Romana Gold Band 48

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  • Erscheinungstag 07.12.2018
  • Bandnummer 48
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744663
  • Seitenanzahl 444
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Rebecca Winters, Sarah Holland, Robyn Donald

ROMANA GOLD BAND 48

1. KAPITEL

Der silberne Maserati schoss mit hoher Geschwindigkeit um die Ecke und schien geradewegs auf Rachel zuzusteuern. Mit klopfendem Herzen riss sie das Steuer ihres Kleinwagens nach rechts, um einen Zusammenstoß zu vermeiden.

In diesem Moment drosselte der dunkelhaarige, italienisch aussehende Fahrer das Tempo und winkte ihr lächelnd zu, als wollte er sich bei ihr bedanken, dass sie ihm auswich.

„Idiot!“, rief sie ihm nach und erntete ein weiteres Lächeln, bevor er weiterfuhr.

Erst nach ein paar Minuten hörte Rachel auf, vor Angst und Wut zu zittern, und konnte weiterfahren.

Fünf Minuten später erreichte sie Thann, die kleine Stadt im Elsass, wo sie ein Hotelzimmer gebucht hatte.

Bevor sie sich frisch machte und den Schrecken von vorhin mit einer entspannenden Dusche endgültig vertrieb, musste sie noch einen wichtigen Anruf erledigen. Einen Anruf, den sie schon seit einer Ewigkeit vor sich herschob. Die Angst vor einem weiteren Streit mit ihrer Zwillingsschwester schnürte ihr die Kehle zu.

Seit vielen Jahren redeten sie kaum noch miteinander. Rachel hätte diese traurige Situation gern beendet, doch dazu brauchte sie Mut. Vielleicht war der Anruf ja der erste richtige Schritt.

Gestern war der Todestag ihrer Mutter gewesen. Normalerweise flog sie an diesem Tag nach New York, um Blumen auf ihr Grab zu legen. Aber dieses Jahr war sie geschäftlich verhindert.

Als der Küster vom Friedhof ihr versprochen hatte, die Blumen für sie aufs Grab zu stellen, war sie sehr erleichtert gewesen.

Wenn Rebecca das Grab besucht hatte, konnte sie ihr sagen, ob tatsächlich alles geklappt hatte. Nachdem das Telefon fünfmal geklingelt hatte, hörte sie eine Stimme: „Rachel?“

Ihre Schwester war also in New York.

„Hallo, Rebecca.“ Rachel schluckte. „Ich war mir nicht sicher, ob ich dich erreiche.“

„Ich war in Wyoming und bin nur kurz geschäftlich hier. Was gibt es?“

„Wie … wie geht’s dir?“

„Gut.“ Klang die Stimme ihrer Schwester auch ein wenig unsicher? Oder bildete sie sich das nur ein? „Und dir?“

„Auch.“ Rachel biss sich auf die Lippe. Das lief nicht besonders gut. Aber so war es immer. „Sind dir gestern zufällig ein paar Blumen auf Mutters Grab aufgefallen?“

„Wenn du den Rosenstock meinst – ja.“

„Oh, prima.“

Nach einer weiteren angespannten Pause fragte Rebecca: „War das alles, was du wissen wolltest?“

Unglücklich umklammerte Rachel den Hörer. Nein, das war nicht alles, aber sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte.

„Hör zu, ich bin ziemlich in Eile“, versuchte Rebecca das Gespräch zu beenden.

„Ja, ich auch.“

„Wo bist du überhaupt?“, fragte Rebecca in letzter Sekunde.

„In Frankreich.“

„Dann solltest du wohl au revoir sagen.“

Plötzlich liefen Rachel Tränen übers Gesicht. „Auf Wiedersehen, Rebecca.“

Nach der schrecklichen Begegnung vorhin auf der Landstraße hätte sie gern auf diesen Schmerz verzichtet.

Als sie sich ein wenig ruhiger fühlte und geduscht hatte, ging sie zur Rezeption.

„Können Sie mir bitte sagen, wo hier in der Gegend der beste Weinberg liegt?“, fragte sie den Empfangschef.

„Sehr gern, mademoiselle. Das ist die Domaine Chartier et Fils. Wenn Sie vom Stadtzentrum rechts abbiegen, kommen Sie nach fünf Kilometern zu einem Kloster aus dem fünfzehnten Jahrhundert, das seit Jahren im Besitz der Familie Chartier ist. Sie können es gar nicht verpassen“, erwiderte der Mann, ohne zu zögern.

Rachel dankte ihm und ging zu ihrem Wagen, den sie in einer Seitenstraße geparkt hatte.

Jedes Jahr kamen Tausende von Touristen ins Elsass, der nordöstlichen französischen Provinz, die an Deutschland und die Schweiz grenzte. Jetzt im Juni war es besonders voll, und Rachel musste sich durch eine Traube von Menschen schlängeln.

Sie verstaute ihre schwarze Aktentasche auf dem Beifahrersitz und setzte sich ans Steuer. Leider nicht schnell genug, um zu verhindern, dass ein paar junge Männer einen Blick auf ihre langen eleganten Beine erhaschten. Zu allem Unglück war auch noch der Rock ihres weißen Kostüms nach oben gerutscht.

Rasch ließ sie den Motor an und fuhr los.

Kurz vor ihrer Ankunft beim Hotel hatte sie das Stadtzentrum durchquert. Denn die Weinstraße von Colmar – einer Stadt fünfundvierzig Minuten entfernt –, auf der sie hierhergekommen war, führte direkt ins Zentrum von Thann.

Da Rachel einen guten Orientierungssinn hatte, ließ sie die Stadt bald hinter sich und fuhr auf der Landstraße an märchenhaften Häusern mit Blumenkästen voller Geranien und anderer Sommerblumen vorbei.

Vor einer Woche in England hatte es noch ununterbrochen geregnet. Doch jetzt schien die Mittagssonne und beleuchtete das satte Grün der Landschaft.

Ohne diesen verrückten Autofahrer von vorhin wäre der Tag perfekt gewesen.

Noch immer verärgert über sein unverschämtes Verhalten, bog Rachel schließlich nach fünf Kilometern um eine Kurve und fand sich plötzlich zu beiden Seiten der Straße von hohen Weinstöcken umgeben. Durch den Weinberg fuhr sie einen Hügel hinauf.

In der Ferne sah sie das Kloster, das über den schachbrettartigen Parzellen des Weinbergs thronte, die auf Französisch terroirs hießen.

Beeindruckt fuhr sie langsamer, um sich die wunderschöne Landschaft genauer anzuschauen.

Die Mauern des Klosters waren leicht rosafarben, und eigentlich erwartete sie jeden Moment, Rapunzel in einem der gewölbten Fenster zu sehen. Rapunzel und den schönen Prinzen, der sie anflehte, ihr goldenes Haar herunterzulassen, damit er zu ihr hochklettern konnte.

Seit Rachel heute früh von Bordeaux ins Elsass geflogen war, spukten ihr ständig so fantastische Gedanken im Kopf herum.

Mit ihrem Vater und ihrem Großvater hatte sie auf den vielen Geschäftsreisen für ihr Restaurant schon viele schöne Plätze in Europa besichtigt. Aber dies war das erste Mal, dass sie sich unwiderstehlich zu einem bestimmten Ort hingezogen fühlte.

Hier könnte ich für immer leben, dachte sie, hielt den Wagen an und machte ein paar Fotos, bevor sie weiterfuhr.

Vielleicht sollte sie sich im Elsass nach einem kleinen Haus mit Rebstöcken umsehen, in das sie sich zurückziehen konnte, wenn ihr danach war. Ein Haus, in dem sie später ihr eigenes Buch über Weinkunde schreiben konnte.

Mochte Brot auch das wichtigste Nahrungsmittel sein, Weintrauben verkörperten für Rachel die Magie des Lebens.

Dabei ging es ihr nicht nur um das Endprodukt, den fertigen Wein, der ein gutes Essen begleitete. Sie war fasziniert von dem ganzen Prozess der Weingewinnung, angefangen von der Erde, die das richtige Maß an Sonne und Regen brauchte, um eine einzigartige Traube zu produzieren, aus der man einen vorzüglichen Wein keltern konnte.

Als sie den Schildern folgte, die zu einem Rosengarten mitten im Hof des Klosters führten, steigerte sich ihr Entzücken noch.

Sie parkte auf dem Besucherparkplatz und entdeckte ein weiteres Schild mit der Aufschrift „Büro“ an einem der Gebäude.

Schnell schminkte sie die Lippen nach und nahm ihre Aktentasche vom Sitz.

Im Stillen beglückwünschte sie sich, die flachen Ledersandalen zu tragen, denn das Kopfsteinpflaster hätte ihr beim Gehen sonst bestimmt Schwierigkeiten gemacht.

Auf dem Parkplatz standen etwa ein Dutzend Wagen. Das bedeutete viel Arbeit für das Personal, das den Weinkeller für die Touristen betrieb, die hier Riesling oder Pinot Blanc probieren wollten.

Wahrscheinlich riss der Touristenstrom nie ab, nicht einmal in der Nebensaison.

Als sie das Gebäude betrat, sah die Frau hinter dem Empfang von ihrem Computer auf und lächelte sie an. „Bonjour, mademoiselle.“

„Bonjour, madame“, erwiderte Rachel.

Ihr Akzent musste sie verraten haben, denn die Frau wechselte sofort in ein hervorragendes Englisch. „Wenn Sie zum Weinkeller möchten, müssen Sie dort durch die rechte Tür.“

„Danke. Aber ich bin geschäftlich hier und würde gern den Besitzer treffen. Mein Name ist Rachel Valentine. Ich bin Weineinkäuferin für drei Restaurants in London, die alle auf den Namen Bella Lucia lauten“, sagte Rachel und reichte der Frau ihre Visitenkarte.

„Valentine, sagen Sie? Ich kann Ihren Namen leider nicht finden. Erwartet Monsieur Chartier Sie?“

„Nein. Um ehrlich zu sein, habe ich erst heute von Ihrem Weingut erfahren, als ich in Thann angekommen bin.“

„Verstehe.“

„Der Empfangschef in meinem Hotel hat mich in Ihr Kloster geschickt.“

„Das wird Monsieur Chartier bestimmt gern hören.“

„Natürlich ist mir klar, dass er zu beschäftigt sein wird, um mich heute zu empfangen. Aber ich würde gern einen Termin für morgen machen, wenn möglich.“

„Morgen haben wir geschlossen. Aber ich kann gern seine Sekretärin anrufen und mit ihr seinen Terminplan durchgehen. Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment.“

„Selbstverständlich.“

Auch wenn Rachels Französisch gar nicht schlecht war, sprach die Empfangsdame viel zu schnell, als dass sie ihr hätte folgen können.

Nach dem Gespräch sagte sie: „Wenn Sie mir sagen, wie wir Sie erreichen können, wird die Sekretärin Monsieur Chartier über Ihren Wunsch informieren.“

„Das wäre nett. Ich wohne im Hotel du Roi.“

Très bien. Ich kann Ihnen zwar noch keine genaue Zeit sagen, aber wir werden uns noch vor dem Abend bei Ihnen melden.“

„Danke für Ihre Hilfe.“

„Gern geschehen, mademoiselle.“

Rachel fuhr zurück ins Hotel, wo sie ein paar Schreibarbeiten erledigte.

Gegen halb sechs bekam sie Hunger und beschloss, das Hotelrestaurant auszuprobieren.

Auf dem Weg dorthin bat sie den Angestellten an der Rezeption, sie zu benachrichtigen, falls ein Anruf von Chartier käme.

Auf Reisen studierte sie immer zuerst die Weinkarte, um zu sehen, welche regionalen Weine angeboten wurden. In dieser Gegend gab es vor allem Weißweine, ausnahmslos aus einer Rebsorte gekeltert.

Dass die Weine der Chartiers auf der Karte dominierten, überraschte sie nicht. Die Kellnerin empfahl ihr einen Tokaier Pinot Gris, der vorzüglich zu dem Spargel, den sie als Vorspeise aß, passte.

Nachdem sie mit der Flasche zurückkam, bedankte Rachel sich bei ihr und entkorkte die Flasche selbst. Der goldfarbenen Flüssigkeit entströmte ein Aroma verschiedener Geschmacksrichtungen, das die reine Offenbarung war.

Sie schenkte sich etwas ein und kostete. Dabei ließ sie den Wein ein paar Mal im Mund kreisen, bevor sie ihn herunterschluckte.

Beim Probieren entdeckte Rachel mehrere Geschmacksrichtungen: Ahornsirup, Quitte und … Ananas, wenn sie sich nicht irrte.

Der Wein lag herrlich zart auf dem Gaumen und war gleichzeitig unglaublich voll und elegant aufgrund seiner ausgewogenen Säure. Und er hatte einen langen Abgang, der keine Wünsche offenließ.

Die reine Perfektion!

„Sieht so aus, als würde Ihnen der Pinot Gris schmecken.“ Eine tiefe männliche Stimme sprach sie auf Englisch mit einem starken französischen Akzent an.

Überrascht sah Rachel hoch. Als sie sah, wer vor ihr stand, fiel sie fast vom Stuhl.

„Sie!“

Der Mann, mit dem sie vorhin fast zusammengestoßen wäre.

Für einen Franzosen war er ungewöhnlich groß und kräftig. Sie schätzte ihn auf Mitte dreißig. Sein dunkelbraunes Haar trug er länger als die meisten Männer.

Mit den braunen Augen unter den dichten Wimpern und dem olivfarbenen Teint war er unglaublich attraktiv.

Das und die Tatsache, dass er die Unverschämtheit besaß, ihren Wein in die Hand zu nehmen, ließ ihren Zorn erneut aufflammen.

„Wenn Sie mir aus einem anderen Grund gefolgt sind, als sich bei mir zu entschuldigen, werde ich Sie wegen Belästigung anzeigen.“

Ein aufreizendes Lächeln war die Antwort.

„Jede Geschichte hat zwei Seiten. Die Polizei würde bestimmt eher glauben, dass Sie zu weit in der Mitte der Straße gefahren sind, weil Sie an Linksverkehr gewöhnt sind.“

„Da sie Franzosen sind, kann ich mir das gut vorstellen“, gab Rachel zurück. „Nun, da Sie Ihren Spaß hatten, stellen Sie die Flasche bitte wieder auf den Tisch, und lassen Sie mich in Ruhe.“

„Mir ist aufgefallen, dass Ihnen der Wein schmeckt.“

Das klang nicht so, als wollte er verschwinden.

Offensichtlich fand dieser attraktive Mann es amüsant, mit einer Frau zu flirten, die seiner Ansicht nach offen für Avancen war. Besonders, da sie ganz allein in der Öffentlichkeit Wein trank und ihn so genoss, dass sie ihn mit geschlossenen Augen probiert hatte, ohne auf ihre Umgebung zu achten.

„Es geht Sie zwar nichts an, aber dies ist einer der besten Weißweine, die ich je probiert habe.“ Das war wirklich nicht übertrieben.

„Es freut mich, das zu hören, Miss Valentine. Ja, der neunundneunziger war ein exzellenter Jahrgang.“

„Woher kennen Sie meinen Namen? Wer sind Sie?“

Erst jetzt stellte er die Flasche wieder auf den Tisch. „Ich bin Luc Chartier. Man hat mir gesagt, Sie möchten einen Termin mit mir machen.“

Er war dieser Chartier?

Rachel richtete sich in ihrem Stuhl auf. „Ich dachte, Ihre Sekretärin würde mich anrufen. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie sich die Mühe machen, meinetwegen extra ins Hotel zu kommen.“

Er zuckte mit den Schultern. Dabei bemerkte sie, dass er einen sehr eleganten hellgrauen Seidenanzug trug. „Warum nicht? Ich war gerade in der Gegend, als meine Sekretärin mich anrief. Ich freue mich immer, eine neue Einkäuferin kennenzulernen, besonders, wenn Sie unserem Wein mit solchem Vergnügen zuspricht.“

Damit entfachte er Rachels Ärger erneut.

„Ihretwegen hätte ich diese Erfahrung um ein Haar verpasst.“

Mit geneigtem Kopf sah er sie an. „Was halten Sie davon, wenn wir den Hundertjährigen Krieg beenden und Frieden schließen? Sie haben ja bereits zugegeben, dass der Pinot Gris seinesgleichen sucht. Und ich möchte mich gern dafür entschuldigen, dass ich Sie so erschreckt habe, und biete Ihnen eine persönliche Führung durch unser Weingut an.“

„In dieser Rakete, die Sie ein Auto nennen? Nein danke. Ich habe kein Interesse daran, als Wrack im Weinberg zu enden.“

„Gut, dann fahren wir eben in meinem Jeep. Ich schwöre Ihnen, ich hatte noch nie einen Unfall mit einem Kunden.“

Sie glaubte ihm. Aber selbst wenn das nicht gestimmt hätte, kam er mit seinem Charme sicher immer durch, egal wie tollkühn er sich verhielt. Doch dieses Mal sollte ihm das nicht gelingen.

„Ich fürchte, ich habe mich anders entschieden, was unseren Termin betrifft.“

„Ja, ich bin auch lieber spontan“, gab er zurück. „Was haben Sie nach dem Abendessen vor?“

„Das geht Sie wirklich nichts an.“

Er sah sie so lange an, bis ihre Wangen sich röteten.

„Es war wirklich nicht meine Absicht, Sie zu erschrecken. Um ehrlich zu sein, habe ich über etwas Wichtiges nachgedacht und war abgelenkt. Bitte, verzeihen Sie mir.“

Ihm verzeihen?

Wie kam er dazu, sich plötzlich zu entschuldigen? Zumal es wirklich aufrichtig geklungen hatte.

Sie merkte, wie das Eis Risse bekam.

„Ob Sie nun mit mir ins Geschäft kommen oder nicht, ich möchte es gern wiedergutmachen, Miss Valentine. Geben Sie mir eine Stunde. Dann hole ich meinen Jeep, und wir können eine Tour durch den Weinberg machen und über unsere Weine sprechen. Jetzt, in der Blütezeit, ist es in der Abenddämmerung besonders schön.“

Rachel lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Sie machen es mir wirklich nicht leicht. Wenn ich Ihre Entschuldigung nicht annehme, denken Sie bestimmt schlecht von mir.“ Nach kurzem Zögern gestand sie: „Vielleicht hatte die Aussicht es mir ja auch so angetan, dass ich vergaß, nicht allein auf der Straße zu sein.“

„Eine ehrliche Frau“, gab er zurück.

„Und ein Mann, der sich entschuldigen kann. Ich nehme an, wir sind quitt.“

„Frieden?“

Rachel nickte. „Frieden. Ich würde lügen, wenn ich behaupte, dass ich mir Ihren Weinberg nicht gern anschaue. Aber nur, wenn Sie sicher sind, dass Ihre Frau nichts dagegen hat.“

Nach einer kurzen Pause erwiderte er: „Wenn ich nicht geschieden wäre, wäre meine Frau diejenige, die Sie herumführt. Aber leider müssen Sie nun mit mir vorliebnehmen.“

„Da Sie der Besitzer von Chartier et Fils sind, kann ich mich wohl kaum beschweren“, erwiderte sie.

Etwas, das sie nicht benennen konnte, leuchtete in seinen Augen auf und ließ ihren Puls schneller schlagen.

„Dann schlage ich vor, dass Sie sich etwas Bequemeres anziehen. Ihr Kostüm ist zwar sehr hübsch, aber nicht das Richtige zum Spazierengehen.“

„Da haben Sie bestimmt recht.“

„Erst wenn man mitten zwischen den Rebstöcken steht, versteht man, um welches Wunder es sich beim Weinanbau handelt.“

Damit drückte er genau das aus, was sie die ganze Zeit gedacht hatte.

Was immer ihn sonst noch bewegen mochte, hier war ein Mann, der wirklich in seine Arbeit verliebt war. Rachel kannte nicht viele Winzer, die sich mit einem Kunden solche Mühe gegeben hätten.

„Welche Farbe hat Ihr Jeep?“

„Blau.“

„Ich werde darauf achten.“

Bon. Genießen Sie Ihr Mahl. A bientôt.“

Als er sie verließ, fielen ihr die interessierten Blicke der anderen Frauen auf, die ihm nachsahen.

Nach dem Essen ging sie nach oben, um sich umzuziehen. Die Flasche Wein nahm sie mit als Souvenir an ihren ersten Tag im Elsass.

In ihrem Zimmer zog Rachel Jeans und ein taubenblaues Stricktop an und schnürte ihre dicken Wanderschuhe zu.

Da er erst in zwanzig Minuten zurück wäre, entschloss sie sich, etwas Sinnvolles zu tun, um nicht zu lange über ihre Begegnung nachdenken zu müssen.

Also rief sie in England an.

Nachdem es dreimal geklingelt hatte, meldete sich eine männliche Stimme.

„Großvater? Hier ist Rachel.“

„Wie geht es meiner Black Beauty heute A…?“

Noch bevor er ihr die Frage zu Ende stellen konnte, hustete er kräftig. Der Arzt hatte Rachel zwar erklärt, das wäre bei einer Lungenembolie ganz normal, aber es erschreckte sie trotzdem.

„Einen Moment bitte“, sagte er heiser.

„Nimm dir alle Zeit, die du brauchst.“

Sie liebte ihren Großvater William, der sie schon als kleines Mädchen Black Beauty genannt hatte, über alles.

Eigentlich war ihr dichtes Haar ja eher dunkelbraun, aber mit solchen Kleinigkeiten hatte er sich nicht aufgehalten.

In dem Jahr, als ihre Mutter mit ihr und Rebecca nach New York gezogen war, hatte er ihr das Buch mit dem gleichnamigen Titel geschenkt. Damals waren die beiden Mädchen gerade zehn gewesen.

Auch Rebecca schenkte er ein prächtig illustriertes Buch mit dem Titel „Sleeping Beauty“.

„Damit keine meiner kleinen Schönheiten mich jemals vergisst“, hatte er damals gesagt.

„Ich will dich und Daddy nicht verlassen“, hatte Rachel geschluchzt. Die Scheidung zwischen seinem Sohn und dessen amerikanischer Frau hatte die ganze Familie traumatisiert.

Seine grauen Augen wurden feucht. „Ja, das weiß ich. Manchmal müssen wir eben Dinge tun, die wir nicht tun wollen. Aber ich werde euch oft besuchen. Und wenn ihr nach London kommt, könnt ihr immer bei mir und eurer Großmutter wohnen.“

Er hatte Wort gehalten und sie oft gemeinsam mit seiner Frau in Long Island besucht – wann immer der Betrieb im Restaurant es erlaubte.

Bei diesen Gelegenheiten riet er ihr auch immer wieder, sich vor den vielen Männern zu hüten, die um sie warben.

Und weil Rachel sich alles, was ihr geliebter Großvater sagte, sehr zu Herzen nahm, war sie inzwischen trotz ihrer dreiunddreißig Jahre immer noch Single.

Im Laufe der Jahre hatte sie in ihrem Beruf als Einkäuferin für Qualitätsweine natürlich eine Menge Männer getroffen, die ihr gefallen hatten. Aber keiner war der Richtige zum Heiraten gewesen, denn keiner konnte ihm das Wasser reichen.

Nur eines hatte sie ihm nicht geglaubt.

„Liebe auf den ersten Blick. Als ich im Zweiten Weltkrieg in Italien war, haben Lucia und ich das erlebt. Sie war die richtige Frau für mich, und wir waren immer glücklich miteinander. Dieses Glück wünsche ich dir auch. Du wirst wissen, wann es so weit ist und du den Richtigen getroffen hast.“

Diese Möglichkeit wies Rachel weit von sich. Denn sie schien ihr nichts als romantischer Unsinn zu sein.

Trotzdem konnte sie nicht leugnen, dass Luc Chartier sie tief berührt hatte.

„Rachel? Bist du noch da?“

Ihr Großvater hatte sich von seinem Hustenanfall erholt.

„Wo sonst? Was hat Dr. Lloyd heute denn gesagt?“

„Seiner Meinung nach bin ich auf dem Weg der Besserung.“

„Prima! Dann kann ich mich ja aufs Geschäft konzentrieren, ohne mir Sorgen zu machen.“

„Du weißt, wie gern ich mitgekommen wäre!“

„Ich würde dir gern eine Flasche von deinem geliebten Châteauneuf-du-Pape mitbringen, aber leider darfst du ja keinen Alkohol mehr trinken. Deshalb nehme ich dir eine Schachtel Trüffel mit.“

„Wie lieb von dir! Wie lange wirst du noch unterwegs sein?“

„Noch eine Woche.“

„Hast du Vincent von mir gegrüßt, als du dir die Rolland-Weinberge in St. Emilion angeschaut hast?“

„Ja, natürlich. Er lässt dich herzlich grüßen und lädt dich ein, ihn zu besuchen, sobald es dir wieder besser geht.“

„Das ist schön.“

„Sein Vater lässt dich ebenfalls grüßen und will unbedingt wieder Schach mit dir spielen.“

„Ja, er liebt es zu gewinnen. Wo bist d…?“ Aber bevor er den Satz beenden konnte, schüttelte ihn wieder ein Hustenanfall.

„In Thann.“ Sie kam seiner nächsten Frage zuvor. „Ich habe Louis Delacroix noch nicht getroffen, das mache ich morgen. Jetzt solltest du nicht mehr so viel reden. Ich rufe dich morgen Abend wieder an.“

„Alles Liebe, Rachel. Gu…gute Nacht!“ Erneut hustete er laut.

Rachel legte den Hörer auf und ging nach unten.

Als sie aus der Eingangstür kam, wartete Monsieur Chartier bereits auf sie. Bei seinem Anblick vergaß sie die Sorgen um ihren Großvater.

Auch er hatte sich umgezogen und trug jetzt ein gelbes Sporthemd und enge Jeans, die seine langen Beine betonten.

Sie versuchte, ihn nicht zu sehr anzustarren. Trotzdem trafen sich ihre Blicke für einen Moment. Rachel kam sich plötzlich wie ein Teenager vor, der sich zum ersten Mal rettungslos verliebt hat.

Während sie an ihm vorbeiging, um ins Auto zu steigen, war sie sich seiner Nähe überdeutlich bewusst. Das missfiel ihr. Schließlich war er nur ein Geschäftspartner, nicht mehr. Bestimmt war es gut, sich immer wieder daran zu erinnern.

Als sie die Stadt hinter sich ließen, sagte sie: „Auf dem Weg zum Kloster bin ich an Ihrem Weinberg vorbeigefahren. Er wirkte viel größer als die anderen Weinberge zwischen Colmar und Thann.“

„Sie sind eine scharfe Beobachterin. Im gesamten Elsass gibt es knapp sechstausend Weinberge. Viertausend von ihnen sind nur fünf Hektar groß, manche sogar weniger.“

„So klein?“

Er nickte. „Als das Elsass nach der deutschen Besatzung wieder an Frankreich fiel, mussten wir unsere Weinindustrie ganz neu aufbauen. Mein Großvater ist damals von Dorf zu Dorf gezogen und hat mal hier, mal dort mehrere Hektar angelegt. Heute gehören uns insgesamt fünfhundert Hektar Land, die auf sieben Dörfer verteilt sind. Der Weinberg, den Sie gesehen haben, erstreckt sich über dreihundert Hektar, aber das ist die Ausnahme.“

Nun erreichten sie das Kloster, doch er fuhr daran vorbei und bog ein paar Minuten später links auf einen Feldweg, der durch den Weinberg führte.

Inzwischen hüllte die Dämmerung Thann in ihr warmes Licht. Rachel kurbelte das Fenster herunter. Sofort erfüllte eine warme Brise, die der sonnengetränkten Erde entströmte, das Innere des Wagens.

Ihr Gastgeber hielt den Wagen an und stellte den Motor ab.

„Von hier aus gehen wir zu Fuß.“

Weil sie jede zufällige Berührung vermeiden wollte, stieg Rachel aus, ohne sich von ihm helfen zu lassen. Denn schon jetzt nahm er unverhältnismäßig viel Platz in ihren Gedanken ein.

Stumm folgte sie ihm durch die Reihen von Reben, die alle in Blüte standen.

Luc Chartier war so groß wie ihr Vater und ihr Großvater, doch sein Gang hatte etwas Geschmeidiges. Tatsächlich wirkte es, als wäre er vollkommen eins mit der Natur.

Während sie noch darüber nachdachte, wie sehr er mit seinen Wurzeln verbunden war, blieb er plötzlich stehen, bückte sich und nahm eine Handvoll Erde auf, die er ihr reichte.

„Wie der Same, den der Mann in den Schoß der Frau pflanzt und aus dem dann das Leben entsteht, so liegt auch der Same der Rieslingtraube wie in einem Kokon in dieser ganz besonderen Erde versteckt.“

Dieses Gleichnis berührte sie tief.

„Woraus besteht die Erde?“

„Wollen Sie das wirklich wissen?“ Das klang ein wenig spöttisch.

Was sie ihm nicht verübeln konnte, wenn er sie für eine jener typischen Einkäuferinnen hielt, die sich so sehr zu ihm hingezogen fühlten, dass sie alles tun würden, nur um mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Rachel fühlte sich in der Tat schuldig, weil sich in ihr Gefühle ausbreiteten, die nichts mit dem Weinanbau zu tun hatten. Kein Zweifel, nicht nur seine Arbeit, auch er selbst faszinierte sie.

„Sonst hätte ich nicht gefragt“, gab sie zurück und bemühte sich, möglichst ruhig zu klingen. „Je mehr ich lerne, desto mehr wird mir klar, wie wenig ich weiß. Aber ich will wirklich so viel lernen, wie ich nur kann.“

„Dann gehören Sie zu einer sehr seltenen Spezies.“

Sie hielt seinem forschenden Blick stand. „Ich kann Ihnen versichern, ich bin mir meines Glücks, einen so erfahrenen Winzer wie Sie getroffen zu haben, sehr bewusst. Deshalb möchte ich Sie warnen: Ich werde Sie so lange ausquetschen, wie Sie es mit mir aushalten.“

Kaum zu glauben, was sie da gerade gesagt hatte. Ob er dachte, dass sie mit ihm flirtete? Und tat sie das vielleicht sogar? Was war nur mit ihr los?

„Die einzelnen Komponenten sind Kalkstein, Granit, Ton und Mergel.“

„Mergel?“

„Das ist eine Mischung verschiedener Tonsorten, Mineralien, Muschelschalen und Magnesium. In jedem Weinberg ist die Zusammensetzung der Erde verschieden, sie ist daher in der Regel nur für spezielle Rebsorten geeignet. Wussten Sie zum Beispiel, dass hier schon wilder Wein wuchs, bevor die Römer anfingen, Wein anzubauen?“

„Nein, aber das ist ja faszinierend.“

„Das Aroma der Tokaiertrauben, das Sie vorhin genossen haben, stammt zum Beispiel aus dem Weinberg von St. Hippolyte.“

„Es war fantastisch“, erwiderte sie. „Es hatte etwas Rauchiges, ich habe Honig geschmeckt und noch etwas, das ich nicht identifizieren konnte.“

„Lakritz?“

„Ja, genau! Das war es!“, rief sie begeistert.

Seine Augen leuchteten. „Ich muss sagen, ich bin beeindruckt, mademoiselle.“

Offensichtlich hatte sie eine Art Test bestanden, sonst hätte er bestimmt nichts gesagt.

„Ich bräuchte wahrscheinlich mein ganzes Leben oder sogar noch länger, um alles zu lernen, was Sie wissen, monsieur. Daher verzeihen Sie mir bitte, wenn ich an Ihren Lippen hänge.“

Er lächelte. „Wenn das so ist, möchte ich Ihnen gern etwas verraten. Das Aroma verändert sich völlig, wenn der Wein von einem anderen terroir stammt.“

„Gut, dann nehme ich die Herausforderung an und probiere alle Weine aus Ihren verschiedenen Weinbergen.“

„Damit hätten Sie aber länger zu tun.“

„Wie viele Weine produzieren Sie denn?“

„Sechzehn.“

Viel mehr, als sie gedacht hatte. Eigentlich hatte er ihr gerade eine gute Entschuldigung geliefert, um länger zu bleiben. Aber wenn sie klug war, gab sie der Versuchung nicht nach.

„Jetzt bin ich diejenige, die beeindruckt ist“, erwiderte sie. „An welchen Tagen ist Ihr Weinkeller denn geöffnet? Ich weiß nur, dass er morgen geschlossen ist.“

„Kein Problem. Ich werde meinen Manager Giles Lambert anrufen, damit er morgen früh einen Termin mit Ihnen macht. Der alte Herr ist ein wandelndes Lexikon. Es wird ihm ein Vergnügen sein, Sie so lange zu beschwatzen, bis Sie nur noch Chartier-Weine für Ihre Restaurants bestellen.“

Eigenartig, aber Rachel spürte bei diesen Worten Enttäuschung. Also wäre er morgen nicht da. Warum erleichterte sie das nicht?

„Ich hoffe, ich belästige ihn nicht allzu sehr.“

„Im Gegenteil, er liebt es, über unsere Weine zu sprechen.“

„Gut, in mir wird er eine willige Zuhörerin finden. Der Tokaier, den ich zum Abendessen getrunken habe, hat mich jedenfalls davon überzeugt, dass ich mich nirgendwo anders umschauen muss. Übrigens möchte ich mich gern auf ein paar Sorten konzentrieren, wie auf Ihren Pinot Gris und den Riesling.“

„Das ist eine gute Idee“, bemerkte er beiläufig. „Also, wenn es Ihnen recht ist, bringe ich Sie jetzt zurück ins Hotel.“

Gegen ihren Willen musste Rachel ihn immer wieder anschauen. Noch nie hatte sie so männliche Züge an einem Mann gesehen. Manchmal erschienen sie fast wie gemeißelt.

Eigentlich wollte sie noch gar nicht gehen, aber er ließ ihr keine andere Wahl. Bestimmt hatte er noch etwas Wichtiges zu erledigen.

Daher beschleunigte sie ihren Schritt und erreichte vor ihm den Wagen. Wieder stieg sie ein, ohne sich von ihm helfen zu lassen.

Luc Chartier wirkte nicht sehr redselig. Plötzlich fiel ihr auf, dass er ihr nicht eine einzige persönliche Frage gestellt hatte. Offensichtlich war er nicht besonders neugierig, was sie oder ihre Restaurants betraf.

Sie hingegen hätte ihm unendlich viele Fragen stellen können. Dabei war ihr natürlich klar, dass Männer wie er sehr selten waren. Zu glauben, dass er sich ausgerechnet für sie interessieren könnte, war geradezu absurd.

Am besten bedankte sie sich einfach bei ihm für sein Angebot, ihr seinen Manager zur Seite zu stellen, um ihr die herrlichen Weine vorzustellen, die die Familie Chartier seit Generationen produzierte.

Aber sie sagte nichts, da auf der Heimfahrt eine merkwürdige Spannung im Wagen herrschte, die von ihm ausging.

Offenbar war er gedanklich mit etwas beschäftigt, das viel wichtiger für ihn war als irgendwelche Weinverkäufe nach England.

War es dieselbe Sache, die vorher fast zu ihrem Zusammenstoß geführt hätte?

Um nicht den Eindruck zu erwecken, dass sie sich eine Wiederholung dieser Tour wünschte, sprang Rachel schnell aus dem Wagen, als sie vor dem Hotel hielten – und zwar noch bevor er den Motor ausstellen konnte.

Zum Abschied sagte sie in geschäftsmäßigem Ton: „Vielen Dank! Diese Einführung in die Weine des Elsass war der bisherige Höhepunkt meiner Reise.“

„Gern geschehen. Es tut mir leid, dass ich Ihnen bei unserer ersten Begegnung einen solchen Schrecken eingejagt habe.“

Sie lächelte. „Schon vergessen. Nein, ehrlich, danke, dass Sie sich so viel Zeit für mich genommen haben. Ich freue mich schon auf das morgige Treffen mit Ihrem Manager. Auf Wiedersehen, monsieur.“

Damit drehte sie sich um und eilte zum Eingang. Falls er ihr noch etwas nachrief, hörte sie es nicht.

Da sie ihn mit Sicherheit nicht wiedersehen würde, wollte sie auch nicht mehr an ihn denken.

In ihrem Zimmer öffnete Rachel als Erstes eine Flasche Tokaier. Sofort stieg ihr der herrliche Duft in die Nase.

Lakritz … Natürlich. Er kannte alle Geheimnisse dieses Weins.

Da sie viel zu aufgeregt war, um zu schlafen, setzte sie sich an ihren Laptop und schrieb alles auf, was Luc Chartier ihr über Wein erzählt hatte.

Keine Einzelheit ihres Gesprächs sollte verloren gehen, denn irgendwann würde sie all dieses Material für ihr Buch brauchen.

Als sie endlich ins Bett ging, dachte sie noch immer an die gemeinsam verbrachte Zeit.

„Hoffentlich kann ich ihn vergessen“, murmelte sie in der Dunkelheit, bevor sie die Augen schloss.

2. KAPITEL

Auf der Rückfahrt nach St. Hippolyte rief Lucien Chartier, den alle Luc nannten, seinen Manager Giles an.

„Im Hotel du Roi ist eine Einkäuferin aus England zu Gast, die sich für unsere Weißweine interessiert. Mademoiselle Valentine repräsentiert drei Restaurants, die alle Bella Lucia heißen. Offensichtlich gehören sie zu den exklusivsten Adressen Londons.“

Luc wusste, dass Begriffe wie Mayfair, Chelsea und Knightsbridge Giles nichts sagen würden. Aber dies waren die besten Viertel in London, in denen nur eine ausgesuchte internationale und wohlhabende Kundschaft leben, einkaufen und essen gehen konnte.

In den Sechzigerjahren zählten vor allem Schauspieler und Musiker zu den Gästen des ursprünglichen Restaurants. Inzwischen wurden dort jeden Abend um die dreihundertfünfzig Gäste bewirtet.

Nichts würde Luc mehr freuen, als seine Weine dort zu platzieren. Von Jahr zu Jahr wuchsen der gute Ruf der elsässischen Weine und ihre Verbreitung.

„Tu mir den Gefallen und gib dir Mühe mit ihr, Giles. Sie hat ein gutes Gespür für Wein und ist äußerst wissbegierig. Also genau das Richtige für dich.“

Der ältere Mann räusperte sich. „Ich habe noch nicht viele Einkäuferinnen aus England kennengelernt.“

„Mir geht es genauso.“

Luc fragte sich, ob Rachel überhaupt aus England kam. Manchmal klang ihr Akzent fast amerikanisch.

Dass sie ihm seinen Fauxpas verziehen hatte, überraschte ihn. Fraglos war sie eine ungewöhnliche Frau.

Unter ihrer entzückenden Oberfläche verbarg sich mehr, als man auf den ersten Blick vermutet hätte.

Er dachte daran, wie sie neben den Rebstöcken gestanden und der Wind mit ihrem Haar gespielt hatte. Aber es war gefährlich, solchen Bildern nachzuhängen, schließlich lag Paulette noch immer im Koma.

Wieder führten die Schuldgefühle über den Zustand seiner Exfrau dazu, dass er das Tempo erhöhte. Doch dann musste er daran denken, wie Rachel im Restaurant gesessen und den Wein probiert hatte.

Da sie ihn nicht bemerkt hatte, konnte er sie ungestört in aller Ruhe beobachten. Dabei hatte sich etwas in seinem Körper gerührt – etwas, das er schon lange nicht mehr gespürt hatte.

Irritiert über diese Reaktion hatte er nach der Flasche gegriffen, um zu sehen, wie viel sie getrunken hatte. Aber die Flasche war fast voll gewesen, genau wie ihr Glas.

In diesem Moment wurde sein Blick unwiderstehlich von ihren vollen roten Lippen angezogen und wanderte dann weiter zu ihrer Kehle, durch die gerade der erste Schluck Wein geronnen war.

Mon Dieu. Etwas so Provozierendes hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen.

Seine Hand umklammerte das Handy. „Da sie sich auf die Tokaier und Rieslinge konzentrieren will, wird sie sicher ein paar Tage hierbleiben. Sag mir Bescheid, wenn du ihre Bestellung in Empfang genommen hast.“

„Ich werde dafür sorgen, dass es ein großer Auftrag wird“, versprach Giles.

„Morgen bin ich wieder im Krankenhaus. Aber du kannst mir jederzeit eine Nachricht auf meiner Mailbox hinterlassen, falls du mich nicht erreichst. Ansonsten sehen wir uns spätestens auf dem Bankett.“

„D’accord.“

Erleichtert stellte Luc das Handy wieder aus. Nun war Giles für die schöne Miss Valentine verantwortlich. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Am besten, er fuhr wieder ins Krankenhaus. Das würde ihn auf andere Gedanken bringen.

Nachdem er seit drei Jahren so oft wie möglich hinfuhr, war es ihm fast zum zweiten Zuhause geworden.

Zu seiner Überraschung traf er ausgerechnet Paulettes Bruder Yves Brouet in dem Krankenzimmer.

Zwischen ihnen lag Paulette, Lucs Exfrau. Nur die Geräusche der Maschinen, die sie am Leben hielten, waren zu hören.

Normalerweise versuchten die beiden Männer, sich aus dem Weg zu gehen. Luc kam für gewöhnlich früh am Morgen, vor Arbeitsbeginn.

„Verdammt noch einmal – wie lange willst du dich eigentlich noch gegen die Familie stellen?“, fragte Yves und sah ihn anklagend an.

Gelassen und fest erwiderte Luc seinen Blick. „So lange wie nötig.“

„Lass meine Schwester in Ruhe sterben. Lass sie endlich Frieden finden!“

Mit zu Fäusten geballten Händen beugte Luc sich zu seiner Exfrau herab. Dann küsste er sie auf die blasse Stirn, drehte sich auf dem Absatz um und ging aus dem Zimmer.

Er wollte auf gar keinen Fall Streit vor Paulette. Innerlich war er davon überzeugt, dass sie alles mitbekam, was gesprochen wurde. Wie konnte Yves es wagen, in ihrer Anwesenheit von ihrem Tod zu sprechen?

Doch sein ehemaliger Schwager folgte ihm. „Du hast kein Recht, ihr Martyrium ewig zu verlängern.“

Nachdem sie ihr ganzes Leben lang gute Freunde gewesen waren, steckten sie jetzt in einer Sackgasse, aus der es kein Zurück zu geben schien.

„Ich bezahle für die Pflege hier, Yves.“

„Mit Geld hat das nichts zu tun. Wir reden über Paulette. Sie hätte das nicht gewollt, und das weißt du auch!“

„Wir beide können das leicht behaupten. Schließlich liegen wir nicht da drinnen und kämpfen um unser Leben.“

Vor Schmerz zog sich Yves’ Gesicht zusammen. „Das ist doch kein Leben. Gut, ich will es dir nicht länger verschweigen. Die Familie hat beschlossen, einen Anwalt einzuschalten. Wir werden dich vor Gericht bringen und alles tun, damit diese teuflischen Maschinen endlich abgestellt werden.“

„Ja, ich weiß“, erwiderte Luc gepresst. „Mein Anwalt hat es mir bereits gesagt.“ Bestimmt würde auch seine Schwester Giselle davon Wind bekommen. Leider war sie auf der Seite von Yves und seiner Familie.

„Du kannst nicht gewinnen, Luc. Schließlich bist du nicht mehr mit Paulette verheiratet. Nur unserer Freundschaft wegen haben wir dich überhaupt so lange gewähren lassen. Aber jetzt ist der Punkt gekommen, um dem Wahnsinn ein Ende zu bereiten.“

„Ich bin mir sicher, dass sie eines Tages aufwachen wird, Yves“, beschwor ihn Luc. „Und wenn das passiert, werde ich alles tun, um sie zu unterstützen.“

Doch Yves schüttelte den Kopf. „Nein. Du bist schon lange nicht mehr für sie verantwortlich. Selbst wenn Paulette aufwachen sollte, würde es ihr nicht gefallen, dass du dich in ihr Leben einmischst.“

Gequält schloss Luc die Augen. „Wenn sie aufwacht, werde ich für sie da sein.“

„Kann es sein, dass du Schuldbewusstsein und Reue mit Liebe verwechselst?“

Das saß. „Ich habe deine Schwester geliebt. Deshalb habe ich sie auch geheiratet.“

„Aber manchmal reicht es nicht, jemanden zu lieben. Komm schon, gib dir einen Ruck. Meine Schwester ist bereit, ihren Körper zu verlassen. Heute Morgen haben mich meine Eltern noch einmal gebeten, mit dir zu sprechen. Wenn du sie wirklich liebst, dann lass sie frei.“

Luc schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht. Ich glaube immer noch, dass sie jeden Moment wieder erwachen kann.“

„Unsinn, siehst du denn nicht, dass sie nur noch vor sich hin vegetiert? In sechsunddreißig Monaten hat sie sich nicht einmal gerührt und auch kein Geräusch von sich gegeben. Ich bitte dich, nein, ich flehe dich an – gib sie endlich frei!“ Damit drehte Yves sich um und stürmte davon.

Luc sah ihm nach, bis er um die Ecke verschwunden war. Niemand stand ihm näher als Paulettes Bruder, der seit seiner Kindheit fast wie ein Bruder für ihn war.

Erschöpft und traurig lehnte er sich gegen die Wand und rieb sich die Augen.

Nicht nur war seine Ehe nach vier Jahren gescheitert – er gab sich auch die Schuld an Paulettes Autounfall.

Das Gespräch mit Yves hatte sein Schuldbewusstsein nur noch verstärkt, denn natürlich wusste er, was für Kummer er Paulettes Familie zufügte. Hinzu kam, dass die Brouets nicht viel Geld hatten und sich eigentlich keinen Anwalt leisten konnten.

Seufzend ging er wieder zurück ins Zimmer, um sich von seiner Exfrau zu verabschieden.

Als er das Krankenhaus verließ, war ihm klar, dass Paulettes Zustand weiterhin völlig unverändert war.

Es würde sich nie ändern.

Das sagten alle, besonders Jean-Marc, der Mann von Giselle. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit erinnerte er Luc daran, dass es Paulettes Familie war, die das letzte Wort in dieser Angelegenheit hatte – und auch haben sollte.

Aber das, was Luc antrieb, hing nicht mit seinen Rechten als ihr Exmann zusammen. Er musste seine Seele von einer Last befreien, die von Tag zu Tag schwerer wurde.

Drei Jahre hatte er gebraucht, um mit der Scheidung zurechtzukommen. Doch was ihn immer noch verfolgte, war seine Unfähigkeit, an den Tag des Unfalls zurückzukehren und ihn zu verhindern.

Von dem Moment an, als er erfahren hatte, dass Paulette bewusstlos im Krankenhaus lag, hatte er nicht aufgehört, sie innerlich um Verzeihung zu bitten. Ohne zu wissen, ob sie ihn hörte.

Wenn ihre Familie die Maschinen abstellte, war es mit dieser Möglichkeit für immer vorbei.

Letztlich hing alles von ihm ab. Wenn er sie freigab, würde sich alles ändern. Für Paulettes Familie und für ihn. Vor allem würde er nicht mehr jeden Tag ins Krankenhaus fahren.

Aber innerlich würde sich gar nichts ändern. Die Reue über den Unfall, der gar nicht hätte passieren dürfen, erstickte all seine Möglichkeiten und Pläne.

Als er wieder im Wagen saß, fiel ihm sofort der schwache Rosenduft auf, der noch immer in der Luft hing. Miss Valentines Parfüm!

Wieder musste er an sie denken, und ein Teil von ihm ärgerte sich darüber.

Mit quietschenden Reifen fuhr er los. Wenige Minuten später erreichte er das Haus seiner Mutter, wo er im Moment wohnte. Innerlich war er so aufgewühlt, dass er bestimmt keinen Schlaf finden würde.

Auch Rachel warf sich die ganze Nacht im Bett hin und her, unfähig, den geheimnisvollen Franzosen aus ihren Gedanken zu vertreiben. Am Morgen stand sie früh auf, ging unter die Dusche und zog sich dann für ihren Arbeitstag mit Giles Lambert an.

Er hatte sie gestern Abend noch angerufen, um mit ihr einen Termin zu machen.

Hoffentlich würde ihr das Treffen mit ihm helfen, die Enttäuschung zu überwinden, dass Luc Chartier sie nicht begleitete. Innerlich fürchtete sie, dass sie ihn nicht vergessen konnte, selbst wenn sie das Elsass wieder verließ.

Vielleicht könnte sie mit ihrem Großvater später hierher zurückkehren? Oder war auch das nur ein Schachzug, um Luc wiederzusehen?

Frustriert schnappte sie sich ihr Handy und ging hinunter ins Restaurant zum Frühstück. Als es plötzlich klingelte, schlug ihr Herz schneller bei dem Gedanken, dass es Luc sein könnte.

„H…hallo?“

„Rachel …“

„Dad! Irgendwas muss doch los sein, wenn du mich so früh schon anrufst.“

„Wieso bist du überhaupt im Elsass?“, fragte er verärgert. „Heute ist der Fünfzehnte. Laut Terminplan müsstest du längst in der Champagne sein.“

Sie räusperte sich. „Großvater hat mich gebeten, einen alten Freund von ihm in Thann zu besuchen.“

„Ja, das habe ich gehört. Aber ich will nicht, dass du dort deine Zeit vertrödelst. Wir können es uns nicht leisten, unsere anderen Zulieferer vor den Kopf zu stoßen.“

„Ist mir klar. Ich habe auch schon Monsieur Bulot angerufen und ihm meinen baldigen Besuch angekündigt. Solange ich hier bin, will ich ein bisschen recherchieren. Also, mach dir bitte keine Sorgen!“

„Warst du denn schon in Angers?“

„Ja natürlich, und auch in St. Emilion. Es ist also alles in Ordnung.“

Nun klang er schon ein wenig besänftigter. „Ist dir irgendetwas Interessantes über den Weg gelaufen?“

Rachel schloss kurz die Augen.

Ja, sie hatte Luc Chartier kennengelernt, und das hatte etwas in ihr ausgelöst. Aber es war zu früh, um darüber zu sprechen.

„Ich habe festgestellt, dass das Elsass ein zauberhaftes Land ist. Wenn ich zu Hause bin, erzähle ich dir mehr.“ Sie wechselte das Thema. „Wie geht es Großvater?“

„Keine Ahnung. Als ich gestern Abend bei ihm war, kam John vorbei, da bin ich gegangen.“

Die Rivalität zwischen ihrem Vater und seinem Halbbruder erinnerte Rachel an ihre eigenen Probleme mit ihrer Zwillingsschwester. Obwohl ihre Lebenswelten sich völlig voneinander unterschieden – Rebecca arbeitete in New York in der Werbebranche –, waren sie sich doch in vielem sehr ähnlich. Bestimmt hätte auch Rebecca diese Reise ins Elsass sehr gut gefallen. Wie schade, dass sie solche Erfahrungen nicht teilen konnten.

„Dad? Ich muss jetzt aufhören. Aber ich rufe dich an, wenn ich in der Champagne bin.“

„Bleib nicht zu lange im Elsass.“

Sie runzelte die Stirn. „Stimmt irgendetwas nicht? Du klingst ziemlich besorgt.“

„Ja, Titan ist auf einen rostigen Nagel getreten. Der Tierarzt hat ihn untersucht, aber er ist noch nicht wieder zu sich gekommen.“

Was bedeutete, dass der Arzt dem Dobermann eine Beruhigungsspritze gegeben hatte. Wie schade, dass er nicht immer in diesem Zustand sein konnte. Titan machte alle nervös, besonders Rachel.

„Ich rufe dich bald wieder an, Dad.“

Erleichtert hängte sie auf. Hier in Thann hatte sie endlich Ruhe vor den ganzen familiären Problemen, was ihr ausgesprochen guttat.

Kurz darauf kam ihr Frühstück. Wenn Rachel unterwegs war, um Weine zu kosten, achtete sie immer darauf, besonders gut zu essen. Leider war sie heute gar nicht hungrig. Das konnte nur an Luc Chartier liegen. Ihre Gefühle für ihn waren ihr offensichtlich auf den Appetit geschlagen.

Auch Luc mochte weder seinen Kaffee trinken, noch schmeckte ihm das Croissant. Ungeduldig erhob er sich vom Frühstückstisch. Seine Mutter sah ihn überrascht an.

„Wo willst du denn so früh schon hin?“

„Ins Krankenhaus. Wohin sonst?“

„Aber du warst doch erst gestern Abend da. Hat sich etwas an ihrem Zustand geändert?“

„Maman“, warf Giselle ein, „wenn dem so wäre, wüssten wir doch davon.“ Sie sah ihren Bruder neugierig an. „Was ist los mit dir?“

„Gar nichts, ich möchte nur mehr Zeit mit ihr verbringen. Dr. Soulier meinte, jede Form von Stimulation wäre gut für sie.“

Entnervt schlug Giselle mit ihrer Serviette auf den Tisch. „Aber warum? Wir wissen doch, dass sie nicht mehr aufwachen wird.“

„Keiner von uns weiß das“, gab Luc zurück. „Und bis dahin werde ich alles tun, damit es passiert.“

„Ich verstehe deine Besessenheit einfach nicht.“

Ich schon“, erklärte Lucs Mutter scharf. „Trotz der Scheidung fühlt sich Luc ihr vor Gott noch immer verbunden. Vergiss das nicht, ma fille.“

Erregt sprang Giselle auf und funkelte ihren Bruder an. „Ich kann es nicht ertragen, was du dir antust.“

Von klein auf hatten Giselle und Luc sich immer sehr gut verstanden. Aber die Situation mit Paulette belastete ihre Beziehung sehr stark.

„Das brauchst du auch nicht“, gab Luc ruhig zurück. „Ab heute werde ich in meinem neuen Haus übernachten.“

„Ach, schon?“, fragte seine Mutter überrascht. „Ich hatte gehofft, du würdest noch ein bisschen länger hierbleiben. Seit dem Tod eures Vaters genieße ich es, meine Kinder um mich zu haben.“

Er küsste sie auf die Wange. „Wir alle brauchen Raum für uns, maman.“

„Aber dort gibt es doch niemanden, der für dich kocht.“

„Das ist die geringste meiner Sorgen.“

Giselle sah ihren Bruder eindringlich an. „Weißt du noch, was papa immer gesagt hat? Es gibt eine Zeit, da muss man die Dinge sich selbst überlassen.“

Das war wieder einmal typisch für seine Schwester. Ausgerechnet jetzt musste sie ihn an das alte Motto seines Vaters erinnern.

Füg dem Prozess nichts Künstliches hinzu. Überlass den Wein einfach sich selbst.

Übersetzt bedeutete das, er sollte Paulettes Familie erlauben, die Maschinen abzuschalten, und sehen, was passierte.

Plötzlich standen Tränen in Giselles Augen. „Luc, du bist nicht dazu bestimmt, als Mönch zu leben. Wenn du so weitermachst, bekommst du noch einen Nervenzusammenbruch.“

„Ich muss jetzt gehen.“

„Mehr hast du nicht zu sagen?“

Keine Frage, seine Schwester litt mit ihm mit. Aber im Moment war er viel zu zerrissen, um klar denken zu können. Ständig geisterte die wunderschöne Einkäuferin aus England durch seine Gedanken.

Hastig verabschiedete Luc sich von seiner Mutter und seiner Schwester und stieg in den Wagen. Aber als er an die Kreuzung kam, wo er normalerweise links in die Stadt abbog, riss er das Steuer herum und schlug den Weg nach Thann ein. Ganz so, als lenkten unsichtbare Hände den Wagen für ihn.

Rachel parkte ihren Wagen im Innenhof des Klosters. Heute standen dort keine anderen Autos. Stattdessen würde sie eine exklusive Führung von Luc Chartiers rechter Hand bekommen und sollte sich eigentlich darüber freuen.

In diesem Moment kam ein gepflegter älterer Mann mit schütterem braunen Haar auf sie zu, um sie zu begrüßen. Er war etwa im selben Alter wie ihr Großvater, aber körperlich in viel besserer Verfassung.

„Ich fühle mich schuldig, weil Sie mich an Ihrem freien Tag herumführen müssen, Monsieur Lambert“, entschuldigte Rachel sich nach der Begrüßung.

„Nennen Sie mich doch Giles. Sie müssen sich nicht schuldig fühlen. Seit meine Frau tot ist, freue ich mich immer über etwas Abwechslung. Es ist mir ein Vergnügen, Ihnen alles zu zeigen. Kommen Sie, lassen Sie uns loslegen.“

„Gern, vielen Dank.“ Als Rachel ihm kurz darauf sagte, dass er sich bewegte wie ein deutlich jüngerer Mann, erwiderte er nur: „Das verdanke ich bestimmt dem Wein.“

Sie folgte ihm in den Weinkeller, ein beeindruckender Raum mit einer gewölbten Decke. Hier gab es eine lange Bar mit vielen Weinen, die sie am liebsten alle sofort probiert hätte. Aber besonders faszinierte Rachel der große Schrank gegenüber der Bar, in dem Artefakte ausgestellt waren, die zur Weinherstellung benutzt wurden.

Daneben hing eine Karte, auf der der Kelterungsprozess so erklärt wurde, dass selbst ein Laie ihn verstand. Den Text gab es auf Französisch, Englisch, Deutsch und Spanisch.

„Faszinierend“, sagte Rachel mit leuchtenden Augen. „Das habe ich noch nie gesehen.“

Während sie fotografierte, stellte Giles ein paar Flaschen auf den Tresen.

„Es war Lucs Idee. So sparen wir Zeit und können uns intensiver um die Kunden kümmern.“

„Wirklich genial.“ Plötzlich fiel ihr Blick auf einen alten jadegrünen Kelch mit der Inschrift „Hochzeitskelch der Familie Chartier. Vierzehntes Jahrhundert“.

„Erzählen Sie mir mehr darüber“, bat sie entzückt.

„Worüber?“

Plötzlich schlug ihr Herz wie wild, denn es war nicht Giles, der die Frage gestellt hatte. Lucs Akzent hätte sie überall wiedererkannt.

„G…guten Morgen“, stotterte sie und sah ihn überrascht an. „Ich dachte, dies wäre Ihr freier Tag.“

In seinem grauen Rollkragenpullover und den weißen Cargohosen sah er fantastisch aus. Sie konnte den Blick kaum von ihm wenden.

„Was ich heute noch erledigen muss, kann warten. Was hat Sie denn in unserem Ausstellungsschrank so fasziniert?“

Als er näher kam, stieg ihr der Duft seiner Seife in die Nase. All ihre Sinne waren auf ihn konzentriert.

„Der Hochzeitskelch. Ich würde gern wissen, welche Geschichte sich dahinter verbirgt.“

„Wenn ein Mann aus unserer Familie die Frau gefunden hat, die er liebt, füllt er diesen Kelch mit Wein. Dann trinken beide daraus, und er verspricht ihr, dass er sie immer lieben wird. Das Ganze nennt sich das Hochzeitsritual der Reben. Mein Vater und all meine Vorväter haben sich auf diese Art mit ihren Frauen verlobt, bevor sie in der Klosterkapelle getraut wurden.“

Das war ja märchenhaft! Wie es wohl sein mochte, sich mit einem Mann wie Luc durch ein so aufregendes Ritual zu vermählen?

Gestern hatte er ihr erzählt, dass er geschieden war. Bestimmt litt seine Frau sehr unter der Trennung.

Sie räusperte sich. „Das ist wirklich eine fantastische Geschichte, monsieur.“

„Mögen Sie Traditionen?“

„Ich glaube, dass Traditionen das Leben bereichern.“

Noch immer sah er sie unverwandt an.

„Ja, das glaube ich auch“, sagte er dann. „Und jetzt würde ich gern wissen, ob es außer dem geschäftlichen noch einen anderen Grund gibt, aus dem Sie hier sind.“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Ganz einfach. Offensichtlich hatten Sie noch nie von unseren Weinen gehört, sonst hätten Sie sich im Hotel bestimmt nicht danach erkundigt. Seien Sie ehrlich – wie viele Leute in Thann kennen Sie überhaupt?“

Gegen ihren Willen erwiderte sie sein Lächeln.

„Ich kenne eine Person, aber …“

„Aber Sie wollen mir nicht verraten, wer das ist.“

„Ich möchte Sie nicht mit Details aus meinem Privatleben belästigen. Bestimmt sind Sie ein sehr beschäftigter Mann.“

„Wenn Sie mich langweilen würden, wäre ich heute bestimmt nicht extra hierhergefahren.“

Errötend wandte Rachel den Blick ab. Ob sie ihm glauben konnte, wusste sie nicht. Aber sie wusste, dass ihr sehnlichster Wunsch erfüllt worden war.

„Um die Wahrheit zu sagen, ich wusste zwar, dass es ausgezeichnete elsässische Weine gibt. Aber es war mein Großvater, der mir geraten hat, hierherzufahren.“ Sie zögerte, bevor sie weitersprach. „Er ist sehr krank. Vor drei Wochen bat er mich, eine alte Kiste für ihn durchzusehen, in der seine Tagebücher liegen. Dort habe ich mich durch einen großen Stapel Briefe und Fotos gewühlt. Als ich ihm erzählte, dass ich nach Frankreich fahre, um Wein einzukaufen, bat er mich, auch nach Thann zu fahren und dort einen alten Freund von ihm zu besuchen, den er im Zweiten Weltkrieg in Italien getroffen hat. Offensichtlich haben sie sich in den Jahren danach aus den Augen verloren. Er hat mir viele Fotos von seinem Freund gezeigt, die alle in der Kiste waren. Die meisten von ihnen habe ich mit hierher genommen.“

„Ah, oui?“, fragte Giles. „Und wie heißt dieser Mann?“

„Louis Delacroix.“

Giles schlug sich gegen die Stirn. „Mon Dieu – Louis? Hast du das gehört, Luc?“

„Allerdings“, erwiderte Luc und warf Rachel einen so merkwürdigen Blick zu, dass ihre Knie ganz weich wurden.

„Louis war ein guter Freund von mir“, erklärte Giles, „aber er ist vor vier Jahren an Lungenentzündung gestorben.“

Diese Nachricht erschütterte Rachel. „Oh, das tut mir sehr leid. Mein Großvater wird untröstlich sein. Er hatte sich so darauf gefreut, mit Louis über die alten Zeiten zu sprechen.“

Die Augen des älteren Mannes wurden feucht. „Viele von uns sind im Krieg gestorben. Louis war einer der wenigen, die heil zurückgekommen sind.“

„Mein Großvater bat mich, ihn zu fragen, wer den besten Weißwein im Elsass produziert. Wahrscheinlich hätte er mich an Ihr Weingut verwiesen.“

Verblüfft sah Giles sie an. „Das ist wirklich ein unglaublicher Zufall. Ich mache Ihnen einen Vorschlag, mademoiselle. Morgen fahren wir alle gemeinsam nach Ribeauville und besuchen Louis’ Schwester.“

„Wirklich?“, fragte sie begeistert. „Glauben Sie, wir könnten sie dazu bewegen, mit meinem Großvater zu telefonieren?“

In einer typisch französischen Geste hob er die Arme. „Sie wird so lange reden, bis ihm die Ohren abfallen.“

Rachel lachte, und Luc meinte: „Ich habe noch eine bessere Idee, Giles. Wenn du für morgen einen Termin mit Solange vereinbarst, werde ich Miss Valentine heute durch unsere Weinberge führen. Bei dieser Gelegenheit kann sie auch die Weine verkosten, die du für sie ausgesucht hast. Ich melde mich dann später bei dir.“

„Parfait.“ Giles packte die Flaschen in einen Karton. „Ich stelle das schon mal in deinen Wagen.“

Als er gegangen war, sah Luc Rachel fragend an. „Woran denken Sie gerade?“

„Sobald es meinem Großvater wieder besser geht, werde ich ihn hierher nach Thann bringen. Giles und er sollten sich kennenlernen. Sie sind beide ganz außergewöhnliche Männer.“

„Ihr Großvater kann sich glücklich schätzen, eine so liebevolle Enkelin zu haben.“

Sagen Sie so etwas bitte nicht zu mir. Rachel war überwältigt von der Anziehungskraft, die von ihm ausging. Eigentlich sollte sie sofort in die Champagne weiterfahren, um sich in Sicherheit vor diesem Mann zu bringen.

„Wollen wir aufbrechen?“ Er berührte sie kurz am Ellenbogen, und die kleine Berührung ging ihr durch und durch.

„Vielleicht sollten wir zuerst Ihren Mietwagen zurückbringen. Und dann würde ich Sie auch lieber in einem besseren Hotel unterbringen.“

Rachel schüttelte den Kopf. „Meinetwegen müssen Sie sich nicht solche Mühe geben.“

Er wartete, bis sie eingestiegen war. Dann beugte er sich durch das offene Fenster zu ihr herab. „Das ist keine Mühe. Ohne Einkäuferinnen wie Sie könnte ich mein Geschäft gleich zumachen.“

Rachel schluckte. Seinem Charisma völlig erlegen, hatte sie ganz vergessen, dass sie in die Kundenkategorie fiel.

Er hingegen nicht.

3. KAPITEL

Kurz bevor sie Ribeauville erreichten, wandte Rachel sich an Luc.

„Sie leben am schönsten Ort der Erde.“ Genießerisch sog sie die warme Juniluft in tiefen Zügen ein. „Das Elsass ist wahrscheinlich eines der am besten gehüteten Geheimnisse der ganzen Welt.“

Schon die ganze Fahrt über unterhielt Luc sie mit Anekdoten über die Gegend. Besonders die Legende von Thann, das so genannte Wunder der Tannen, hatte es Rachel angetan. Sie hätte ihm ewig zuhören können.

Er nickte. „Auch wenn es ein wenig selbstgerecht klingt – das sehe ich genauso. Ich wollte noch nie woanders leben oder eine andere Arbeit als mein Vater machen.“ Dann fragte er: „Wie kam es eigentlich dazu, dass Sie sich für eine Karriere als Weinexpertin entschieden haben?“

„Nun, im Gegensatz zu Ihnen wusste ich lange nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Ich habe Kommunikationswissenschaft studiert, allerdings ohne ein konkretes Ziel. Als Belohnung für den Abschluss nahm mein Großvater mich dann auf eine Geschäftsreise nach Italien mit, wo er Wein einkaufen wollte. In Umbrien haben wir uns mit einem älteren blinden Winzer getroffen. Er war an den Rollstuhl gefesselt und in seinem ganzen Leben noch nie aus seinem Dorf herausgekommen. Aber er wusste alles über die Weine auf der ganzen Welt. Als ich ihn fragte, woher er sein Wissen hatte, sagte er mir, es wäre nicht nötig zu reisen, wenn man etwas über Wein lernen wollte. Man müsse ihn einfach nur trinken.“

Luc nickte. „Das stimmt.“

„Er hat es nie erfahren, aber dieser Mann und mein Großvater waren die beiden Männer, die mich dazu bewogen haben, mein Leben der Weinkunde zu widmen. Glücklicherweise hat meine Familie diesen Wunsch immer unterstützt.“

„Ja, ich habe auch den Eindruck, dass Sie ein ganz natürliches Talent dafür besitzen.“

„Danke. Das aus Ihrem Mund zu hören bedeutet mir viel.“ Sie schwieg einen Moment. „Auf der Fahrt hierher hätte ich fast geweint, weil ich an den alten Winzer denken musste, der die Schönheit dieser Landschaft niemals sehen konnte.“

Nach dieser Bemerkung schwiegen sie beide eine Weile, während sie immer höher in die Berge fuhren und die Zivilisation langsam hinter sich ließen.

Wie in einem Mosaik setzte sich die Landschaft aus den verschiedenen terroirs zusammen. Nach einer langen Kurve erblickte Rachel ein kleines zweistöckiges Haus. Es krönte einen Hügel und erinnerte sie ein wenig an die Häuser, die sie im Schwarzwald gesehen hatte. Offensichtlich wurde daran noch gebaut. Direkt davor erstreckte sich ein kleiner Weinberg.

Zu ihrer Überraschung fuhren sie direkt darauf zu. Luc hielt den Wagen vor einer Garage an.

Rachel stieg aus und sah sich bewundernd um. Sie konnte sich von dem fantastischen Blick, der sich ihr von hier aus bot, kaum lösen.

„Ich habe das Gefühl zu träumen“, sagte sie andächtig. „So viel Schönheit tut fast weh.“

„Ich wusste, dass es Ihnen gefallen würde“, sagte Luc, der jetzt direkt hinter ihr stand.

„Heißt das, Sie bringen nicht alle Ihre Kunden hierher?“

„Nein, ich habe schon lange niemanden mehr getroffen, der so sensibel auf diese Umgebung reagiert. Wenn ich es mit Ihren Augen sehe, kann ich es noch mehr schätzen. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?“

„Seit wann sind Sie eigentlich schon geschieden?“ Was sie zu dieser Frage bewogen hatte, konnte Rachel selbst nicht sagen.

Er rührte sich nicht, aber plötzlich lag ein dunkler Schatten auf seinem Gesicht, und der Funke der Begeisterung erlosch in seinen Augen.

„Seit drei Jahren.“

„Das tut mir leid für Sie, monsieur.“

„Ich heiße Luc. Ist das so schwierig?“

„Ein wenig“, gab sie zu. „Manchmal habe ich Probleme mit dem französischen ‚u‘.“

„Welcher Teil von Ihnen ist eigentlich amerikanisch?“

„Meine Mutter stammte aus New York.“

„Heißt das, sie ist tot?“

„Ja.“

„Mein Vater ist vor zwei Jahren gestorben. Man hört nie auf, sie zu vermissen, stimmt’s?“

„Ja, das stimmt. Aber wenigstens haben Sie ja Giles, der Sie wie einen Sohn zu lieben scheint.“

„Er ist auch wie ein Vater für mich. Und ich lerne noch immer alles über Weinkunde von ihm. Lebt Ihr Vater noch?“

„Oh ja.“

„Und stehen Sie sich nahe?“

„Er leitet eines unserer Restaurants, daher sehen wir uns ziemlich oft. Aber nachdem er viermal verheiratet war, sind enge Beziehungen nicht seine Sache. Ich …“ Mitten im Satz brach sie ab.

„Ja?“

„Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht mit meinen familiären Problemen belasten.“ Sie sah sich interessiert um. „Was für eine Traube wird hier denn angebaut?“

„Sylvaner.“

„Aha.“

Herausfordernd sah er sie an. „Also, was wissen Sie darüber?“

War das ein weiterer Test? Rachel schloss die Augen. „Sylvaner ist frisch – fruchtig – trocken – jung. Na, was sagen Sie dazu?“

Sie öffnete die Augen wieder, aber das war ein Fehler. Denn Luc starrte wie gebannt auf ihren Mund, und plötzlich hatte sie nur noch einen Gedanken.

„Sie haben würzig vergessen“, sagte er schließlich.

„Stimmt. Ach, es gibt noch so viel darüber zu lernen.“

„Sie wissen doch schon eine ganze Menge. Von mir bekommen Sie nur beste Noten, Rachel.“

Immer wenn er ihren Namen mit seinem französischen Akzent aussprach, vergaß sie, worüber sie gerade redeten.

Er betrachtete seinen Weinberg. „Der Wein, den ich hier anbaue, ist noch sehr jung. Deshalb habe ich mich entschlossen, mein Haus ebenfalls hier zu bauen, um ein wenig experimentieren zu können.“

„Das kann ich gut verstehen. Bestimmt ist es sehr inspirierend, an diesem himmlischen Ort weit weg von allen Ablenkungen zu leben. Wann ist Ihr Haus denn fertig?“

„Bis auf ein paar Kleinigkeiten könnte ich heute schon einziehen.“

Von dieser Art Zufluchtsort hatte Rachel auch für sich selbst geträumt. Vielleicht würde sie sich eines Tages auch so ein Haus kaufen.

Plötzlich stellte sie sich vor, wie es wohl sein mochte, mit Luc hier zu leben.

Aber das war unmöglich. Sie hatte seinen Schmerz gesehen, als er ihr von seiner Scheidung erzählt hatte. Er musste seine Frau sehr geliebt haben, sonst hätte er bestimmt längst wieder geheiratet.

Sie war vertraut mit dem Kummer, den eine Scheidung mit sich brachte. Genau diese Familientragödie hatte sie und ihre Zwillingsschwester schließlich entzweit.

Noch immer schmerzte es sie, wenn sie daran dachte, dass sie nicht am Sterbebett ihrer Mutter gewesen war und Rebecca und sie sich so entfremdet hatten.

Dann zwang sie sich wieder in die Gegenwart zurück.

„Sie können von Glück sagen, einen so einsamen Ort gefunden zu haben.“

„Sie leben wahrscheinlich mitten in London, oder?“

Rachel nickte. „Vor ein paar Jahren habe ich mir dort eine Eigentumswohnung gekauft. Sie liegt genau zwischen Earl’s Court, Fulham und Chelsea.“

„Eine sehr beliebte Ecke. Einer meiner Einkäufer betreibt dort einen Club.“

„Ja, das Angebot an schönen Läden und Clubs ist dort sehr groß. Aber vor allem liegt die Wohnung ganz nah bei dem Restaurant, das mein Vater leitet.“

„Und wer betreibt die beiden anderen?“

„Mein Onkel John und sein Sohn Dominik.“

„Also ein richtiges Familienunternehmen, wie bei mir. Das kann manchmal ganz schön anstrengend sein.“

„Das ist noch untertrieben.“

„Erzählen Sie mir davon“, forderte er sie auf.

„Mein Vater und sein Halbbruder John haben immer um die Gunst meines Großvaters gekämpft. Noch hält mein Großvater die Zügel in der Hand. Aber nach seinem Tod plant mein Vater, seine Nachfolge anzutreten. Leider hat John dasselbe vor. Sie können sich bestimmt vorstellen, zu welchen Spannungen das führt.“

Luc nickte mitfühlend.

„Mein Vater hat sich schrecklich aufgeregt, als er erfuhr, dass ich ins Elsass gefahren bin. Das war die Idee meines Großvaters. Ich liebe ihn über alles, aber es ist ziemlich kompliziert, denn …“

„… denn Ihr Vater erwartet vor allem Loyalität von Ihnen“, ergänzte er mit einem Maß an Verständnis, das sie erstaunte.

„Genau.“

„Ob Sie es glauben oder nicht, das kann ich gut nachvollziehen. Ich habe einen Onkel, der sehr eifersüchtig auf meine Freundschaft mit Giles ist. Und mein Schwager fühlt sich zurückgesetzt, wenn ich ihm einen anderen Manager vor die Nase setze.“

„Kein Wunder, dass Sie sich einen solchen Zufluchtsort gesucht haben. Wenn ich nicht an London gebunden wäre, würde ich mir genau so einen Platz suchen. Das Licht ist fantastisch.“

Bevor Luc antworten konnte, klingelte sein Handy. Nach einem Blick aufs Display verfinsterten sich seine Züge.

„Entschuldigen Sie, Rachel, ich muss kurz drangehen.“

Wenig später sah er sie entschuldigend an. „Es tut mir leid, aber mir ist etwas Wichtiges dazwischengekommen. Ich fürchte, wir müssen gehen.“

„Natürlich. Ich bin ohnehin überrascht, dass Sie mir überhaupt so viel Zeit widmen konnten.“

Sie gab sich Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen, und ging schnell zum Wagen.

Auf der Fahrt sagte Luc: „Morgen werden wir unsere Tour fortsetzen. Sie müssen unbedingt noch unsere Sylvaner- und Pinot-Blanc-Trauben probieren.“

„Aber nur, wenn es Ihr Zeitplan erlaubt. Heute werde ich mir erst einmal die Proben von Giles vornehmen.“

„Wir kommen gleich zu einem Landgasthof, der berühmt für seine Küche ist. Dazu gehört auch ein Bauernhof. Sie bekommen ein Zimmer im oberen Stock. Von dort haben Sie einen wunderbaren Blick auf die Landschaft.“

„Das klingt fantastisch.“ Erstaunlich, wie viel Mühe er sich mit ihr gab. Trotzdem war sie enttäuscht, dass er sie schon so bald wieder verlassen musste. Im Stillen hatte sie gehofft, dass sie den ganzen Tag miteinander verbringen würden. Aber jetzt musste sie sich bis morgen gedulden.

Das bedeutete eine weitere schlaflose Nacht.

„Falls der Gasthof ausgebucht ist, kann ich auch immer in einem kleinen Hotel in der Stadt übernachten.“

Plötzlich ging wieder eine unerklärliche Spannung von ihm aus. Genau wie gestern.

„Mein Firmensitz liegt zwar in St. Hippolyte, aber ich habe mit dem Besitzer vereinbart, dass er meine Einkäufer zu jeder Zeit unterbringt.“ Mit einem Mal klang er sehr distanziert.

Als sie bei dem Gasthof eintrafen, bestätigte der herzliche Empfang, den der Besitzer ihnen bereitete, Lucs Worte.

Nachdem Remy sie begrüßt hatte, bat er einen seiner Angestellten, Rachels Gepäck und die Kiste mit Wein nach oben zu bringen.

„Remy wird sich gut um Sie kümmern, Miss Valentine.“

Plötzlich war sie also nicht mehr Rachel?

Offensichtlich wollte Luc seinem Freund nicht den falschen Eindruck von ihrer Beziehung vermitteln.

„Genießen Sie Ihren Aufenthalt!“

Obwohl er die ganze Zeit über ausgesprochen höflich gewesen war, konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er es eilig hatte wegzukommen.

Nun, sie wollte ihn nicht länger aufhalten. „Vielen Dank, Monsieur Chartier.“

„A demain.“

Bis morgen. Also gut.

In ihrem rustikalen Zimmer schlüpfte Rachel in Jeans und ein Top und griff nach ihren Wanderschuhen.

Dann verließ sie den Landgasthof. Wenn sie sich jetzt keine Bewegung verschaffte, würde sie verrückt werden. Ein Spaziergang war hoffentlich genau das Richtige.

Es ließ sich nicht leugnen, dass sie sich sehr stark zu Luc hingezogen fühlte. Dieses Gefühl ging weit über das Körperliche hinaus.

Wenn es passiert, wirst du es wissen, hatte ihr Großvater immer gesagt.

Rachel fürchtete, dass sie es bereits wusste.

„Entschuldige bitte, dass ich so spät bin“, sagte Luc, als er das Büro seines Anwalts betrat. „Es ging einfach nicht früher.“

Pas de problème. Ich hatte noch genug Akten zu studieren.“ Paul legte seine Brille ab und sah ihn an.

„Ich dachte, du solltest wissen, dass Paulettes Familie sich einen neuen Anwalt genommen hat.“

„Einen neuen Anwalt?“

Paul nickte. „Ja, einen Kollegen aus Paris namens Lebaux, der auf solche Fälle spezialisiert ist.“

„Das können sie sich doch gar nicht leisten!“

Yves betrieb in der Stadt einen Laden für Computerzubehör, der nicht schlecht lief. Aber allein bei der Vorstellung, dass er vielleicht ein Darlehen hatte aufnehmen müssen, nur um einen teuren Anwalt zu bezahlen, wurde Luc ganz schlecht.

„Wie dem auch sei, Lebaux hat das Mandat jedenfalls angenommen, und es ist ihm auch gelungen, einen früheren Gerichtstermin zu erwirken.“

„Für wann?“

„Den Zwanzigsten. Das heißt, kommenden Montag um vierzehn Uhr. Um ehrlich zu sein, mache ich mir keine großen Hoffnungen, dass du den Fall gewinnst.“

„Ja, das ist mir klar.“

„Das Einzige, was für dich spricht, ist dein aufrichtiger Wunsch, dass Paulette noch einmal zum Leben erwacht. Deine Hingabe ist beispiellos. Niemand kann dir vorwerfen, dass du sie nicht geliebt hast, egal ob verheiratet oder nicht.“

Luc hielt es nicht länger auf seinem Stuhl. Erregt sprang er auf und dachte daran, dass seine Gedanken seit gestern nur noch um Rachel kreisten.

Heute hatte er sich so sehr zu ihr hingezogen gefühlt, dass er bei der Vorstellung, sie könnte das Elsass bald verlassen, kaum noch Luft bekam.

Noch nie zuvor hatte eine Frau eine solche Wirkung auf ihn gehabt. Aber wie konnte das sein, wenn er noch immer darum kämpfte, dass Paulette aus dem Koma erwachte.

Frustriert rieb er sich den Nacken.

„Wir müssen uns eine neue Strategie ausdenken, Luc. Am besten sofort.“

„Tut mir leid, das geht jetzt nicht.“

Bon. Dann ginge es bei mir nur morgen früh.“

Morgen wollte Luc eigentlich Zeit mit Rachel verbringen, bevor er zu diesem verdammten Bankett musste.

„Um wie viel Uhr?“

Autor

Rebecca Winters

Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

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