Romana Extra Band 78

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STERNENREGEN AUF MALLORCA von WATERS, JANE
Sanft wiegt sich die "Sea Queen" vor der Küste der Trauminsel, und Samantha genießt die sinnlichen Stunden mit dem reichen Leandro Dominguez. Doch ihr Glück ist nur von kurzer Dauer: Samantha muss erkennen, dass der feurige Argentinier längst einer anderen versprochen ist …

DEINEN KUSS VERGESSE ICH NIE von DOUGLAS, MICHELLE
Warum hat er sich darauf eingelassen? Aidan Fairhall muss unbedingt nach Sydney. Und weil die Fluggesellschaft streikt, begibt er sich mit der hübschen Quinn im Auto auf die abenteuerliche Reise. Er ahnt nicht, dass Quinn sein Leben kräftig durcheinanderwirbeln wird …

DIE BRAUT DES ANDEREN von MONROE, LUCY
Die betörend schöne Phoebe weckt leidenschaftliches Begehren in dem vermögenden Unternehmer Spiros Petronides. Dabei ist ausgerechnet sie absolut tabu für ihn! Schließlich ist sie bereits seit einer Ewigkeit verlobt - mit seinem Bruder!

ITALIENISCHE TRÄUME VON LIEBE von YAYE, PAMELA
Endlich kann er sie wieder in den Armen halten! Fünfzehn Jahre ist es her, dass Paris ihn verlassen hat. Und jetzt sieht Rafael Morretti sie im romantischen Venedig wieder. Auch sie scheint den Tanz über den Markusplatz zu genießen. Doch an ihrem Finger blitzt der Ring eines anderen …


  • Erscheinungstag 19.02.2019
  • Bandnummer 0078
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744762
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jane Waters, Michelle Douglas, Lucy Monroe, Pamela Yaye

ROMANA EXTRA BAND 78

JANE WATERS

Sternenregen auf Mallorca

Samantha ist die Frau seiner Träume, da ist Leandro sicher. Leidenschaftlich erwidert sie seine Küsse, und er weiß, dass auch sie etwas für ihn fühlt. Bis sie ihm plötzlich nur noch die kalte Schulter zeigt …

MICHELLE DOUGLAS

Deinen Kus vergesse ich nie

Er ist viel zu förmlich: Anwalt Aidan Fairhall ist kein Mann für Farmerin Quinn. Wegen eines Flugstreiks reist er mit ihr im Auto durch Australien. Danach muss sie Aidan vergessen. Leichter gesagt als getan!

LUCY MONROE

Die Braut des anderen

Phoebe ist mit seinem Bruder verlobt. Das bedeutet nur eins für den griechischen Unternehmer Spiros Petronides: Sie ist tabu für ihn. Aber nach einem heißen Kuss weiß er, dass er um diese Frau kämpfen muss!

PAMELA YAYE

Italienische Träume von Liebe

Kann sie vergessen, was war? Oder ist es die romantische Stimmung in Venedig, die Paris glauben lässt, ihr Jugendfreund Rafael wäre der Mann ihres Lebens? Wenn sie sich nur ihrer Gefühle sicher sein könnte …

1. KAPITEL

Im Hafen des malerischen Fischerdörfchens Cala Figuera glitzerte das Wasser in der Mittagssonne. Lang und schmal zog sich die Bucht ins Land hinein. Weiß getünchte Häuser mit farbig bemalten Holztüren säumten das Ufer, als der Kapitän einen freien Ankerplatz zwischen den vielen Llaüts ansteuerte. Samantha hatte die Fahrt in einem der typisch mallorquinischen Holzboote entlang der Küste genossen. Sie war froh, nun doch erst einmal allein hier zu sein.

Als das Boot anlegte, flimmerte die Hitze in der Luft. Im August stiegen die Temperaturen auf der beliebten Baleareninsel auf weit über dreißig Grad, und unzählige Touristen waren an den Stränden und in den Städten unterwegs. Doch an dem besonderen Ort, an dem sie die nächste Zeit verbringen würde, war der Trubel weit entfernt. David hatte ihr prophezeit, sie würde den Aufenthalt an seiner Seite von Beginn an genießen. Dann aber war im Flugzeug der Sitz neben ihr leer geblieben. David war kurz vor dem Abflug in London etwas Geschäftliches dazwischengekommen.

Dafür hatte er Samantha vorgeschlagen, das „Begrüßungsprogramm“ dennoch zu genießen. Also hatte ihr der extra angeheuerte Taxifahrer am Flughafen von Palma einen eiskalten Piccolo serviert, den sie alleine trank. Angenehm beschwingt ließ sie sich an die Küste im Südosten der Insel fahren, wo das Llaüt mit dem schönen Namen Sea Queen bereits auf sie gewartet hatte. Als sie nun aber an Land die vielen Menschen durch den Ort pilgern sah, blieb sie sitzen und schob ihren Strohhut aus dem Gesicht.

„Was passiert nun?“, fragte sie den wortkargen Kapitän.

„Qué?“, fragte der braungebrannte, weißbärtige Spanier zurück. Was?

Sie machte ein ratloses Gesicht und zeigte mit einer vagen Bewegung in Richtung der hübschen Häuser. Der Kapitän sprach offenbar kein Englisch und sie kaum Spanisch, aber das war für ihre Arbeit bei der Stiftung „Nature First Foundation“ auch nicht nötig. Sie würde die meiste Zeit schließlich nur mit Pflanzen, Tieren, ihrem Laptop und eben David zu tun haben. Und in der Verwaltung dort sprachen alle Englisch.

Der Kapitän deutete ebenso in Richtung der Häuser. „Restaurante!“, rief er, was sie natürlich verstand.

Samantha schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Lust, allein zwischen den ganzen Familien und womöglich auch noch Liebespaaren zu sitzen. Und hungrig war sie auch nicht. „Foundation!“, erwiderte sie laut. Sie wollte lieber gleich weiterfahren. Von der letzten Etappe der Reise hatte ihr David besonders vorgeschwärmt: Sie würden vom Wasser aus das große Grundstück der Stiftung erreichen, das nicht weit von Cala Figuera entfernt lag.

Der Kapitän zuckte nur mit den Schultern und startete den Motor. Wenig später kühlte der Fahrtwind Samanthas Haut, und sie dankte dem Schicksal einmal mehr, dass David nicht dabei war. Es war nun mehr als offensichtlich, dass er ihre gemeinsame Anreise zu einer kleinen Romantik-Tour ausgebaut hatte: ein Sekt am Flughafen, die Bootsfahrt mit der Sea Queen, ein Essen im Restaurant …. Sie schloss die Augen. All die Unternehmungen bestätigten ihre Vermutung, dass David ihr nicht allein für ihre Arbeit und der Natur zuliebe diesen Forschungsaufenthalt auf Mallorca vermittelt hatte. Doch wenigstens blieb ihr nun etwas Zeit zu überlegen, wie sie mit ihm umgehen sollte. „Es dauert noch ein wenig, bis ich nachkommen kann“, hatte er vor wenigen Stunden am Telefon enttäuscht gesagt.

Um ihn würde Samantha sich später Gedanken machen. Im Moment wollte sie ihre Reise genießen. Nicht umsonst galt Mallorca als einer der schönsten Flecken der Welt, auch wenn im Hochsommer die Sonne sengend heiß vom Himmel schien und jeden Grashalm verbrannte.

Samantha hatte es sogar geschafft, seit der Landung nicht an Joaquín zu denken. Na ja – beinahe. Vor wenigen Monaten hatte sie gerade mal zweihundertfünfzig Kilometer entfernt nahe der Küste Barcelonas unter demselben Himmel auf demselben Meer in seinen Armen … Halt! Entschlossen rief Samantha sich ins Hier und Jetzt zurück. Diese Reise war ein Neuanfang, und Herzensbrecher wie Joaquín hatten in ihren Gedanken nichts zu suchen. Mit ihrer ganzen Willenskraft verdrängte sie den Schmerz. Darin hatte sie immerhin schon Übung.

Das Boot verließ den Hafen und durchschnitt das smaragdgrün schimmernde Wasser der Bucht. Der Kapitän telefonierte gerade, doch außer ihrem Namen verstand Samantha kein Wort. Wahrscheinlich brachte das nun ausgefallene Mittagessen den Zeitplan für ihre Ankunft durcheinander. Sie zuckte mit den Schultern, schließlich würde sie keine Umstände machen und sich erst einmal nur ausruhen wollen.

Keine fünf Minuten später kam ein solider Holzsteg in Sicht, dahinter eine große grüne Wiese, auf der Wassersprenger im Sonnenlicht glitzernde Tropfen wie Diamanten um sich versprühten. Zwei Boote ankerten am Steg, eines war ein etwas größeres Llaüt, das andere eine schlichte Yacht, auf der in großen Lettern der Name der Stiftung stand. Wahrscheinlich das Exkursionsboot, vermutete Samantha. Fasziniert betrachtete sie ihre Umgebung: Hier wuchsen neben hohen und kleineren Palmen besonders prächtige Exemplare der majestätischen Pinien. Das Hauptgebäude musste hinter dem grünen Hügel versteckt liegen, über den sich ein kleiner Weg bis zum Wasser hinunterschlängelte. Was für ein wunderschöner Ort! Die Nature First Foundation hatte ihren Sitz in einer liebevoll restaurierten großen alten Finca. Samantha hatte sich die Bilder der Sanierungsarbeiten im Internet angesehen.

Doch auf dem Anwesen konnte sie weit und breit niemanden entdecken, der sie abholen würde. Der Kapitän ließ das Boot lautlos auf den Steg zugleiten und machte es mit routinierten Handgriffen an den Pollern fest. Dann hob er ihren Koffer aus der Sea Queen und streckte Samantha seine Hand entgegen. Auf einmal war sie verunsichert. Um sie herum war es still, und von dem weißbärtigen Seemann konnte sie kaum erfahren, wie es nun weiterging. Sie kletterte an Land und holte ihr Telefon hervor.

Plötzlich drangen Geräusche aus der Yacht, die ein paar Meter entfernt am Steg im Wasser wogte. Samantha wandte sich um. Wie gebannt sah sie der Gestalt entgegen, die nun über den Bug des Segelschiffes auf den Steg trat und auf sie zukam. Der Mann hatte etwas längere, in die Stirn fallende schwarze Haare und einen dunklen Bartschatten. Unter seinem hellen T-Shirt zeichneten sich deutlich die Konturen seiner muskulösen Brust ab. Sein Oberkörper war gut trainiert, seine Hüften schmal. Ernster Blick. Aufrechter Gang. Je näher er kam, desto faszinierender wirkte auch sein Gesicht. Dunkle Augen und markante Gesichtszüge: ein attraktiver Südländer. Doch es fehlten ihm jene Härte und Arroganz, die sie bei Joaquín manchmal so irritiert hatten. Der Mann, der ihr gegenüberstand, wirkte stolz auf eine Weise, die zeigte, dass er genau wusste, warum er sich diesen Stolz verdient hatte.

Der Kapitän stieg wieder ins Boot, und die beiden Männer riefen sich etwas auf Spanisch zu, das Samantha nicht verstand. Schon legte die Sea Queen ab, und sie hörte, wie sich das Tuckern des Motors entfernte. Der Unbekannte war vor ihr stehen geblieben. Warum auch immer – Samantha brachte zunächst kein Wort heraus. Erst recht nicht, als er den Blick über ihre Figur gleiten ließ, ehe er ihr in die Augen sah. In seiner fast schwarzen Iris entdeckte sie ein paar helle Punkte. Wie Sterne in der Nacht!, dachte sie.

Schließlich lächelte er und zeigte seine weißen, makellosen Zähne. „Ich bin Leandro Salafino“, sagte er und deutete eine höfliche Verbeugung an. „Sie sind etwas früher angekommen als geplant. Aber Señora Fuentes wird gleich da sein, sie ist schon auf dem Weg hierher. Hatten Sie eine gute Reise?“

Er sprach ein gediegenes Englisch. Und er sah umwerfend aus. Aber wer war er? Seinen Namen hatte sie noch nie gehört.

„Samantha Palmer“, brachte sie nur heraus.

Er nickte. „Ich weiß. Wir wurden informiert, dass nun doch noch zwei Forscher kommen, diesmal aus London.“

Leandro sah sich um. Vermutlich hielt er Ausschau nach dem zweiten Forscher. Samantha wurde immer heißer. Und das lag nicht nur an der drückenden Hitze …

„Ms. Palmer!“, rief eine hohe Frauenstimme. Leandro trat einen Schritt zur Seite und blickte über sie hinweg in die Ferne. Samantha drehte sich um und sah eine Frau mittleren Alters in einem weiten Sommerkleid den Pfad auf dem Hügel hinablaufen. Sie hatte ihr Haar zu einem Knoten hochgesteckt und war ziemlich außer Atem, als sie am Steg ankam. Freundlich lachte sie Samantha an und schüttelte ihre Hand. „Herzlich willkommen in unserer Stiftung! Ich bin Alba Fuentes, die örtliche Leiterin. Tut mir leid, dass Sie nun doch erst einmal allein zurechtkommen müssen. Aber wir werden schon das Beste aus der Situation machen, nicht wahr? Nun kommen Sie erst einmal in Ruhe an. Sicherlich freuen Sie sich über eine Erfrischung und eine kleine Siesta. Auf, nach oben!“ Es gab in Europa mehrere Dependancen der Nature First Foundation, doch jene auf Mallorca hatte den besten Ruf, nicht nur wegen der traumhaften Lage.

Schon hatte sich die lebhafte Frau bei ihr eingehakt und zog sie mit sich. Samantha wandte verblüfft den Kopf und sah über die Schulter hinweg, wie Leandro nach ihrem großen, schweren Koffer griff.

Da streifte sie sein brennender Blick. Rasch sah sie weg. Vielleicht war er ein Arbeiter? Für die Pflege des großen Grundstücks brauchten sie hier sicherlich viele Kräfte. Samantha zwang sich, nach vorne zu schauen, und versuchte, dem Redeschwall von Alba Fuentes zu folgen. Plötzlich musste sie an den Abschied von Joaquín denken. Sie hatte ihm all ihre Wut vor die Füße geworfen. Nicht umdrehen!, hatte sie sich wieder und wieder ermahnt, als sie aufrecht davongegangen war. Erst später hatte sie ihren Tränen freien Lauf gelassen. Wegen eines Mannes würde sie so schnell nicht mehr weinen. Die richtige Reihenfolge in ihrem Leben war wiederhergestellt: Erst die Arbeit, später kam irgendwann einmal die Liebe. Den ganzen Weg den Hügel hinauf spürte sie jedoch Leandros Blicke in ihrem Rücken. Sie verursachten ein leichtes, aufregendes Prickeln.

Leandro hatte Alba Fuentes vorhin verflucht, als sie ihn angerufen hatte. Seine Siesta war ihm heilig – auch wenn er währenddessen nie schlief, sondern meist über seine Vergangenheit nachgrübelte oder ein gutes Buch las. Aber es war seine Auszeit, eine Zeit, in der er wieder er selbst sein konnte: Leandro Dominguez! Meistens war er dann nicht in seiner Unterkunft, sondern auf der Yacht, um deren Wartung er sich kümmerte – neben anderen Arbeiten auf dem Grundstück. Es war allerdings nicht ganz einfach, sich Tag für Tag in die Rolle eines Arbeiters einzufinden. Zumal Alba Fuentes zwar freundlich zu ihm war, aber José Fortuna ihn stets von oben herab behandelte. Der Büromanager und Buchhalter hielt sich für etwas Besseres und war sich für alle Handgriffe außerhalb des Büros zu schade. Warum kam er nicht herunter und gab mit der Leiterin das Empfangskomitee?

Missgelaunt hatte Leandro seinen Platz auf der Yacht verlassen und sich nach dem neuen Gast umgesehen. Wie geblendet blieb er auf dem Steg stehen: Vom Sonnenlicht umspielt stand dort eine umwerfende Erscheinung und sah ihm entgegen. Die Lady trug ein halblanges, helles Sommerkleid, das ihre grazile Figur umschmeichelte, und einen Sonnenhut, unter dem ein paar kurze blonde Strähnen hervorschauten. Beim Näherkommen erkannte er blaue Augen, und als er vor ihr stand, entdeckte er darin auch ein wenig Grün, das an das smaragdfarbene Wasser der Bucht erinnerte. Ihre Augen waren nicht geschminkt und dennoch groß und ausdrucksstark. Auf den vollen Lippen trug sie einen Schimmer von Rot, ansonsten wirkte die junge Forscherin aus London ganz natürlich. Sein Blick glitt über ihren Körper. Die Rundungen ihrer Brüste zeichneten sich unter dem Kleid ab. Ihre Arme waren schlank und muskulös. Reizvoll!

Einen Augenblick lang war er sprachlos. Eine Naturforscherin hatte er sich anders vorgestellt. Dann begann er den üblichen Small Talk. Samanthas Blick war so hell und klar wie ihr Lachen. Schließlich war Alba Fuentes den Hügel heruntergekommen und hatte ihm signalisiert, dass er den Koffer zum Haus tragen sollte.

Jetzt ging er hinter den beiden Frauen her. Was ihm die Gelegenheit gab, die Engländerin mit dem schönen Lachen von hinten zu mustern. Sie musste ohne dieses Kleid wundervoll aussehen …

Leandro runzelte die Stirn. Ein solcher Gedanke hatte sich bei ihm schon lange nicht mehr eingeschlichen. Und bestimmt war es nicht angebracht, ausgerechnet von einem Gast zu fantasieren – er war hier schließlich angestellt. Samantha arbeitete als Biologin, das jedenfalls hatte Alba Fuentes ihm erzählt. Aber sollte die Forscherin nicht in Begleitung von David Scott sein? Leandro hatte den Enkel des Stiftungsgründers William Scott bereits kennengelernt, als David vor wenigen Wochen hergekommen war, um seinen und Samanthas Aufenthalt zu besprechen. Es war keine besonders angenehme Begegnung gewesen. Leandro hatte gerade den Auftrag bekommen, im Büro des Haupthauses eine kleine Reparatur vorzunehmen. Dort hatte David Scott mit José Fortuna ein offenbar vertrauliches Gespräch geführt. Sie waren regelrecht aufgeschreckt, als Leandro ins Büro trat.

„Klopfen Sie doch an!“, hatte David Scott ihn barsch zurechtgewiesen, was er nur mit gespieltem Gleichmut ertragen hatte.

Waren David und Samantha ein Paar? Bislang hatte er daran keinen Gedanken verschwendet. Was ging ihn das an?

Der Schweiß rann Leandro über den Rücken. Samanthas Koffer war schwer. Wahrscheinlich würde die Engländerin ein paar Wochen hierbleiben. Sie hatte ihn eben auf eine seltsame Art fasziniert, als er ihr auf dem Steg tief in die Augen gesehen hatte. Ein Hauch von damals. Als er das erste Mal in Catalinas Gesicht geblickt hatte, war er von einem inneren Beben erfasst worden. So etwas passierte sonst nur in kitschigen Liebesromanen, aber er hatte es selbst erlebt. Er hatte sich damals auf der Stelle in die Journalistin verliebt.

Nun warf Samantha einen kurzen Blick über ihre Schulter. Leandro fing zwar nicht an, innerlich zu beben, aber wieder berührte etwas sein Herz. Er schüttelte den Kopf über sich selbst. Eigentlich wollte er hier nur seinen Seelenfrieden wiederfinden. Hier wollte – nein, musste – er noch eine Weile unerkannt bleiben und darüber nachdenken, wie sein Leben weitergehen sollte. Wollte er weiterhin als anonymer Wohltäter durch die Welt reisen? Es gab viele Stiftungen und Organisationen, die finanzielle Zuwendungen gut gebrauchen konnten. Aber die Nature First Foundation war etwas Besonderes. Hier spürte er Catalinas Geist, obwohl ihm ihr Tod in jeder Minute schmerzhaft bewusst war.

Sie hatten die Hügelkuppe erreicht. Das weiß getünchte Haupthaus, das hier über dem Areal thronte, lag im gleißenden Sonnenlicht. Dort wohnten die Gäste. Die Arbeiter hatten ihre Unterkünfte in den auf dem weitläufigen Grundstück verteilten Häuschen. Vor vielen Jahren hatte William Scott die Stiftung ins Leben gerufen, heute war er ein alter Mann. Die Foundation förderte Forschungsvorhaben zugunsten der Umwelt großzügig. Catalina hatte damals eines der begehrten Stipendien erhalten und als investigative Journalistin ausgerechnet das Unternehmen von Leandros Familie in Argentinien im Visier gehabt. Hier, auf dem Anwesen, wo auch er nun lebte, hatte sie recherchiert. Das Hausmädchen Blanca, das schon seit einigen Jahren jeden Sommer auf der Finca arbeitete, hatte Catalina noch kennengelernt. Als Leandro das erfuhr, hatte er Blanca so interessiert nach ihren Erinnerungen an Catalina ausgefragt, dass sie irgendwann misstrauisch die Stirn gerunzelt hatte. Aber er hatte gute Gründe, seine wahre Identität geheim zu halten …

Leandro ging dicht hinter den beiden Frauen auf den Eingang des Hauses zu. Die Tür der Finca öffnete sich, und José Fortuna trat heraus. Seine Lippen verzogen sich zu einem künstlichen Lächeln, und er legte eine Hand auf Samanthas Schulter. Wie unpassend, dachte Leandro. Auch Blanca hatte erzählt, dass José jede Gelegenheit nutzte, um sie scheinbar beiläufig zu berühren.

Nun begrüßten sich alle, und die Leiterin und der Buchhalter taten fast so, als wäre er Luft. Leandro spürte, wie der Ärger immer weiter in ihm aufstieg. „Der Koffer!“, rief er laut, als die anderen einfach im Haus verschwinden wollten.

Da trat José Fortuna wieder heraus, während Samantha schon im Inneren verschwunden war. Drinnen war es immer angenehm kühl, und gerne wäre Leandro einen Moment mit hineingegangen.

„Den nehme ich“, sagte der Büromanager ohne ein weiteres Dankeschön.

Dann fiel die Tür vor Leandro ins Schloss. Wenn du wüsstest, wer ich bin!, dachte er grimmig. Nicht, weil er sich auf den umstrittenen Erfolg der Firma Los Hermanos Dominguez in Buenos Aires etwas einbildete – oder auf die stattliche Abfindung, die er im letzten Moment doch noch erhalten hatte. Aber er hatte der Stiftung auf Mallorca eine Summe gespendet, die sicherlich nicht alltäglich war. Anonym. Als könnte er damit irgendetwas wiedergutmachen.

Leandro drehte sich um. Nein, bei den Toten konnte man nichts wiedergutmachen. Doch dann hatte er einen Gedanken, der seine Laune augenblicklich besserte: War es vielleicht auch sein Verdienst, dass Samantha Palmer nun hier war? Als er vor einigen Wochen hierhergekommen war, hieß es schließlich, es könnten in diesem Sommer keine Forschungsaufenthalte finanziert werden. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Vielleicht würde er ja auf ungeahnte Weise von seiner eigenen Spende profitieren.

Gedankenverloren saß Samantha auf der Terrasse. Die Grillen zirpten, und die Sonne bewegte sich dem Horizont entgegen. Nun war die Luft etwas abgekühlt, und sie hatte mit großem Appetit gegessen. Normalerweise bewohnten mehrere Forscher oder Studenten die Finca. Doch das Geld sei in diesem Sommer ungewöhnlich knapp, hatte Alba Fuentes ihr erzählt. Alle Zimmer außer Samanthas waren leer. Erst hatte sie sich deswegen unwohl gefühlt, doch nun genoss sie die Stille immer mehr. Angst, dass es ihr abends zu einsam werden würde, hatte sie nicht. Erstens gab es einen Nachtwächter, und zweitens hätte sie sonst nicht Naturforscherin werden können. Sie war es gewohnt, allein im Wald zu übernachten.

Sie ließ ihren Blick über das hügelige Gelände schweifen. Unter den Pinien standen hier und da bunt gestrichene kleine Häuser, die ziemlich romantisch aussahen. Dort wohnten die Arbeiter, hatte Samantha erfahren. Also auch Leandro Salafino. So, wie er von José Fortuna behandelt worden war, hegte sie an seinem Status hier keinerlei Zweifel mehr. Dabei wirkte der attraktive Südländer so gar nicht wie ein einfacher Arbeiter. Er bewegte sich elegant und sprach perfekt Englisch …

Plötzlich stand José Fortuna an ihrem Tisch. „Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?“, fragte er und riss sie aus ihren Gedanken. Ohne ihre Antwort abzuwarten, stellte er seinen Teller ab. Er setzte sich ihr gegenüber und grinste sie an. Sie blieb stumm. Er war ihr nicht sympathisch.

„Schon eingelebt?“, fragte er.

„Die Zimmer sind sehr schön“, antwortete sie unverbindlich.

„In diesem Jahr ist fast niemand hier. Sie hatten Glück – wegen David Scott. Er hat sich sehr für Sie eingesetzt.“

Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Es war ihr unangenehm, dass sie nur dank ihres ehemaligen Studienkollegen hatte hierherkommen dürfen. Aber David war nun einmal der Enkel des Stiftungsgründers. Er hatte schon früher offensiv mit ihr geflirtet, doch nach dem Studium in London hatten sie sich aus den Augen verloren. Neben ihrer Assistentenstelle am wissenschaftlichen Institut musste sie sich später mit verschiedenen Jobs über Wasser halten. Dann hatte sie David zufällig wiedergetroffen, und er bot an, ihr beruflich zu helfen. Das war ihr wie eine einmalige Chance erschienen.

„Warum ist David nicht mitgekommen?“, fragte José Fortuna.

Samantha war etwas überrascht. „Hat er das nicht selbst erzählt? Sein Großvater hat ihn wegen gesundheitlicher Probleme zu sich gerufen. Es gibt wichtige Dinge zu besprechen.“

„Ach ja, stimmt. Er erwähnte es. Haben Sie denn in London auch viel mit David zu tun?“

Samantha richtete sich auf. Offenbar wollte sie ihr ungebetener Tischnachbar über ihr Privatleben ausfragen. Ob José immer so aufdringlich war? Vorhin hatte er ihr sogar die Hand auf den nackten Arm gelegt.

Sie schüttelte den Kopf und entschied sich für eine Notlüge: „Ich werde mich langsam auf mein Zimmer zurückziehen, ich erwarte einen dringenden Anruf“, sagte sie und stand auf. „Einen schönen Abend!“

Rasch ging sie davon. Der lange Sommertag neigte sich dem Ende zu, und sie entschied sich für einen kleinen Spaziergang. Auch wenn José Fortuna sie dabei beobachten würde – es war ihr egal. Er sollte gleich kapieren, dass sie auf seine Gesellschaft keinen Wert legte. Im Grunde wollte sie von keinem Mann der Welt etwas wissen. Nicht nur wegen des Schmerzes – die Liebe lenkte sie auch viel zu sehr ab. Fast hätte sie ihre beruflichen Ambitionen wegen Joaquín sprichwörtlich über Bord seiner Luxusyacht geworfen!

Im Moment wollte sie nur eins: sich in sinnvolle Arbeit vertiefen und endlich auch mehr Geld verdienen. Nicht nur für sich – auch für ihre Eltern. Diese hatten für das Studium ihrer einzigen Tochter jeden Cent zur Seite gelegt und immer bescheiden gelebt. Samantha wollte ihnen endlich etwas zurückgeben.

Sie lief den Hügel hinab zum Wasser. Eine Weile lang blickte sie aufs Meer, das sich dunkelblau und wellenreich vor ihr ausbreitete. Die Yacht lag verlassen da. Am liebsten hätte sie sich das Schiff genauer angesehen, weil sie damit vermutlich zu ihren Exkursionen aufbrechen würde, um seltene Pflanzen und Tiere zu finden. Aber eigentlich wollte sie erst gar nicht daran erinnert werden, wie schön es abends unter dem weiten Himmel Spaniens auf so einer Yacht sein konnte. Wenn sie sich jedoch tagsüber zum Arbeiten darauf aufhielt, war das etwas anderes ….

Es begann zu dämmern. Vom Hauptweg über den Hügel zweigte noch ein anderer Weg ab, der zu einem Pinienwäldchen führte, wo ein paar der bunten Hütten standen. Stimmen und leise Musik drangen zu Samantha herüber. Auf einmal erfüllte sie eine schmerzliche Sehnsucht, und sie zog den Kopf an die Brust. Sie fühlte sich einsam. In Joaquíns Armen hatte sie sich eingebildet, geborgen zu sein … Sie starrte vor sich auf den Boden, wischte ärgerlich eine Träne von ihrer Wange und ging ein paar Schritte.

„Vorsicht!“, rief plötzlich jemand. Sie sah schnell wieder nach oben und wäre fast gegen eine starke Männerbrust geprallt. Wie aus dem Nichts stand Leandro vor ihr und sah ihr besorgt ins Gesicht.

„Was ist passiert?“, fragte er mit rauer Stimme und legte leicht, fast sanft, eine Hand auf ihre Schulter. Wie anders sich diese Berührung anfühlte als die plumpe Begrüßung von José Fortuna! Aber was war das für eine Frage, die Leandro da stellte? Sie starrte ihn nur an.

Está llorando. Sie weinen ja“, sagte er.

Tatsächlich hatten sich weitere Tränen in ihre Augen gestohlen. Er bot ihr ein Taschentuch an. „Danke“, sagte sie, aber ihre Stimme war nur ein Krächzen. Ihr Herz schlug schnell. Im Dämmerlicht konnte sie Leandros Gesicht nicht mehr in allen Einzelheiten erkennen. Aber sein Blick ging ihr durch und durch.

„Das geht nicht!“, entfuhr es ihr.

„Was geht nicht? Was ist los?“, fragte er leise. Dabei wusste sie selbst nicht, was sie mit ihren Worten genau meinte. Sie wusste nur, dass sie so nicht länger vor ihm stehen konnte. Sein männlicher Geruch erregte sie. Sein Körper wirkte wie ein Magnet. Entweder sie musste sofort gehen, oder sie würde sich gleich in seine Arme schmiegen. Doch das war verrückt! Sie trat einen Schritt zurück. Der Bann war gebrochen.

„Gute Nacht“, sagte sie nur und eilte den Weg hinauf. Sie war völlig durcheinander. Warum hatte er sie plötzlich so vertraulich angesprochen? Wollte er ihr etwa nachstellen, genau wie dieser Buchhalter? Wieder spürte sie Leandros Blicke in ihrem Rücken. Und wieder, wie bei der Ankunft, fühlte es sich aufregend an.

2. KAPITEL

Leandro stand in seiner winzigen Küche und bereitete das Frühstück zu, als es an der angelehnten Tür klopfte. Er hielt inne. Wahrscheinlich war es Blanca, die fast jeden Tag auf einen Plausch vorbeikam. Er mochte das Hausmädchen, weil sie fröhlich und ein wenig frech war und ihn zum Lachen brachte. Manchmal ging sie ihm mit ihrem Geplapper zwar auch auf die Nerven. Aber seine Sympathie für sie reichte viel tiefer – schließlich waren sie verwandt. Wenn auch nur entfernt. Diese zufällige Entdeckung hatte ihn selbst überrascht. Blanca Dominguez hatte ein wenig von ihrer Herkunft erzählt, und er hatte die familiären Parallelen schnell entdeckt. Sie selbst konnte es nicht ahnen. Später irgendwann, wenn er seine geborgte Identität nicht mehr brauchte, würde er es ihr sagen.

„Komm rein!“

Doch es klopfte wieder. „Was ist denn?“, rief er. „Es ist offen!“

„Hier ist Señora Fuentes!“

Leandro runzelte die Stirn, nahm die Pfanne vom Herd und durchquerte mit ein paar Schritten sein kleines Zuhause: den mittelgroßen Raum, der Schlaf- und Wohnzimmer zugleich war. Immerhin bewohnte er ein eigenes Häuschen, und er liebte den herben Duft der Pinien im Sommer um ihn herum: Es war die Erinnerung seiner Kindheit. Auf Mallorca hatte er mit seiner Mutter und seinem Bruder Ramiro eine glückliche Zeit verbracht, weit weg von dem herrischen Vater. Seine Mutter war Mallorquinerin und hatte Leandro und seinen Zwillingsbruder zu jedem Besuch bei ihren Eltern mitgenommen. Doch seine Mutter und seine Großeltern waren tot! Nach über fünfzehn Jahren war Leandro nun auf die Insel zurückgekehrt. Seine Wurzeln waren neben Catalina ein weiterer Grund dafür. Es bestand zwar die Möglichkeit, dass Ramiro ihn auf Mallorca vermutete, doch garantiert nicht hier: Wer tauschte die Welt des Luxus freiwillig gegen eine kleine Hütte ein?

Leandro öffnete die Tür und stand der Leiterin der Stiftung gegenüber. „Guten Morgen“, sagte sie freundlich. „Kann ich kurz unter vier Augen mit Ihnen reden?“ Sie sah über seine Schulter in das Haus hinein. „Hmm, frisch gebratener Speck. Oh, Verzeihung! Ich habe Sie beim Frühstück gestört!“

„Kein Problem“, antwortete Leandro und wusste nicht so recht, wie er reagieren sollte. Normalerweise wurde er immer ins Büro gerufen. Seine Chefin hereinzubitten war ihm doch etwas zu privat. Also deutete er auf den Tisch mit den zwei Stühlen auf der kleinen Veranda seines marineblauen Häuschens. Sie nickte und nahm Platz.

„Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“, fragte er, doch sie schüttelte den Kopf. Also setzte er sich ebenfalls.

„Es geht um Samantha Palmer“, begann Señora Fuentes.

Leandro war sofort hellwach. Hatte sich die Engländerin etwa über ihn beschwert? Er selbst hatte lange über diese seltsame Begegnung vor zwei Tagen nachgegrübelt. Vor allem über sich selbst. Er hatte sich so verhalten, als würden sie sich gut kennen, hatte sie sogar berührt, weil sie weinte. Sie hatten so nah voreinander gestanden, dass er ihre Körperwärme gespürt hatte.

„Was ist mit ihr?“, fragte er etwas nervös.

Die Leiterin lächelte. „Es gefällt ihr hier bestens. Aber sie ist nicht zum Vergnügen, sondern zum Arbeiten hier. Die Ankunft von David Scott verzögert sich leider noch weiter, und wir brauchen jemanden, der sie auf ihren Exkursionen begleitet.“

„Und?“ Noch verstand Leandro nicht, was er damit zu tun haben sollte.

„Das Boot könnten Sie steuern, ohne Frage. Aber zunächst steht eine Exkursion in die Berge auf dem Programm“, sprach Alba Fuentes wie selbstverständlich weiter. „Weil das aber eigentlich nicht in Ihren Arbeitsbereich gehört, wollte ich erst einmal unter vier Augen mit Ihnen reden.“

„Moment!“ Er hob abwehrend die Arme. „Sagten Sie, ich soll Samantha Palmer auf dem Boot begleiten?“

„Warum nicht? Ich habe die Situation doch eben erklärt. Sonst würde David natürlich mit an Bord gehen, so war es geplant. Aber es gibt noch ein Problem. Uns fehlt auch ein Fahrer.“

„Wieso, was ist mit Miguel?“, fragte Leandro. Miguel war als Chauffeur bei der Stiftung angestellt, und Leandro mochte den drahtigen Spanier. Miguel hatte Blanca tüchtig den Kopf verdreht. Oder sie ihm. Jedenfalls beobachtete er das Techtelmechtel zwischen den beiden amüsiert.

Alba Fuentes machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich habe ihm ein paar Tage freigegeben. Da wusste ich natürlich noch nicht, dass Samantha allein kommen würde. Sonst hätte natürlich ebenso David den Jeep gefahren, keine Frage. Für all das aber kann unser im Moment einziger Gast nichts. Ich muss eine Lösung finden, und da dachte ich eben an Sie!“ Nun sah die Leiterin ihn unverwandt an.

Doch eines begriff er ganz und gar nicht. „Warum heuern Sie für die Exkursionen mit Ms. Palmer nicht einen ortskundigen Guide an?“, fragte er.

Die Leiterin sah ihm ernst in die Augen, dann blickte sie auf ihre im Schoß gefalteten Hände. „Der Stiftung geht es in diesem Sommer finanziell nicht so gut wie sonst. Wir müssen sparen. Reicht das als Erklärung?“

Nein! wollte Leandro rufen, denn in ihm brannte eine Frage: Was war mit der Spende passiert, die er vor wenigen Wochen veranlasst hatte? Mehrere hunderttausend Euro! Genau gesagt eine halbe Million. Darum hatte Catalina ihn einst gebeten: Wenn er mit seinem Reichtum etwas Gutes tun wollte, dann sollte er Geld spenden. Weil er aus Buenos Aires mehr oder weniger geflüchtet war und in Catalinas Nähe sein wollte, war er zur Stiftung gekommen. Als er vor drei Monaten hier zu arbeiten begonnen hatte, war das defekte Exkursionsboot ein großes Thema gewesen. Er hatte geglaubt, mit seinem Geld würde ein neues Boot angeschafft, doch nichts war passiert. Dann hatte er die Yacht doch noch eigenhändig reparieren können, schließlich war er in technischen Dingen ein Profi. Seitdem durfte er auch seine Freizeit auf dem Boot verbringen. Alles schön und gut – aber nun konnte nicht einmal ein Guide bezahlt werden?

Señora Fuentes sah ihn wieder an. „Gibt es ein Problem?“, fragte sie.

Er versuchte, sich nichts von dem inneren Aufruhr anmerken zu lassen. Das alles passte ihm überhaupt nicht. Abgesehen von der Frage, was mit der Spende passiert war, hatte er nicht die geringste Lust, Samantha als Skipper und Fahrer über die Insel zu chauffieren. Zudem wollte er kein Risiko eingehen, dass ihn irgendjemandem erkannte. Die Abmachung mit der Stiftung lautete, Arbeiten auf dem Grundstück und am Boot zu verrichten – sonst nichts! Doch wie sollte er ein Nein begründen?

„Es ist eine Notlage, die sich entspannen wird, sobald David und Miguel wieder da sind“, sagte die Leiterin und stand auf, als wäre alles beschlossene Sache. „Könnten Sie also nachher oben im Büro den Autoschlüssel holen?“

Leandro nickte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als mitzuspielen, und er erhob sich ebenso. „Natürlich“, erklärte er tonlos.

Jetzt lächelte Alba Fuentes wieder und streckte ihm die Hand entgegen: „Danke. Ich sage Ms. Palmer Bescheid. In zwei Stunden oben auf dem Parkplatz.“ Dann ging sie mit schnellen Schritten davon.

Er sah ihr nach und fluchte innerlich. Diese verflixte Spende! Er hatte großen Wert darauf gelegt, dass niemand Rückschlüsse auf den anonymen Spender ziehen konnte. Wenn er Ramiro um Hilfe bitten sollte – denn sein Bruder war ein ausgesprochen guter Anwalt –, würde der sich mit Sicherheit über ihn lustig machen: Mein gewissenhafter Zwillingsbruder – mein schlechtes Gewissen! Damit hatte er ihn immer geneckt, weil sie so verschieden waren. Als kleiner Junge hatte Leandro die Käfer gerettet, Ramiro hatte ihnen ein Bein ausgerissen. Auch war Leandro nicht immer mit der Firmenpolitik von Los Hermanos Dominguez einverstanden gewesen. Natürlich arbeitete ein Mineralölunternehmen profitorientiert, aber man konnte dennoch auf umweltfreundliche Standards achten. Er jedenfalls hatte sich stets lieber mit technischen Dingen auseinandergesetzt als mit den Bilanzen.

Grübelnd ging er ins Haus. Er musste dringend herausfinden, was mit seinem Geld passiert war. Es war ausdrücklich für die Stiftung auf Mallorca bestimmt gewesen. Die Nichtanschaffung des Exkursionsboots, die unbelegten Zimmer hier auf der Finca und eine derart leere Kasse, dass er als Fahrer und Skipper einspringen musste … Irgendetwas stimmte hier nicht. Doch wie kam er an die richtigen Informationen, ohne seine wahre Identität preiszugeben? Wenig später schon hatte er eine Idee.

Er verließ das Haus, um Blanca, seine heimliche Verwandte, zu treffen. Sie war die Enkelin seiner Großtante. Vor vielen Jahren war der Kontakt wegen eines Streits zu diesem Familienzweig abgebrochen. Leandro hatte bislang gedacht, es gäbe auf der Insel keine Nachfahren mehr, aber Blanca kam während der Sommermonate vom Festland zum Arbeiten hierher. Auch wenn sie von seiner Identität erst einmal nichts erfahren würde, zählte er auf ihre Hilfe. Entschlossen ging er auf ihr Häuschen zu. In diesem Moment war er sogar froh, sich zunächst um diese wichtigen Dinge kümmern zu müssen. Denn der Gedanke an die bevorstehende Exkursion mit Samantha machte ihn nervöser, als er sich eingestehen wollte.

Ausgerechnet Leandro Salafino! Samantha verschlug es fast die Sprache. Den ganzen Tag zuvor war sie im kühlen Haus geblieben. In ihrem Zimmer, das hübsch eingerichtet und geräumig war, hatte sie versucht, sich in die Projekte einzulesen, die sie hier auf der Insel betreuen würde. Doch das gelang ihr mehr schlecht als recht. Die Begegnung mit dem attraktiven Angestellten hatte sie viel zu sehr durcheinandergebracht. Deswegen hatte sie sich vorgenommen, ihm erst einmal aus dem Weg zu gehen. Beinahe hätte sie sich in seine Arme geworfen! Etwas an der Situation erinnerte sie viel zu sehr an die Sache mit Joaquín …

„Ms. Palmer? Sind Sie noch da?“

„Ja, sicher“, fand Samantha mühsam die Sprache wieder. „Aber gibt es denn keine andere Möglichkeit?“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Alba Fuentes irritiert. „Sie selbst haben doch darum gebeten, sofort mit den Exkursionen beginnen zu können. Oder gibt es Neuigkeiten von Mr. Scott? Wann kommt er?“

„Nein – ja“, konnte Samantha nur antworten. Wann David hier ankam, stand noch in den Sternen, und ja, sie hatte auf eine Lösung gedrängt! Nicht im Traum jedoch hatte sie daran gedacht, dass die Leiterin ihr ausgerechnet Leandro an die Seite stellen würde. Plötzlich regte sich ein Verdacht: Hatte Leandro dabei selbst die Finger im Spiel? Vielleicht hatte er seine Hilfe ja aufgedrängt. Was, wenn er eine Möglichkeit suchte, mit ihr allein zu sein? „Es war aber nicht meine Absicht, Ihnen hier die Arbeiter streitig oder sonst irgendwelche Umstände zu machen“, sagte sie schließlich. Es war ein kläglicher Versuch, die Situation abzuwenden.

„Das lassen Sie ruhig meine Sache sein“, entgegnete die Stiftungsleiterin freundlich, aber bestimmt. „Bis zum Kloster ist es zwar ein kleines Stück, aber wenn Sie vor Mittag losfahren, sind Sie abends wieder zurück.“

„Danke“, murmelte Samantha. Dann legte sie auf und starrte eine Weile auf das Display ihres Telefons. Ein seltsam beunruhigender Gedanke überkam sie: Was, wenn Leandro dachte, sie hätte es vielleicht auf eine gemeinsame Fahrt angelegt?

Sie sprang auf. Diese absurde Annahme, auch wenn sie von der Wahrheit unendlich weit entfernt war, machte sie nervös, und sie fühlte sich geradezu ertappt. Sie wollte mit Leandro sprechen, bevor sie mit ihm aufbrechen würde. Sie wollte herausfinden, ob eine ihrer Vermutungen zutraf.

Zielstrebig ging sie zum Wasser hinunter und hielt dabei nach ihm Ausschau. Ein heißer Tag stand bevor, zum Glück würde es in der Serra de Tramuntana, dem Hauptgebirge Mallorcas, etwas kühler sein.

Die Yacht lag verlassen am Steg. Dann war er vielleicht in seiner Unterkunft. Sie hatte schon immer von einem eigenen Haus geträumt, und wenn es so klein war wie diese Hütten hier. Auf einmal packte sie die Neugier. Diese starke Emotion war stets ihr Antrieb gewesen, um nach vorne zu schauen, weiterzugehen, etwas zu wagen. Nicht umsonst war sie Biologin und Forscherin geworden.

Das Häuschen, das am dichtesten zum Wasser lag und alleine stand, war marineblau. Samantha blieb vor der kleinen Veranda stehen und rief: „Hallo?“

Die Tür war nur angelehnt. „Hallo!“, rief sie noch einmal, diesmal lauter. Keine Reaktion. Erst wollte sie nachsehen, aber dann entschied sie doch, weiterzugehen. Hinter dem Pinienwäldchen standen drei weitere Häuschen: ein gelbes, ein grünes und ein hellrotes. Auf dem Weg dorthin traf Samantha einen der Gärtner, die hier beschäftigt waren. Neben der großen Rasenfläche gab es hinter dem Hauptgebäude noch einen Garten mit Blumen, Kräutern und Gemüse, der ständig gewässert und gepflegt werden musste. Doch sonst war nirgends jemand zu sehen.

Samantha kam zu dem hellroten Häuschen, und auch hier war die Tür nur angelehnt. Ein Mann und eine Frau unterhielten sich darin halblaut. Samantha erkannte nach nur wenigen Sekunden Leandros tiefe Stimme und blieb stehen. Sollte sie einfach nach ihm rufen? Doch offenbar war er gerade beschäftigt, und sie selbst wollte keine Zeugen für das, was sie ihm zu sagen hatte … eben weil sie ihm gar nichts zu sagen hatte! Sie wollte nur herausfinden, wie er auf ihr Erscheinen reagierte. An seinem Verhalten würde sie ablesen können, ob er es darauf anlegte, mit ihr zu flirten. Mehr noch interessierte sie aber in diesem Moment, wer die Frau war, mit der er sich so angeregt unterhielt. Ihr Forscherinstinkt trieb sie mit leisen Schritten hinter das Haus. Und tatsächlich: Dort gab es ein Fenster, das sogar ein wenig offenstand. Samantha sah sich um, dann schlich sie sich heran. Sie drückte sich an die Hauswand, kam mit dem Kopf bis zum Fenster und spähte hinein. Sofort erkannte sie das hübsche Hausmädchen, das ihr schon vorgestellt worden war. Wenn ihr irgendetwas fehle, so könnte sie sich an Blanca Dominguez wenden, hatte Señora Fuentes ihr gesagt. War die junge Frau womöglich Leandros Geliebte? Die beiden beugten jedenfalls ihre Köpfe am Tisch so weit zueinander, dass sie sich fast berührten. Nun flüsterten sie. Wahrscheinlich tauschten sie gerade Zärtlichkeiten miteinander aus. Dann gingen ihre Köpfe auseinander, er legte irgendetwas auf den Tisch, Blanca stieß einen erstaunten Laut aus, und er zog sie wieder zu sich, um ihr etwas ins Ohr zu raunen. Doch selbst wenn sie lauter reden würden, so hätte Samantha kein Wort verstanden, denn sie sprachen Spanisch. Aber das Liebesgeflüster der beiden ging sie auch nichts an! Jetzt umarmte Blanca ihn …

Leise zog Samantha sich zurück, verschwand zwischen den Pinien und kam wieder zum Hauptweg. Sie ärgerte sich über sich selbst – sie war tatsächlich ein wenig eifersüchtig! Doch sie musste froh sein, dass sie nun Bescheid wusste. Sollte Mr. Salafino versuchen, mit ihr zu flirten, dann biss er auf Granit. Sie würde ihn nur als das sehen, was er war: ihr Fahrer. Sie würde ihn höflich behandeln, nicht mehr und nicht weniger. Nie wieder, das hatte sie sich geschworen, würde sie sich wegen einer romantischen Anwandlung von ihrer Arbeit ablenken lassen. Geschweige denn, dass sie sich in der nächsten Zeit nochmals das Herz rauben ließ!

Im Spiegel erkannte sich Leandro selbst kaum wieder. Er trug die dunkelste Sonnenbrille, die er besaß, und einen hellen Strohhut, den er hier auf der Insel günstig erstanden hatte. Seine Haare waren gewachsen und fielen ihm in die Stirn. Er war voll und ganz mit seiner Rolle verschmolzen: ein schweigsamer Fahrer.

Als Samantha zu ihm ins Auto gestiegen war, hatte sie ihn nur knapp begrüßt. Sie machte nicht die geringste Bemerkung zu ihrer Begegnung im Garten, als sie ihn fast umgerannt und Tränen in den Augen gehabt hatte. Heute trug auch sie eine dunkle Sonnenbrille. Erst hatte er versucht, mit ihr zu plaudern, aber sie war kaum darauf eingegangen. Sie hatte sich, ohne zu fragen, direkt auf die Rückbank des Wagens gesetzt. Ob sie es gewohnt war, mit einem Chauffeur zu fahren? Er konnte nur Vermutungen anstellen. Äußerlich gab sie sich als natürliche Schönheit. Er wusste, dass sie von einer Universität in London kam, und sie wirkte äußerst feinsinnig. Gern hätte er mehr über sie erfahren, doch mit einem Eisschrank zu reden, war nicht sehr unterhaltsam.

Also schwiegen sie. Schon über eine Stunde lang. Wenn er in den Rückspiegel blickte, war Samantha entweder mit ihrem Telefon beschäftigt, sah aus dem Fenster oder – er wusste es nicht sicher – auch zu ihm? Ihre Brille schützte ihr Gesicht so perfekt, wie die seine es bei ihm tat. Und im Grunde war alles gut, wie es war. Zwar übte Samantha einen gewissen Reiz auf ihn aus, und als Leandro Dominguez, der er eigentlich war, hätte er die Engländerin im Sturm erobert. Doch seit Catalina hatte ihn keine Frau mehr richtig interessiert, und Catalina war die erste und einzige Frau gewesen, die er wirklich und leidenschaftlich geliebt hatte. Natürlich hatte es vor ihr auch schon Frauen gegeben. Als reicher Junggeselle hatte er sich seine Gespielinnen meistens aussuchen können. Aber er war vom oberflächlichen Leben des Jet-Sets auch gelangweilt gewesen. Catalina hatte Feuer und Wahrheit in sein Dasein gebracht. Keine reichte an sie heran!

Nun waren es nur noch wenige Kilometer, und sie fuhren die engen, kurvigen Bergstraßen der Tramuntana entlang. Immer wieder eröffneten sich dabei Aussichten auf die hohen Berge oder tiefe Schluchten. Das letzte Mal war er mit seiner Mutter und seinem Bruder als Teenager in dem Heiligtum und Kloster Santuari de Lluc gewesen, das im dreizehnten Jahrhundert gegründet wurde und heute ein beliebter Wallfahrtsort war. Sie waren auch auf den „Hügel der Geheimnisse“ hinter dem Kloster zu dem riesigen metallenen Kreuz gegangen. Von dort oben bot sich ein fantastischer Blick auf das Tal und die Berge. Dort oben hatte er heimlich dafür gebetet, dass seine Mutter wieder gesund werden würde …

Die ganze Fahrt über hing er seinen Gedanken nach, mal melancholisch, mal überaus konzentriert, wenn er an die Spendengeschichte dachte. Zum Glück würde Blanca gegen eine kleine Summe Geld versuchen, aus José Fortuna etwas mehr über die Finanzlage der Stiftung herauszukitzeln. Blanca hatte zwar keinen hohen Universitätsabschluss, aber sie war keineswegs dumm. Als er mit ihr in ihrem Häuschen zusammengesessen hatte, hatte sie natürlich gefragt: „Warum eigentlich will ein ganz normaler Angestellter wie du das alles wissen?“

Da hatte er einen Fünfhundert-Euro-Schein auf den Tisch gelegt. „Für das Geld, das du bekommst, erwarte ich Informationen und keine Fragen“, hatte er ihr zugeraunt. „Und Diskretion, ist das klar?“

Sie hatte gegrinst und genickt – und ihn sogar kurz umarmt!

Hinter ihm hörte er Samantha husten. Bei einem Blick in den Rückspiegel bemerkte Leandro nun, dass es ihr nicht gut zu gehen schien. Sofort fragte er: „Alles in Ordnung?“

„Sind wir bald da?“, fragte sie zurück.

„Ja, nur noch ein paar Minuten.“

„Vielleicht könnten Sie die Klimaanlage ausstellen? Es ist ziemlich kalt.“

Er bemerkte, dass sie sich ein Tuch um den Hals geschlungen hatte. „Warum sagen Sie denn nichts?“, fragte er und stellte die Anlage sofort aus. Tatsächlich war es im Wagen fast schon eisig.

„Sie sind doch der Fahrer“, erwiderte sie.

Die Antwort überraschte ihn, und er lachte leise. Sie jedoch blieb völlig ernst.

„Endlich da!“, seufzte Samantha dann, als die ersten Hinweisschilder zu den Parkplätzen des Klosters am Wegrand erschienen.

In diesem Moment verwünschte Leandro seinen angeborenen Stolz. Offenbar konnte es die Engländerin nicht erwarten, endlich auszusteigen und ihn allein zu lassen. Andererseits würde er sie keinesfalls begleiten wollen, falls sie das von ihm verlangte. Er fuhr zur Schranke, zog ein Parkticket und fand zwischen den vielen Autos einen Parkplatz am schattigen Rand.

Samantha sprang aus dem Wagen und lief zur Fahrerseite. Durchs offene Fenster hindurch sah sie ihn an. „Ich werde mich hier eine Weile im botanischen Garten aufhalten“, sagte sie und setzte ihren Hut auf, mit dem sie frech und sexy zugleich aussah. „Und Sie …?“

„Ich werde mich hier köstlich amüsieren“, sagte er ironisch. Das war sicherlich nicht das, was Fahrer so sagten, aber warum fragte sie so etwas auch?

Da biss sie sich auf die Lippe, drehte sich um und ging davon. Er zuckte mit den Schultern, als könnte sie es noch sehen. Heute trug sie eine praktische Hose, und selbst in diesem lässigen Outfit kam ihre reizvolle Figur bestens zum Ausdruck. Er ließ sie nicht aus den Augen – sollte sie seine Blicke ruhig spüren! Denn je kühler sie sich gab, desto größer wurde der Reiz. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er seine Fantasie noch ausgebremst. Nun dachte er anders, und er hatte seinen Stolz. Wenn er sich Samantha schon unterordnen musste, dann würde er sie auch irgendwann verführen. Seit Catalinas Tod vor einem Jahr hatte er keine Frau mehr begehrt. Doch nun war alles nur noch eine Frage des richtigen Zeitpunkts.

Es dämmerte schon, als Samantha zurückkam. Leandro hatte nur einen kurzen Spaziergang durch die Anlage gemacht, die aus einer hübschen Wallfahrtskirche, einer Herberge, einem Museum und weiteren steinernen Gebäuden bestand, in denen sogar ein Gymnasium mit einem berühmten Knabenchor untergebracht war. Es gab auch ein Café, Restaurants und einen Souvenirshop sowie einen Garten mit verschlungenen Pfaden. Nachdem er alles gesehen hatte, war er zum Wagen zurückgekehrt und hatte den Rest der Zeit auf dem Parkplatz verbracht. Mit jeder Stunde, die verstrich, war er zunehmend wütend geworden. Am Abend hatten sie eigentlich schon wieder auf der Finca sein wollen. Offenbar aber hatte Samantha ihn hier einfach vergessen!

Leandro hatte die Fahrertür geöffnet und den Sitz etwas zurückgeklappt. Der Parkplatz hatte sich geleert, die Busse und viele der Tagestouristen waren fort. Als die Engländerin an seine Seite trat, rührte er sich nicht.

„Hallo“, sagte sie nur.

Dann erklang von oben noch eine andere, tiefe Stimme: „Buenas tardes, guten Abend!“

Erstaunt sah er auf. Neben Samantha stand offenbar einer der Patres, einer der im Kloster lebenden Ordenspriester. Etwas alarmiert stieg er aus. Gab es ein Problem?

„Es tut mir leid, ich habe die Zeit vergessen“, begann Samantha. „Und deswegen … also … wollte ich …“

Leandro runzelte die Stirn und sah von ihr zu dem Ordensmann. Dieser nickte ihm zu und sagte: „Ms. Palmer hat mich gebeten, die Dringlichkeit ihres Anliegens zu vertreten.“

Samantha trat nun unruhig von einem Bein aufs andere.

„Ich könnte Ms. Palmer sehr früh am Morgen zu einem Spaziergang rund um die Klosteranlage begleiten“, fuhr der Pater fort. „Später am Tag geht es leider nicht, und auch sonst machen wir eine solche spontane Ausnahme nur selten. Es ist allerdings ein Wunder, dass es noch ein freies Zimmer gibt! Also ist es wohl Gottes Wille. Sicherlich werden Sie die Lage verstehen und Ms. Palmer nicht in … Bedrängnis bringen.“

Die letzten beiden Worte sprach der Pater behutsam, aber auch deutlich aus. In Bedrängnis bringen? Leandro dämmerte, was gemeint war, doch er konnte es nicht glauben. „Ich soll mit Ms. Palmer hier in einem Zimmer übernachten?“, fragte er fassungslos.

Samantha räusperte sich. „Ein Bett und ein Sofa“, sagte sie mit fester Stimme.

Er lachte trocken auf. „So ein Unsinn! Ich fahre zurück zur Stiftung, und ich hole Sie morgen wieder ab. Wann soll ich wieder hier sein?“

Der Ordensdiener lächelte. „Die Wege, die wir morgen begehen werden, sind nicht ganz ungefährlich. Ms. Palmer braucht eine Begleitperson – oder der Spaziergang kann nicht stattfinden“, sagte er.

Stille senkte sich über sie, als er nicht gleich die passende Antwort fand. Der Pater hatte die Hände vor dem Bauch gefaltet und ließ seinen Blick zwischen ihm und der Engländerin hin- und herwandern. „Nun?“

Leandro straffte sich. Während des stundenlangen Wartens hatte er daran gedacht, wie es wäre, Samantha an einem abgelegenen Ort zu verführen. Doch nun sollte er mit ihr die Nacht in einer Klosterzelle verbringen – das war absurd! Keinesfalls würde er begeistert zustimmen. Schon gar nicht, wenn Samantha nicht das wichtigste Wort überhaupt einfiel, das zu sagen war. Ihr Begleiter wippte nun mit den Füßen auf und ab.

Endlich fiel es ihr ein: „Bitte, Mr. Salafino!“, sagte Samantha nachdrücklich.

Nun konnte er kaum mehr Nein sagen, es wäre lächerlich. Er nickte.

Sichtlich erleichtert sagte der Pater: „Vielleicht mögen Sie ja in einem der Restaurants etwas essen gehen? Ich lasse noch eben das Zimmer entsprechend herrichten. Dann sehe ich Sie morgen früh! Ich habe es leider etwas eilig. Buenas noches!“ Schnellen Schrittes ging er davon.

Samantha holte schnell ihre Tasche aus dem Wagen. Leandro hingegen hatte nichts weiter dabei als die Sachen, die er am Leib trug. So also wurde man als Angestellter und Diener behandelt. Offenbar machte sich auch die Engländerin über sein Wohlbefinden keinerlei Gedanken.

Doch dann kam sie zu ihm und sagte: „Danke, vielen Dank. Es ist mir sehr wichtig … für meine Arbeit.“ Ihre Augen schimmerten im Dämmerlicht.

Er schloss den Wagen ab. „Warum haben Sie mich ohne ein Wort so lange warten lassen?“, fragte er. „Und jetzt diese Übernachtung?“

„Es tut mir leid“, antwortete sie leise. „Ich bin es nicht gewohnt, dass ein Chauffeur auf mich wartet.“

„Nein?“

„Nein. Ich glaube, ich habe mich nicht korrekt verhalten.“

Er atmete tief durch und war etwas versöhnlicher gestimmt. Als sie losliefen, musste er sogar ein wenig schmunzeln. Es war also Gottes Wille, dass er diese Nacht mit Samantha verbringen sollte? Nun, das war nett gemeint. Doch wann und wo er die Engländerin verführen würde, das war allein seine Sache. Sein Begehren wuchs mit jeder Stunde.

3. KAPITEL

Die Stimmung war magisch, als sie auf das Kloster zugingen. Die hellen Mauern schimmerten im Zwielicht. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Die gespeicherte Hitze des Tages stieg vom Boden auf, die Luft um sie herum war noch angenehm warm. Im Eingangsbereich plätscherte friedlich ein Brunnen, irgendwo schrie ein Nachtvogel. Eine leichte Brise kam auf und verbreitete einen würzigen Duft. Da das Kloster auch Besucher beherbergte, war hier und da noch etwas Betrieb. Gleichzeitig senkte sich die Nacht wie ein Schleier über die Szenerie.

Die Anlage hinter den Klostermauern hatte einen großen steinernen Innenhof, um den die Gebäude gruppiert waren. Nur kurz hatte sich Samantha die Kapelle mit der hier verehrten heiligen Madonna angesehen. Die meiste Zeit hatte sie in dem zauberhaften botanischen Garten verbracht.

Sie waren stehen geblieben. „Also dann – ich lade Sie zum Essen ein“, sagte Samantha und versuchte, entspannt zu klingen. „Geld spielt keine Rolle.“ Wenigstens das stimmte in diesem Fall: Der Forschungsaufenthalt beinhaltete genügend Spesen.

„Warum nicht“, entgegnete Leandro nur.

Schweigend gingen sie zu einem der Restaurants beim Hauptgebäude und traten ein. Dicke Steinmauern und Rundbögen dominierten den großen Raum, und fast alle Plätze waren belegt. Doch dann hatte Gott wohl ein Einsehen, und sie bekamen einen perfekt gelegenen Tisch, auf dem bereits eine Kerze brannte.

Sie blätterten in der Speisekarte. Leandro bestellte Wasser und ein einfaches Gericht. Sie tat es ihm gleich, obwohl sie einen leichten Stich spürte. Kurz hatte sie sich vorgestellt, es könnte vielleicht ein romantischer Abend werden mit Wein und gutem Essen und … Halt! Das hier war kein Urlaub, und ihr gegenüber saß auch nicht Joaquín. In Leandro schien sie sich jedenfalls getäuscht zu haben. Er versuchte nicht im Geringsten, mit ihr zu flirten. Im gedämpften Licht und mit ernster Miene sah er geheimnisvoller aus denn je. Eine Haarsträhne fiel in sein Gesicht. Samantha wurde langsam nervös und suchte krampfhaft nach einem Gesprächsthema.

Doch er kam ihr zuvor: „Wir müssen uns nicht unterhalten. Jeder tut nur seinen Job, nicht wahr?“

Sie schüttelte den Kopf. „Aber ich möchte mich nochmals für die Umstände entschuldigen. Eigentlich sollte mein Kollege David Scott …“

Er hob abwehrend die Hand. „Ich weiß. Schon gut. Wir werden das überstehen.“

Etwas in Samanthas Innerem stockte. Überstehen? Leandros abweisendes Verhalten erinnerte sie daran, wie weh die Liebe tun konnte – oder die Sehnsucht danach. Nicht, dass sie dabei war, sich zu verlieben, das würde keinesfalls passieren. Doch gerade jetzt dachte sie immer wieder an Joaquín. Wahrscheinlich, weil sie seit der schmerzhaften Episode mit ihm jede Art von Abendessen in Restaurants gemieden hatte. Mit Joaquín hatte sie in den edelsten Lokalen diniert, er hatte sie in die Welt des Luxus eingeführt, und sie hatte es zunächst in vollen Zügen genossen. Dann folgten die Liebesnächte auf der Yacht und in den Suiten teurer Hotels. Fast ihr ganzer Urlaub im Frühling war wie im Rausch vergangen, bis sie nach London zurückmusste, dann aber halb krank vor Liebeskummer überraschend zu ihm gereist war … Wie gut, dass sie nun mit ihren aufbrechenden Sehnsüchten in einem Kloster gelandet war! Sie lachte unwillkürlich auf. Aber es war kein fröhliches Lachen.

Leandro nahm einen Schluck Wasser. „Was ist so lustig? Dass niemand von uns etwas sagt? Also gut. Erzählen Sie doch mal, was Sie hier eigentlich tun, Ms. Palmer“, forderte er sie auf.

Samantha entspannte sich etwas. Vielleicht kam ja nun doch ein normales Gespräch in Gang, denn sonst würde sie keinen Bissen herunterbringen. „Ich habe meinen Forschungsbesuch schon vor Wochen im Kloster angemeldet. In dem wunderschönen Klostergarten wachsen seltene typisch balearische Pflanzen, die mich als Biologin interessieren. Der Garten hier galt als der erste botanische Garten der ganzen Insel, und er ist über sechzig Jahre alt. Der Pater, den Sie kennengelernt haben, betreut ihn schon seit vielen Jahren. Immer schon kamen viele Forscher und Studenten deswegen hierher. Bewachsene Amphoren, überwucherte Holzstämme, kleine Tümpel mit Schlingpflanzen und Fischen, eine verwunschene Oase. Nur leider nicht in voller Blüte zu dieser Jahreszeit.“ Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus, wie so oft, wenn es um ihre Arbeit ging.

Leandro hörte aufmerksam zu, und seine Augen schienen mehr und mehr diese hellen Funken zu sprühen, die sie schon bei der ersten Begegnung mit ihm fasziniert hatten. Ob er ihre Begeisterung verstand? Als sie Atem holte, fragte er: „Und morgen haben Sie noch eine Führung?“

Sie lehnte sich zurück und hob die Hände, um zu zeigen, dass sie für den Lauf der Dinge nicht viel konnte. „Morgen zum Sonnenaufgang zeigt mir der Pater etwas ganz Besonderes. Er ist ein wandelndes Pflanzenlexikon, und er hat auch noch eine weitere endemische Pflanzenart unweit des Klosters entdeckt!“ Sie hielt kurz inne. „Nun ja … ‚endemisch‘ meint, dass diese Spezies nur hier und zwar ausschließlich hier in dieser Umgebung vorkommt“, erklärte sie, weil diesen wissenschaftlichen Ausdruck nicht unbedingt jeder kannte.

„Danke. Ich weiß, was das heißt“, antwortete Leandro etwas pikiert.

„Gut“, sprach sie schnell weiter. „Ich jedenfalls möchte erforschen, wie sich diese endemischen Arten dem Klimawandel anpassen. Was wir dafür tun können, um sie zu schützen. Dafür würde ich alles geben!“ Plötzlich blickte Leandro sie wieder wie versteinert an. Nein, wahrscheinlich konnte er ihren Enthusiasmus doch nicht nachvollziehen. „Wenn ich morgen nicht mitgehe, muss ich vielleicht wochenlang auf diese besondere Führung warten …“

Die Teller mit ihren Gerichten wurden gebracht. Beide hatten sie nur eine einfache spanische Tortilla und etwas Salat bestellt. Leandros Interesse schien verebbt, und sie aßen schweigend. Einmal fragte sie: „Und was tun Sie, wenn Sie nicht bei der Stiftung arbeiten?“

„Muss ich darüber sprechen?“, entgegnete er da nur. In seinen Augen entdeckte sie einen aufflackernden Schmerz. Der Gesichtsausdruck verschwand aber so schnell, als wäre nur ein Schatten vorbeigehuscht.

Wenig später verließen sie das Lokal. Keiner von ihnen hatte ein Dessert oder einen Kaffee bestellt. Das war das kürzeste Abendessen, dass sie je mit einem attraktiven Mann erlebt hatte! Und jetzt … mussten sie wohl auf das Zimmer gehen. Samantha wurde wieder nervös. Nun, sie würde am besten gleich vortäuschen, sehr müde zu sein, und hoffentlich bald einschlafen können.

Kaum waren sie ein paar Schritte gegangen, als Leandro in dem großen Innenhof stehen blieb und sie am Arm fasste. „Samantha!“ Sie folgte seinem Blick nach oben und stieß einen überraschten Laut aus. Der Himmel war beinahe schwarz, und die Sterne blitzten strahlend hell herab. Sie sah gerade noch den Rest eines großen Kometenschweifs verblassen. Sofort aber zog eine weitere Sternschnuppe ihre leuchtende Bahn über den Himmel. Und noch eine!

Immer noch spürte sie Leandros Hand an ihrem Arm, während sie beide nach oben sahen. „Drei Wünsche auf einmal“, murmelte er. „Les llàgrimes de Sant Llorenç.“

„Wie bitte?“, fragte sie.

„Die Nächte der Perseiden. Ein Meteorstrom, der in der ersten Augusthälfte zu sehen ist. Der Namenstag des Heiligen Laurentius fällt in diese Zeit, und die Nacht weint dann die sogenannten Laurentiustränen um den Märtyrer.“

Nun sah er sie an, stand wieder so nah vor ihr wie im Garten der Stiftung, als sie fast direkt in seine Arme gelaufen war. Sie hörte seinen Atem. Spürte die Nähe seines Körpers. Ein Schauer lief über ihren Rücken. Wieder zog etwas Helles über den Himmel, doch sie konnte nicht den Blick von Leandros Gesicht lösen. Er hob die Hand und strich ihr leicht über die Wange. „Drei Wünsche hast du frei“, flüsterte er rau. Dann wandte er sich ab. „Gute Nacht.“

„Aber …“

Er blieb stehen, drehte sich nur noch einmal kurz um. „Dann warte ich morgen früh hier auf dich? Ich werde im Auto schlafen, das ist in Ordnung.“

Sie sah ihm regungslos hinterher, bis die Dunkelheit ihn verschluckt hatte. Immer noch spürte sie ein Prickeln auf der Haut, dort, wo er sie berührt hatte.

Noch eine Sternschnuppe. Samantha starrte in den Himmel. So viele freie Wünsche! Sie schloss kurz die Augen. Da machte es vielleicht nichts aus, wenn der erste davon völlig unsinnig war: Wie gern hätte sie die Nacht in Leandros Armen verbracht!

„Na, wie war die Nacht mit dieser Biologin?“ Grinsend stand Blanca am nächsten Nachmittag auf Leandros Veranda. Er war müde. Die kurze Nacht im Auto war nicht gerade erholsam gewesen. In den frühen Morgenstunden waren sie dann zur Exkursion aufgebrochen. Leandro war mit dem Pater und Samantha mitgelaufen und hatte sich völlig überflüssig gefühlt, weil sie sich die ganze Zeit leise murmelnd über irgendwelche Pflanzen gebeugt hatten. Er hatte danach erst gar nicht versucht, an die romantische Stimmung des vorigen Abends anzuknüpfen. Samantha auch nicht, und die ganze Rückfahrt über hatten sie kaum miteinander gesprochen. Aber es war gut so. Das Spiel von Nähe und Distanz machte den Reiz ja erst aus. Wäre er mit zu ihr ins Zimmer gekommen – es wäre viel zu einfach gewesen. Eine Affäre war für ihn nur interessant, wenn sie ihm nicht in den Schoß fiel. Vielleicht hatte er aber auch einfach schon verlernt, wie das alles funktionierte.

„Ich und Ms. Palmer? Das glaubst du ja wohl selbst nicht“, gab Leandro zurück. „Außerdem würde ich jetzt gerne eine Siesta machen und …“

„Nein. Ich will jetzt mit dir reden.“

Leandro stieß einen leisen Pfiff aus. Sie war ganz schön forsch!

„Ein wenig habe ich schon für dich herausgefunden“, fuhr Blanca fort.

Nun war er kein bisschen mehr müde. „Komm rein“, sagte er, lehnte die Tür aber nur an. Ohne Luftzug war es in dem Häuschen unerträglich.

Sie setzten sich an den Tisch und rückten zusammen. „Was weißt du?“, fragte er leise.

Blanca sah ihm fest ins Gesicht. „Was ist es dir wert?“

Seine Augen verengten sich. „Moment, Moment. Ich habe dir schon Geld gegeben. Meinst du, es wächst auf den Bäumen?“ Doch er hatte so eine Situation schon einkalkuliert und sich diese abweisende Antwort gut überlegt. Er konnte nicht nochmals einen so großen Schein zücken, obwohl er natürlich genug davon besaß. Aber wie er Blanca kannte, würde sie dann immer weiterbohren und herausfinden wollen, wer er wirklich war.

Plötzlich wurde ihr Gesicht weich, und sie sah fast ein wenig hilflos auch. „Ach, ich kann das nicht.“

„Was?“

„Dir etwas vormachen.“

„Also weißt du gar nichts?“

„Doch, schon. Fast eine Stunde habe ich mit dem Buchhalter im Büro geplaudert. Er meinte, es gäbe überraschend wenig Spenden …“

Leandro schnalzte mit der Zunge. Er war auf der richtigen Spur!

„Und bei mir sieht es auch nicht gerade rosig aus“, redete Blanca weiter. Sie seufzte tief. „Es geht dich wirklich nichts an, aber ich kann nicht so tun, als sei ich eiskalt und würde das Geld nur für mich haben wollen.“

Leandro war irritiert. „Was meinst du?“, fragte er.

„Es wird nicht leicht werden, an weitere Informationen zu kommen. Zumal ich überraschend schwanger bin. Von Miguel.“

Er lehnte sich zurück. „Ihr seid doch beide ziemlich verliebt! Freut ihr euch nicht?“ Blanca lächelte. „Verliebt. Ja. Aber wir haben beide nur wenig Geld. Und jetzt, da ich weiß, dass ich mit Miguel eine Familie gründen werde, fällt es mir nicht gerade leicht, mit José zu flirten.“

„Du sollst ja nicht gleich bis zum Äußersten mit ihm gehen!“, entgegnete Leandro etwas ungehalten.

„Das würde ich auch nicht tun. Aber ich muss Miguel von unserem Deal erzählen, er könnte sonst sehr eifersüchtig werden.“

„Hm, hm.“

Nun rückte Blanca dicht an ihn heran. „Ich möchte dich nicht erpressen. Aber wer bist du? Warum willst du das alles wissen? Ist Leandro Salafino überhaupt dein richtiger Name?“

Er versuchte ruhig zu bleiben. „Ich habe dich gebeten, keine Fragen zu stellen!“, sagte er scharf. Doch sofort wurde er wieder milder: „Wir sollten zusammenarbeiten, nicht gegeneinander. Du brauchst Geld, ich Informationen. Ich brauche Belege über den Eingang der Spenden der letzten drei Monate. Wenn du dir was einfallen lässt, gebe ich dir noch mal eintausend Euro. Mindestens.“

Draußen vor der Tür knackte laut ein Zweig, und er sah zum Eingang. War da etwa jemand? Leandro stand auf, spähte durch den Spalt. Dann setzte er sich wieder.

„Natürlich werde ich es versuchen, auch wenn ich noch nicht weiß, wie“, sagte sie und lächelte. „Aber bitte verrate mir ein bisschen mehr über dich. Ich bin einfach zu neugierig. Von Anfang an schon dachte ich, dass du nicht zu uns passt. Du bist manchmal so … fein. Du kommst fast nie mit dazu, wenn wir abends ein bisschen feiern. Du übernachtest allein auf dem Boot. Machst dich an die Biologin ran und …“

„Zwischen Ms. Palmer und mir läuft nichts, hörst du? Ich möchte nicht, dass du irgendwelche Gerüchte verbreitest!“

„Könnte ich nie tun, wenn ich die Wahrheit wüsste.“

Gegen seinen Willen musste er über Blancas Schlagfertigkeit lachen. Und er beschloss, dass sie ein wenig von der Wahrheit vertragen konnte. Wenn er ihr Mitgefühl bekam, würde sie ihm mehr vertrauen, und das würde ihren Deal besiegeln. „Es hat mit Catalina zu tun“, begann er so leise, dass Blanca wieder ganz nah an ihn heranrückte.

„Die hübsche Journalistin, die im vergangenen Jahr bei einem Unfall in Argentinien starb und zuvor eine Weile hier bei uns war?“ Blancas Augen wurden groß.

„Ja. Ich habe sie über alles geliebt. Ihretwegen bin ich hier, aber niemand soll wissen, dass ich sie gekannt habe. Kannst du das für dich behalten?“

Blanca sah ihn mitfühlend an und nickte. Sie legte tröstend eine Hand auf seine Schulter. „Aber hier in der Stiftung ist doch niemand schuld an ihrem Tod?“, fragte sie vorsichtig.

„Nein“, sagte er tonlos. „Und doch bin ich … beauftragt, hier im Geheimen etwas zu recherchieren. Es ist Geld verschwunden, und irgendwie hat das eine mit dem anderen zu tun. Reicht das, damit du mir nun vertraust und niemandem etwas verrätst? Bitte. Es ist wichtig. Ich brauche deine Hilfe, und du brauchst meine. Vergiss das nicht.“

„Ja, versprochen. Du siehst auf einmal so traurig aus, dass ich dir alles glaube.“ Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn flüchtig auf die Wange, bevor sie sein Haus verließ.

Leandro blieb noch lange so sitzen. Catalinas Namen hatte er seit Monaten nicht mehr vor einer anderen Person ausgesprochen. Eigentlich nur vor Ramiro. Schon kamen die Bilder zurück, die schönsten wie die schlimmsten. Catalina eng an ihn geschmiegt, mit den vollen sinnlichen Lippen und ihrer feurigen Art. Dafür würde ich alles geben! Diese Worte fielen ihm plötzlich wieder ein. Auch Samantha hatte sie am Abend zuvor gesagt, als sie über ihren Beruf gesprochen hatten. Das Blut war ihm in den Adern gefroren. Es war derselbe Satz, den Catalina damals ausgesprochen hatte. Sie hatte für ihre Mission, über den Raubbau an der Natur zu recherchieren, alles geben wollen, und sie hatte es getan. Er sah ihren wunderschönen Körper vor sich, ihre im Kerzenlicht golden schimmernde Haut. Und dann: Catalina regungslos auf dem Boden ausgestreckt, weiß wie der Tod …

Leandro barg den Kopf in den Händen. Oft saß er stundenlang so da, starrte ins schwarze Nichts. Doch diesmal erschien ihm aus diesem furchtbaren Nichts eine Gestalt. Die schlanke Figur war von hellem Licht und einem halblangen Sommerkleid umspielt, sie hatte kurze blonde Haare und türkisfarbene Augen. War die Begegnung mit Samantha vielleicht der erste Schritt, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen? Die Engländerin brachte ihn zunehmend zum Grübeln. Je öfter er an sie dachte, desto mehr wusste er eines: Er konnte nicht mehr lange damit warten, sie endlich zu erobern.

Samantha ging den Hügel hinab. Die Sonne war gerade erst aufgegangen. Es war still, und sie war viel zu aufgeregt. Allerdings völlig unnötig. Zwischen ihr und Leandro würde niemals etwas passieren! Weder auf der bevorstehenden Exkursion an diesem Tag noch sonst irgendwann.

Nach der Rückkehr vom Kloster vor drei Tagen war sie nochmals zu seinem Haus gegangen. Die magischen Momente unter dem Sternenhimmel und Leandros zärtlichen Berührungen im Klosterhof waren zu schön gewesen. Doch am nächsten Morgen war er ihr wieder völlig distanziert begegnet. Auch auf der Rückfahrt vom Kloster hatte er kaum ein Wort gesagt und sie wieder mit „Ms. Palmer“ angesprochen. Sein Verhalten verwirrte sie, und sie konnte sich kaum mehr konzentrieren. Irgendetwas musste sich aber ändern, wenn er weiterhin ihr Fahrer und auch Skipper sein würde!

Also hatte sie am Nachmittag nach der Rückkehr durchs Fenster seines marineblauen Häuschens gespäht und gesehen, dass er Besuch hatte. Von Blanca – natürlich. Die beiden schienen sich regelmäßig zu treffen. Sofort war da wieder diese Eifersucht gewesen, gleichzeitig aber auch eine gewisse Erleichterung. Denn seit diesem Zeitpunkt war ihr endgültig klar: Es gab zwischen ihnen beiden nichts zu besprechen! Wenn er noch einmal mit ihr zu flirten versuchte, würde sie es ihm einfach verbieten.

Samantha erreichte das Wasser, wo Leandro bereits am Steg wartete. Warum sah er auch nur so unverschämt attraktiv aus? Diese gebräunten muskulösen Arme, seine sportliche Figur und die stolze Haltung: Er verkörperte die pure, selbstbewusste Männlichkeit, die sie so anziehend fand. Doch zum Teufel damit!

„Guten Morgen“, sagte sie und verbarg das Gesicht ein wenig unter ihrem Hut. Sie wollte sich einzig und allein auf ihre Arbeit konzentrieren. Im Rucksack trug sie alles bei sich, was sie für die Exkursion brauchte: Trinkwasser, Sandwiches, Kamera, Notizbuch, mehrere Stifte, Fernglas, Sonnenschutz, Handtuch … Bikini. Bei diesem Utensil hatte sie gezögert. Denn keinesfalls würde sie mit Leandro gemeinsam schwimmen gehen!„Hi“, sagte er und lächelte sie an. „Ich bin so weit. Du auch, Samantha?“

Sie setzte rasch ihre Sonnenbrille auf, um sich noch geschützter zu fühlen. „Sind wir wieder beim Du?“, fragte sie spitz.

Sein Lächeln wurde schmaler. „Da wir schon ein paarmal hin- und hergewechselt haben, wäre es einfacher, beim Du zu bleiben.“

Du warst das! Du hast mich mal so und mal so behandelt und mich damit absichtlich verwirrt! wollte sie aufbrausend entgegnen. Doch sie schwieg. Eine Auseinandersetzung mit dem Skipper war kein guter Start für eine Bootstour. „Also gut“, sagte sie nur und ging an Bord. Sie spürte, wie Leandro jede ihrer Bewegungen verfolgte. Samantha war stolz auf ihre schlanke Figur, hielt sich durch regelmäßiges Training fit und fühlte sich in ihrem Körper wohl. Das würde sie auch vor Leandro nicht verstecken! Sie trug eine enge Hose und eine dünne Bluse, dazu feste Schuhe und ihren schicken Sonnenhut. Sollte es auf der Fahrt doch kühl werden, hatte sie noch ihren leichten Wollponcho dabei. Über ihr Outfit hatte sie heute übermäßig lange nachgegrübelt …

„Kommst du gut voran?“, fragte Leandro, als sie an Bord waren.

„Ja, danke.“

„Ich habe dich seit unserem Ausflug nirgends gesehen.“

„Ich war beschäftigt.“

Sein Blick ging ihr durch und durch, dann wandte er sich ab. Doch im Moment konnte sie einfach nicht freundlich zu ihm sein – und sie konnte sich vor ihm auch nicht verstecken. Seit sie ihn wieder mit Blanca gesehen hatte, war sie kaum mehr auf der Finca gewesen. Sie hatte das wunderschöne Städtchen Santanyí als Rückzugsort für sich entdeckt, das mit dem Taxi von der Stiftung aus in nur wenigen Minuten zu erreichen war. In einem begrünten Patio in einer Seitenstraße gab es ein kleines Café, in das sich kaum Touristen verirrten, und die Ruhe und Kühle waren wohltuend. Mit ihrem Laptop konnte Samantha zum Glück fast überall auf der Welt arbeiten: Sie war dabei, die unzähligen Fotos spezieller endemischer Pflanzen zu sichten und zu katalogisieren. Aber hin und wieder musste eben auch eine Exkursion stattfinden. Und da sich Davids Ankunft noch weiter verzögern würde … saß sie nun eben mit Leandro in einem Boot.

Interessiert sah sie sich auf der Yacht um. Das Schiff war geräumig, ohne protzig zu wirken. Sie entdeckte ein paar Solarzellen auf dem Dach. Immerhin wurde damit ergänzend Strom generiert. Sie war gegen den unnötigen Gebrauch von Motorbooten, aber für ihre Forschung war es oft unumgänglich. Wenn sie daran dachte, dass sie bei Joaquín all ihre Vorsätze über Bord geworfen und zum reinen Vergnügen mit ihm herumgefahren war …! Je länger ihre gemeinsame Zeit zurücklag, umso weniger konnte sie ihr Verhalten im Nachhinein verstehen. Liebe machte eben blind.

Ein paar Minuten später waren sie auf dem tiefblauen Wasser und nahmen Kurs auf Cabrera, eine der kleineren balearischen Inseln, deren Umrisse vom Süden Mallorcas manchmal gut zu sehen waren. Auf der sogenannten „Ziegeninsel“ hatten die Tiere früher alles kahl gefressen, dennoch galt sie als kleines Naturparadies. Cabrera war ein Eldorado für Forscher, und auch Touristen kamen gerne hierher. Allerdings war die Anzahl der Boote und Besucher, die diesen Teil des Archipels pro Tag ansteuern durften, begrenzt. Das Eiland gehörte zum einzigen Nationalpark der Balearen mit seltenen See- und Raubvögeln, und es war eines der bedeutendsten Meeresschutzgebiete im Mittelmeer.

Schon bald erschien die erste kleine Felseninsel Na Foradada mit ihrem Leuchtturm. Weiter ging es vorbei an bizarren Felsenformationen, die wirkten, als wären sie aus einer anderen Welt, und vor ihnen aus dem Wasser ragten. Majestätisch reckten sich die steilen Klippen der Illa des Conills, der „Kanincheninsel“, in die Höhe, die vor Cabrera lag. Die ganze Zeit schaute Leandro Samantha nicht an, und wenn, dann streifte er sie nur mit einem kurzen Blick. Es war quälend. Eine Weile schloss sie die Augen.

Als Samantha sie wieder öffnete, tauchte gerade der Burgturm des über sechshundert Jahre alten Kastells oberhalb der Hauptinsel Cabrera vor ihr auf. Dann sah sie die geschützte, beinahe kreisrunde Bucht, in der nur wenige Boote lagen. Der Hafen war klein, bestand nur aus einer Handvoll kleiner weißer Häuser, in denen die Fischer, Angestellte des Nationalparks und ein paar Vertreter von Militär und Guardia Civil lebten. Aber auch eine Kapelle, eine kleine Bar und eine Touristeninformation sollte es geben, das hatte Samantha zuvor in ihrem Reiseführer gelesen.

Ein Guide erwartete sie bereits, denn bestimmte Wege durften nur in Begleitung betreten werden. Sie stieg aus, und der Mann kontrollierte Samanthas Genehmigung. Er wollte ihr zeigen, was sie suchte: endemische Pflanzenarten und, mit etwas Glück, auch eine bestimmte Vogelspezies, die ebenfalls nur hier auf der Insel vorkam.

Fragend drehte sie sich zu Leandro um, der mit verschränkten Armen auf der Yacht stand und sie beobachtete. „Möchtest du mitkommen?“ Sie fragte das allerdings nur, um nicht allzu unhöflich zu sein.

„Nein, danke.“

Sie nickte kaum merklich. Nun war er also wieder kalt wie Eis, weil sie ihn gleich am Anfang hatte abblitzen lassen. Wenn sie beide sich fortan wirklich nichts mehr zu sagen hatten, dann käme sie hoffentlich nie wieder auf die Idee, ihm hinterherzuspionieren!

Sie zog den Hut tiefer ins Gesicht und ging los. Wieder spürte sie seine Blicke im Rücken – und drehte sich noch einmal um. Doch sie hatte sich geirrt. Leandro war bereits unter Deck. Die Enttäuschung, die sie darüber empfand, war völlig unangebracht und ärgerte sie maßlos!

Leandro hatte sich auf einen langen, einsamen Tag eingestellt. Zuerst stieg er trotz der zunehmenden Hitze zu der alten Burg hinauf und wurde mit einem umwerfenden Rundumblick über die Insel belohnt. Irgendwo da unten war Samantha. Natürlich hätte er sie gern begleitet – aber nicht mit einem männlichen Guide im Schlepptau! Heute hatte sie sich besonders attraktiv gekleidet, und von unter Deck aus hatte er ihr noch eine Weile hinterhergesehen, als sie losgegangen war. Sie hatte sich nach ihm umgedreht. Er hatte sie schon fast in der Hand. Das Spiel machte ihm zunehmend Spaß.

Auf der Yacht hatte er erst gelesen und dann etwas Schlaf nachgeholt. Gerade griff er wieder nach dem Buch, als er Samantha schon zurückkommen sah. Sie war in Begleitung dieses Mannes, und es war erst früher Mittag. Die beiden blieben in einiger Entfernung stehen, und er hörte Samantha hell lachen. Er horchte auf. Dieses Lachen löste etwas in ihm aus, ohne dass er sagen konnte, was genau es war. Eine Regung tief im Inneren. Plötzlich, aus heiterem Himmel, wurde ihm bewusst, wie kostbar das Leben war. Was für ein wundervoller Tag auf einem wundervollen Flecken Erde! Es war längst an der Zeit, wieder in die Freuden des Lebens einzutauchen. Und er fand es bewundernswert, wie sehr sich Samantha für die Natur interessierte. Als er sah, dass sich Samantha von dem Guide verabschiedete, sprang er auf und ging ihr ein paar Schritte entgegen. „War die Exkursion erfolgreich?“, fragte er.

Ihre Wangen waren gerötet, und ihre Augen schimmerten heute mehr türkis als blau. „Es war fantastisch! Wir haben alles gefunden, was ich gesucht habe. Es ging auch viel schneller, als ich dachte. Wir könnten jetzt also zurückfahren, aber ich habe als Biologin die Sondererlaubnis, noch ein bisschen allein herumzulaufen. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich das gerne tun.“ Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. Sie war wie ausgewechselt.

Leandro betrachtete sie eingehend. Samantha war Feuer und Flamme, wenn sie von ihrer Arbeit sprach. Sie brannte für ihren Beruf! Auch Catalina war bei ihren Recherchen durch nichts zu bremsen gewesen. Zum Glück unterschied sich Samantha äußerlich deutlich von seiner großen Liebe. Er hatte nämlich nicht vor, den Platz in seinem Herzen jetzt schon für Catalinas Nachfolgerin zu räumen, falls es überhaupt je eine geben sollte. Erst einmal musste er wichtigere Dinge in seinem Leben regeln. Aber er sollte die Zeit mit der Engländerin, die sie gezwungenermaßen miteinander verbringen mussten, so sinnvoll wie möglich gestalten. Jede Minute davon, und nicht erst, wenn er mit ihr eine Nacht verbringen würde. Er wollte nochmals dieses helle Lachen hören.

Dann durchfuhr ihn wie ein Blitz die Erinnerung an den unheilvollen Tag, als er Catalina bei ihrer Exkursion in den Regenwald rund um die Ölförderfelder begleitet hatte. Er hatte seine große Liebe beschützen wollen, doch gegen das brutale Schicksal war er machtlos gewesen.

Samantha lächelte ihn an.

„Gibt es hier eigentlich Giftschlangen?“, fragte er, obwohl Samantha auf dieser überschaubaren Insel sicherlich auf sich selbst aufpassen konnte. Sie waren hier schließlich nicht im Dschungel! Aber sein Beschützerinstinkt war geweckt: „Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne mitkommen.“

Einen Augenblick lang blieben Samanthas sinnlich geschwungene Lippen offen stehen, dann fasste sie sich wieder. Er beobachtete sie etwas angespannt. Natürlich glaubte er nicht daran, dass sich so ein Unglück wie mit Catalina in seinem Leben je wiederholen würde. Und genau deswegen führte er es sich vor Augen. Um sich ein Stück weiter von diesen schrecklichen Erinnerungen zu lösen.

Samantha lachte hell auf. „Giftschlangen? Eher nicht!“

Wenig später brachen sie auf, und am liebsten hätte er die Engländerin auf der Stelle an sich gezogen und geküsst. Seinem Ziel jedenfalls war er jetzt zum Greifen nah.

4. KAPITEL

Die Mittagssonne brannte vom Himmel, und es gab auf der Insel kaum Schatten. Auf einmal war es viel zu heiß – Samantha hatte die sengende Hitze in ihrer Begeisterung zuvor einfach ausgeblendet. Nun steuerte sie direkt auf jene Situation zu, die sie unbedingt hatte vermeiden wollen …

Zunächst aber tat sie so, als wäre alles in Ordnung. Ein für die Besucher ausgeschilderter Fußweg führte zwischen dem Meer und der inseltypischen Vegetation aus Wacholder, Ölbaum und Mastixstrauch über das Eiland. Sie zeigte Leandro ein paar Pflanzen, die nur auf den Balearen vorkamen, und der seltene Seeadler flog über sie hinweg. Unzählige Eidechsen huschten als dunkelgrüne Schatten über den Weg. Leandro wirkte interessiert, aber er schwieg die ganze Zeit. Er fragte nur, ob er ihren Rucksack tragen solle, aber sie schüttelte mit dem Kopf. Als sie auf dem staubigen Weg weiterlaufen wollte, fasste er sie leicht am Arm, und sie blieb stehen. Hielt den Atem an.

„Gehen wir uns erfrischen“, sagte Leandro leise, aber bestimmt.

Der Schweiß bildete kleine Perlen auf ihrer Stirn, und sie konnte nur zustimmen. Alles andere wäre lächerlich angesichts dieses strahlenden Hochsommertages im Inselparadies. „Es gibt zwei offizielle Badestrände …“, begann sie, doch Leandro machte eine abwehrende Handbewegung.

„… und viele nicht ausgeschilderte schöne Flecken“, ergänzte er. „Wenn ich schon hier bin, möchte ich die Einsamkeit auch wie Robinson genießen und nicht neben den anderen Besuchern liegen. Komm!“

Ganz selbstverständlich streckte er ihr die Hand hin, doch sie zögerte. „Es ist nicht erlaubt …“

„Ich weiß“, unterbrach er sie wieder. „Aber du hast doch eine Sondergenehmigung, oder nicht?“

Samantha seufzte ergeben, schob aber instinktiv die Hände in die Taschen. Nicht, dass es hier gleich zu Missverständnissen kam!

Leandro quittierte diese Geste mit einem nicht zu deutenden Lächeln und ging einfach los. Ein Stück weiter führte ein kleiner Trampelpfad Richtung Meer. Ob sie es wollte oder nicht, sie musste dem Mann folgen. Schließlich trug sie hier für ihren Begleiter die Verantwortung! Ihr Herz schlug immer schneller.

Der Weg endete an einer kleinen Felsenbucht. Fasziniert beobachtete Samantha, wie geschmeidig Leandro sich bewegte, als er über die Steine lief. Sie blieb stehen. Hier unten waren sie ganz allein. Auf einer Seite ragte ein großer flacher Felsen auf, der bis ins im Sonnenlicht glitzernde Wasser hineinreichte. Leandro hatte die perfekte Badestelle gefunden.

Es dauerte keine Minute, da zog er sich schon aus und stand, nur mit einer schwarzen Badehose bekleidet, auf dem Felsen. Er sah atemberaubend gut aus. Jede Faser seines Körpers war in Topform, und er wusste genau, wie er auf sie wirkte. Langsam drehte Leandro sich zu ihr. Seine gebräunten Muskeln wirkten im grellen Mittagslicht wie in Stein gemeißelt. „Was ist los?“, fragte er. „Willst du ewig dort stehen bleiben?“

„Ich komme gleich“, sagte Samantha schnell und sah sich nach einem geschützten Ort um. Im Gegensatz zu Leandro trug sie ihre Badesachen in dem Rucksack und nicht am Körper. „Ich … bin gleich wieder da.“ Sie lief ein paar Schritte zu einem hoch aufragenden Felsen. Einen Moment lang kauerte sie sich dahinter und vergrub das Gesicht in den Händen. Dann mahnte sie sich zur Ruhe. Sei nicht albern! sagte sie sich. Ein Sprung ins kühlende Wasser, und dann würden sie auch schon wieder aufbrechen. Sie straffte sich, stand auf und tauschte ihre Kleidung gegen einen Bikini. Mutig trat sie hinter dem Felsen hervor und ging wieder zu Leandro.

Er sah ihr entgegen. Seine Augen leuchteten auf, als er ihren Körper mit seinem Blick erfasste – und verbrannte. Es prickelte wie beim ersten Mal, als er sie gemustert hatte. Ein paar Sekunden sahen sie sich gegenseitig an, und sie merkte, wie sich die Härchen auf ihrer Haut aufrichteten. Rasch ging sie zu der Stelle, wo der Felsen ins Wasser hineinreichte. Die Bucht sah ungefährlich aus. In der nächsten Sekunde sprang sie ins Wasser. Sie musste sich dringend abkühlen – und vor Leandro retten! Doch das war nicht so einfach. Schon war er ebenfalls ins Wasser gehechtet, aber sie würde ihn gar nicht weiter beachten.

Das Meerwasser fühlte sich angenehm an, und Samantha schwamm mit ein paar kräftigen Zügen aus der Bucht hinaus. Sie war eine gute Schwimmerin und entfernte sich schnell vom Ufer, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Schließlich legte sie sich auf den Rücken und sah in den azurblauen Himmel über ihr. Endlich wurde sie ganz ruhig. Das passierte immer, wenn sie sich der Natur so nah fühlen konnte. All ihre Gedanken und Sorgen, die sie in ihrem Alltag belasteten, kamen ihr dann klein und lächerlich vor. Sie schloss die Augen und fühlte sich einen Augenblick lang rundherum geborgen.

Wenig später hob sie den Kopf und stellte fest, dass sich Leandro schon auf dem Felsen in der Sonne ausgestreckt hatte. Langsam schwamm sie wieder zurück, und mit jedem Meter, den sie sich dem Felsen näherte, wuchs ihre Aufregung. Verdammt! Sie kletterte aus dem Wasser. Sie würde sich abtrocknen, gleich wieder anziehen und …

„Kommst du zu mir?“, fragte er, als sie an ihm vorbeigehen wollte. Sie blieb stehen. Er sah von unten zu ihr hoch und streckte ihr die Hand entgegen. Fast machte sie das ein wenig wütend. Als wäre all dies hier selbstverständlich! Sie ignorierte seine Hand und setzte sich eine Armlänge entfernt neben ihn auf den warmen Stein. Gleichzeitig ärgerte sie sich über sich selbst, weil sie so wenig souverän war. Was war schon dabei, gemeinsam schwimmen zu gehen?

Leandro lehnte sich nun etwas zurück und stützte sich mit dem Ellbogen auf. Er wirkte völlig entspannt. Das Wasser perlte von seiner Haut ab. Er legte den Kopf schief und grinste sie an. „Deine Haut rötet sich schon. Hast du Sonnencreme dabei?“

Erschrocken legte sie eine Hand an die Schulter, die schon etwas brannte. Tatsächlich hatte sie vergessen, sich einzucremen, und leider war sie ziemlich sonnenempfindlich. „Ich denke, wir sollten gehen“, antwortete sie ausweichend.

Leandro lachte auf. „Was? Wir sind eben erst angekommen! Keine Chance.“

Sie sprang auf. „Wir sind nicht zum Vergnügen hier!“

Ungerührt sah er sie von unten an. „Das sehe ich anders“, sagte er. „Du hast deine Arbeit erfolgreich getan, und niemand kann etwas dagegen haben, wenn wir uns etwas abkühlen.“

Sie biss sich auf die Lippe. Am liebsten würde sie ihm befehlen, dass sie nun aufbrechen würden. Doch sie konnte Leandro nicht derart von oben herab behandeln, auch wenn andere auf der Finca mit den Arbeitern manchmal so umgingen. Für sie jedoch fühlte es sich nicht richtig an. Also schwieg sie.

Dann gab sie sich einen Ruck und holte die Sonnencreme aus dem Rucksack. Aber sie setzte sich nicht, sondern sah Leandro von oben herausfordernd an. Er lächelte und stand auf. Sie wich seinem Blick aus, drehte sich um und wartete. Als er ihren Rücken erst mit zarten, dann mit etwas kräftigeren Bewegungen eincremte, sprang ihr fast das Herz aus der Brust. Ihre Reaktion war nicht normal! Sie wandte sich ab.

„He, ich bin noch nicht fertig!“, rief er.

„Das reicht schon“, murmelte sie, setzte sich wieder auf den Boden und starrte aufs Meer hinaus. Er ließ sich nah neben ihr nieder, so nah, dass ihre Körper sich fast berührten. Dann spürte sie, wie er sachte von der Seite eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht strich. Sie sah ihn unverwandt an. In seinen dunklen Augen leuchteten die hellen Punkte nun wie kleine Sonnen. Ein Schauer lief über ihren Körper, und sie konnte ihn auch nicht verbergen. Sie dachte an einen der Nachmittage mit Joaquín. Sie hatten oft in einsamen Buchten geankert und waren übermütig ins kalte Wasser gesprungen. Im April war das Mittelmeer noch sehr frisch, doch mit Joaquín war ihr alles egal gewesen. Danach hatten sie sich auf einem von der Sonne erwärmten Felsen leidenschaftlich geliebt, und nun spürte sie Leandros Finger zart über ihren Hals streichen, leicht wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Ein weiterer Schauer …

Plötzlich musste sie an Blanca denken. Sie konnte unmöglich den gleichen Fehler wiederholen, zumal sie diesmal wusste, dass sie nicht die Einzige war. Bei Joaquín hingegen hatte sie keine Ahnung von seinen Geliebten gehabt. Diese Lektion hatte sie erst lernen müssen. Sie wollte nie mehr nur ein Spielzeug sein!

Rasch drehte sie ihren Kopf zur Seite. „Was wohl das Hausmädchen zu deinem Verhalten hier sagen würde?“

„Was?“

„Deine Blanca!“

Autor

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<p>Die preisgekrönte Bestsellerautorin Lucy Monroe lebt mit unzähligen Haustieren und Kindern (ihren eigenen, denen der Nachbarn und denen ihrer Schwester) an der wundervollen Pazifikküste Nordamerikas. Inspiration für ihre Geschichten bekommt sie von überall, da sie gerne Menschen beobachtet. Das führte sogar so weit, dass sie ihren späteren Ehemann bei ihrem...
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