Romana Extra Band 123

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SCHENK MIR DEIN HERZ, CHÉRIE! von ANNE TAYLOR
Verkaufen? Niemals! Sam will nicht zulassen, dass die Pension ihrer Tante an der Côte d’Azur von einer Luxus-Hotelkette geschluckt wird. Der charmante Franzose Pierre steht ihr tatkräftig bei – und hat bald ihr Herz erobert. Da erfährt Sam etwas Ungeheuerliches …

STÜRMISCHE LEIDENSCHAFT IN DEINEN ARMEN von TRACI DOUGLASS
„Du kannst das! Du bist stark.“ Die unabhängige Lucy ist nicht bereit, ihre Tiere im Stich zu lassen, als ein Hurrikan über ihre Insel hinwegfegt. Doch was soll sie gegen den Sturm leidenschaftlicher Gefühle tun, den der attraktive Rettungssanitäter Jackson Durand in ihr entfacht?

TRAUMHOCHZEIT AUF SIZILIEN? Von AMANDA CINELLI
Wie soll sie den sexy Millionär nur überzeugen? Hochzeitsplanerin Dara Devlin würde so gern Leo Valentes Castello auf Sizilien für eine Traumhochzeit mieten. Aber er scheint nichts davon zu halten – bis er ihr einen skandalösen Vorschlag macht, der Dara den Atem raubt …

SÜSSE KÜSSE FÜR DEN MILLIONÄR von ALLY BLAKE
Eigentlich will sich Nora nach dem Tod ihrer Vermieterin und Freundin Clancy sofort aus dem Staub machen. Sie ist es gewöhnt, nie irgendwo Wurzeln zu schlagen. Das Angebot von Clancys Erben, dem smarten Millionär Ben Hawthorne, ist allerdings zu verlockend … ebenso wie Ben selbst!


  • Erscheinungstag 02.08.2022
  • Bandnummer 123
  • ISBN / Artikelnummer 9783751508193
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Anne Taylor, Traci Douglass, Amanda Cinelli, Ally Blake

ROMANA EXTRA BAND 123

ANNE TAYLOR

Schenk mir dein Herz, Chérie!

Pierre ist hingerissen, als er am Strand die entzückende Sam trifft. Sie darf nur nicht herausfinden, wer er ist – denn um sich vor seinem Vater zu beweisen, muss er einen wichtigen Deal abschließen …

TRACI DOUGLASS

Stürmische Leidenschaft in deinen Armen

Die süße Tierärztin Lucy geht ihm einfach nicht aus dem Kopf. Dabei hat Rettungssanitäter Jackson mit einem drohenden Tropensturm schon genug Probleme. Da erfährt er, dass Lucy in Gefahr ist!

AMANDA CINELLI

Traumhochzeit auf Sizilien?

Dass eine attraktive Frau in High Heels die Fassade hochklettert, um mit ihm zu sprechen, hat Leo noch nie erlebt! Als er hört, was die blonde Schönheit so verzweifelt von ihm will, kommt ihm eine Idee …

ALLY BLAKE

Süße Küsse für den Millionär

In Melbourne wartet eine alte Verpflichtung auf Millionär Ben Hawthorne. Die will er möglichst schnell erfüllen – bis die zauberhafte Nora ihm zeigt, dass es im Leben mehr gibt als Geschäfte!

1. KAPITEL

„Vielen Dank, dass ihr an unserer gemeinsamen Yogastunde teilgenommen habt. Ich wünsche euch einen wundervollen Tag. Namaste!“

Mit einem strahlenden Lächeln blickte Sam in die Runde. Die Teilnehmerinnen ihres Kurses lösten sich mehr oder weniger graziös aus ihrem Lotussitz. Es handelte sich durchweg um ältere Damen, die zwar nicht immer die nötige Körperspannung, dafür aber umso mehr Begeisterung mit in den Unterricht brachten.

Maud Redding eilte mit hochrotem Kopf auf sie zu. Wie üblich hatte sie sich die voluminöse Patchworktasche unter den Arm geklemmt, in der sie ihr Strickzeug, ein oder zwei Bücher und anderen lebenswichtigen Krimskrams mit sich herumtrug. „Oh, Sam, es war wieder ganz zauberhaft! Ich fühle mich vollkommen entspannt.“

Auch ihre Schwester Lily gesellte sich zu ihnen. „Ich wüsste nicht, was ich ohne deine Stunden anfangen sollte. Heute Morgen war ich so verspannt, dass ich fast nicht aus dem Bett gekommen bin. Aber jetzt könnte ich wieder herumspringen wie ein junges Mädchen.“

Die beiden Schwestern kicherten synchron. Sie stammten aus Manchester, hatten bis zu ihrer Pensionierung in derselben Firma gearbeitet und waren beide unverheiratet. Seit zehn Jahren kamen sie jedes Jahr im Sommer für vier Wochen nach St. Leon, um hier ihren Urlaub zu verbringen. Seit dem Tag, an dem Tante Edith ihr kleines Familienhotel an der Côte d’Azur eröffnet hatte.

Sams Yogastunden fanden auf der Terrasse statt, mit Blick über den Strand und das tiefblaue Mittelmeer. Nachdem sie ihre Yogamatte eingerollt hatte, schlenderte sie zu den Frühstückstischen, wo ihre Tante schon auf sie wartete. Auf dem Loungesessel neben ihr thronte Madame Suzette, eine schneeweiße Perserkatze, und ließ sich hoheitsvoll von Tante Edith unter dem Kinn kraulen. Rochelle, die als Aushilfe im Hotel arbeitete, stellte gerade eine Kanne dampfenden Kaffee und einen Korb Croissants auf den Tisch. Dann eilte sie zurück in die Küche.

„Post für dich!“, rief Tante Edith und schwenkte einen Umschlag, als Sam näher kam. „Von Carolyn. Da der Brief an uns beide adressiert ist, habe ich ihn schon mal aufgemacht. Es ist die Hochzeitseinladung!“

Mit gemischten Gefühlen zog Sam die Karte aus dem Kuvert. Sie war aus dickem Büttenpapier, mit Golddruck und einem Wappen im Briefkopf. Carolyn Whitmore und Davide d’Oriza prangte in der Mitte der Einladung, darunter waren zwei ineinander verschlungene goldene Herzen eingeprägt. Natürlich gönnte Sam ihrer Schwester ihr Glück. Sie freute sich von ganzem Herzen für sie, nach allem, was Carolyn durchgemacht hatte. Aber …

„Du siehst nicht sehr erfreut aus“, stellte Tante Edith fest, während sie Madame Suzette mit einem Croissant fütterte. Ihr feuerrotes gekräuseltes Haar hatte sie mit einem farbenfrohen Tuch umschlungen, das ihre Mähne jedoch nur mühsam bändigte. Dazu trug sie einen weiten türkisblauen Kaftan, der mit einer aufwendigen Stickerei verziert war, ein Mitbringsel von ihrer letzten Marokkoreise. Tante Edith war eine rastlose Seele, die es immer wieder an exotische Orte trieb. Es war ein Wunder, dass sie sich vor zehn Jahren dazu entschieden hatte, in Südfrankreich sesshaft zu werden und die Auberge du Soleil zu erwerben, die an der Westküste der kleinen Insel St. Leon lag.

„Oh nein, ich dachte nur gerade …“ Schuldbewusst brach Sam ab. „Ich freue mich sehr auf die Hochzeit, wirklich. Es ist wundervoll, dass Carolyn nach der Enttäuschung mit Andrew ihr Glück gefunden hat. Und auch Annabelle … es ist so schön, dass Mia und sie endlich eine richtige Familie haben.“

Die Nachricht von der Hochzeit ihrer ältesten Schwester Annabelle mit dem vermögenden Unternehmer Nick Stephens hatte sie mehr als überrascht. Obwohl Annabelle schon seit geraumer Zeit Nicks Sekretärin war, hätte Sam nie vermutet, dass die beiden mehr verband als das Berufliche. Vor allem, da Annabelle Mutter einer kleinen Tochter aus einer früheren Beziehung war. Aber vor wenigen Wochen hatte sie verkündet, dass Nick und sie still und heimlich geheiratet hatten, offensichtlich, um seine Eltern zu überraschen.

Und jetzt wollte in gut zwei Monaten auch noch Carolyn vor den Traualtar treten … Während eines Auftrags in Italien für das Auktionshaus, bei dem sie arbeitete, hatte sie sich Hals über Kopf in den Grafen Davide d’Oriza verliebt.

„Aber du denkst, dass sie dich im Stich lassen und du jetzt ganz allein dastehst“, unterbrach Tante Edith ihre Gedanken.

Sam schreckte hoch. „Nein, natürlich nicht“, protestierte sie, obwohl Tante Ediths Einschätzung ihren Gefühlen ziemlich nahekam. „Die beiden haben sich lange genug um mich gekümmert. Es ist höchste Zeit, dass sie endlich ihr Leben genießen.“

Nachdem ihre Eltern vor fünf Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren, hatten Annabelle und Carolyn all ihre Energie darauf verwendet, den Verlust für Sam so erträglich wie möglich zu machen. Schließlich war sie damals erst siebzehn gewesen. Was hätte sie nur ohne ihre beiden Schwestern gemacht?

Tante Edith ergriff über den Tisch hinweg Sams Hand. „Annabelle und Carolyn lieben dich über alles, das weißt du doch. Und ich tue es auch. Wir werden immer für dich da sein. Das hier ist auch dein Zuhause, nicht nur meines.“

Sie deutete auf das zweistöckige weiße Haus, das sich hinter ihr erhob. Blaue Holzläden schmückten die Fenster der zwanzig Gästezimmer, und an der südseitigen Mauer rankte eine Weinstaude bis unter das Dach. Die Terrasse war mit großen Töpfen voll duftender Bougainvilleen und Hibisken dekoriert.

Seit gut einem Jahr lebte Sam nun hier und half ihrer Tante, das Hotel zu führen. Nachdem sie die Ausbildung zur Tourismuskauffrau in London absolviert hatte, wollte sie ihre Kenntnisse in der Praxis ausprobieren. Außerdem hatte sie ein Seminar besucht, um sich zur Yogalehrerin ausbilden zu lassen. Es bereitete ihr großen Spaß, die Kurse zu geben, und wie man an der regen Beteiligung sehen konnte, stellten diese ein echtes Highlight im Urlaubsalltag ihrer Gäste dar.

Aber vor allem war es ihr einfach nicht mehr möglich gewesen, noch länger in London zu bleiben. Nicht, nachdem … Aber davon wussten nicht einmal ihre Schwestern etwas, und dabei sollte es auch bleiben, wenn es nach Sam ging.

Sie drückte Tante Ediths Hand. „Ich weiß. Und ich liebe euch auch. Deshalb werde ich niemals aufhören, um dieses Hotel zu kämpfen, komme, was da wolle.“ In der Auberge du Soleil hatte sie zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Eltern das Gefühl gehabt, gebraucht zu werden. Nicht nur bemuttert und umsorgt zu werden, wie ihre Schwestern es so liebevoll getan hatten, sondern ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Dieses Gefühl wollte sie nicht wieder aufgeben.

Tante Edith seufzte. „Dein Wort in Gottes Ohr. Aber ich bin mir nicht sicher, ob wir den Duponts auf Dauer standhalten können. Heute ist wieder ein Brief ihrer Anwälte gekommen. Sie drohen uns mit einer Klage.“

„Einer Klage? Weshalb?“

„Irgendetwas wegen eines Wasserrechts, das wir angeblich nicht haben oder das vor Jahren ausgelaufen sein soll. Ich habe keine Ahnung, worum es da geht. Das muss sich mein Anwalt ansehen. Aber wenn es wirklich zu einem Prozess kommen sollte …“

„Dann werden wir beweisen, dass sie im Unrecht sind. Sie können sich nicht einfach etwas nehmen, das ihnen nicht gehört!“

„Sie hatten uns ein sehr gutes Angebot für das Hotel gemacht“, erinnerte Tante Edith sie. „Vielleicht hätte ich es doch annehmen sollen.“

„Willst du aufgeben?“ Sam blitzte sie aufgebracht an. Solche Worte war sie von ihr nicht gewohnt. Bisher hatte ihre Tante der Welt noch immer die Stirn geboten. Schließlich besaß sie den gleichen irischen Dickkopf wie Sams Mutter. So wie alle O’Neals.

„Natürlich nicht. Ich habe dieses Haus aufgebaut. Hier bin ich zum ersten Mal in meinem Leben sesshaft geworden. Aber wenn sie wirklich einen Prozess anstreben … Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir das leisten kann.“

Sam senkte missmutig den Kopf. „Es sollte ein Gesetz dagegen geben, dass auf einer kleinen Insel wie St. Leon eine so riesige Hotelanlage errichtet wird, wie diese Duponts sie planen. Das passt doch gar nicht hierher. Hier ist es einfach nur – ruhig! Niemand braucht einen solchen Wirbel.“

„Ich weiß, Liebes.“ Tante Edith schenkte ihnen Tee ein. „Offensichtlich soll St. Leon zum nächsten Hotspot an der Côte d’Azur werden. Alles, was Rang und Namen hat, wird sich dann hier tummeln. Der ganze Jetset.“

„Darauf pfeife ich“, murrte Sam. „Sie werden alles zerstören: den Strand, die Nistplätze der Vögel …“

Die kleine Insel St. Leon, die dem Cap d’Antibes östlich von Cannes vorgelagert war, bestand hauptsächlich aus felsigem Untergrund, auf dem es kaum Vegetation gab. Sie wies nur einen einzigen feinsandigen Strand auf, in jener Bucht, an der Tante Ediths Hotel lag. Bisher hatten sich ausschließlich Touristen hierher verirrt, die Ruhe und Beschaulichkeit suchten. Hauptattraktion der Insel waren die Nistplätze der Mittelmeermöwen, die in den schroffen Klippen an der Südküste ihre Nester bauten und im Sommer zahlreiche Vogelliebhaber anlockten.

„Die Südküste steht unter Naturschutz. Aber natürlich wird sich durch den Bau viel verändern. Es werden Geschäfte und Lokale entstehen …“

„Die Klubmusik wird bis zum Festland zu hören sein“, ergänzte Sam missmutig. „Aber wenn sie sich all das leisten können, warum bauen sie dann nicht auch ihren eigenen Strand? Warum muss es gerade unserer sein?“

Tante Edith lachte. „Weil es nur diesen einen auf St. Leon gibt. Die übrigen Küstenabschnitte sind zu felsig. Deshalb lassen sie nicht locker und tun alles, um uns zum Verkauf zu drängen.“

Die Hotelanlage war von der Dupont Holding geplant worden, die ähnliche Resorts auf der ganzen Welt betrieb. Ihre Paradise-Beach-Anlagen waren ein beliebter Treffpunkt der Reichen und Schönen. Was der Hotelanlage auf St. Leon jedoch noch fehlte, um den Ansprüchen der Paradise-Beach-Philosophie gerecht zu werden, war der exklusive Strand.

Sam blickte ihre Tante entschlossen an. „Aber wir verkaufen nicht. Und wenn die Duponts sich auf den Kopf stellen!“

„Was sagen die Anwälte?“

Serge Dupont klang verärgert. Pierre hob den Kopf von den Unterlagen und blickte seinen Vater an, der am anderen Ende des Besprechungstischs saß. Serge trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Geduld war noch nie seine Stärke gewesen. Er war ein Selfmadeunternehmer, der sich vom Tellerwäscher zum Millionär hochgearbeitet hatte. Oder in seinem Fall vom Bauarbeiter zum Chef einer internationalen Holding, die exklusive Hotelanlagen betrieb.

Pierre wusste, dass er seinem Vater Respekt schuldete für das, was er geleistet und erreicht hatte. Sein ganzes Leben hatte Serge Dupont seiner Firma gewidmet, zu einem hohen Preis. Auch für Pierre selbst. Pierres Mutter war jung gestorben, seine Jugend hatte er in verschiedenen europäischen Internaten verbracht. So etwas wie eine Familie kannte er nicht. Nur Bedienstete, die sich um ihn kümmerten.

Selbst während der Ferien hatte er seinen Vater kaum zu Gesicht bekommen, denn der hatte ihn meist in irgendwelche Ferienlager gesteckt. Mit dem Ergebnis, dass Pierre in einflussreichen Kreisen gut vernetzt war und Freunde auf der ganzen Welt hatte. Inzwischen vertrieb er sich die Zeit mit Autorennen und galt als Jetset-Playboy. Aber dass dies tatsächlich irgendeinen Wert hatte, bezweifelte er.

Deshalb engagierte er sich seit ein paar Jahren in der Dupont Holding, der Firma seines Vaters. Diese Entscheidung hatte er kurz nach dessen Herzinfarkt getroffen. Die harte Arbeit hatte ihren Tribut gefordert – Serge war dem Tod gerade noch so von der Schippe gesprungen. Die Ärzte hatten ihm damals strikte Ruhe verordnet, aber wie Pierre an der rastlosen Stimmung seines Vaters erkennen musste, hatte die Warnung nicht allzu lange gewirkt.

Pierre räusperte sich. „Die Anwälte haben eine Unstimmigkeit bezüglich der Wasserrechte des Hotels entdeckt. Sie untersuchen die Angelegenheit gerade näher. Wenn es eine Handhabe gegen Madame O’Neal gibt, werden sie Klage einreichen.“

„Klage?“ Serge machte eine abfällige Handbewegung. „Bis eine solche Rechtsangelegenheit ausgefochten ist, vergehen Jahre. Ich kenne das! So viel Zeit habe ich nicht. Ich brauche dieses Hotel jetzt. Bevor wir uns das Grundstück gesichert haben, können wir nicht mit dem Bau der Anlage beginnen.“

Er deutete ungehalten in eine Ecke seines großzügigen Büros mit Blick auf den Jachthafen von Cannes. Auf dem Tisch dort stand ein Modell der geplanten Ferienanlage, die beinahe ein Drittel der Insel bedecken würde. Neben dem weitläufigen Gebäudekomplex waren auch ein Hubschrauberlandeplatz und eine Golfanlage geplant.

„Ich könnte noch einmal mit dieser O’Neal reden“, mischte Armand sich ein, der bisher schweigend neben Pierre am Besprechungstisch gesessen hatte. Er war sein Cousin väterlicherseits und etwa genauso alt wie er, Ende zwanzig, aber sie hatten kaum Gemeinsamkeiten. Weder äußerlich noch charakterlich. Pierre war schlank, hochgewachsen, und sein dunkles lockiges Haar fiel ihm in die Stirn. Er hatte ein schmales, kantiges Gesicht und einen Dreitagebart.

Armand hingegen war untersetzt und trug sein glattes blondes Haar stets zurückgegelt und eine Nickelbrille auf der schmalen, spitzen Nase. Der maßgeschneiderte graue Anzug und das weiße Hemd spannten etwas über seinem Bauch, obwohl er sich bemühte, ihn einzuziehen.

Er war der Sohn von Serges Schwester, die ihn allein aufgezogen hatte und darauf angewiesen war, dass ihr Bruder sie und Armand finanziell unterstützte. Deshalb hatte Pierres Vater Armand in die Firma geholt, sehr zu Pierres Missfallen. Er kam nicht allzu gut mit seinem Cousin aus.

Ohne auf Armands Bemerkung einzugehen, fuhr Serge in schneidendem Tonfall fort: „Ich will, dass diese Angelegenheit endlich geklärt ist. Wir haben schon genug Zeit und Geld damit verloren, diese verrückte Engländerin zufriedenzustellen. Eine weitere Aufschiebung des Projektes können wir uns nicht leisten.“ Er sah Pierre und Armand eindringlich an. „Es geht hier um mehr als um diese eine Hotelanlage.“

„Wie meinst du das, Onkel Serge?“, fragte Armand besorgt.

„Es geht um meine Nachfolge.“ Serge faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. „Wenn es nach meinen Ärzten geht, sollte ich schon lange nicht mehr in diesem Büro sitzen. Ich halte zwar nicht allzu viel von ihren Anordnungen, aber sie haben recht. Mein Körper weist mir Grenzen auf.“

„Fühlst du dich nicht wohl?“, erkundigte Pierre sich. Er hätte sich nie träumen lassen, dass irgendetwas seinen Vater jemals aus diesem Sessel vertreiben könnte. Der Gedanke behagte ihm nicht.

Serge klopfte sich mit der Hand auf die Brust. „Ich merke einfach, dass ich nicht mehr derselbe bin seit meinem – seit ich im Krankenhaus war. Ich bin wohl doch nicht mehr der Jüngste.“ Er lachte, aber es klang erzwungen. Dass er das Wort „Herzinfarkt“ so betont vermieden hatte, zeigte Pierre, wie nahe seinem Vater das Ganze ging. Er hatte Angst! Dass Serge Dupont vor irgendetwas Angst haben könnte, war ihm nie in den Sinn gekommen.

„Wenn ich dich irgendwie unterstützen kann …“, bot Pierre an.

„Darauf will ich hinaus. Ich möchte, dass ihr beide dieses Hotelprojekt auf St. Leon übernehmt, zusammen.“

„Zusammen?“, echote Pierre ungläubig.

„Zusammen. Derjenige von euch, der mich mit seiner Arbeit am meisten überzeugen kann, wird mein Nachfolger in der Dupont Holding.“

Pierre sprang aus seinem Sessel auf. „Aber …!“

Das ist nicht fair!, wollte er rufen. Ich bin dein Sohn. Es sollte klar sein, dass ich dein Nachfolger bin! Aber etwas ließ ihn ohne ein weiteres Wort die Lippen zusammenpressen. Im Grunde genommen hatte er nichts anderes von seinem Vater erwartet. Die Firma stand für ihn immer noch an erster Stelle. Ihre Zukunft war seine größte Sorge. An nichts anderes verschwendete Serge einen Gedanken.

„Das ist eine wundervolle Aufgabe, Onkel“, versuchte Armand sich sofort einzuschmeicheln. „Ich danke dir für dein Vertrauen. Und ich werde dich nicht enttäuschen, das verspreche ich dir. Ich werde die Firma ganz in deinem Sinn weiterführen, darauf kannst du dich verlassen.“

Ohne mit der Wimper zu zucken, sah Serge seinen Sohn über den Tisch hinweg an. „Und du, Pierre?“

Er hielt dem kühlen, eindringlichen Blick seines Vaters stand. „Ich werde diese Firma so führen, wie ich es für richtig halte“, erwiderte er ruhig. „Darauf kannst du dich bei mir verlassen.“

„Davon bin ich ausgegangen.“ Ein leises Lächeln umspielte Serges Lippen.

Das alles war für ihn offensichtlich nur ein Spiel, bei dem er die Regeln bestimmte. Pierre wusste, dass sein Vater ihm nicht zutraute, das Zepter zu übernehmen. Und tatsächlich hatte er sich bislang nicht wirklich um Serges Respekt bemüht. Zu offensichtlich war dessen Missfallen an seinem Lebensstil. Ein Autorennen zu gewinnen, zählte in Serge Duponts Weltanschauung nicht als nennenswerter Erfolg.

„Dann ist ja alles klar. Ich warte auf eure Ergebnisse.“ Serge stand auf und ging zu dem großen Fenster, das sein Büro beherrschte. Mit verschränkten Armen blickte er nach draußen und brachte damit zum Ausdruck, dass die Besprechung beendet war.

Pierre und Armand verließen den Raum. Kaum war die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen, wandte sich Armand feixend zu Pierre um.

„Dann ist der Wettkampf also eröffnet. Diesmal fällt dir nicht alles einfach in den Schoß.“

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, erwiderte Pierre gelassen, obwohl ihm die Unterhaltung mehr als unangenehm war.

„Ich glaube gerne, dass das Ganze für dich keine Bedeutung hat. Schließlich bist du mit dem goldenen Löffel im Mund geboren worden. Du hast dich nie um irgendetwas bemühen müssen. Immer und überall warst du der Bessere, der Bevorzugte, der Liebling! Aber diesmal heißt es kämpfen, wenn du etwas erreichen willst!“

Pierre musterte ihn mit schmalen Augen. Ihm war nie bewusst gewesen, wie sehr Armand ihn beneidete und vermutlich sogar hasste. Armand und seine Mutter waren immer Bittsteller gewesen, die von der Gnade des großen Serge Dupont abhängig waren. Pierre erinnerte sich, dass sein Cousin in den Schulen, die sie zusammen besucht hatten, stets ein Außenseiter gewesen war. Alle anderen Kinder waren die Sprösslinge reicher Eltern gewesen, so wie Pierre, während Armand sich ohne Markenkleidung und feudales Taschengeld hatte behaupten müssen.

Aber Armand hatte recht. Diesmal musste Pierre für das, was er erreichen wollte, kämpfen. Er musste diesen Auftrag erledigen. Er musste erfolgreich sein! Nur so würde er seinen Vater von sich überzeugen.

2. KAPITEL

Nachdenklich faltete Sam die Tischtücher zusammen. Am Nachmittag wurden Kaffee und Kuchen auf der Terrasse serviert, bevor es wieder Zeit für das Abendessen war. Zuvor musste sie noch die kleinen Vasen, die auf den Tischen standen, mit frischen Blumen schmücken. Sie unterdrückte ein Gähnen. Seit sechs Uhr früh war sie auf den Beinen, um alles zu erledigen, was in ihren Aufgabenbereich fiel.

Neben ihren täglichen Yogaeinheiten war Sam für den Strand und den Essbereich zuständig. Zusammen mit Rochelle trug sie die Speisen für die Gäste auf und räumte das Geschirr ab. Außerdem begleitete sie ihre Tante bei den wöchentlichen Einkaufstouren auf den örtlichen Märkten. Und wenn Not am Mann war und eine der Küchenhilfen ausfiel, schälte sie auch mal Karotten und Kartoffeln für ihre Köchin Therese oder ging Rochelle bei der Reinigung der Zimmer zur Hand.

In den Sommermonaten war das Hotel meist ausgebucht, da gab es mehr als genug zu tun. Erst am späten Nachmittag würde sie wohl etwas Zeit für sich finden. Sam reckte den Hals, um einen Blick auf die Wellen zu erhaschen, die an den Strand rollten. Es herrschte Tiefdruck, eine sanfte Brise wehte beständig vom Meer heran. Beste Bedingungen, um sich aufs Brett zu schwingen.

Seit sie in Südfrankreich lebte, war das Surfen eine willkommene Abwechslung für sie geworden. Die Bedingungen in ihrer kleinen Bucht waren ideal, sodass sich immer wieder Surfer in das Hotel verirrten, die ihrem Sport in Ruhe und Abgeschiedenheit nachgehen wollten. Von ihnen hatte Sam viel gelernt.

Überhaupt hatte die Zeit hier auf St. Leon jede Menge Veränderungen für sie gebracht. Zum ersten Mal war sie fernab ihres Zuhauses und ihrer Schwestern. Nach dem Verlust ihrer Eltern war das der zweite große Einschnitt in ihrem Leben gewesen. Sie war mehr oder weniger auf sich gestellt und hatte gelernt, Verantwortung zu übernehmen.

Tante Edith machte ihr nicht viele Vorschriften. Sie war ein Freigeist und der Meinung, dass jede Erfahrung, ob gut oder schlecht, eine Bereicherung sein konnte. Sam seufzte. Auf einige der Erfahrungen, die sie in ihrem Leben gemacht hatte, hätte sie zwar getrost verzichten können, aber andererseits … wäre sie ansonsten wohl nie aus England weggegangen und hierher nach St. Leon gekommen. Die Insel war in dieser kurzen Zeit tatsächlich eine zweite Heimat für sie geworden.

„Sam!“ Tante Edith beugte sich aus dem Fenster ihres kleinen Büros und schaute sich suchend um, bis ihr Blick auf sie fiel. „Liebes, würdest du wohl die Liegestühle und Schirme am Strand aufstellen? Ich komme hier nicht weg, und Rochelle ist immer noch mit den Zimmern beschäftigt.“

„Natürlich! Das mache ich gleich, wenn ich hier fertig bin.“

„Es tut mir leid, dass ich dich so einspannen muss“, rief Tante Edith schuldbewusst, „aber im Moment geht es einfach rund bei uns! Wir könnten wirklich noch ein paar Hände gebrauchen. Ich muss mich dringend nach einer Aushilfe umsehen.“

„Ist schon okay“, wehrte Sam ab. „Ich komme zurecht.“

Rasch richtete sie die Tische für den Nachmittagsansturm her und ging dann über die Steintreppe hinunter zum Strand. Madame Suzette thronte hoheitsvoll auf der Mauer, die den Abgang säumte, und genoss die Sonne. Im Vorbeigehen kraulte Sam sie unter dem Kinn, was Suzette gelangweilt über sich ergehen ließ.

„Na, meine Süße, fühlst du dich wohl? Willst du mich begleiten?“

Suzette starrte sie empört aus schmalen bernsteinfarbenen Augen an. Bis hinunter zum Strand verirrte sie sich nur ganz selten. Sie hasste es, wenn sich Sand in ihrem dichten weißen Fell verfing.

Sam lachte. „Also nicht … Hab ich mir schon gedacht!“

Sie schloss die Tür des Strandhäuschens auf, das zum Hotel gehörte, und zerrte die Liegestühle heraus, die darin gestapelt waren. Das ebenerdige Gebäude mit dem ziegelroten Dach und der Holzveranda wurde gelegentlich an Surfer oder Rucksacktouristen vermietet, die keinen Wert auf besonderen Komfort legten. Ansonsten wurde es als Abstellraum und Geräteschuppen zweckentfremdet.

Sam verteilte die Liegestühle entlang des Strandes und stellte sie auf. Ein paar Gäste hielten sich schon in der Bucht auf. Die Rutherfords aus Leeds hatten es sich auf Strandtüchern gemütlich gemacht, während ihre drei Kinder im Wasser planschten.

„Hallo, Sam!“, rief Mrs. Rutherford und schwenkte eine braune Tasche mit dem Monogramm einer bekannten Luxusmarke. „Schauen Sie mal, was ich mir in Cannes gekauft habe!“

Mit der Fähre, die an der Nordseite der Insel anlegte, war man in gut zwanzig Minuten auf dem Festland. Was man in der preiswerten Unterkunft auf St. Leon gespart hatte, konnte man dann in Cannes oder Nizza verprassen. Die luxuriösen Geschäfte dort machten es den Touristen schwer, standhaft zu bleiben.

„Toll!“, stellte Sam ein wenig neiderfüllt fest. Sie legte nicht allzu viel Wert auf Statussymbole. Aber jemanden zu haben, mit dem man über die Croisette oder am Hafen von Nizza entlangflanieren konnte, das wäre schön …

Seufzend wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Die Unterhaltung, die sie mit Tante Edith beim Frühstück geführt hatte, fiel ihr wieder ein. Vielleicht nahm sie es ihren Schwestern wirklich ein wenig übel, dass sie so glücklich waren. Dass sie jemanden gefunden hatten, mit dem sie den Rest ihres Lebens teilen konnten. Wenn sie darüber nachdachte, wurde Sam klar, dass sie von nun an das fünfte Rad am Wagen sein würde. Jetzt war sie wirklich auf sich allein gestellt.

Bald würden Annabelle und Carolyn mit ihren Partnern eigene Familien gründen. Und sie? Was wollte sie jetzt anfangen? Mit entschlossenem Griff stellte sie neben jeden Liegestuhl einen Sonnenschirm und spannte ihn auf. Sie hatte alle Zelte in London abgebrochen, obwohl sie nach ihrer Ausbildung einen gut bezahlten Job in einem Nobelhotel nahe dem Hyde Park gefunden hatte. Aber nachdem ihr Ex ihr so übel mitgespielt hatte, war es ihr einfach nicht länger möglich gewesen, zu bleiben.

Jeder schien hinter ihrem Rücken über sie zu tuscheln. Als ihr Chef ihr dann nahegelegt hatte, von der Rezeption in eine andere, weniger exponierte Abteilung zu wechseln, war das Maß für sie voll gewesen. Nie wieder wollte sie nach England zurückgehen. Ein ganz neues Leben anzufangen, das war es, was sie sich wünschte. Die Schatten der Vergangenheit hinter sich zu lassen. Hier auf St. Leon wusste niemand etwas von dieser alten Geschichte. Umso wichtiger war es für sie, um ihr neues Zuhause zu kämpfen. Diese Duponts würden sie noch kennenlernen!

„Hey, Sam, kommst du mit? Die Wellen sind perfekt!“ Ein junger Surfer lief an ihr vorbei, sein Board unter den Arm geklemmt, und riss sie aus ihren Gedanken. Sehnsüchtig schaute sie ihm nach, wie er sich in die Brandung stürzte und hinauspaddelte. Zwei andere Surfer schlossen sich ihm an.

„Ich komme gleich! Sobald ich fertig bin!“, rief sie ihnen nach.

Frustriert blickte sie den Strand entlang. Jede Menge Sonnenschirme warteten noch darauf, aufgestellt zu werden. Es würde wieder ein langer Tag werden. Aber sie wollte sich nicht beklagen. Schließlich verdiente sie auf diese Weise ihre Brötchen. Und wenn die Sommersaison weiterhin so gut lief, konnte sie hoffentlich genug Geld sparen, um in zwei Monaten zu Carolyns Hochzeit nach Amalfi zu fliegen und anschließend vielleicht noch ein paar Tage mit Annabelle auf der griechischen Heimatinsel ihres Mannes verbringen.

Sam seufzte. Ob all ihre Mühe ausreichen würde, um das Hotel zu retten?

Als die Fähre auf der Nordseite von St. Leon anlegte, steuerte Pierre seinen Lamborghini vorsichtig an Land. Die Insel bot keinen sehr einladenden Anblick: Karge Felsen wechselten sich mit spärlich bewachsenen Grasflächen ab. Kein Wunder, dass St. Leon lange Zeit ein Schattendasein gefristet hatte und kaum als Touristenziel bekannt war.

Aber da die Grundstückspreise an der Côte d’Azur ins Astronomische gestiegen waren, blieb der Dupont Holding nichts anderes übrig, als hierher auszuweichen. Immerhin waren Cannes und Nizza nur einen Steinwurf entfernt. Und das Credo seines Vaters war es immer gewesen, dass sich jeder Ort in einen Geheimtipp verwandeln ließ. Wenn erst die richtigen Leute hierher strömten – Stars und Sternchen, Industriekapitäne und Jetset-Playboys –, würde St. Leon im Nu ein Fixpunkt für betuchte Kunden sein.

Vorausgesetzt natürlich, dass man ihnen einen entsprechenden Luxus bot. Und dazu gehörte selbstverständlich ein exklusiver Meereszugang. Womit Pierre wieder bei seinem gegenwärtigen Problem war. Es musste doch möglich sein, diese Edith O’Neal zum Verkauf zu bewegen!

Er rief sich in Erinnerung, was er über die Angelegenheit wusste. Das kleine Hotel, das ihren Plänen im wahrsten Sinne des Wortes im Wege stand, gehörte einer gewissen Edith O’Neal, einer gebürtigen Irin, die das Haus vor zehn Jahren erworben und zu einem florierenden Betrieb umgebaut hatte. Wie aus den Unterlagen hervorging, die die Anwälte zusammengetragen hatten, war die Auberge ein beliebtes Feriendomizil und Treffpunkt für englische Familien und Rentner, die den Sommer in Südfrankreich genossen. Edith O’Neal war unverheiratet und hatte keine Kinder. Mit dem Geld, das sie ihr angeboten hatten, könnte sie sich selbst an der Côte d’Azur niederlassen und ihren Ruhestand genießen. Also was hielt sie auf diesem Steinklotz von einer Insel? Das musste er herausfinden!

Pierre folgte einer kurvigen Straße, die sich einen Hügel hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunterwand. Die Landschaft wurde hier etwas grüner, schlanke, hochgewachsene Zypressen säumten den Weg. Die Luft roch würzig nach Rosmarin und Lavendel. In der Ferne konnte er das Meer sehen, dessen weiß schäumende Wellen an die Küste rollten. Jetzt kam auch das Hotel in Sicht, ein zweistöckiges weißes Gebäude, das von üppiger Vegetation und blühenden Sträuchern umgeben war.

Als er an einem kleinen Olivenhain vorbeikam, lenkte Pierre den Sportwagen von der Straße und verbarg ihn zwischen den graugrünen Stauden. Womöglich war es klüger, wenn er sich nicht sofort als Vertreter der Dupont Holding zu erkennen gab. Er wollte diese Edith O’Neal erst einmal ganz unbefangen kennenlernen.

Er sperrte den Wagen ab und ging zu Fuß weiter. Die Landschaft fiel gemächlich zur Küste hin ab. Er folgte einem kleinen Pfad, der zu der Bucht führte, an der das Hotel lag. Der Strand, den er nach wenigen Minuten erreichte, zog sich etwa einen Kilometer dahin. Er war feinsandig und von Felsbrocken gesäumt. Pierre nahm die Sonnenbrille ab und schaute sich um.

Er konnte verstehen, warum sein Vater diesen Platz für das neue Projekt ausgewählt hatte. Die Bucht war versteckt, bot aber gleichzeitig den perfekten Meereszugang für jede Art von Wassersport, ob Schwimmen, Surfen oder Segeln. Er konnte ein paar Surfer ausmachen, die mit ihren Boards durch die Brandung paddelten. Die Wellen waren nicht hoch, aber sie rollten in breiten Bändern heran, die einen ausgiebigen Ritt erlaubten. Ihre Jetset-Klientel würde begeistert sein.

Pierres Blick wurde von einer jungen Surferin gefangen genommen, die auf einer der Wellen rasant dem Strand zustrebte. Mit ihrer rotgoldenen Lockenpracht, den knappen Hotpants und dem knallroten Bikinitop war sie ein echter Hingucker. Geschickt balancierte sie auf dem Board und schaffte es, bis zur Wasserlinie auf den Beinen zu bleiben. Als das Board den Sand berührte, sprang sie mit einem eleganten Satz ab und hob es hoch, um lachend auf eine Gruppe Surfer zuzulaufen, die sie beobachtet hatten.

„Toll gemacht, Sam!“, rief einer der jungen Männer. „Du bist schon fast ein Profi!“

„Ach was!“ Sie machte eine abfällige Handbewegung, aber ganz offensichtlich freute sie sich über das Kompliment. Dann warf sie einen neugierigen Blick in Pierres Richtung. Sie kannte vermutlich die meisten Besucher dieses Strandes. Ein Neuankömmling fiel ihr natürlich auf.

Pierre bemühte sich, unbekümmert zu wirken. Er setzte sich auf einen der Felsen, zog seine Schuhe aus und krempelte die Hosenbeine hoch. Mit den Schuhen in der Hand schlenderte er über den warmen Sand auf die Gruppe zu.

Er grüßte in die Runde. „Hi! Ein toller Tag zum Surfen!“

Die junge Frau mit der perfekten Figur und den rotblonden Locken sah ihn interessiert an. „Du surfst auch?“

„Hin und wieder. Wenn ich irgendwo eine versteckte Bucht finde.“

„Versteckter als hier geht es gar nicht mehr“, meinte einer der Männer amüsiert. „Zum Glück! Ich hasse auch nichts mehr als diese überlaufenen Strände.“

Pierre nickte. „Ja, ich weiß, was du meinst. Wenn dir die Kids über das Board krabbeln!“

Alle lachten, und Pierre nahm die schöne Surferin genauer in Augenschein. Sie hatte Sommersprossen, eine süße, leicht nach oben geschwungene Nase, die ihrem Gesicht etwas Verschmitztes verlieh. Er schätzte sie auf Anfang zwanzig. Auch sie musterte ihn. Aus verträumten grünen Augen, die von langen Wimpern umrahmt wurden.

„Bist du hier auf der Insel zu Besuch?“, fragte sie geradeheraus.

„Ich wollte mich mal ein bisschen umsehen. Vielleicht bleibe ich. Kommt darauf an.“

„Und worauf?“

„Ob ich eine Unterkunft finde.“ Er deutete mit dem Kopf auf das Hotel, das sich hinter ihr erhob. „Was ist damit?“

Sie lächelte. „Das beste Hotel, das du weit und breit finden wirst.“

Er erwiderte ihr Lächeln. „Schreibst du den Prospekt dafür?“

„So ähnlich. Ich arbeite hier. Meine Tante ist die Besitzerin.“

„Oh.“ Pierre versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Natürlich, das rötliche Haar und die Sommersprossen verrieten ihre irischen Wurzeln. Er betrachtete sie mit neuem Interesse. Vielleicht traf es sich ja ganz gut, dass er auf sie gestoßen war. Wenn er es geschickt anstellte, konnte er einiges über ihre Tante in Erfahrung bringen.

Er streckte ihr die Hand hin. „Ich bin Pierre.“

„Sam.“ Sie drückte seine mit festem Griff. Er konnte Schwielen an ihren Fingern spüren. Offensichtlich war sie harte Arbeit gewohnt. „Eigentlich heiße ich Samantha, aber so nennt mich nur meine Tante, wenn ich Mist gebaut habe.“

„Bist du Engländerin?“, fragte Pierre unschuldig. „Ich höre da einen Akzent heraus, obwohl du wirklich perfekt Französisch sprichst.“

„Danke.“ Da war wieder dieser sanfte Schimmer in ihrem Gesicht, der zeigte, dass sie sich über sein Kompliment freute. „Ich komme aus London. Seit einem halben Jahr lebe ich hier an der Côte d’Azur bei meiner Tante.“

Wie selbstverständlich setzten sie sich nebeneinander in den Sand, während die anderen Surfer sich wieder in die Brandung stürzten. „Und gefällt es dir auf St. Leon?“, fragte Pierre interessiert.

Sam blickte gedankenverloren hinaus auf das Meer. „Ja, es gefällt mir sehr gut. Ich habe zum ersten Mal seit langer Zeit wieder das Gefühl, angekommen zu sein.“

„Wie meinst du das?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Einfach so. Ich fühle mich wohl hier. Es ist fast wie ein Zuhause.“

„Und dein Zuhause in London?“

Ein Schatten fiel über ihr Gesicht. „Das gibt es nicht mehr.“

„Das tut mir leid“, murmelte Pierre. Er kannte das Gefühl, sich entwurzelt zu fühlen, nur zu gut. Jahrelang war er zwischen teuren Internaten hin und her geschoben worden, während sein Vater geschäftlich um die Welt jettete. An ein echtes „Zuhause“ konnte er sich eigentlich kaum erinnern. Wenn er daran dachte, fiel ihm vor allem die Villa am Comer See ein, in der er seine ersten Lebensjahre verbracht hatte, zusammen mit seiner Mutter. Auch wenn es mehr ein Gefühl war als eine tatsächliche Erinnerung. Er blickte zu Boden. Merkwürdig, wie sehr Sams Worte ihn berührten.

„Und du?“, wechselte sie das Thema. „Woher kommst du?“

„Ach, von keinem bestimmten Ort. Ich lasse mich nicht gerne festlegen. Aber hier an der Côte d’Azur lässt es sich aushalten.“ Tatsächlich hatte er in den letzten zehn Jahren so etwas wie ein Nomadendasein geführt. Er war überall gewesen, wo etwas los war. Aber sesshaft war er nirgends geworden.

Sie schürzte die Lippen. „Ja, wenn man genug Geld hat. Das Festland ist ein teures Pflaster.“

„Ich komme schon durch“, meinte er und lachte.

„Das sehe ich.“ Sam warf einen bedeutungsvollen Blick auf seine Uhr, deren Wert sich nicht verleugnen ließ. Sie war offenbar eine scharfe Beobachterin.

Hastig legte Pierre die Finger über sein Handgelenk. „Die war ein Geschenk – von meinem Vater“, sagte er und räusperte sich. „Aber unser Verhältnis ist nicht das beste.“

Merkwürdigerweise widerstrebte es ihm, ihr geradeheraus ins Gesicht zu lügen. Mit der Formulierung, die er gewählt hatte, kam er der Wahrheit ziemlich nahe.

Sam nickte. „Das dachte ich mir schon. Und was machst du beruflich?“

„Was sich eben so ergibt. Ich dachte, ich schaue mich hier einmal um.“ Auch das war nicht gelogen, obwohl ihm natürlich klar war, dass er ihre Gedanken damit in eine bestimmte Richtung lenkte. Sollte sie ruhig glauben, er wäre ein mittelloser Student oder ein Aussteiger, der in Südfrankreich sein Glück suchte.

Wieder nickte sie gedankenverloren und musterte ihn von der Seite. Obwohl sie freundlich lächelte, konnte er eine gewisse Reserviertheit spüren.

„Sam! Kann ich dich kurz sprechen?“

Am Absatz der kleinen Steintreppe, die zum Hotel führte, stand eine Frau mittleren Alters und winkte ihr zu. Das musste Madame O’Neal sein! Die Familienähnlichkeit ließ sich kaum leugnen, auch wenn das Haar von Edith O’Neal einen tieferen Rotton hatte als das von Sam. Sie trug weite Hosen und ein farbenfrohes Oberteil, ein bunter Schal war um ihren Kopf geschlungen und wehte in der leichten Meeresbrise.

Sam sprang auf. „Ich komme, Tante Edith!“

Sie warf Pierre einen kurzen Blick zu, um ihm zu bedeuten, dass sie gleich zurück sein würde, dann lief sie zu ihrer Tante. Einen Augenblick lang unterhielten die zwei Frauen sich angeregt. Sam nickte mehrmals und drehte sich dann zur Seite, um in Pierres Richtung zu deuten. Edith beschattete mit der Hand ihre Augen und folgte mit ihrem Blick Sams ausgestrecktem Arm.

Pierre beobachtete die Unterhaltung mit gemischten Gefühlen. War Sam ihm auf die Schliche gekommen? Vielleicht wusste sie ja doch, wer er war, und hatte ihn nur hingehalten? Sollte er zu ihr und Madame O’Neal gehen und sich vorstellen? Jetzt wäre die Gelegenheit dazu. Doch in diesem Moment drehte Edith O’Neal sich um und kehrte zum Hotel zurück. Sam lief durch den warmen Sand auf ihn zu.

„Ich fürchte, ich muss wieder zurück an die Arbeit“, erklärte sie. „Bis zum Abendessen ist noch einiges zu tun.“

Pierre stand auf. „Ja, natürlich, das verstehe ich. Aber vielleicht – könnten wir uns ja wiedersehen?“

Wieder erschien dieses entzückende Lächeln auf ihrem Gesicht. „Sehr gern. Um ehrlich zu sein, habe ich gerade mit meiner Tante über dich geredet.“

„Ach ja? Und was hast du gesagt?“ Unwillkürlich hielt er den Atem an.

Sam machte einen verlegenen Eindruck. „Na ja, es ist so, dass wir im Augenblick wie gesagt ziemlich eingespannt sind. Das Hotel ist ausgebucht, und wir sind nur zu viert: Tante Edith, unsere Aushilfe Rochelle, die Köchin Therese und ich. Zwei Helferinnen kommen mittags und abends vorbei, um Therese in der Küche zu unterstützen und für allgemeine Reinigungsarbeiten, aber sonst … Wir könnten wirklich noch Hilfe gebrauchen. Deshalb wollte ich dich fragen …“

„Ja?“

Sie blickte ihn geradeheraus an. „Du siehst so aus, als wüsstest du nicht so recht, wo du hinsollst. Und da dachte ich – hättest du vielleicht Lust hierzubleiben?“

Pierre starrte sie verständnislos an. Er konnte seine Überraschung kaum verbergen. „Hierzubleiben? Du meinst – im Hotel?“

Sams Lächeln wurde breiter. „Ja genau. Wir haben im Haupthaus zwar kein Zimmer mehr frei, aber du könntest im Strandhaus unterkommen. Es wäre wirklich eine große Erleichterung für uns. Hast du Lust, ein paar Wochen lang für uns zu arbeiten?“

3. KAPITEL

Da war es wieder, dieses merkwürdige Kribbeln in ihrem Bauch. Irritiert schüttelte Sam den Kopf. Was war nur los mit ihr? Ja klar, Pierre sah gut aus. Sehr gut sogar. Das dunkle Haar, das ihm so verwegen in die Stirn fiel. Sein Lächeln, mit dem er Eisberge zum Schmelzen bringen konnte. Die glühenden dunklen Augen, die ihren Blick fesselten.

Habe ich nicht schon genug schlechte Erfahrungen mit Männern gesammelt? fragte sie sich streng. Denk an Gary! Der war auch charmant gewesen, aber als sie ihn hatte abblitzen lassen, war das schnell umgeschlagen. Mit dem Ergebnis, dass sie sich nirgends mehr hatte sehen lassen können. Wollte sie so etwas wirklich noch einmal erleben?

Konzentrier dich auf deine Arbeit! Nur das zählt, ermahnte sie sich. Dieser Pierre ist so schnell wieder aus deinem Leben verschwunden, wie er aufgetaucht ist, verlass dich darauf! An Männern mit diesem gewissen Bad-Boy-Touch konnte man sich nur die Finger verbrennen. Und an ihren Fingern waren immer noch deutlich die Narben von Garys Verrat zu spüren. Also Abstand, Sam!

Sie sah ihn erwartungsvoll an. Pierre erwiderte ihren Blick mit einer Mischung aus Überraschung und Irritation. Was hatte er denn erwartet? Dass sie ihn in ihr Bett einlud, einfach so? Von ehrlicher Arbeit hielt er wohl nicht so viel …

Endlich fand er seine Stimme wieder. „Arbeiten? Hier? Bei euch? Im Hotel?“

Was war daran so unglaublich? Sie runzelte die Stirn. „Ja. Wie du siehst, gibt es jede Menge zu tun. Die Liegen und Sonnenschirme müssen jeden Morgen aufgestellt und abends wieder weggeräumt werden. Die Hecken müssen geschnitten werden. Irgendwas ist immer herzurichten oder zu reparieren. Aber obwohl wir uns schon umgeschaut haben, sind Arbeitskräfte im Sommer leider rar. Ein Mann im Haus wäre wirklich nützlich.“

Warum sagte sie denn so was? Sam schluckte. Er sollte nicht auf falsche Gedanken kommen. Es war ein rein geschäftliches Angebot.

Pierre zauberte ein Lächeln auf seine Lippen, obwohl seine Augen sie immer noch ungläubig anstarrten. „Das wäre – fantastisch! Genau das, was ich suche!“

„Tatsächlich?“

„Ja, wirklich. Hier zu arbeiten, wäre eine – eine einmalige Chance für mich.“

Sie lächelte nachsichtig. „Na ja, wir sind nicht das Ritz. Aber du kannst sicher eine Menge lernen und Erfahrungen sammeln. Und die Gegend ist ja auch nicht übel. Klasse zum Surfen. Tante Edith wird mit dir über deinen Lohn sprechen.“

Er sah sich um. „Es ist wirklich schön hier. Der perfekte Platz für ein Hotel.“

Da traf er den Nagel auf den Kopf. „Das kann man wohl sagen“, stimmte sie zu und seufzte. „So schön, dass man nur Ärger hat …“

„Ärger?“ Er musterte sie. „Weshalb? Wie meinst du das?“

„Ach, diese Duponts!“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Die betreiben eine internationale Hotelkette. Die Paradise Beach Resorts. Vielleicht hast du schon mal davon gehört? Exklusive Urlaubsdomizile für die Superreichen.“

Pierre runzelte nachdenklich die Stirn. „Kann … schon sein.“

„Sie wollen ausgerechnet hier auf St. Leon ein neues Hotel errichten. Was heißt Hotel – eine Mega-Luxusanlage. Und dafür brauchen sie ausgerechnet unseren Strand!“

„Wieso denn das?“

Sam hob in einer hilflosen Geste die Schultern. „Weil hier der einzige Platz mit einem direkten Zugang zum Meer ist. Und den wollen sie unbedingt für sich allein haben. Damit sich ihre betuchten Gäste nur ja nicht vom Pöbel gestört fühlen. Deshalb versuchen sie schon seit Monaten mit allen Mitteln, Tante Edith zu einem Verkauf des Hotels zu bewegen.“

„Aber deine Tante will nicht?“

„Das Hotel ist ihr Zuhause. Und es ist ihre Lebensgrundlage“, antwortete Sam empört. „Eine Existenz kann man nicht so einfach mit Geld kaufen. Wo sollte sie denn hin? Und ich?“, fügte sie mit zitternder Stimme hinzu.

„Du hängst wirklich an dem Hotel“, stellte er fest.

„Natürlich“, erwiderte sie. „Seit meine Eltern gestorben sind, habe ich mich nirgends mehr heimisch gefühlt. Ich hatte das Gefühl, nirgendwo hinzugehören. Erst hier auf St. Leon bin ich zur Ruhe gekommen. Das Hotel ist auch mein Zuhause. Das gebe ich nicht so einfach auf!“

„Das kann ich verstehen“, murmelte er nachdenklich. „Deine Eltern sind gestorben, sagst du? Beide?“

„Ja, bei einem Busunglück vor fünf Jahren.“ Sam schluckte und blickte zu Boden. Die Erinnerung an diesen Tag trieb ihr immer noch die Tränen in die Augen. Sie vermisste ihren Vater und ihre Mutter so schmerzlich, dass es sie fast zerriss. „Sie wollten sich nur einen schönen Tag machen. Und dann …“

„Das tut mir sehr leid. Meine Mutter ist auch gestorben, als ich noch klein war. Ich kann mich nicht einmal mehr an sie erinnern.“

Pierre schenkte ihr ein schiefes Lächeln, und sie spürte, wie ihr Herz sich ihm öffnete. Üblicherweise fiel es ihr schwer, über diese Dinge zu sprechen. Warum sie ausgerechnet einem völlig Fremden ihre Gefühle anvertraute, konnte sie selbst nicht verstehen. Aber da war etwas an Pierre, das ihr Vertrauen weckte. Spontan legte sie die Hand auf seinen Arm.

„Das muss schrecklich sein“, flüsterte sie betroffen. Sie hatte zumindest Bilder ihrer Eltern im Kopf: das raue Lachen ihrer Mutter, wenn sie sich irgendeine alberne Sitcom im Fernsehen ansah, das breite Lächeln ihres Vaters, sobald sie durch die Tür des Pubs trat, dieses Augenzwinkern, mit dem er sie immer begrüßte, als wären sie zwei Verschwörer. Diese Erinnerungen würden sie ihr Leben lang begleiten.

„Ich weiß ja nicht, was ich vermisst habe“, meinte Pierre leichthin. Aber sie ließ sich nicht täuschen. Seine Eltern vermisste man immer, egal, wie gut man sie gekannt hatte. Es war eine Sehnsucht, die man wohl seit der Geburt in sich trug.

Um das Thema zu wechseln, hakte sie sich bei ihm unter. „Komm, ich stelle dir jetzt Tante Edith vor und zeige dir das Hotel. Du wirst dich bestimmt bei uns wohlfühlen!“

Nachdenklich rieb sich Pierre das Kinn und schaute sich in dem kleinen Strandhaus um. Er konnte immer noch nicht glauben, was eben geschehen war. Hatten Sam und ihre Tante ihm wirklich angeboten, in ihrem Hotel zu bleiben und sie zu unterstützen? Edith O’Neal war mit begeistert ausgestreckten Armen auf ihn zugekommen und hatte ihn herzlich willkommen geheißen. Freimütig hatte sie ihm anvertraut, dass es schwierig für sie war, alle Anforderungen, die die Gäste an sie stellten, zu erfüllen. Kompetentes Personal sei schwer zu finden, hatte sie ihm erklärt, da die Verdienstmöglichkeiten auf dem Festland natürlich bedeutend besser seien.

„Dich schickt wirklich der Himmel“, waren ihre exakten Worte gewesen. Die beiden Frauen hatten offensichtlich keine Ahnung, mit wem sie es zu tun hatten. Ein solches Glück war kaum zu fassen! Er konnte sich in aller Ruhe im Hotel umsehen und herausfinden, wie die Besitzerin vielleicht doch umzustimmen war. Oder wo ihre Schwachstellen lagen.

Das Geld war offensichtlich knapp. „Ich kann dir leider nicht viel zahlen“, hatte Edith ihm gestanden. „Der Lohn richtet sich nach den üblichen Tarifen für saisonale Aushilfskräfte. Damit wirst du nicht sehr weit kommen. Aber ich biete dir freie Kost und Logis in unserem Strandhaus. Und die Gäste geben gerne Trinkgeld, wenn sie zufrieden sind. Außerdem kannst du alle Einrichtungen des Hotels nutzen.“

„Du kannst gerne an meinem Yogakurs teilnehmen“, hatte Sam ihm grinsend angeboten. „Die Redding-Schwestern werden begeistert sein!“

„Du ziehst hier ja einiges auf“, hatte er geantwortet. Yoga wurde natürlich auch in den Paradise Beach Resorts angeboten, außerdem Pilates und eine Reihe weiterer sportlicher Aktivitäten. Aber die Idee mit dem Freiluftyoga auf der Terrasse, von der aus man einen freien Blick auf das Meer hatte, musste er sich merken. Sam könnte ja durchaus auch für ihn arbeiten und ihre Yogakurse in seinem Resort anbieten. Je länger er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm die Vorstellung.

Sam war süß und wirkte irgendwie unschuldig, bei aller praktischen Lebenserfahrung, die sie mitbrachte. Als Aushilfe in einem Ferienhotel zu arbeiten, war nicht unbedingt ein anspruchsvoller Job, trotzdem strahlte sie eine natürliche Eleganz aus, die die Blicke auf sich zog. In einem eng anliegenden Abendkleid mit High Heels und Make-up musste sie atemberaubend aussehen. Und er hatte in seinem Leben bei Gott schon genügend atemberaubende Frauen getroffen.

Nicht, dass es jemals etwas Ernstes gewesen wäre. Auf eine feste Bindung ließ er sich nicht ein. Ihm war klar, was die Frauen vor allem in ihm sahen: Macht und Geld! Er war ein Freifahrtschein ins Luxusparadies. Deshalb beließ er es lieber bei unverbindlichen Affären. Länger als drei Wochen hatte noch keine seiner Beziehungen gedauert. Sobald etwas zu vertraut wurde, begann er sich zu langweilen.

Vorsichtig schaute er sich um. Zusammen mit Sam hatte er die Liegestühle und Sonnenschirme in den hinteren Raum des kleinen Strandhäuschens geräumt. Das vordere Zimmer bot alles, was man für einen Strandurlaub brauchte: ein Bett, eine Kommode, einen kleinen Tisch und ein paar Stühle. In einem Anbau auf der Rückseite des Häuschens befanden sich eine Toilette und eine Dusche. Die Unterkunft war rustikal, aber mehr als ausreichend für einen mittellosen Backpacker, wie er ihn spielte.

Sam war zurück ins Hotel gelaufen, um bei den Vorbereitungen für das Abendessen zu helfen. Sie hatte wirklich kaum eine freie Minute für sich. Trotzdem scheint sie vor Energie zu strotzen, stellte er bewundernd fest. Als er sicher war, dass sich niemand in der Nähe aufhielt, zog er sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer seines Assistenten.

„César, Sie müssen heute Abend noch etwas für mich erledigen. Gehen Sie in meine Wohnung und packen Sie eine Tasche mit Dingen, die man für etwa eine Woche braucht. Meine Kulturtasche ist im Bad, nehmen Sie außerdem ein paar Shirts, zwei Hosen und drei Shorts mit. Nichts zu Teures. Bringen Sie mir die Sachen nach St. Leon zur Anlegestelle der Fähre. Ich warte dort in zwei Stunden auf Sie. Und kommen Sie zu Fuß. Sie müssen meinen Wagen zurückbringen.“

„Oui, Monsieur“, antwortete César unbeeindruckt. Wenn er von der Anweisung überrascht war, so ließ er sich das nicht anmerken. Der junge Algerier arbeitete seit einem halben Jahr für Pierre. Obwohl er nur ein unbekanntes Businesskolleg in Marseille besucht hatte, war es ihm mit Fleiß und Eifer gelungen, die begehrte Position als persönlicher Assistent des Juniorchefs zu ergattern. Sein Einsatz und vor allem sein Ideenreichtum waren für Pierre mittlerweile unersetzlich geworden. Darüber hinaus mochte er Césars fröhliche, unbeschwerte Art.

Pierre fuhr herum, als er ein Geräusch hörte. Sam balancierte ein Tablett die Steinstufen herunter. Hatte sie sein Gespräch gehört?

„Ich bringe dein Abendessen!“, rief sie. Ihre Stimme klang unbekümmert. „Sorry, dass es etwas länger gedauert hat. Die Gäste sind heute erst ziemlich spät eingetrudelt. Die meisten haben den schönen Tag für einen Ausflug genutzt.“

„Das ist schon in Ordnung. Vielen Dank.“ Er setzte sich an den kleinen runden Mosaiktisch, der auf der Terrasse des Strandhauses stand. Auf dem Tablett entdeckte er einen Teller mit gegrilltem Fisch und Kartoffeln, außerdem etwas Obst und Käse als Dessert.

Das Essen war einfach, aber es schmeckte ausgezeichnet.

„Isst du nichts?“, fragte er Sam verwundert.

„Ich habe schon während des Servierens ein paar Bissen in der Küche stibitzt. Ich bin satt.“

„Du hängst dich wirklich in deinen Job rein“, stellte er bewundernd fest. „Hast du nie daran gedacht, auf dem Festland zu arbeiten? In Cannes oder Monte Carlo könntest du ein Zigfaches von deinem jetzigen Gehalt verdienen.“

„Mir liegt nichts an Geld“, antwortete sie fast unwillig. „Ich meine – ich weiß schon, dass man Geld zum Leben braucht. Aber meine Eltern hatten auch nie viel. Mit dem Pub, den sie gepachtet hatten, hielten sie sich gerade so über Wasser. Trotzdem hatten meine Schwestern und ich nie das Gefühl, als würde uns etwas fehlen. Und hier ist es genauso. Ich liebe Tante Edith und freue mich, wenn ich sie unterstützen kann. Das letzte Jahr war nicht einfach für mich.“ Sie starrte gedankenverloren vor sich hin. Ein angespannter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. „Hier bin ich wieder zur Ruhe gekommen. Das verdanke ich Tante Edith. Sie hat mich sofort aufgenommen, als ich ihre Hilfe brauchte. Deshalb versuche ich, ihr etwas zurückzugeben.“

Fasziniert beobachtete Pierre sie. Trotz ihres offensichtlichen Schmerzes war da auch eine innere Stärke, die man nicht bei einer so jungen Person vermuten würde. Sie besaß viel Weisheit für ihr Alter.

„Was – ist denn passiert?“, fragte er vorsichtig.

Sie schüttelte unwillig den Kopf. „Ach, nichts Wichtiges. Nur – Liebeskummer. Aber das ist längst vorbei.“

Sie lächelte, aber er konnte an ihren Augen sehen, dass sie gelogen hatte. Es war nicht nur Liebeskummer gewesen. Da steckte mehr dahinter. Aber er wollte sie nicht drängen. Offensichtlich ging ihr die Sache immer noch nahe.

„Ich muss noch einmal los“, wechselte er das Thema. „Ich treffe mich mit einem Freund, bei dem ich meine Sachen untergebracht habe. Er wartet am Hafen auf mich.“

„Willst du den Wagen nehmen?“, bot Sam sofort an. „Er ist zwar nicht mehr der Jüngste, aber immer noch besser, als zu Fuß zu gehen.“

„Himmel, es ist doch kein Oldtimer!“, rief Pierre.

Sie lachte. „Fast. Es ist ein alter Deux Chevaux, eine Ente. Aber durchaus noch fahrtüchtig. Wenn du willst, bringe ich dir die Schlüssel vorbei.“

„Das ist schon in Ordnung“, wehrte er ab. „Es ist ja nicht weit bis zum Hafen.“

Und schließlich parkte sein Lamborghini um die Ecke. Aber das erwähnte er natürlich nicht.

Sam stand auf. „Dann bis morgen. Ich muss jetzt wieder zurück und beim Abräumen helfen.“

Nachdenklich starrte er ihr nach, als sie wieder in Richtung Hotel ging. Sie war so ganz anders als jede Frau, die er bisher kennengelernt hatte. Sie schien völlig uneitel zu sein, dabei brachte sie einen natürlichen Charme mit, der einem Mann den Atem rauben konnte. War es wirklich eine so gute Idee gewesen, sich auf dieses Verwirrspiel einzulassen?

Aber er rief sich ins Gedächtnis, dass er damit im Wettstreit mit Armand punkten konnte. Deshalb durfte er sich eine solche Gelegenheit nicht entgehen lassen. Er musste seinem Vater beweisen, dass er durchaus in der Lage war, hart zu arbeiten und seine Aufträge zu erledigen. Nur das zählte!

Es war schon lange nach Mitternacht, als Sam sich endlich in ihr Bett fallen ließ. Zu vieles ging ihr im Kopf herum. Die Planung für den nächsten Tag, die Aufgaben, die auf sie warteten – und Pierre. Warum musste sie ständig an ihn denken? Hatte sie sich nicht schon gründlich genug die Finger an gut aussehenden Männern verbrannt? Daraus sollte sie doch gelernt haben.

Aber Pierre – war irgendwie anders. Auch wenn sie nicht sagen konnte, was sie zu dieser Annahme verleitete. Schließlich kannte sie ihn erst seit wenigen Stunden. Und im Grunde genommen wusste sie so gut wie nichts über ihn. Er verstand sich nicht mit seinem Vater und wusste nicht so recht, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Das war auch schon alles. Ihr fiel ein, dass sie nicht einmal seinen Nachnamen kannte.

Aber irgendetwas an ihm ließ sie Vertrauen schöpfen. Vielleicht war es der Ausdruck in seinen braunen Augen, der sie überzeugte. Obwohl Gary auch dunkle Augen gehabt hatte. Dann war es vermutlich doch kein so gutes Omen. Aber nicht alle Männer sind so verlogene, hinterhältige Mistkerle wie mein Ex, sagte sie sich und zog die Bettdecke bis unters Kinn. Resolut verbannte sie die Gedanken an Gary aus ihrem Kopf. Er war Geschichte. Und sie konnte sich nicht ewig in ihrem Schneckenhaus verkriechen. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt für einen Neuanfang.

Mit diesen angenehmen, hoffnungsvollen Träumen schlief sie ein. Leider dauerte es nicht lange, bis ihr Wecker am nächsten Morgen klingelte und die Sonne, die durch das Fenster schien, ihre Nase kitzelte. Sam gähnte ausgiebig und streckte sich.

Ein neuer Morgen. Wieder Frühstückstabletts vorbereiten, die Tische auf der Terrasse decken, die Sonnenschirme aufspannen … manchmal hatte sie das Gefühl, in einer endlosen Schleife sich ständig wiederholender Tätigkeiten gefangen zu sein. Außerdem musste sie Pierre anweisen, die Liegestühle aufzustellen.

Der Gedanke ließ sie aus dem Bett springen. Nachdem sie geduscht hatte, schlüpfte sie in ihre Shorts und ein frisches T-Shirt. Ihr Zimmer lag direkt unter dem Dach, durch eine Fenstergaube konnte sie hinaus auf das azurblaue Mittelmeer blicken. Es versprach wieder ein strahlender Tag zu werden.

In der Küche stibitzte sie einen Schluck Kaffee und eine Toastscheibe, dann lief sie weiter zum Strand. Pierre war schon wach. Er trug ebenfalls kurze Hosen und ein türkisfarbenes Poloshirt. Mit nackten Füßen watete er durch die sanft heranrollende Brandung. Er telefonierte, steckte aber sein Handy rasch weg, als er sie sah.

„Hallo, guten Morgen!“, rief er ihr zu.

Sam lächelte. „Wie ich sehe, hast du dich schon eingelebt.“ Sie deutete auf die nasse Badehose, die er offenbar zum Trocknen über die Rückenlehne eines Liegestuhls gelegt hatte.

„Allerdings. Ich war schon schwimmen. Ich muss mich am Morgen immer bewegen, sonst fühle ich mich den ganzen Tag über unausgelastet.“

„Oh, Bewegung wirst du hier genug haben“, meinte sie ironisch. „Die Liegestühle, die wir gestern weggeräumt haben, müssen wieder aufgestellt und die Sonnenschirme aufgespannt werden. Wenn du fertig bist, gibt es Frühstück auf der Terrasse.“

Sie nickte ihm zu und lief zurück ins Hotel. Warum kribbelte es nur wie verrückt in ihrem Bauch, wenn sie ihm gegenüberstand? Sie war doch kein Teenager mehr. Auch wenn sie mit ihren zweiundzwanzig Jahren noch nicht ganz so weit davon entfernt war. Aber trotzdem … es war einfach verrückt. Und sie hatte sich geschworen, nie wieder verrückt zu sein!

Sie hatte wenig Zeit, noch länger darüber nachzugrübeln. Das Frühstück war in vollem Gange, als sie die Terrasse erreichte, und Rochelle hetzte wie ein aufgescheuchtes Huhn zwischen den Tischen hin und her. Rasch schnappte Sam sich ein Tablett und kam ihr zu Hilfe.

„Oh, Sam!“, riefen die Schwestern Redding im Chor. „Könnten wir vielleicht zwei weiche Eier bekommen?“

„Und ich hätte gerne noch Kaffee“, verlangte Mrs. Rutherford.

Sam setzte ein strahlendes Lächeln auf. „Kommt sofort!“

Sie war gerade dabei, die letzten Tische abzuräumen, als sie Pierre die Steinstufen vom Strand heraufkommen sah. Sofort machte ihr Herz einen Sprung. Er bewegte sich mit einer unglaublich lässigen Gewandtheit, als wäre er daran gewöhnt, ständig im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Sie fragte sich, was ein Mann wie er hier auf St. Leon machte. Er sah nicht wirklich aus wie ein Student auf Reisen oder ein mittelloser Straßenmusiker. Aber er würde schon seine Gründe haben, weshalb er in einem kleinen Hotel abseits der üblichen Touristenpfade Aushilfsarbeiten annahm.

Einen Augenblick lang spürte Sam einen beklommenen Stich in ihrer Brust. War sie zu leichtgläubig gewesen, Pierre einfach so einen Job anzubieten? Vielleicht war er ja ein gesuchter Bankräuber? Oder Schlimmeres?

Tante Edith winkte von einem Tisch am Rand der Terrasse. Neben ihr thronte Madame Suzette auf einem Stuhl und putzte ihr Fell. „Sam! Pierre! Das Frühstück ist bereit. Kommt, ehe der Kaffee kalt wird.“

Sie erreichten zur selben Zeit den Tisch. Galant rückte Pierre den Sessel für Sam zurecht. „Guten Morgen, Madame O’Neal.“

„Oh bitte, ich heiße Edith! Wenn mich jemand Madame O’Neal nennt, muss ich immer an eine Zauberkünstlerin im Varieté denken.“ Sie schenkte ihnen Tee und Kaffee ein.

Sam griff nach einem Croissant und biss herzhaft hinein, während ihre Tante die Post sortierte. „Wie sieht es am Strand aus?“, wollte sie beiläufig von Pierre wissen.

„Alles aufgestellt und bereit für den Tag.“

Edith hob erstaunt eine Augenbraue. „Gut gemacht. Greif zu, junger Mann! Du hast es dir verdient.“

Während Sam und Pierre sich über ihr Frühstück hermachten, öffnete Edith einen der Umschläge und zog ein weißes Blatt hervor. Noch während sie den Inhalt überflog, wurde sie blass. Zitternd schlug sie die Hand vor den Mund. „Oh Gott!“, entfuhr es ihr.

„Was ist los?“ Besorgt griff Sam nach dem Brief. Ihre Augen weiteten sich. „Oh nein!“ Sie reichte das Blatt an Pierre weiter.

In ausgeschnittenen, aufgeklebten Zeitungsbuchstaben stand darauf zu lesen: Verschwinden Sie von St. Leon, oder Sie werden es bereuen!

4. KAPITEL

Pierre hatte am Morgen vor allem die Stille am Strand wahrgenommen. Nichts war zu hören gewesen außer dem Rauschen der Brandung. Er hatte sich von dem Geräusch eigenartig belebt und elektrisiert gefühlt. Die Paradise Beach Resorts rühmten sich damit, dass die Anlagen niemals schliefen. Partylärm und Klubmusik erfüllten rund um die Uhr die Luft. Hier herrschten hingegen Ruhe und Frieden.

Damit war es nach der Ankunft des Drohbriefes allerdings vorbei. Fassungslos starrte Pierre auf die Worte.

„Wer tut denn so etwas?“, rief Sam verzweifelt.

Armand! schoss es ihm durch den Kopf. Sein Cousin stand unter einem noch größeren Druck als er, diesen Auftrag erfolgreich zu erledigen. Aber dass er zu solchen Mitteln greifen würde, traute Pierre ihm dann doch nicht zu. Armand musste wissen, dass Serge solche Methoden niemals billigen würde. Doch wer steckte dann dahinter? Hatte Edith O’Neal noch andere Feinde?

„Wir haben doch niemandem etwas getan“, entfuhr es Edith mit brüchiger Stimme.

Sams Augen verengten sich. „Das waren bestimmt diese verdammten Duponts. Die schrecken vor keiner Gemeinheit zurück, um uns das Hotel abzuluchsen.“

„Meinst du wirklich?“, fragte Pierre zweifelnd. Was für eine schreckliche Situation! Und er konnte ihr nicht einmal versichern, dass ein Dupont das niemals tun würde. Im Geschäftsleben wurde gelegentlich mit harten Bandagen gekämpft. Aber ein Drohbrief?

„Wer sollte sonst dahinterstecken?“ Angriffslustig sah Sam ihn an. „Aber wir lassen uns davon nicht einschüchtern, nicht wahr, Tante Edith?“

Edith hatte sich nach dem ersten Schock wieder gefangen. Sie richtete sich auf und straffte die Schultern. „Natürlich nicht. So leicht geben wir nicht auf!“

„Sie müssen die Polizei verständigen“, riet Pierre ihr.

Doch sie schüttelte den Kopf. „Auf keinen Fall! Wenn die Polizei hier herumschnüffelt und Fragen stellt, würde das meine Gäste zu sehr beunruhigen und verunsichern. Das will ich nicht riskieren. Damit hätte der Drohbriefschreiber genau das erreicht, was er wollte.“

„Aber wir können den Brief nicht einfach ignorieren“, ereiferte sich Sam.

„Ich werde heute nach Cannes fahren und mit meinem Anwalt sprechen. Warten wir ab, was Monsieur Bertrand mir rät.“ Edith sah ihre Nichte an. „Würdest du mich begleiten? Wir könnten dann auch gleich den Wocheneinkauf für das Hotel erledigen.“

„Natürlich komme ich mit.“ Sam wandte sich an Pierre. „Denkst du, du kommst einen Nachmittag lang allein zurecht? Rochelle und Therese kümmern sich um das Hotel. Du müsstest am Strand bleiben und nach den Gästen sehen, falls sie Hilfe brauchen.“

„Natürlich kann ich das.“ Pierre nickte ihr zu. „Macht euch darüber keine Sorgen.“

Mit einem tiefen Seufzer stand Edith auf. „Entschuldigt mich bitte. Ich muss jetzt mit Therese den Speiseplan besprechen.“

Pierre schaute ihr nachdenklich hinterher. „Deine Tante nimmt dieser Drohbrief ziemlich mit.“

„Was erwartest du denn?“ Sam zog die Augenbrauen hoch. „Schließlich erhält man so ein Schreiben nicht alle Tage. Ich bin selbst immer noch ganz zittrig. Zu denken, dass jemand plant, einem etwas anzutun …!“

Pierre legte den Brief, den er immer noch in der Hand hielt, auf den Tisch. „Natürlich, das verstehe ich. Gerade deshalb würde ich auf jeden Fall die Polizei einschalten.“

„Das würde ich ja auch, aber Tante Edith ist sehr auf Diskretion bedacht. Sie will einfach keinen Skandal in ihrem Haus riskieren, aus Angst, dass die Gäste dann ausbleiben. In dieser Branche ist der Ruf sehr schnell ruiniert.“

Er sah sie an. „Wenn ich irgendetwas tun kann …“

„Das ist lieb von dir.“ Sie legte die Hand auf seinen Arm. Pierre spürte ein merkwürdiges Kribbeln bei der Berührung. Er wollte seine Hand auf ihre legen, aber in diesem Augenblick stand Sam auf. „Wir sollten einfach zurück an die Arbeit gehen. Eine erfolgreiche Sommersaison ist die beste Antwort auf diesen Drohbrief.“

Sie lächelte ihn an und folgte ihrer Tante ins Haus.

Pierre saß noch einen Moment am Tisch und starrte nachdenklich vor sich hin. Dieser Drohbrief brachte eine neue Dimension ins Spiel. Würde Armand wirklich so weit gehen? Und wenn er auf diese Weise tatsächlich Erfolg haben sollte? Tatsächlich hatte der Brief Edith sehr erschüttert.

Pierre überlegte, was das alles für ihn bedeutete. Wenn wirklich Armand dahintersteckte, hatte der heute einen deutlichen Punktesieg gelandet. Er musste darauf reagieren, wenn er im Spiel bleiben wollte. Armand durfte nicht die Oberhand gewinnen. Schließlich ging es nicht nur um dieses Hotelprojekt, sondern um die Zukunft der gesamten Dupont Holding. Und damit auch um seine Zukunft.

Aber was konnte er unternehmen, ohne dass Sam und Edith herausfanden, wer er war? Pierre wurde klar, dass er zwischen zwei Stühlen saß. Und solange er nicht beweisen konnte, dass Armand den Drohbrief geschickt hatte, gab es auch nichts, was er ihm vorwerfen konnte. Trotzdem blieb da dieses ungute Gefühl.

In Gedanken versunken, starrte Sam aus dem Seitenfenster des Deux Chevaux. Die Fähre schaukelte sanft auf und ab, während sie sich dem Festland näherte. Die Côte d’Azur machte ihrem Namen alle Ehre. Das Meer funkelte und schimmerte im Sonnenlicht wie ein Teppich aus blauen Saphiren. Doch die Aussicht konnte Sam nicht ablenken.

Der Drohbrief ging ihr nicht aus dem Kopf. Wieder fühlte sie sich in einer Situation gefangen, der sie hilflos ausgeliefert war, während andere über ihr Schicksal bestimmten. Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken, und sie schauderte trotz der Nachmittagshitze, die durch das Fenster strömte.

„Alles in Ordnung mit dir?“ Besorgt legte Tante Edith die Hand auf ihren Arm und drückte sie.

Sam nickte. „Ja, natürlich. Es ist nur …“

„Der Brief macht dir Sorgen. Mir auch, glaub mir. Ich kann nicht glauben, dass uns irgendjemand etwas Böses will. Warum?“

„Es ist wegen des Verkaufs“, beharrte Sam. „Was sonst sollte dahinterstecken? Wir haben keine Feinde.“

„Vielleicht ein unzufriedener Gast …“

„Der uns aus St. Leon vertreiben will?“ Sam schüttelte den Kopf. „Das kann ich mir nicht vorstellen. Der würde eher Schadenersatz verlangen oder uns beschimpfen. Aber eine so unverhohlene Drohung bedeutet, dass der Absender ein bestimmtes Ziel vor Augen hat. Nämlich uns aus dem Hotel zu vertreiben. Und das können nur die Duponts wollen!“

Tante Edith seufzte und startete den Motor. Sie hatten die Anlegestelle der Fähre erreicht, und die Autokolonne setzte sich ruckelnd in Bewegung. Sie umrundeten das Hafenbecken und fädelten sich in den Verkehr auf der Promenade de la Pantiero ein. Im alten Hafen von Cannes lagen die schneeweißen Jachten dicht gedrängt vor Anker. Manche waren wohl mehrere Millionen Pfund wert.

„Es erschreckt mich, dass im Geschäftsleben zu solchen Mitteln gegriffen wird“, meinte Tante Edith nachdenklich. „Es sollte auf der Insel doch genug Platz für alle sein. Vielleicht wäre es doch besser, zu verkaufen, bevor sie ihre Drohung wahr machen …“

„Nein!“, rief Sam erbost. „Das kommt gar nicht infrage! Wir geben nicht klein bei. Schließlich sind wir im Recht. Wir können nicht zulassen, dass andere mit uns umspringen, wie es ihnen beliebt, nur weil sie skrupelloser und unverschämter sind als wir.“

Garys Bild geisterte ungefragt durch ihre Gedanken, und sie spürte, wie ihr Magen sich verkrampfte. Sie hatte schon einmal das Weite gesucht und sich hier in Südfrankreich verkrochen, weil sie eine Konfrontation gescheut hatte. Das würde sie nicht noch einmal tun. Sie wusste mittlerweile, dass es sich lohnte, um manche Dinge zu kämpfen, auch wenn die Gefahr bestand, verletzt zu werden. Aber dieses Risiko musste sie eingehen, wenn sie ihre Selbstachtung nicht verlieren wollte.

„Ich weiß, Liebes! Und ich will es ja auch nicht wirklich. Schließlich habe ich das Hotel selbst aufgebaut und viel Herzblut hineingesteckt.“ Tante Ediths Stimme klang wehmütig. „Aber ich habe Angst um deine Sicherheit. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn dir etwas zustößt! Ich trage die Verantwortung für dich, jetzt, wo Helen nicht mehr da ist.“

Tränen schimmerten in ihren Augen, und auch Sam schluckte, als Tante Edith den Namen ihrer Mutter erwähnte. Dieses Gefühl, vollkommen allein und verlassen zu sein, holte sie wieder ein. Aber sie spürte gleichzeitig auch die Liebe und Fürsorge, die ihre Tante ihr entgegenbrachte.

Umso mehr lohnt es sich, zu kämpfen, sagte sie sich. Edith war neben ihren Schwestern die einzige Verwandte, die sie noch hatte, und die Auberge du Soleil ihr neues Zuhause, nachdem sie den Pub ihrer Eltern verlassen mussten. Sie würde den Duponts die Stirn bieten, und wenn es das Letzte war, was sie tat!

„Ich bin erwachsen, Tante Edith“, versicherte sie ihr. „Ich kann sehr gut selbst auf mich aufpassen.“

„Trotzdem … Ich bin nur froh, dass wir diesen jungen Mann angeheuert haben, diesen Pierre. Es kann nie schaden, einen Mann im Haus zu haben.“ Tante Edith beugte sich vertraulich zu Sam. „Und einen so gut aussehenden noch dazu …“

Sam spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass ihre Lippen sich zu einem Lächeln verzogen. Beides entging Tante Edith nicht. „Oh, sollte ich da irgendetwas wissen?“

„Nein, gar nichts“, versicherte Sam ihr. „Ich finde ihn einfach nur … nett.“

„Das ist er. Und er macht einen vertrauenswürdigen Eindruck.“

Sam holte tief Luft. „Das … wird sich zeigen“, presste sie hervor. Dieses flaue Gefühl in ihrem Magen ließ sich einfach nicht vertreiben. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, vorsichtig zu sein, auch wenn ihr Herz gerne etwas anderes glauben wollte.

Tante Edith tätschelte ihre Hand. „Manchen Männern kann man vertrauen“, versicherte sie ihrer Nichte. „Nicht allen, das gebe ich zu. Aber der Großteil ist ganz in Ordnung.“

Aufmunternd lächelte sie Sam zu. Sie fuhren jetzt auf dem Boulevard de la Croisette, vorbei am Palais des Festivals et des Congrès, in dem jedes Jahr die berühmten Filmfestspiele stattfanden. Dann tummelten sich Stars und Sternchen auf den breiten Stufen des Filmpalastes. Jetzt waren es Touristen, die ihre Handys gezückt hatten, um ein Foto von dem eindrucksvollen Bauwerk einzufangen.

Entlang der Croisette reihten sich Nobelboutiquen, Bars und Restaurants aneinander. Die Fassaden pompöser Hotelbauten lugten zwischen den Palmen hervor, die die Straße säumten. Auf der Meerseite erstreckte sich der Plage de la Croisette, ein breiter Sandstrand, der mit Sonnenschirmen und Liegestühlen gespickt war. Cannes, das Mekka der Reichen und Schönen. Und jetzt sollte auch St. Leon auf dem Altar des Jetsets geopfert werden.

Sam schüttelte entschlossen den Kopf. „Ich werde nicht mehr weglaufen“, schwor sie sich und Tante Edith. „Nie wieder. Einmal ist genug.“

„Oh Pierre, würden Sie uns wohl noch einen zusätzlichen Liegestuhl bringen?“ Mrs. Rutherford lächelte ihn breit an, das Gesicht krebsrot. Ihre helle Haut neigte offensichtlich zu Sonnenbrand.

„Natürlich, Madame, sofort!“

Pierre eilte in das Strandhaus, um ihrem Wunsch nachzukommen. Sein T-Shirt war durchgeschwitzt. Die Gäste der Auberge du Soleil hielten ihn ziemlich auf Trab. Ob es darum ging, Schwimmreifen aufzublasen, Sonnenschirme umzustellen oder Boards zum Surfen bereit zu machen – die Urlauber erwarteten von ihm, umfassend betreut zu werden. Nicht anders, als es in den Paradise Beach Resorts angeboten wurde. Mit dem Unterschied, dass er dort nur die Anweisungen gab und nicht selbst die Arbeit ausführen musste. Zum ersten Mal in seinem Leben wurde ihm bewusst, dass ein erstklassiger Service harte Arbeit bedeutete. Ein Bonus für die Paradise-Resort-Mitarbeiter am Ende der Saison wäre vielleicht eine gute Idee …

„Nanu, das ist ja ein interessantes Zusammentreffen“, ertönte eine Stimme hinter seinem Rücken. Pierre wirbelte herum. Armand! Was sollte er jetzt tun? Vorgeben, er wäre ein Strandbesucher wie alle anderen auch? Zu spät, Mrs. Rutherford winkte ungeduldig.

„Würden Sie sich ein wenig beeilen, Pierre?“

Pierre setzte ein gequältes Lächeln auf. „Ich komme schon, Madame!“

Er ließ Armand stehen und ging zu den Rutherfords, die es sich nahe dem Wasser gemütlich gemacht hatten. Rund um die Liegen der Eltern waren Handtücher, Wasserbälle und Luftmatratzen ausgebreitet. Pierre stellte den zusätzlichen Liegestuhl auf, dann steckte er die Hände in die Taschen seiner Shorts und ging gemächlich zurück zu seinem Cousin.

„Hallo, Armand. Was für eine Überraschung, dich zu sehen!“

„Die Überraschung ist ganz meinerseits.“ Armand musterte ihn von oben bis unten. „Ich wusste nicht, dass du einen Nebenjob hast. Ist dein Vater darüber informiert? Ich bin sicher, er wäre sehr stolz auf dich, wenn er dich jetzt sehen könnte.“ Armand grinste boshaft.

Pierre verschränkte die Arme und sah ihn mit ausdrucksloser Miene an. „Was willst du hier?“

„Was ich hier will? Nun, ich führe den Auftrag deines Vaters aus, was denn sonst? Ich möchte mit Madame O’Neal sprechen. Ist sie hier?“

„Im Augenblick nicht.“

„Dann werde ich warten.“ Armand sah sich mit arrogantem Blick um. „Und was machst du hier? Wie ich sehe, bedienst du Madame O’Neals Gäste. Das ist wirklich ungemein freundlich von dir. Sie ist dir sicherlich sehr dankbar für diese tatkräftige Unterstützung.“

Pierre starrte seinen Cousin finster an. „Ich weiß wirklich nicht, was du damit meinst.“

Armand machte einen raschen Schritt auf ihn zu. Das Gesicht seines Cousins verzerrte sich zu einer hässlichen Fratze. „Was ich damit meine? Ich meine, dass dein Vater wohl nicht allzu erfreut wäre, sollte er von deinem Engagement hier erfahren. Schließlich sieht es ganz so aus, als würdest du dieser Edith O’Neal beistehen. Ausgerechnet der Frau, die deinem Vater solche Schwierigkeiten bereitet. Das macht keinen allzu guten Eindruck, finde ich. Oder was denkst du? Madame O’Neal weiß ja sicher, wer du bist, oder?“

Pierre hielt seinem Blick stand, auch wenn seine Gedanken sich überschlugen. Armand war zu allem fähig, das war nun klar. Wenn er Pierre bei seinem Vater anschwärzte, konnte er ihn in große Schwierigkeiten bringen. Das Verhältnis zwischen ihnen war schon belastet genug. Pierre war sich nicht sicher, ob sein Vater die Idee, einen geschäftlichen Gegner zu unterstützen, egal mit welchem Hintergedanken, wirklich gut finden würde. Er wollte nicht unbedingt riskieren, das herauszufinden. Und wenn Armand Edith und Sam verriet, wem sie da ihr Vertrauen schenkten … dann drohte er auf beiden Seiten zu verlieren!

„Was willst du?“, presste er hervor.

„Dass du dich aus diesem Wettkampf zurückziehst und mir das Feld überlässt“, zischte Armand mit einem diabolischen Grinsen. „Du hast doch ohnehin kein Interesse an der Firma. Solange du dein Playboyleben genießen kannst, warst du bisher immer zufrieden.“

„Vielleicht habe ich mich geändert“, entgegnete Pierre.

Armand lachte. „Du und dich ändern? Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Ich warne dich. Lass mich in Ruhe meine Arbeit tun, oder …“

„Oder?“

Armand sah ihn herablassend an. „Das willst du nicht wirklich wissen. Aber es wird nicht nur dich betreffen, sondern auch deine geschätzte Madame O’Neal, verlass dich darauf.“

Bevor er etwas darauf erwidern konnte, tauchte plötzlich Sam am Strand auf. „Pierre, ist alles in Ordnung?“

Er trat rasch einen Schritt zurück. „Der Herr wollte nur eine Auskunft von mir.“

Armand streckte seine Hand aus. „Mein Name ist Armand Dupont, ich vertrete die Dupont Holding. Könnte ich mit Madame O’Neal sprechen?“

„Meine Tante ist im Haus.“ Verwirrt blickte Sam von Pierre zu seinem Cousin. Offenbar spürte sie die Spannung zwischen den beiden Männern.

„Ich bringe Sie zu ihr, Monsieur Dupont“, erklärte Pierre rasch und ging voraus zum Hotel. Armand folgte ihm, während Sam am Strand zurückblieb. Als sie die Steinstufen hinaufstiegen, hörte Pierre, wie Mrs. Rutherford nach ihr rief.

„Lass die Frau in Ruhe. Sie hat dir nichts getan“, zischte er Armand zu, als sie außer Hörweite waren.

„Welche Frau meinst du?“, fragte sein Cousin anzüglich und warf einen Blick zurück auf Sam. „Es ist eine reine Geschäftssache. Ich will Madame O’Neal nur noch einmal unser Angebot unterbreiten.“

Edith war auf der Terrasse und deckte geschäftig die Tische für das Abendessen. Sie stutzte, als sie die beiden Männer auf sich zukommen sah.

„Guten Tag, Madame O’Neal“, begrüßte Armand sie. „Ich komme von der Dupont Holding. Wenn Sie einen Augenblick Zeit für mich hätten …“

Edith richtete sich auf. „Es gibt nichts mehr zu besprechen, Monsieur. Ich habe das Angebot abgelehnt, und dabei bleibe ich. Ich werde das Hotel nicht verkaufen, für kein Geld der Welt. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis.“

Armands Gesicht verfinsterte sich. „Ich hoffe, Sie wissen, was Sie da tun, Madame O’Neal …“

„Das weiß ich sehr genau“, erwiderte Edith mit fester Stimme. „Und jetzt verlassen Sie bitte meinen Grund und Boden.“

Armand war rot angelaufen vor unterdrücktem Zorn. „Das wird Ihnen noch leidtun“, fauchte er. „Sie haben keine Ahnung, mit wem Sie sich da anlegen.“

Er drehte sich um und ging zu dem schwarzen BMW, der in der Einfahrt stand. Ohne ein weiteres Wort stieg er ein und rauschte mit quietschenden Reifen davon.

Edith stieß hörbar die Luft aus. „Was für ein unangenehmer Zeitgenosse. Die Anwälte, mit denen ich bisher verhandelt habe, waren wenigstens höflich!“

Pierre hatte seinem Cousin mit besorgtem Blick hinterhergestarrt und wandte sich nun wieder Edith zu. „Apropos, was hat denn Ihr Anwalt gesagt?“

Sie seufzte. „Er meinte auch, ich sollte den Brief zur Polizei bringen. Aber das werde ich auf keinen Fall tun. Ich kann mir ein solches Aufsehen nicht leisten. Wenn meine Gäste von dem Drohbrief erfahren, werden sie denken, sie wären in meinem Hotel nicht mehr sicher. Damit würde ich nur den Duponts in die Hände spielen.“

„Wie Sie meinen.“ Pierre schüttelte den Kopf. „Trotzdem sollten Sie vorsichtig sein. Sie haben ja erlebt, wie feindselig Arm… – dieser Vertreter der Dupont Holding war. Wer weiß, was er noch vorhat.“

Es war ein merkwürdiges Gefühl für ihn, plötzlich auf der anderen Seite zu stehen und hautnah mitzuerleben, was es für ein kleines Unternehmen wie Edith O’Neals Hotel bedeutete, sich gegen einen Millionenkonzern wie die Dupont Holding zu stellen.

Edith griff unvermittelt nach seinem Arm und sah ihn eindringlich an. „Ich weiß, und es bereitet mir große Sorgen. Darf ich dich um etwas bitten, Pierre? Würdest du ein Auge auf Sam haben? Ich möchte nicht …“

Sie wurde unterbrochen, als vom Strand her ein markerschütternder Schrei ertönte.

5. KAPITEL

„Sam, könnten Sie uns vielleicht ein paar Wanderrouten in den Seealpen empfehlen? Nichts allzu Anstrengendes, einfach nur einen netten Spaziergang.“ Mrs. Rutherford, die den Nachmittag mit ihren Kindern am Strand verbrachte, wedelte mit ihrem Reiseführer.

„Natürlich, gerne.“

Sam starrte immer noch hinter Pierre und dem anderen Mann her, während sie zu Mrs. Rutherfords Liegestuhl ging. Irgendetwas war merkwürdig an den beiden, auch wenn sie nicht genau sagen konnte, was. Eine Spannung hatte zwischen ihnen geherrscht, die mit den Händen greifbar war. Aber sie hatten sich doch gerade erst getroffen, oder?

Dabei kam es Sam so vor, als würden sie sich kennen – und nicht besonders mögen. Irritiert schüttelte sie den Kopf. Unwichtig, sagte sie sich. Sie fing schon an, Gespenster zu sehen!

Sie beugte sich zu Mrs. Rutherford und studierte den Reiseführer. „Nun, ich würde sagen …“

„He, lass mich los! Das gehört mir! Mummy! Daddy!“, schrie Danny, einer der Rutherford-Jungs. Alarmiert fuhr Sam herum. In einiger Entfernung entdeckte sie ihn. Er stand neben zwei jungen Männern. Sam schätzte die beiden auf Anfang zwanzig. Einer von ihnen hielt Danny am Arm fest, während der andere genüsslich an einem Eis leckte, das er Danny offenbar gerade abgenommen hatte. Der Junge streckte verzweifelt seinen freien Arm nach der Waffel aus, während es sich im Griff seines Angreifers wand.

„Au! Das tut weh! Hör auf! Auuuuu!“ Sein Schreien ging in ein hilfloses Schluchzen über.

Instinktiv setzte Sam sich in Bewegung und stürmte auf die Gruppe zu. „He, was soll das? Lasst sofort den Jungen in Ruhe!“, schrie sie empört. Sie beugte sich zu Danny und half ihm auf die Beine. Auch Mrs. Rutherford eilte herbei und nahm ihren Sohn in die Arme, um ihn zu trösten und den Schmutz aus seinem Gesicht zu streichen.

Die beiden jungen Männer lachten unbeeindruckt. Sie trugen zerrissene Jeans und verwaschene T-Shirts. Ihre Haare waren strähnig und machten einen ungepflegten Eindruck. Beide hatten etliche Piercings im Gesicht. Hinter ihnen lagen zwei leere Bierflaschen im Sand.

„Oder was?“

„Oder ich verständige die Polizei!“ Wütend baute sich Sam vor ihnen auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Wenn sie eins nicht leiden konnte, dann, wenn Kindern wehgetan wurde. Außerdem ging es hier um die Sicherheit ihrer Gäste. „Ihr habt hier am Strand nichts verloren, wenn ihr euch nicht ordentlich benehmen könnt!“

„Und du willst uns das verbieten?“ Der Größere der beiden beugte sich zu ihr, sodass Sam das gefährliche Funkeln in seinen Augen sehen konnte. Sein Atem roch nach Alkohol. Unwillkürlich zuckte sie zurück, aber sie hielt seinem Blick stand. Sie würde sich nie wieder von irgendjemandem einschüchtern lassen, das hatte sie sich geschworen. Schon gar nicht von zwei betrunkenen Idioten.

Sie stemmte die Hände in die Hüften und beugte sich ebenfalls vor. „Allerdings. Ich arbeite hier im Hotel und bin für die Sicherheit unserer Gäste verantwortlich. Also zieht Leine! Typen wie ihr sind bei uns nicht willkommen.“

Sie zog ihr Handy aus der Tasche und wedelte bedeutungsvoll damit in der Luft herum. Wie lautete noch einmal die Notrufnummer in Frankreich? Inständig hoffte sie, dass sie die nicht brauchen würde. Eine solche Aufregung wäre Tante Edith sicher nicht recht. Aber sie musste die zwei Unruhestifter irgendwie loswerden.

„Du bist ja ein ganz heißer Feger!“ Mit einer raschen Bewegung riss der Typ ihr das Telefon aus der Hand und hielt es so hoch in die Luft, dass Sam es nicht erreichen konnte. Inzwischen war sein Kumpan von hinten an sie herangetreten und packte sie plötzlich an den Armen. Sam schrie auf.

Mrs. Rutherford lief mit Danny davon und rief lautstark: „Hilfe! Hilfe! Madame O’Neal!“

Der Kerl, der ihr Handy hielt, beugte sich zu ihr und feixte: „Willst du dein Telefon zurückhaben? Willst du? Dann hol es dir doch!“

Wütend und verzweifelt trat Sam nach ihm, aber er lachte nur und warf das Handy seinem Freund zu. Vergeblich streckte sie sich, um es abzufangen. „Das werdet ihr bereuen, ich schwöre es euch!“

Sie griff nach dem Arm des Kerls, aber der schleuderte sie mit einer raschen Bewegung zur Seite. Drohend baute er sich über ihr auf. Sam bekam es mit der Angst zu tun. Auch wenn die beiden nicht übermäßig kräftig wirkten, waren sie ihr körperlich haushoch überlegen. Was sollte sie nur tun? Wie konnte sie sich zur Wehr setzen?

In diesem Augenblick wurde der Typ wie von Geisterhand zurückgerissen und zur Seite gestoßen.

„Verschwindet oder ihr lernt mich kennen!“, rief Pierre mit vor Zorn bebender Stimme. „Wehe, ihr treibt euch noch einmal in der Nähe dieses Hotels und des Strandes herum! Dann kommt ihr nicht so glimpflich davon, das schwöre ich euch!“ Er schubste den einen der beiden so heftig, dass dieser ins Straucheln geriet.

Die Männer schlugen sich in die Büsche zwischen den Felsen. Pierre starrte ihnen einen Moment nach, bis er sicher war, dass sie sich aus dem Staub gemacht hatten, dann beugte er sich zu Sam, die schützend die Arme um den Körper geschlungen hatte.

Er zog sie an sich. „Wie geht es dir? Alles in Ordnung?“

Neben ihm tauchte Tante Edith auf, die sich angstvoll die Hände vor den Mund schlug. „Großer Gott, Sam, was ist geschehen? Bist du verletzt?“

Sie schüttelte den Kopf. „Es geht mir gut. Ich bin nur – erschrocken!“

„Wer waren diese Typen? Hast du sie erkannt?“

„Irgendwelche Krawallmacher“, murmelte Sam. „Sie haben den Rutherford-Jungen belästigt. Ich habe versucht einzugreifen, aber …“ Betreten hielt sie inne.

Rasch sagte Pierre: „Die zwei hatten getrunken und waren auf Randale aus. Zum Glück ist nichts Schlimmeres passiert.“

„Danke, dass du so schnell zur Stelle warst.“ Mit ihren tiefgrünen Augen sah Sam dankbar zu ihm auf. „Wie bist du nur mit den beiden fertiggeworden?“

Betont gleichgültig zuckte er mit den Schultern. „Ich habe früher ein bisschen Kampfsport gemacht. Nichts Großartiges, aber in solchen Situationen kann es ganz nützlich sein.“

„Du bist ein Schatz, Pierre.“ Dankbar drückte Edith seinen Arm. „Ich weiß nicht, was wir ohne dich tun würden.“

Pierre räusperte sich. „Ich denke, wir sollten Sam ins Haus bringen. Sie muss sich ausruhen.“ Er zog sie auf die Beine und legte den Arm um sie, sodass sie sich auf ihn stützen konnte. Jetzt erst sah er, dass sich ein Kreis von Zuschauern um sie gebildet hatte. Der Radau hatte alle Besucher des Strandes auf die Beine gebracht. Fürsorglich zog er Sam an sich, um sie vor den neugierigen Blicken zu schützen.

„Es geht ihr gut! Nichts passiert! Bitte entschuldigen Sie die Aufregung.“ Betont fröhlich wedelte Tante Edith die Gäste zurück zu ihren Liegestühlen. Dann wandte sie sich an die Rutherford-Kinder: „Wie wäre es mit einem Eis als Entschädigung?“

Gemeinsam gingen sie zurück zum Hotel. Während Edith die Kinder mit Eistüten versorgte, brachte Pierre die zitternde Sam auf ihr Zimmer.

„Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist“, stammelte sie. „Es geht mir gut, wirklich!“

„Du stehst unter Schock“, erklärte er bestimmt und führte sie zu ihrem Bett. „Die Sache hätte leicht ins Auge gehen können. Leg dich hin, und versuch dich zu entspannen. Ich bringe dir inzwischen eine Tasse Tee. Oder etwas Stärkeres.“

Während Sam immer noch protestierend unter die Decke kroch, eilte er nach unten in die Küche. Therese, die Köchin, machte noch Pause, aber das kam ihm nur gelegen. Kurz entschlossen schnappte er sich eine Flasche Scotch aus dem Getränkekabinett und kehrte damit zu Sam zurück.

„Trink das! Es wird dir guttun.“ Er hielt Sam ein Glas mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit unter die Nase und sah zu, wie sie einen großen Schluck davon hinunterwürgte. Sie schloss die Augen und ließ sich erschöpft in die Polster gleiten. „Besser?“

Sie nickte. „Ja. Tut mir leid, dass ich so hysterisch war. Aber … ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte!“

Beschwichtigend legte er die Hand auf ihre. „Du hast dich fabelhaft verhalten. Diese Rowdys hätten sich eine Tracht Prügel verdient.“

„Ist schon gut. Ich hoffe nur, die Gäste haben keine Angst bekommen. Denkst du, die zwei kommen noch mal zurück?“ Sie warf ihm einen besorgten Blick zu.

Entschieden schüttelte er den Kopf. „Bestimmt nicht. Sie wissen jetzt, dass sie hier nicht willkommen sind – und dass wir uns zur Wehr setzen. Mach dir keine Gedanken!“

Ich werde dafür sorgen, dass so etwas nicht noch einmal passiert, schwor Pierre sich innerlich. Ich werde auf dich aufpassen. Er fragte sich, ob die beiden Halunken vielleicht mit Armands Besuch in Verbindung standen. Es war doch merkwürdig, dass sie aufgetaucht waren, direkt nachdem sein Cousin sich verabschiedet hatte. Was, wenn sie nur auf ein Zeichen von Armand gewartet hatten, um den Strand aufzumischen?

Wie Sam und Edith befürchteten, würden ihre Gäste bestimmt beunruhigt über den Zwischenfall sein. Genug, um ihren Aufenthalt abzubrechen? Wenn Edith ihre Besucher verlor und keine Einnahmen mehr hatte, wäre sie gezwungen, an die Dupont Holding zu verkaufen. Zu jedem Preis? Pierre spürte eine unerwartete Beklemmung bei diesem Gedanken.

Aber würde Armand wirklich zu solchen Methoden greifen, um seinen Auftrag zu erfüllen? Nahm er bewusst in Kauf, dass dabei jemand verletzt wurde? Nach dem Gespräch, das sie heute geführt hatten, war Pierre sich nicht mehr sicher, wieweit er seinem Cousin noch trauen konnte. Er wusste nur, dass er etwas unternehmen musste, bevor die Lage außer Kontrolle geriet. Ganz bestimmt würde er nicht zusehen, wie Armand mit seinen Machenschaften die Oberhand gewann.

„Versuch, ein wenig zu schlafen“, riet er Sam und stand auf. „Ich werde nach den Gästen sehen. Edith braucht bestimmt Hilfe.“

Müde nickte Sam und kuschelte sich in die Kissen. Der Vorfall hatte sie stärker mitgenommen, als er vermutet hatte. Sie bibberte immer noch, aber der Alkohol hatte sie ein wenig beruhigt und schläfrig gemacht. Nachdenklich blickte er auf sie hinunter. Was war los mit ihm? Eigentlich sollte er doch jede Gelegenheit nutzen, Edith O’Neal davon zu überzeugen, dass ihr Hotel keine Zukunft hatte. Stattdessen tat er alles, um den angerichteten Schaden wiedergutzumachen.

Der Anblick von Sams Gesicht auf den weißen Laken berührte ihn auf eine ganz eigentümliche Weise. Sie sah so zart und unschuldig aus, und er spürte das unerklärliche Bedürfnis, sie vor allen Gefahren dieser Welt zu beschützen. Dabei hatte er gelernt, dass jeder für sich selbst verantwortlich war und nur die ans Ziel kamen, die sich nicht mit unnötigen Gefühlen belasteten.

Er presste die Lippen zusammen. Egal! Er wollte seinem Vater immer noch beweisen, dass mehr in ihm steckte, als er ihm zutraute. Aber es musste möglich sein, Geschäfte auch ohne faule Tricks zu machen.

Autor

Anne Taylor
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