich setzte Samantha sich auf den Rand des Bettes und ließ sich hintenüber auf die weiche Matratze fallen.

Pilar braucht eine Vertraute, jemanden, dem sie ihr Herz ausschütten kann, ging es ihr durch den Kopf. Du könntest ihr diese Freundin sein, aber leider musst du ja weg – nicht wahr?

Sie verharrte. Und was, wenn sie doch blieb? Und versuchte, herauszufinden, warum Miguel ihr so sehr misstraute? Vielleicht brachte sie auf diesem Wege etwas in Erfahrung, das ihr selbst dabei half, ihre Identität zurückzubekommen.

Und falls sie nebenbei noch eine Möglichkeit fand, Pilar zu helfen, dann hatte die Tatsache, dass das Schicksal sie an diesen Ort verschlagen hatte, wenigstens einen Sinn.

„Schön, dass Sie doch noch Vernunft angenommen haben.“ Es war noch recht früh am Morgen, aber Miguel saß bereits mit einer Tasse Kaffee hinter seinem Schreibtisch und blätterte durch eine Aktenmappe. Er hatte nicht einmal aufgesehen, seit Samantha vor zwei Minuten sein Arbeitszimmer betreten und ihm erklärt hatte, dass sie doch bleiben würde – zumindest vorerst. Erst jetzt legte er die Unterlagen zur Seite. „Bitte, setzen Sie sich doch.“

Samantha schüttelte den Kopf. „Das ist nicht nötig. Ich möchte Ihre Zeit nicht länger als unbedingt notwendig beanspruchen. Ein Mann in Ihrer Position hat sicher immer eine Menge zu tun und …“

Mit einer lässigen Handbewegung winkte er ab. „Zerbrechen Sie sich nicht meinen Kopf“, sagte er mit einem Lächeln, das sie nur schwer einordnen konnte. War es misstrauisch? Herablassend? Oder machte er sich über sie lustig?

Samantha atmete tief durch und nahm auf dem Besucherstuhl Platz. Es gelang ihr nur schwer, in seiner Gegenwart gelassen zu bleiben. Ständig musste sie an das Telefongespräch denken, das sie unbeabsichtigt mit angehört hatte. Daraus ging mehr als deutlich hervor, dass er ihr misstraute und vermutete, dass sie keineswegs rein zufällig vor der Schwelle seines Firmensitzes aufgetaucht war.

Sie hatte eine ganze Nacht Zeit gehabt, darüber nachzudenken, und war zu dem Schluss gekommen, dass er vermutlich recht hatte. Zumindest fiel ihr keine logische Erklärung dafür ein, warum eine englische Urlauberin sich so weit von den üblichen Touristenpfaden entfernt haben sollte. Führte einen der erste Weg, wenn man aus dem Flugzeug stieg, nicht üblicherweise ins Hotel? Und dann an den Strand?

Es musste einen triftigen Grund dafür geben, dass sie, ohne zuvor ihre Reisetasche auf ihr Zimmer gebracht zu haben, auf direktem Weg zu seiner Firma gefahren war. Und sie brannte mindestens ebenso sehr darauf, das Warum in Erfahrung zu bringen, wie Miguel – wenn auch vielleicht aus einem anderen Motiv.

Autor

Rebecca Winters

Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

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