Romantik und Leidenschaft - Best of Digital Edition 2019

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DER GENTLEMAN MIT DEM KALTEN HERZEN

Einem Gerücht zufolge besitze ich gar kein Herz, Mrs Marchmain. Eigentlich sollte Belle den kühlen Adam Davenant hassen, als er sie scheinbar ungerührt zu einer Scheinverlobung zwingt. Doch dann zeigt er ihr seine ungeahnt leidenschaftliche Seite - und Belle wünscht sich plötzlich, ihr Spiel würde nie enden…

LIEBESERWACHEN IN SCHOTTLAND

Klopfenden Herzens sitzt Esme in der Kutsche, neben ihr Quintus MacLachlann - arrogant und ohne jeden Respekt vor Frauen. Doch wenn sie ihrem Bruder helfen will, muss sie die liebende Gattin des attraktiven Schotten spielen. Plötzlich merkt Esme, dass ihr das immer leichter fällt - hat sie sich etwa in den Lebemann verliebt?

FRÜHLING SÜßER VERHEIßUNGEN

Als Sophie Langford zögernd das Schiff verlässt, traut James, Duke of Belfont, seinen Augen kaum: Er hatte ein junges Mädchen erwartet, keine attraktive Frau! Diese Schönheit soll sein Mündel sein? Beim ersten Blick in Sophies Augen ahnt James, dass der kommende Frühling an ihrer Seite voller süßer Verheißungen ist …


  • Erscheinungstag 23.01.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733729653
  • Seitenanzahl 390
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Lucy Ashford, Margaret Moore, Mary Nichols

Romantik und Leidenschaft - Best of Digital Edition 2019

IMPRESSUM

Der Gentleman mit dem kalten Herzen erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2013 by Lucy Ashford
Originaltitel: „The Outrageous Belle Marchmain“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL SAISON
Band 21 - 2014 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Übersetzung: Vera Möbius

Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A. kostins/GettyImages

Veröffentlicht im ePub Format in 04/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733746254

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Sawle Down, Somerset, März 1819

An diesem Frühlingsnachmittag lag ein Zauber über den grünen Hügeln von Somerset, der nicht von dieser Welt zu sein schien. Zumindest glaubten das die Leute dieser Gegend, die sich noch an die alten Sagen von Elfen und Feen erinnerten.

Adam Davenant, ein nüchterner Geschäftsmann, glaubte nicht an diesen Unsinn. Dennoch verhielt er sich genauso wie die Steinbruchbesitzer Generationen vor ihm. Er betrachtete den großen, soeben aus dem Boden gehauenen honigfarbenen Stein in seiner Hand und klopfte dreimal darauf, damit er ihm Glück bringen möge.

Vielleicht liegt in der Erde unter mir dieser Reichtum in dreihundert- oder dreitausendfacher Menge.

In der Nähe festgebunden wartete sein großer Rotschimmel Goliath, der sich nicht vom Lärm der Steinbrucharbeiter und ihrer Werkzeuge beeindrucken ließ.

Adam wandte sich lächelnd an den Mann an seiner Seite. „Also geht alles gut voran, Jacob?“

„Wie geschmiert, Master Adam“, versicherte der alte Mann, der staubige Arbeitskleidung trug. „Besonders, seit Sie den Jungs und mir letzten Monat erzählt haben, dass ein paar vornehme Londoner an unserem Stein interessiert sind.“

„Sogar brennend interessiert, Jacob. Die Bauunternehmer sind ganz versessen darauf.“

„Mit gutem Grund.“ Jacob klopfte mit seinen rauen, schwieligen Fingerknöcheln gegen einen frisch gehauenen Steinblock. „Klingt so rein wie Porzellan. Hören Sie das, Sir? Makellos!“

Adam folgte ihm zu einer Gruppe von Männern, die mit Spitzhacken rhythmisch gegen eine Felswand schlugen. Die warme Märzsonne und die harte körperliche Arbeit ließ den Arbeitern die Hemden auf den Rücken kleben, ihre verschwitzten Arme und Gesichter waren von aufgewirbeltem Staub bedeckt. Sobald sie den Besucher erkannten, grinsten sie und ließen ihre Werkzeuge sinken.

Adam warf sich seinen dunklen Reitrock über die Schulter, stellte den Männern einige Fragen und lobte ihren Fleiß. Er war der Eigentümer des Steinbruchs, trotzdem war er sich nie zu schade, selbst zur Spitzhacke zu greifen, wenn eine Notlage es erforderte.

Jacob Mallin strahlte vor Stolz. „Sir, Sie haben den Jungs versprochen, dass sie in diesem Steinbruch wieder was fördern würden, und Sie haben Wort gehalten.“

Als Adam sich erneut zu ihm wandte, schien die Sonne auf sein dunkles kurz geschnittenes Haar und seine hohen Wangenknochen. „Ich halte immer mein Wort. Sagen Sie den Männern, ich würde sie gut für ihre Arbeit bezahlen. Wenn Sie etwas brauchen, neue Werkzeuge oder Sprengstoff, geben Sie bitte meinem Ingenieur Shipley Bescheid.“

Zustimmend nickte Jacob und die Männer begannen, sich leise zu unterhalten. „Ein anständiger Gentleman … Keiner würde härter arbeiten … Oder uns besser behandeln …“

Ja, Master Adam hatte das Gespür seines Großvaters geerbt und wusste, wie man Geld verdient. Aber er war auch ein ehrenhafter und aufrichtiger Mann, der seine Versprechen stets einlöste. Seit der Wiederöffnung des alten Steinbruchs schöpften viele Menschen in dieser Gegend neue Hoffnung.

„Aye, ich sag’s den Jungs“, versicherte Jacob. „Schicken Sie die Steine nach Bristol, wenn’s so weit ist, Sir?“

Adams Blick schweifte über das hügelige grüne Land. Als er den alten Mann wieder anblickte, erschien ein neuer Glanz in seinen dunklen Augen. „Nein, ich baue eine Eisenbahnlinie zum Kennet-und-Avon-Kanal. Von dort aus werden die Steine über den Kanal und die Themse nach London verschifft.“

„Aber das Land zwischen dem Steinbruch und dem Kanal gehört Ihnen nicht, Master Adam. Zumindest nicht die ganze Strecke.“

Adam ging zu seinem Rotschimmel und band seinen zusammengerollten Reitrock hinter dem Sattel fest. Für einen solchen Frühlingstag war das Kleidungsstück viel zu warm. „Niemals ließ sich mein Großvater von einem so belanglosen Hindernis aufhalten.“ In seiner Stimme schwang ein Unterton mit, der seine stahlharte Entschlossenheit verriet. Gleich darauf stieg er auf sein Pferd und ritt davon.

Erstaunt schüttelte Jacob den grauhaarigen Kopf und schaute dem Reiter nach. „Nichts wird ihn aufhalten“, murmelte er voller Bewunderung. „Gar nichts. Daran gibt’s keinen Zweifel.“

Goliath wollte galoppieren und Adam ließ ihm freien Lauf.

Mein Junge, es ist einfach großartig, das Land zu besitzen, das man unter den Hufen seines Pferdes spürt. Besonders, wenn dieses Land bis vor Kurzem jemandem gehört hat, der lieber die Straßenseite wechselte, als einen zu begrüßen.

Deutlich erinnerte er sich an die Sätze seines Großvaters. Dieser Mann hatte Tag und Nacht hart gearbeitet, um sich von der Schande seines Spitznamens zu befreien. „Bergmann Tom“, so hatte ihn die vornehme Gesellschaft verächtlich genannt. Doch zu seinem prunkvollen Begräbnis waren sämtliche Aristokraten aus Bath und London herbeigeeilt. Anscheinend hatten sie am Ende seinen wahren Wert erkannt.

Sein Großvater hatte sich inständig gewünscht, die einstigen Spötter würden auch seinen Enkel anerkennen. Dieses Ziel war nun erreicht. Adams größtes Glück bestand darin, durch die reizvolle Landschaft Somersets zu reiten und dabei tief in sich die Gewissheit zu spüren, dass er den Reichtum ernten würde, der unter diesen Hügeln lag – das kostbare Gestein.

Man hatte behauptet, der Sawle-Down-Steinbruch sei vollständig ausgeschöpft. Vor fünfzig Jahren hatte er zuletzt Gewinn abgeworfen, danach hatten die Kosten einer weiteren Förderung alle Geldgeber abgeschreckt. Adam jedoch hatte die Nachfrage nach gutem Baumaterial und dessen steigende Preise vorausgeahnt, die Investitionen nicht gescheut und die Schwarzseher eines Besseren belehrt. Neuerdings mutmaßten seine Kritiker, er könnte die Steine niemals zum Kennet-und-Avon-Kanal und von dort nach London transportieren. Auch diesmal würde er ihnen das Gegenteil beweisen.

Plötzlich erregte eine Bewegung in der Ferne seine Aufmerksamkeit. Ein anderer Reiter genoss wie er die Nachmittagssonne – und wagte sich dreist auf seinen Grund und Boden.

Offenbar handelte es sich um eine Frau.

Adams Augen verengten sich, dann ließ er seinen Hengst in einen leichten Galopp fallen und ritt auf sie zu. Fluchend beobachtete er, wie sie den Kopf ihrer hübschen gescheckten Stute herumlenkte und eilig davonjagte. Welch ein Leichtsinn, dieses Tempo … Noch dazu galoppierte sie auf den Rand eines anderen alten Steinbruchs zu.

Um ihr den Weg abzuschneiden, ritt er in weitem Bogen über einen Hang. Hier war das Terrain gefährlich. So einladend die grasbewachsenen Hügel von Sawle Down auch aussahen – auf den Schafweiden lag der Schutt längst stillgelegter Steinbrüche, der schon vielen unvorsichtigen Reitern zum Verhängnis geworden war. Und tatsächlich – schon nach wenigen Minuten strauchelte die Stute und warf ihre Reiterin ab.

Kurz danach erschien Adam an der Unglückstelle, stieg von seinem Pferd und kniete neben der am Boden liegenden Gestalt nieder.

Sie trug ein Reitkostüm aus scharlachrotem Samt, der nun ein wenig zerknittert war. Ihre üppigen schwarzen Locken waren zerzaust und bedeckten das Gras neben ihr. In der Nähe lag ein kleiner Hut mit roten Federn. Adam betrachtete das vollkommene Oval ihres Gesichtes, ihre wohlgeformte kleine Nase und die langen dunklen Wimpern auf ihren milchweißen Wangen. Ihr Mund ähnelte der Knospe einer Rose, so vollendet geschwungen waren ihre Lippen. Ein schwacher Lavendelduft wehte Adam entgegen.

Wer mochte sie sein? Und warum zum Teufel war sie allein ausgeritten? Offensichtlich stammte sie aus gutem Haus. Jetzt bewegten sich ihre Lider. Blinzelnd öffnete sie die Augen und er stand hastig auf, als er ihre angstvolle Miene sah.

Mit einiger Mühe erhob sie sich. Er bezwang den Impuls, ihr seine Hand zu reichen, denn ebenso wie seine Kleidung waren auch seine Hände noch mit dem Staub des Steinbruchs bedeckt. „Sind Sie verletzt?“, fragte er. „Vielleicht sollte ich …“

„Verschwinden Sie!“

Adams Lippen kräuselten sich. Wie er es vermutet hatte. Von vornehmer Herkunft, das bestätigte der verächtliche Klang ihrer Stimme. Sie mochte etwa fünfundzwanzig Jahre alt sein. „Ich wollte nur sehen, ob Sie nach Ihrem Sturz Hilfe brauchen, Madam.“

Hochmütig reckte sie ihr kleines Kinn vor. In ihren tiefgrünen Augen erschien ein rebellisches Funkeln. Wie abschätzig sie ihn musterte … Dann klopfte sie sich Grashalme und Erdkrümel vom Rock, strich sich die üppigen Locken aus dem Gesicht und humpelte auf ihr Pferd zu. „Poppy!“, rief sie. „Hierher!“

Aber die Stute wieherte nur und trottete zu Goliath, der seelenruhig in der Nähe graste. Unsicher zögerte die junge Dame und biss sich auf die Lippen.

„Ihre Stute ist erschrocken“, erklärte Adam und stellte sich ihr in den Weg. „Vielleicht war es etwas unvorsichtig von Ihnen, hierher zu reiten, Madam. Wissen Sie nicht, dass es in dieser Gegend einige Steinbrüche gibt?“

„Wie kann man eine solche Landplage ignorieren?“ Sie erschauerte. „Ständig dieser Lärm …“

„Gewiss, aber einer dieser Steinbrüche verschafft vielen Männern Arbeit und ernährt ihre Familien.“

Verwirrt starrte sie ihn an, als hätte er soeben eine fremde Sprache benutzt. „Entschuldigen Sie mich, Sie stehen mir im Weg.“

Doch er rührte sich nicht von der Stelle. „Ich wollte nur herausfinden, was Sie hier tun.“

Sie rümpfte ihre zierliche Nase und musterte sein Hemd, dessen Kragen geöffnet war, und seine staubigen Stiefel. Die altvertraute Bitterkeit stieg in ihm auf. Vermutlich war diese Dame die Gemahlin eines Lords – darauf ließen ihr Reitkostüm, die edlen Stute und der Ehering an ihrem Finger schließen. Solche Frauen schauten auf ihn herab. Bis ihnen jemand mitteilte, wer er war.

Verdammt wollte er sein, wenn er diese Dame darüber informierte.

Sie wandte sich zur Seite, um ihren Hut aufzuheben, dann ging sie wieder auf ihr Pferd zu. Anscheinend wünschte sie keine Konversation mit einem Mann, den sie für einen Arbeiter hielt.

„Sind Sie mit einem Reitknecht hierhergekommen?“, rief er ihr nach.

Widerstrebend drehte sie sich um. „Nein, ich reite lieber allein aus. Und ich bin gern allein.“ Mit dem Hut in der einen Hand, raffte sie mit der anderen ihre Röcke und setzte ihren Weg fort. Gegen seinen Willen registrierte Adam die schmalen Fußknöchel in den ledernen Halbstiefeln.

Die gescheckte Stute war erneut davongetrottet. Nun beobachtete sein Rotschimmel die Ereignisse mit wachsendem Interesse.

„Hierher, Goliath!“, befahl ihm Adam.

Der Hengst gehorchte, Poppy folgte ihm und Adam bekam ihre Zügel zu fassen. Besänftigend streichelte er ihren Hals.

„Wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen in den Sattel“, erbot er sich, als die junge Frau notgedrungen zu ihm kam. „Und dann sollten Sie diesen privaten Grundbesitz verlassen, bevor die Dämmerung hereinbricht. In der Dunkelheit könnten Sie sich leicht das Genick brechen.“

„Privat?“, fauchte sie. „Mr Davenant hat genauso wenig ein Recht auf dieses Land wie …“, ausdrucksvoll schwenkte sie ihre Hand durch die Luft, „… wie die Krähen da drüben bei den Bäumen!“

Eine plötzliche Brise kühlte den Schweiß auf seinem Rücken. „Soviel ich weiß, hat Mr Davenant das Land vor einem Jahr auf legale Weise erworben.“

Erbost warf sie ihr Haar in den Nacken. „Mit Geld kann man alles kaufen – und jeden. Legal? Das sehen manche Leute anders.“

Heller Zorn erhitzte Adams Blut. Wäre sie ein Mann gewesen, hätte er sie niedergestreckt. Aber sie war eine reizvolle Frau, mit einer schlanken Figur und Kurven an den richtigen Stellen … Verdammt, das war der falsche Zeitpunkt für eine solche Ablenkung. „Also zweifeln Sie an Mr Davenants Recht an diesem Land? Sind Sie deshalb unbefugt über seinen Grund und Boden geritten?“

Mit eisigen Augen erwiderte sie seinen Blick. „Wahrscheinlich arbeiten Sie für ihn, also werde ich mich zurückhaltend äußern. Ich kenne Mr Davenant nicht. Dennoch, ich habe genug gehört, um zu wissen, dass er aus keiner vornehmen Familie stammt. Und das merkt man.“

Nur mühsam beherrschte er sich. „Sollten Sie ihm eines Tages begegnen – würden Sie ihm das ins Gesicht sagen?“

Gelassen zuckte sie mit den Schultern, dennoch bemerkte er, wie ein wenig Farbe aus ihrem Gesicht wich. „Warum nicht? Da er kein Freund meiner Familie ist – was hätte ich zu verlieren?“

Die Sonne glitt hinter eine Wolke und ein Windhauch bewegte das Gras. „Ihren Stolz haben Sie offenbar nicht verloren, Madam. Darf ich Sie nach Hause begleiten?“

„Glauben Sie mir, ich kenne meinen Weg.“

Adam biss die Zähne zusammen. Dann fragte er in kühlem, höflichem Ton: „Werden Sie mir wenigstens gestatten, Ihnen in den Sattel zu helfen? Oder sollen wir hier stehen bleiben, bis die Sonne untergeht?“

„Ja, danke“, sagte sie zögernd.

Er umfasste ihre Taille und hob sie mühelos auf den Rücken der Stute. Weil er etwas Zeit gewinnen wollte, um sich zu beruhigen, überprüfte er das Zaumzeug.

Sie war so leicht wie eine Feder. Und so verdammt arrogant. Heißer Zorn ließ seinen Puls rasen, doch noch ein ganz anderes Gefühl stieg in ihm auf, das ihm viel gefährlicher erschien. Er schaute zu ihr hinauf und tätschelte den Hals der Stute. „Alles in Ordnung. Nun sollten Sie aufbrechen.“

Wortlos nickte sie ihm zu und ritt davon.

Während er ihr nachschaute, kniff er seine Augen zu Schlitzen zusammen. Er war noch immer wütend und konnte den frostigen Glanz in ihrem Blick nicht vergessen. So verächtlich hatte sie seinen Namen ausgesprochen. „Mr Davenant hat genauso wenig ein Recht auf dieses Land wie die Krähen da drüben bei den Bäumen!“

Sie hatte ihn nicht erkannt. Aber eines stand fest – sie hasste Adam Davenant wie die Pest. Wer sie war, hatte er bereits erraten. Ihrem Bruder drohten sehr große Schwierigkeiten. Mit mir.

2. KAPITEL

London, zwei Monate später

Geistesabwesend nahm Belle Marchmain ein rosa Band vom Ladentisch und legte es wieder hin, allerdings an die falsche Stelle. „Ich hoffe, das ist ein alberner Scherz, Edward.“

Draußen über der Geschäftsstraße The Strand dämmerte der Abend, die Leitern der Laternenanzünder klapperten. Normalerweise genoss Belle diese ruhige Zeit nach einem anstrengenden Tag. Wenn ihr Geschäft geschlossen war, pflegte sie zufrieden die Stoffballen aus kostbarer Seide und aufwendig gewebtem Jacquard zu betrachten.

Sie selbst trug stets eines der extravaganten Ensembles, die ihren Ruhm in der Londoner Modewelt begründet hatten. Schließlich war es ihr Modesalon, in dem die elegantesten und ausgefallensten Modelle der ganzen Stadt entworfen und angefertigt wurden.

Jetzt fand sie ihre Aufmachung – eine schwarz-grün gestreifte Jacke über einem passenden Seidenrock und grüne Bänder in den schwarzen Locken – lächerlich und frivol angesichts des drohenden Desasters.

Sie war siebenundzwanzig Jahre alt und hatte inzwischen gelernt, ihr Leben und die allmählich fortschreitende Demütigung ihrer einst so stolzen Familie zu meistern. Vor fünf Jahren war sie auch über den Tod ihres Gemahls, der sie mittellos zurückgelassen hatte, hinweggekommen. Aber nun spürte sie, wie sich eine eiskalte Angst in ihr ausbreitete.

Der Anblick ihres Bruders vor der gläsernen Ladentür hatte sie nicht überrascht. Sie wusste, dass er seit zwei Wochen im Grillon’s Hotel an der Albemarle Street wohnte. „Um Geschäfte zu erledigen und alte Freunde zu treffen“, hatte er ihr bei einem Besuch vor ein paar Tagen erklärt.

Offensichtlich warf Edward das Geld zum Fenster hinaus. Das Grillon’s war teuer, ebenso seine neue Kleidung: eine Seidenweste, ein Gehrock aus feinem blauen Wollstoff und elegante gelbe Pantalons. Nun saß er lässig neben dem Ladentisch, voller Vertrauen in die Fähigkeiten seiner älteren Schwester, seine Probleme wieder einmal für ihn zu lösen.

„Du hilfst mir doch, Belle?“, bat er in schmeichlerischem Ton. „Wie ich höre, ist dein kleiner Laden recht gewinnbringend.“

In diesem Moment trat eine junge Frau mit braunen Locken aus dem Hinterzimmer. „Madame, darf ich den Mädchen sagen … Oh, verzeihen Sie, ich wusste nicht, dass Sie Besuch haben.“

Gabrielle, die französische Assistentin, knickste vor Edward, dessen Augen – wie Belle ärgerlich feststellte – voller Wohlgefallen aufleuchteten.

„Ja, Gabby, schicken Sie Jenny und Susan nach Hause und danken Sie ihnen für ihre gute Arbeit.“

„Natürlich, Madame, nur … da wäre noch etwas …“, begann Gabby.

„Später“, fiel Belle ihr ins Wort.

Als die Französin in das Hinterzimmer zurückkehrte, starrte Edward ihr nach, bevor er auf sein Thema zurückkam. „Ich brauche nur ein bisschen mehr Geld, Belle.“

„Um deine Hotelrechnung zu bezahlen? Oder noch mehr neue Kleidung? Ich muss meine eigenen Schulden begleichen und kann nicht auch noch für deine aufkommen. Dafür verdiene ich zu wenig.“ Seufzend sank sie auf einen der zierlichen vergoldeten Stühle, die für ihre Kundschaft bestimmt waren.

„Aber dein Salon läuft großartig.“ Eifrig rückte Edward mit seinem Stuhl näher an sie heran. Nun konnte er in einen Spiegel schauen und seine elegante Erscheinung bewundern. Er war zwei Jahre jünger als seine Schwester und ähnelte ihr mit seinen schwarzen Haaren und grünen Augen. Allerdings verrieten seine Züge eine gewisse Charakterschwäche, die man bei Belle vergeblich suchte. „Du hast so viele Kundinnen. Und Angestellte!“

„Nur Gabby, zwei Näherinnen und Matt, einen Handlanger, der nur ein paar Stunden pro Woche für mich arbeitet.“

„Immerhin führst du ein Luxusleben. Ständig wirst du zu Bällen und Soireen eingeladen. Und als du Charlotte und mich besucht hast, erwähntest du, dass du vielleicht einen zweiten Laden in Bath eröffnen willst.“

„Daraus wird nichts“, antwortete sie mit gepresster Stimme.

„Hm …“ Sichtlich gelangweilt ergriff Edward einen kleinen Seidenfächer. „Hübscher Tand.“

„Edward, sicher wäre es besser, du würdest mir alles erzählen.“

Das tat er. Schweren Herzens hörte sie ihm zu. Wie üblich hatten andere seine Notlage verursacht, ihn selbst traf wieder einmal keine Schuld.

Mit einundzwanzig Jahren hatte Edward den Hathersleigh-Familienbesitz in der Nähe von Bath geerbt und ein Jahr später seine große Liebe Charlotte geheiratet. Damals lebte Belle bereits in London. Bei jedem ihrer Treffen hatte er ihr versichert, dass das Landgut mehr als genug Gewinn bringen würde.

Vor etwa einem Jahr hatte er ihr jedoch gestanden, er habe einen Großteil der Ländereien an einen Nachbarn verkauft – Adam Davenant. Diesen Mann kannte sie nicht, wusste aber, dass er Land in ganz England besaß und sich nur selten in Somerset aufhielt. Schon ihr Vater hatte die Familie Davenant verabscheut und sie als Emporkömmlinge bezeichnet.

Musstest du das Land verkaufen, Edward?“, hatte sie damals gefragt.

„Ja. Und er war daran sehr interessiert. Du weißt ja, wie diese Neureichen sind, Belle. Sie wollen sich möglichst viel Grund und Boden aneignen, weil sie glauben, dann würden sie respektabel.“

Belle bedauerte den Verlust des Landbesitzes rings um Sawle Down. Insgeheim hatte sie darauf gehofft, dass sich ihr Bruder nun darauf konzentrieren würde, die Erträge des verbliebenen Familienguts bei Bath zu steigern.

Wie sich herausstellte, war die Summe, die Davenant für das Land bezahlt hatte, geradezu lächerlich gewesen. Dank des plötzlichen Preisanstiegs für Baumaterial machte er jetzt ein Vermögen mit dem alten Steinbruch, den er wieder eröffnet hatte.

Das hat er gewusst – und hat uns absichtlich betrogen.

Und nun, in der friedlichen Londoner Abenddämmerung, verkündete Edward, die Ernte des letzten Sommers sei schlecht gewesen, weil der Regen den Weizen ruiniert habe. „Und die Steuern, Belle! Seit einem Jahr verlangt diese verdammte Regierung Steuern für Gerste, für Ackergäule, für alles, was wächst oder sich bewegt!“ Dann erinnerte er seine Schwester an die längst fällige Dachreparatur von Hathersleigh Manor. „Leider hat Onkel Philip das Herrenhaus sträflich vernachlässigt.“

Vor vierzehn Jahren war der Vater der Geschwister gestorben und sein Bruder, der bärbeißige Philip Hathersleigh, hatte das Landgut bis zu Edwards Volljährigkeit verwaltet. Belle stand dem Onkel nicht besonders nahe, seiner zänkischen Frau Mildred noch weniger. Trotzdem hatte sie den Eindruck gewonnen, dass er ein besonnener Mann war, dessen Ratschläge Edward leider nicht befolgte. Schließlich hatte Philip aufgegeben und sich mit seiner Gattin auf seinen eigenen Landsitz im Norden zurückgezogen.

„Kümmere dich um die Verwaltung des Guts, junger Mann“, hatte er Edward grimmig empfohlen, „und lass dich von einem Advokaten beraten, wenn du dein Erbe beisammen halten willst.“

Diese Ermahnungen ignorierte Edward. Bei ihrem Besuch im März hatte Belle seinen Schreibtisch gesehen – er war übersät mit vernachlässigten Akten, ungelesener Korrespondenz und überfälligen Rechnungen.

„Also hast du dich wegen des neuen Daches und der Steuern verschuldet“, bemerkte sie kühl. „Nun, die Einkünfte aus dem Landgut sollten diese Ausgaben durchaus decken.“

„Tja – im Februar, kurz vor deinem Besuch, habe ich einige Schafe von dem Weideland verkauft, das jetzt Davenant gehört.“

„Was?“ Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinab.

Edwards Wangen röteten sich. „Weil er so reich ist, dachte ich, er würde es nicht bemerken.“

„Also hast du ihn bestohlen. Um Himmels willen …“

Er sprang auf und wanderte umher, die Hände in den Taschen seines eleganten Gehrocks vergraben. „Bestohlen? Wohl kaum. Da er sich nicht um seine Zäune kümmert, gerieten die Schafe auf meine Wiesen. Und verdammt noch mal, Belle – eher könnte man behaupten, er habe mich bestohlen! Für das Land, das er mir abkaufte, hat er viel zu wenig bezahlt. Und nun … Bedauerlicherweise vermisste er die Schafe, und ich habe einen Brief seines Anwalts erhalten.“

Reglos saß Belle auf ihrem Stuhl. So hart habe ich für dieses neue Leben gekämpft. Ich will den Salon nicht wieder verlieren.

„Vor zwei Monaten besuchte er mich.“

„Wie ist er?“, fragte sie leise.

„Widerwärtig, ein typischer bäurischer Neureicher. Er meinte, ich sei ein Dieb! Als würden ein paar Schafe eine Rolle für ihn spielen!“

„Bist du deshalb nach London gekommen?“ Mit bebenden Fingern drehte sie ihren schmalen Ehering.

„Ja. Davenant verlangte ein weiteres Treffen. Stell dir vor, das verlangte er! Er sagte, er wäre bereit, mich noch einmal in Hathersleigh Manor aufzusuchen, falls ich das vorziehen würde. Aber das will ich nicht, so kurz vor der Geburt des Babys.“

Das verstand sie. In den letzten beiden Jahren hatte ihre arme Schwägerin zwei Fehlgeburten erlitten, und Belle wollte sich gar nicht vorstellen, was geschehen mochte, wenn Charlotte auch dieses Baby verlieren würde.

„Neulich trafen wir uns in meinem Hotel“, fuhr Edward fort. „Davenant hatte diverse Papiere bei sich. Darauf hatte er alles penibel aufgelistet, was mit seinen Schafen zusammenhing. Würde ein Gentleman so etwas nicht seinem Verwalter überlassen? Aber nein, er hatte seinen gesamten Viehbestand gründlich geprüft. Verdammt, seine verschiedenen Unternehmungen müssen ihm Tausende pro Woche einbringen!“ Ärgerlich sprang Edward von seinem Stuhl auf. „Trotzdem erklärte er mir, er könne den Verlust dieser verflixten Schafe nicht hinnehmen.“

Draußen auf dem Strand schlenderten gut gelaunte Leute vorbei, vermutlich auf dem Weg zu den Clubs in der St. James’s Street. Belle wartete, bis das fröhliche Gelächter verhallt war, dann fragte sie: „Ahnt Charlotte irgendetwas von alledem?“

„Natürlich nicht!“, rief ihr Bruder entsetzt. „Sie soll auch nichts erfahren. Wie empfindsam sie ist, weißt du ja.“

Und wenn ich empfindsam wäre? Diese Antwort verkniff sie sich, denn Edward würde niemals etwas anderes in ihr sehen als seine tüchtige, vernünftige ältere Schwester. Nun musste sie nachdenken. Womöglich würde sich dieses neue Problem zu einer Katastrophe entwickeln.

Gewiss, Adam Davenant hatte es nur auf Edward abgesehen, nicht auf sie. Doch waren nicht auch ihr Salon und ihre geringen Ersparnisse gefährdet? Würde sie alles verlieren, was sie sich seit dem Tod ihres Gatten so hart erarbeitet hatte?

Entschlossen kämpfte sie gegen die in ihr aufsteigende Angst und zwang sich zur Ruhe. „Würde Mr Davenant einer Ratenzahlung zustimmen? Dann könntest du die Schulden im Lauf einiger Monate begleichen.“

„Großer Gott, daran zweifle ich. Dieser Mann ist unglaublich habgierig.“ Mit einer fahrigen Geste strich sich Edward das Haar aus der Stirn und entblößte unabsichtlich eine helle, längst verheilte Narbe. „Er verlangte, dass ich das Geld innerhalb einer Woche in sein Haus in Mayfair bringe, sonst würde er die Behörden informieren.“

Für einige Sekunden presste Belle die Hände an die Schläfen.

„Bitte, du wirst mir doch helfen?“, flehte Edward und sank wieder auf seinen Stuhl. „Meine Frau, das Baby, unser Zuhause … Wenn ich im Gefängnis lande – das wäre schrecklich …“

Schon immer hatte Belle gewusst, dass der einst so angesehene Landsitz der Hathersleighs dem Untergang geweiht war. Ihre Familie hatte schon Generationen vor ihr einen zu verschwenderischen Lebensstil gepflegt.

Außerdem hatte sie sich mit ihren eigenen düsteren Zukunftsaussichten auseinandersetzen müssen, nachdem ihr Gemahl bei einem von Wellingtons letzten Feldzügen gefallen war. Sie hatte entscheiden müssen, ob sie zu Edward nach Hathersleigh Manor ziehen oder ihren Lebensunterhalt selbst verdienen sollte. Zwar hatte sie niemals ernsthaft erwogen, ihrem Bruder zur Last zu fallen, doch der Gedanke an eine Anstellung als Gouvernante oder Gesellschafterin war ihr unerträglich erschienen. Gewisse Angebote sogenannter Gentlemen stießen sie ebenfalls ab.

Dann war ihr eine rettende Idee gekommen. Sie konnte ausgezeichnet nähen und sie interessierte sich für Mode. Also beschloss sie, einen Modesalon in London zu eröffnen, und ignorierte die Missbilligung ihres Bruders.

Ihre Entwürfe waren kühn und auffällig. Ungeheuerlich, wie einige Matronen der feinen Londoner Gesellschaft befanden. Der kleine Salon lag in einer guten Gegend, am Strand. Zusammen mit Gabby bewohnte Belle die beiden Räume im oberen Stockwerk. Bald erregten ihre Modelle die Aufmerksamkeit vornehmer Kundinnen, die der eintönigen Pastellfarben müde waren und nach reizvollen neuen Farben und Schnitten Ausschau hielten. Dennoch verdiente sie kein Vermögen. Sie war froh, wenn ihre Einnahmen für die Miete, die Gehälter der Angestellten und die Rechnungen reichten. Wie um alles in der Welt sollte sie Edwards Schulden bezahlen?

Während die Seidenballen im flackernde Kerzenlicht schimmerten, schaute Belle ihren Bruder eindringlich an. „Es wäre sinnlos, dich nach der Höhe der Summe zu fragen, denn ich kann sie ohnehin nicht aufbringen. Aber ich werde zu Mr Davenant gehen.“

„Was?“ Entgeistert starrte er sie an. „Verdammt will ich sein, wenn du vor diesem elenden Emporkömmling zu Kreuze kriechst!“

„Noch nie im Leben bin ich vor irgendwem zu Kreuze gekrochen“, erwiderte sie ärgerlich. „Ich werde einfach erklären, du hättest einen schweren Fehler gemacht …“

Entrüstet sprang er auf und wollte protestieren, doch Belles ernster Blick bewog ihn zu schweigen, und er setzte sich wieder.

„… du hättest einen schweren Fehler gemacht“, wiederholte sie, „und du wärst ihm dankbar, wenn er dir gestatten würde, deine Schulden in Raten abzuzahlen, innerhalb von – drei Jahren?“

„Drei Jahre“, murmelte er und zog einen Schmollmund wie ein kleiner Junge. „Ja, das müsste möglich sein. Wir leben in harten Zeiten. Was nicht für Davenant gilt. Zum Teufel mit dem unverschämten Kerl …“

„Nach meinem Besuch bei ihm werde ich dir mitteilen, was ich erreicht habe“, unterbrach sie ihn in ruhigem Ton.

„Also gut, geh zu ihm.“ Edward stand auf und begann erneut umherzuwandern. „Und versprüh deinen Charme. Was mir gerade einfällt, Belle … Wenn du noch einmal heiratest – natürlich nicht Davenant, sondern einen anderen wohlhabenden Gentleman … Damit wären alle unsere Probleme gelöst. Du siehst nicht übel aus. Natürlich dürftest du die Männer nicht mit deinen kapriziösen Kleidern und deiner scharfen Zunge abschrecken.“

„Sei versichert“, entgegnete sie frostig, „ich habe nicht vor, jemals wieder zu heiraten.“

„Wie du meinst.“ Gleichmütig zuckte er mit den Schultern. „Etwa eine Woche werde ich noch im Grillon’s bleiben.“ Er setzte seinen Hut auf und überprüfte sein Spiegelbild. „Gib mir Bescheid, wenn die Sache mit Davenant geklärt ist.“

„Edward“, sagte sie unvermittelt, „du wirst doch nicht in eine dieser Spielhöllen gehen?“

„In eine Spielhölle?“ Er fuhr zu ihr herum. „Niemals. Und vielen Dank für deine Hilfsbereitschaft, Belle. Eines Tages werde ich mich revanchieren.“

Mit beschwingten Schritten verließ er den Salon, während Belle wie versteinert auf ihrem Stuhl sitzen blieb.

Zögernd erschien Gabby aus dem Hinterzimmer. „Haben Sie jetzt Zeit für mich, Madame? Ich wollte Ihnen von einigen Schwierigkeiten berichten.“

„Welche Schwierigkeiten?“, fragte Belle, von neuer Sorge erfüllt.

„Jenny hat mir davon erzählt. Als wir gerade bei Lady Tindall Maß für ihr neues Kleid nahmen, kam eine Kundin herein und beklagte sich, dass eine Manschette von der Pelisse abgerissen sei, die sie letzte Woche bei uns gekauft hatte.“

„Was hat Jenny gemacht?“

„Sie behob den Schaden sofort und die Dame ging. Jenny meinte, die Kundin sei sehr unfreundlich gewesen und habe betont, sie würde in Zukunft unseren Salon meiden.“

„Nun, vermutlich sind wir ohne sie besser dran“, meinte Belle besänftigend, und Gabby ging erleichtert nach hinten, um in der Werkstatt aufzuräumen.

Belle war froh, dass die lebhafte Französin sich bei ihr beworben und als tüchtige Arbeitskraft erwiesen hatte. Außerdem konnte sie großartig mit der Kundschaft umgehen und verstand sich sehr gut mit den beiden anderen Mädchen, die für Belle arbeiteten.

Natürlich schadete es keineswegs, dass Matt in Gabby verliebt war. Der ernsthafte, ehrbare Matt Bellamy arbeitete meistens in den Stallungen seines Bruders weiter unten in der Straße, hatte aber den Beruf des Schreiners erlernt. In Belles Auftrag hatte er den Salon hergerichtet und war immer noch für sie tätig. Obwohl Gabby ihn gnadenlos neckte und hänselte, konnte er nicht verhehlen, was er für sie empfand.

Ihre Angestellten bereiteten Belle keine Sorgen – im Gegensatz zu ihrem Bruder. Wenn er auch beteuert hatte, er würde keine Spielhöllen aufsuchen, erinnerte sie sich nur zu genau, wie oft er schon den Verlockungen des Kartenspiels erlegen war.

Von dieser Schwäche hatte ihn die Ehe mit Charlotte geheilt, zumindest hoffte Belle darauf. Aber nun drohten neue Gefahren. Voller Unbehagen dachte sie an die Begegnung mit dem Steinbrucharbeiter in Sawle Down.

„Verschwinden Sie“, hatte sie ihn angeherrscht. Warum war sie so unfreundlich gewesen? Wegen seiner einfachen, staubigen Kleidung? Weil er für Davenant arbeitete?

Sie kannte diesen Mann nicht. Doch eins stand fest: Wenn er erfuhr, wie sehr sie ihn an jenem Nachmittag beleidigt hatte, war Edward verloren. Und sie selbst ebenso …

3. KAPITEL

London, vier Tage später

Obwohl Adam Davenant erst am Vortag die Einladungen verschickt hatte, waren alle Gentlemen an diesem Nachmittag erschienen. Den Grund dafür glaubte er zu kennen: Bisher hatten nur wenige Angehörige der feinen Gesellschaft sein Haus in der Clarges Street betreten und nun konnten sie kaum erwarten, es zu betreten, um die Einrichtung zu begutachten und seinen Reichtum abzuschätzen.

Während er sie begrüßte, beobachtete er, wie sie die kostspieligen, aber schlichten Möbel registrierten. Die Anzahl der livrierten Lakaien, die edlen Weine, die erlesenen Speisen auf dem Buffet. Alles war perfekt. So musste es auch sein, denn diese Leute würden ihn nur allzu gern wegen seiner niederen Herkunft verachten.

Der Wein floss in Strömen. Ein Fehler, überlegte Adam, als das Stimmengewirr am Esstisch anschwoll. Schließlich stand er von seinem Platz am Kopfende der Tafel auf und schnitt das geschäftliche Thema an, das ihn zu dieser Einladung bewogen hatte. „Kommen wir zur Sache, Gentlemen. In den Steinbrüchen von Somerset wird hervorragendes Baumaterial gefördert. Da London immer schneller wächst und immer mehr gebaut wird, entsteht ein profitabler Markt. Auf alle Investoren warten hohe Gewinne. Heute möchte ich mit Ihnen über den Transport der Steine sprechen.“

In Schwarz gekleidet, mit einem schneeweißen Krawattentuch, strahlte er die Autorität eines Mannes aus, der es gewohnt war, Entscheidungen zu treffen und Macht auszuüben. Die Macht des Geldes.

Nachdem er die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden gewonnen hatte, zeigte er auf eine Landkarte, die hinter ihm an der Wand hing. „Um das Gestein aus Somerset zum Kennet-und-Avon-Kanal und von dort auf der Themse nach London zu befördern, brauchen wir eine Bahnstrecke.“

„Da gibt es bereits Transportwege, Davenant!“, rief jemand.

„Offenbar meinen Sie die Pferdefuhrwerke, ich aber rede von einer Dampfeisenbahn. Davon würden alle profitieren, die landwirtschaftliche und andere Produkte nach London schaffen wollen, nicht nur Steine. Die Beförderungszeit wird halbiert, der Gewinn verdoppelt.“

Einige Männer nickten zustimmend.

Lord Rupert Jarvis jedoch, der mehr getrunken und gegessen hatte als alle anderen, spottete: „Zweifellos meinen Sie, Ihr Profit wird sich verdoppeln, Davenant. Nicht meiner.“

Der blonde Lord besaß nicht nur große Ländereien in Somerset, sondern auch ein Transportunternehmen mit Kutschen und Frachtwagen, die in ganz Südengland unterwegs waren. Verständlicherweise sah er in einer Eisenbahnlinie eine gefährliche Konkurrenz.

„Es wird für alle Transportmöglichkeiten genug zu tun geben, Lord Jarvis“, entgegnete Adam kühl. „Die Chancen, die uns die Eisenbahn bietet, dürfen wir nicht ignorieren. Wie die Gentlemen vermutlich wissen, nutzt der Minenbesitzer Charles Brandling in Yorkshire schon seit Jahren die Dampfmaschine, um seine Kohle in die Häfen zu bringen. Ich schlage vor, dass wir alle in die neue Somerset-Bahnlinie investieren. Wir werden nicht nur reichlich Gewinn erwirtschaften, sondern auch unseren Männern und den Pferden viel harte Arbeit ersparen.“

„Also stellen Sie sich auf die Seite der Arbeiter, Davenant?“, höhnte Jarvis, der für die grausame Behandlung seiner Angestellten und Tiere berüchtigt war. „Die können verdammt noch mal froh sein, dass sie bei mir genug verdienen, um ihre Frauen und Bälger zu ernähren.“

„Daran zweifle ich nicht.“ Adams Miene war ausdruckslos, nur seine grauen Augen schienen hart wie Granit.

Jarvis lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Zeigen Sie uns mal Ihre geplante Route, Davenant. Sicher haben Sie schon alles durchdacht.“

Adam wandte sich wieder der Landkarte zu und erklärte: „Hier liegt Bath mit den Steinbrüchen im Süden und dem Fluss Avon. Und hier …“, er zeigte auf eine blaue Linie, „… verbindet der Kanal den Avon mit dem Kennet, der wiederum bei Reading in die Themse mündet. Die beste Bahnroute würde von Monkton Sawle zu der Stelle führen, wo der Kanal nach Osten biegt.“

Während Jarvis sich noch eine Scheibe Wildpastete nahm, bemerkte er: „Anscheinend müsste Ihre Bahnlinie mindestens zweiundeinhalb Meilen über mein Land verlaufen.“

„Ja, um den Kanal bei Limpley Stoke zu erreichen – was auch in Ihrem Interesse liegen würde, Sir.“

„Zum Teufel damit!“, fauchte Jarvis und wischte sich einige Krümel von den Lippen. „Jetzt habe ich genug von diesem Unsinn gehört! Ich werde mich verabschieden, um eine wichtigere Verabredung einzuhalten.“

Adam zeigte auf den Teller mit der halb verspeisten Pastete. „Soll einer meiner Lakaien den Rest für Sie einpacken, Lord Jarvis? Es wäre mir sehr unangenehm, wenn Sie mein Haus hungrig verlassen würden.“

Rings um den Tisch erklang leises Gelächter und einer der Gäste applaudierte sogar. Jarvis’ Appetit auf kostenlose Mahlzeiten war allgemein bekannt.

„Fahren Sie zur Hölle, Davenant!“ Ärgerlich stieß Jarvis seinen Stuhl zurück und verließ den Raum. Hinter ihm fiel die Tür krachend ins Schloss.

„Ich stehe auf deiner Seite, Adam“, verkündete Adams Freund Tobias Bartlett.

Auch mehrere andere Gentlemen stimmten dem Plan zu. Dennoch blieb das Problem, dass die geplante Strecke zumindest teilweise über Jarvis’ Land führen müsste, bestehen und wurde lebhaft diskutiert.

„Dieses Stück Land nutzt er ohnehin kaum“, seufzte Bartlett. „Wenn er mit dir verhandelt, könnte ein schöner Profit für ihn herausspringen. Das sollte er eigentlich wissen.“

„Seine Ablehnung beruht sicher nicht auf kommerziellen Erwägungen“, erwiderte Adam leise.

Also stellen Sie sich auf die Seite der Arbeiter, Davenant? hatte Jarvis gespottet.

Adam wünschte sich manchmal, er könnte seine Differenzen mit dem Lord in einem Faustkampf austragen und ihn einfach niederschlagen. Nachdenklich betrachtete er seine kräftigen Hände. In Eton hatten ihn die Schulkameraden nur für eine kurze Zeit „Bergmann Tom“ genannt. Schon bald hatte er sich mit seinen Fäusten Respekt verschafft und auch später allzu dreiste Kritiker auf ähnlich wirksame Weise zum Schweigen gebracht. Mittlerweile wurde er aufgrund seines enormen Reichtums und seines untadeligen Benehmens von einem Großteil der Oberschicht akzeptiert. Vor allem von den Familien des Landadels, die ihre Töchter verheiraten wollten.

Jarvis hingegen wurde wegen seines ungehobelten Verhaltens von vielen verachtet. Ginge es nicht um dieses verdammte Stück Land, würde Adam ihn ignorieren.

„Wenn Jarvis nicht nachgibt, könnten Sie die Bahnstrecke durch das Tal bis Midford verlegen und dann nach Norden führen, Adam“, schlug ein Nachbar aus Somerset vor, der zusammen mit anderen Männern vor der Landkarte stand. „Ich würde sehr gern einen Teil meiner Ländereien verkaufen und an Ihrem Projekt teilhaben.“

„Darüber freue ich mich“, beteuerte Adam. „Irgendwie werden wir ohne Jarvis zurechtkommen. Allerdings müssten wir dann auf der Route nach Norden einige Hügel sprengen.“ Er wies auf die Karte. „Hier – und hier …“

„Das würde sich lohnen“, meinte ein anderer Gentleman. „Vorhin haben Sie die Kohleminen im Nordosten erwähnt, Davenant. Einem Gerücht zufolge will Stephenson oben in Stockton mit seiner Bahn nicht nur Kohle, sondern auch Passagiere befördern. In der Dampfkraft liegt die Zukunft. Deshalb unterstütze ich Ihre Pläne. Und damit Jarvis sein selbstgefälliges Grinsen vergeht. Wie er seine Männer und seine Pferde behandelt – das ist einfach abscheulich. Was unser Projekt betrifft, Mr Davenant … Mr Davenant?“

„Hmmm?“

Es geschah nicht oft, dass Adam sich von seinen Geschäften ablenken ließ. Dennoch wurde seine Aufmerksamkeit, als er beiläufig aus dem Fenster schaute, von etwas anderem gefesselt. Soeben stieg am anderen Ende der Clarges Street eine Frau aus einer schäbigen Kutsche. Sie trug einen großen Strohhut und ein auffälliges Kleid in Türkis und Rosa. Wahrscheinlich eine teure Kurtisane, vermutete Adam, von einem meiner reichen Nachbarn für ein paar vergnügliche Stunden im Bett engagiert.

Achselzuckend wollte er sich wieder seinen Gästen zuwenden. Doch dann hielt er inne. Irgendetwas an der Frau kam ihm bekannt vor. Wie stolz sie aus der lächerlichen Kutsche stieg … Eine schmale Taille und ein hübsch geschwungenes Hinterteil zeichneten sich unter dem Kleid ab, als sie sich auf Zehenspitzen stellte und mit dem Kutscher sprach.

Ja, eindeutig – sie erinnerte ihn an die Reiterin in Sawle Down. So schändlich hatte sie ihn beleidigt. Und er hatte sich das gefallen lassen, statt sie – daran dachte er immer wieder – an sich zu reißen und ihre Schmähungen mit heißen Küssen zu ersticken.

Höchste Zeit, dass er sich wieder um seine Gäste und die Bahnstrecke kümmerte …

Es war tatsächlich Belle, die jetzt auf der Straße stand und sich mit Matt stritt. „Den restlichen Weg kann ich zu Fuß zurücklegen.“

Mit gerunzelter Stirn schaute Matt Bellamy vom Kutschbock herab. „Von hier aus, Mrs Marchmain? Offenbar ist das Haus noch ziemlich weit entfernt.“

Das mag sein. Aber weder Mr Davenant noch sein Personal sollen mich in diesem armseligen alten Vehikel vorfahren sehen.

Sie hatte bereits erfolglos versucht, den Wagenschlag zu schließen. Nun probierte sie es noch einmal, wobei die verdammte Tür beinah aus den Angeln fiel.

Belle hatte eine eindrucksvolle Ankunft vor Davenants Haus geplant und Matt gebeten, sich eine passende Kutsche aus den Stallungen seines Bruders zu leihen. Dann war er um halb drei mit dieser Karre vor ihrem Salon erschienen, und es war ihr nur unter großen Mühen gelungen, ihr Entsetzen zu verbergen.

Die Kutschentür ließ sich noch immer nicht schließen. Beim nächsten Versuch blieb der Griff in ihrer Hand hängen. Irgendwie schaffte sie es, ihn in die Halterung zurückzustecken. Matt war inzwischen vom Kutschbock gesprungen und starrte die stattlichen Häuser ringsum an.

Entschlossen bezwang Belle einen ähnlichen Impuls. Sie hatte natürlich gewusst, in welch exklusivem Stadtteil Mr Davenant wohnte. Nun jedoch verlor sie fast den Mut, als sie sich vorstellte, wie sie ihm in einem dieser Prachtbauten gegenübertreten würde.

Seit Edward sie über seine Notlage informiert hatte, hatte sie Davenant zweimal geschrieben und angefragt, wann er sie empfangen würde. Sie hatte keinerlei Antwort erhalten. Schließlich erkannte sie, dass ihr nichts anderes übrig blieb – sie musste ohne Einladung vorsprechen. So hatte sie sich passend gekleidet und ihren Salon Gabrielles tüchtigen Händen überlassen.

Allerdings würden die meisten Leute ihre Aufmachung eher als unpassend empfinden. Über einem Twillkleid in Türkis und Rosa trug sie ein eng anliegendes rosa Jäckchen. Normalerweise stärkte dieses Ensemble ihr Selbstvertrauen, aber in diesem Moment fühlte sie sich einfach nur elend.

Seufzend rückte sie ihren Strohhut zurecht, der mit zahlreichen türkisfarbenen Bändern verziert war. Dann zwang sie sich, den Kutscher anzulächeln. „Bringen Sie bitte den Wagen zurück, Matt. Heute brauche ich Sie nicht mehr.“

Missbilligend schüttelte er den Kopf. „Soll ich Sie allein hier zurücklassen, wenn Sie einen fremden Gentleman besuchen, Mrs Marchmain? Das finde ich nicht richtig.“

Glauben Sie mir, Mr Davenant ist kein Gentleman, hätte sie am liebsten erwidert. Doch damit hätte sie Matt noch größere Sorgen bereitet, und so antwortete sie stattdessen: „Ich bin eine siebenundzwanzigjährige Witwe und in einer solchen Gegend droht mir sicher keine Gefahr.“ Einer plötzlichen Eingebung folgend, fügte sie hinzu: „Außerdem werden Sie von Gabby erwartet. Sie haben ihr doch versprochen, den wackeligen Tisch in der Werkstatt zu reparieren?“

„Sollte ich Sie später nicht nach Hause fahren, Ma’am?“

„Nein, danke, ich gehe zu Fuß. Die frische Luft wird mir guttun.“

„Aber …“

Der Türgriff fiel zu Boden und Belle beförderte ihn mit einem Fußtritt unter den Wagen. „Bitte, Matt, fahren Sie einfach zurück.“

Endlich gab er auf und kletterte auf den Kutschbock, während sie die Straße hinabging.

Vor dem größten Gebäude etwas weiter unten standen zwei livrierte Lakaien im Sonnenschein und unterhielten sich. Die ganze Zeit schon hatten sie immer wieder in Belles Richtung gestarrt. Jetzt beobachteten sie neugierig, wie sie sich ihnen näherte.

Schweren Herzens ahnte Belle, dass dies Davenants Haus sein musste. Und – oh, verdammt, seine Dienstboten hatten alles gesehen, ihre Ankunft in der schäbigen Kutsche, ihren Disput mit dem ärmlich gekleideten Fahrer, ihren Kampf mit dem Wagenschlag …

Als sie vor den Eingangsstufen stehen blieb, verneigten die Lakaien sich höflich, aber sie konnte eine gewisse Bosheit in ihren Augen erkennen.

„Ist dies das Haus von Mr Davenant?“, fragte sie kühl.

„Ja, das ist es, Madam“, bestätigte einer der Diener.

„Ich wünsche Mr Davenant zu sprechen. Und bevor Sie sich danach erkundigen – ich habe kein Treffen mit ihm vereinbart. Dennoch liegt es in seinem Interesse, mich zu empfangen.“

Der Mann kräuselte die Lippen. „Im Moment ist Mr Davenant mit einigen Gästen beschäftigt.“

„Dann werde ich warten.“

Fast schnaufte der unverschämte Kerl. „Sehr wohl, Madam“, murmelte er und hielt ihr die Haustür auf. „Wenn Sie mich begleiten wollen …“

Unsicher folgte sie ihm in die Eingangshalle, in der ihr ganzes Geschäft problemlos Platz finden würde, und von deren Decke riesige Kronleuchter hingen. Der Lakai, der die Nase so hoch trug, dass er vermutlich kaum noch Luft bekam, führte sie in ein Nebenzimmer. Nachdem sie die Schwelle übertreten hatte, schloss er geräuschvoll die Tür hinter ihr.

Belle war zu aufgeregt, um ihre Umgebung zu betrachten, und wanderte gedankenverloren in dem Raum umher. Aus einem oberen Stockwerk drangen Männerstimmen und lautes Gelächter herab. Würde sich der dreiste Lakai die Mühe machen, seinen Herrn über ihre Ankunft zu informieren? Würde der verhasste Mr Davenant seine Kumpane verlassen und ihr ein paar Minuten seiner kostbaren Zeit opfern? War dieser Besuch vielleicht die dümmste Idee ihres Lebens?

Plötzlich hörte sie den Wutschrei eines Mannes, der aus der Halle zu kommen schien, dann das Schluchzen einer Frau. Die Tür des Zimmers wurde aufgerissen und ein Dienstmädchen mit weißem Häubchen und ebensolcher Schürze taumelte tränenüberströmt ins Zimmer.

„Oh, verzeihen Sie, Miss …“ Das Mädchen wollte sich abwenden, doch Belle hielt es am Arm fest.

„Was bekümmert Sie denn, meine Liebe?“

„Nichts, Miss.“ Zitternd trocknete die junge Frau ihre Tränen und kehrte hastig in die Halle zurück. Belle folgte ihr und sah, wie sie dort erschrocken stehen blieb und nach Luft rang. Ein extravagant gekleideter blonder Mann schlenderte grinsend auf sie zu.

„Was soll das, Schätzchen? Ich wollte nur ein bisschen mit dir plaudern. Warum läufst du mir davon?“

Jetzt war es Belle, der kaltes Entsetzen den Atem raubte. Diesen arroganten Aristokraten kannte sie nur zu gut. Oh Gott, wenn dieser Flegel zu Davenants Freunden zählte, war alles noch schlimmer, als sie befürchtet hatte.

„Gehen Sie“, sagte sie zu dem Dienstmädchen. „Ich werde mich um Seine Lordschaft kümmern.“

Erleichtert ergriff das Mädchen die Flucht, während der Mann näher zu Belle trat. Angewidert bemerkte sie, dass sein Atem durchdringend nach Alkohol roch.

Der Blonde kniff die Augen zusammen und starrte sie unverwandt an. „Wenn das nicht Mrs Marchmain ist … Welch erfreuliche Überraschung!“

„Nicht für mich, Lord Jarvis“, erwiderte Belle und reckte ihr Kinn vor. „Das versichere ich Ihnen.“

„Ah, so eingebildet wie eh und je …“ Höhnisch begann er zu lachen. „Moment mal, lassen Sie mich nachdenken! Wieso treffe ich Sie hier an, in Davenants Haus? Mein Geld war Ihnen nicht gut genug, aber seines führt Sie in Versuchung?“

Als er nach ihre Brust griff, stieß sie erbost seine Hand weg. „Sir, Sie ekeln mich an“, zischte sie. „Genauso wie bei unserer letzten Begegnung. Seither hat sich nichts geändert …“

„Was geht hier vor sich?“

Eine tiefe Stimme drang von der Treppe in die Halle herab. Ärgerlich ließ Jarvis von Belle ab und wandte sich um. „Verdammt, Davenant, ich hatte keine Ahnung, dass Sie hier …“

Auch Belle schaute nach oben, und dieser zweite Schock innerhalb so kurzer Zeit nahm ihr für ein paar Sekunden gänzlich den Atem. Nein. Unmöglich …

Der Herr des Hauses gönnte ihr kaum einen Blick. Voller Verachtung musterte er den Lord, während er die Stufen herabstieg, eine hochgewachsene, breitschultrige Gestalt in einem untadeligen schwarzen Gehrock, noch keine dreißig Jahre alt.

„Eigentlich dachte ich, Sie wären schon vor einer ganzen Weile gegangen, Jarvis.“

„Das hatte ich auch vor. Allerdings wurde ich von dieser Frau aufgehalten.“

„Nein, das ist nicht wahr“, protestierte Belle.

„Oh, doch! Sie hat mich beleidigt!“

Mühsam zwang sie sich zur Ruhe. Unglaublich – Adam Davenant, der Feind ihres Bruders, war der Mann, den sie in Sawle Down getroffen und für einen Arbeiter des Steinbruchs gehalten hatte. Über dessen Besitzer hatte sie sich so geringschätzig geäußert … Vielleicht erinnert er sich nicht daran, hoffte sie verzweifelt, vielleicht erkennt er mich nicht …

Aber Lord Jarvis kannte sie nur zu gut. Wütend starrte er sie an.

Belle fasste sich und fragte in eisigem Ton: „Warum behaupten Sie, ich hätte Sie beleidigt, Sir? Ich wollte Sie nur daran hindern, dem armen Dienstmädchen nachzustellen, das Sie halb zu Tode erschreckt haben.“ Herausfordernd hielt sie seinem Blick stand, obwohl sie wünschte, der Boden würde sich auftun und sie verschlingen.

„Ich werde Sie nun zur Tür begleiten, Jarvis“, hörte sie Davenant sagen.

Die beiden Männer durchquerten die Halle. Unbehaglich schaute Belle ihnen nach. Vor der offenen Haustür blieb Jarvis stehen. Er war noch immer sichtlich entrüstet, zeigte in ihre Richtung und redete auf Davenant ein. Großer Gott, sie konnte sich vorstellen, was für infame Lügen er über sie erfand.

„Guten Tag, Jarvis“, verabschiedete sich Davenant.

Seine Lordschaft nickte. „Guten Tag, Davenant. Sicher werden wir uns bald noch einmal unterhalten.“ Ein Lakai schloss die Tür hinter Jarvis, und der Hausherr kehrte zu Belle zurück.

Da keiner der Diener nach ihrem Namen gefragt hatte, bestand immerhin die Chance, dass sie sich irgendwie aus der Affäre ziehen konnte …

„So sehen wir uns also wieder, Mrs Marchmain“, begann er mit sanfter Stimme, und ihre letzten Hoffnungen schwanden.

4. KAPITEL

Adam Davenant war erstaunt und verärgert.

Als hätte Jarvis ihm nicht genügt – der Mann machte Schwierigkeiten, wo immer er auftauchte –, jetzt stand auch noch sie in der Halle. Sein Lakai hatte ihm eine sonderbare Besucherin angekündigt, aber als er sie von der Treppe aus gesehen hatte, hatte er sie sofort wiedererkannt. Sie war die Frau, die aus der grässlichen alten Kutsche gestiegen war und die Erinnerungen an einen sonnigen Märznachmittag in Somerset weckte.

Nicht nur Erinnerungen, auch gewisse Gelüste … Ihr auffälliges Kleid zeichnete ihre überaus wohlgeformte Figur deutlich nach, an ihrem Hut flatterten zu viele Bänder. Ihre Augen waren smaragdgrün, die Lippen voll und rosig. Ihre rabenschwarzen Locken betonten den makellosen milchweißen Teint.

Vor einigen Wochen hatte sie seinen Namen verunglimpft. Nun schien sie auch noch eine alte Bekannte Jarvis’ zu sein.

„Warum schweigen Sie, Mrs Marchmain?“, fragte er gelassen. „Überlegen Sie, welche Beleidigungen Sie mir ins Gesicht schleudern können? Oder ist Ihr Repertoire erschöpft, nachdem Sie Lord Jarvis so unhöflich gegenübergetreten sind?“

Ihr Mund war staubtrocken, sie musste schlucken. „Er hat dieses junge Dienstmädchen abscheulich behandelt. Vielleicht werden Sie mir vorwerfen, ich hätte kein Recht, mich einzumischen. Doch das durfte ich nicht dulden.“

Mit unergründlichen Augen musterte er Belle. „Sie neigen dazu, stets auszusprechen, was Sie denken, nicht wahr? Zum Beispiel haben Sie erklärt, ich hätte mir ein Grundstück Ihrer Familie widerrechtlich angeeignet.“

Oh Gott, dachte sie beklommen, er hat es nicht vergessen … Ein eigenartiges Gefühl regte sich in ihr, als sie ihn jetzt sah – er war nun nicht mehr wie ein Arbeiter gekleidet, sondern wie der reiche Herr eines vornehmen Hauses. In dieser Rolle wirkte er keineswegs fehl am Platz. Er war mehr als nur attraktiv; eine geradezu unwiderstehliche Anziehungskraft schien von ihm auszugehen. Seine markanten Gesichtszüge und die beeindruckende Gestalt strahlten machtvolle Dominanz aus. Einen bäurischen Neureichen hatte Edward ihn genannt. Niemand, der bei klarem Verstand war, würde diesen Eindruck gewinnen.

Trotzdem wollte sie verdammt sein, wenn sie sich einschüchtern ließ. „Wie sollte ich denn wissen, wer Sie sind – oder Ihre Identität erraten, während Sie wie … wie …“

„Während ich wie ein Arbeiter gekleidet war?“, unterbrach er sie. „Diese Kleidung trage ich immer, wenn ich meinen Steinbruch besichtige. Übrigens beurteile ich die Menschen nicht nach ihrer Aufmachung, sondern nach ihren Worten und Taten. Dazu rate ich auch Ihnen, Mrs Marchmain. Und nun gestatten Sie mir die Frage – was führt Sie hierher?“

Auf eine gewisse Weise berührte seine Stimme ihre Sinne, sanft und gefährlich zugleich. Herrje, war ihre Mission bereits gescheitert, ehe sie begonnen hatte?

Dennoch musste sie es versuchen. „Mr Davenant, ich muss mit Ihnen sprechen. Zweimal schon schrieb ich Ihnen, aber Sie würdigten mich keiner Antwort.“

„Bettelbriefe überlasse ich meinem Sekretär.“

Bettelbriefe? „Wie können Sie es wagen …?“

Erneut fiel er ihr ins Wort. „Mrs Marchmain, ich bin ein sehr beschäftigter Mann. Und Hathersleigh, Ihr Bruder, hat schon zu viel von meiner Zeit beansprucht.“

Heller Zorn stieg in ihr auf. „Wenigstens sollten Sie dieser Angelegenheit ein bisschen Aufmerksamkeit schenken.“

„Warum? Weil Sie beide der einst illustren Familie Hathersleigh angehören?“

Belle biss sich auf die Lippen. „Nun, wir üben immer noch einen gewissen Einfluss aus.“

„Bitte erinnern Sie mich nicht an Ihren Großonkel, den Duke“, seufzte Adam. „Selbst wenn Sie Ihre Ahnen bis zu William dem Eroberer zurückverfolgen können – das ist mir egal. Weshalb sollte ich meine Zeit mit Ihnen vergeuden, nachdem Ihre Familie so tief gesunken ist und sogar Schafe stiehlt?“

Um Himmels willen, dachte sie bedrückt. Nur mit Mühe hielt sie dem Blick seiner schiefergrauen Augen stand, der sonderbare Gefühle in ihr auslöste. Warum wirkte dieser Mann so verwirrend auf sie? Lag es an seiner überaus männlichen Ausstrahlung? Ja, denn es war unmöglich, ihn anzuschauen, ohne zu erkennen, dass er ein ganzer Mann war – mit den Wünschen und Begierden eines starken, machtvollen Charakters.

Und er war der Feind ihrer Familie. Ihr Feind.

Obwohl ihr Puls raste, zwang sie sich, ihm erhobenen Hauptes und mit fester Stimme zu antworten. „Hoffentlich werden Sie berücksichtigen, dass ich an jenem Nachmittag vom Pferd gestürzt und deshalb etwas aufgeregt war.“

„Das verschaffte Ihnen die wunderbare Gelegenheit, Ihre wahren Gedanken auszusprechen, nicht wahr?“, entgegnete er sarkastisch. „Versuchen Sie bitte nicht, Ihre Worte zurückzunehmen. Damit würden Sie sich nur herabwürdigen.“

Das müssen Sie nicht befürchten, das werde ich niemals tun, bekundete der vernichtende Blick, den sie ihm zuwarf.

Adam gelang es nur mit einigem Kraftaufwand, seine innere Anspannung zu verbergen. Diese Hexe. Diese unverschämte grünäugige kleine Hexe.

Was Jarvis vorhin an der Haustür gesagt hatte, gellte ihm immer noch in den Ohren.

„Warum diese Frau Sie besucht, weiß ich nicht, Davenant. Aber Sie wären ein Narr, wenn Sie nur ein einziges Wort glauben würden, das über ihre Lippen kommt. Sie ist eine habgierige Witwe, nur aufs Geld erpicht. Vor einiger Zeit beging ich den Fehler, ihr eine zu geringe Summe anzubieten.“

Zweifellos war sie hier aufgetaucht, um Adam zu bitten, er möge ihren Bruder schonen. Und sie musste bereits erkannt haben, dass ihr Vorhaben zum Scheitern verurteilt war.

„Ich halte gerade eine Besprechung ab“, erklärte er. „In fünf Minuten bin ich wieder bei Ihnen.“ Er führte Belle durch einen Korridor. „Warten Sie in der Bibliothek auf mich“, fügte er hinzu und öffnete eine Tür.

Erbost fuhr sie zu ihm herum. „Soll ich schon wieder warten?“

„Sie wurden nicht eingeladen, Madam. Seien Sie froh, dass ich Sie überhaupt empfange.“ Unverzüglich schloss er die Tür hinter ihr.

Da drin kann sie sich beruhigen, dachte er. Und verdammt – bis zur nächsten Begegnung wird sich auch mein Blut abgekühlt haben … Sein Lebensstil und sein männliches Verlangen erforderten regelmäßige Beziehungen zu einer Geliebten. Erst vor Kurzem hatte er eine Affäre mit Lady Farnsworth, einer eleganten Witwe, beendet. Sie hatte zu oft von Heirat gesprochen, während er eine Ehe als schweren Fehler betrachtete.

Genauso falsch wäre es allerdings, auf eine Geliebte zu verzichten, entschied er grimmig. Dieser Gedanke verstärkte sein Begehren nach einer schwarzhaarigen Xanthippe, die ihn zutiefst verabscheute.

Unfähig sich zu bewegen, stand Belle in der Bibliothek und erinnerte sich an Davenants Worte. „Weshalb sollte ich meine Zeit mit Ihnen vergeuden, nachdem Ihre Familie so tief gesunken ist und sogar Schafe stiehlt?“

Sie rang nach Luft und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Mütterlicherseits war sie mit einem Duke verwandt, doch ihre Mutter war bei Edwards Geburt gestorben. Damals war Belle erst zwei Jahre alt gewesen. Oft genug hatte ihr Vater den Kindern erklärt, der Onkel seiner verstorbenen Gemahlin sei der Duke of Sutherland. Dieser aber schien von der Existenz seines Neffen und seiner Nichte nichts zu ahnen.

Schon bevor Edward große Beträge beim Kartenspiel verlor, hatte Belle die bittere Realität erkannt – ihre Familie war verarmt. Zwar verdiente sie inzwischen mit dem Modesalon ihren Lebensunterhalt, doch dies verschaffte ihr weder Schutz noch Anerkennung. Beides jedoch war in der gehobenen Gesellschaft unerlässlich.

Vor zwei Jahren hatte sie Lord Jarvis kennengelernt. Er bekundete Interesse an ihrem Salon und lud sie in sein Londoner Haus ein, zu einer geschäftlichen Besprechung mit seinem Anwalt.

Aber der Anwalt erschien nicht. Stattdessen versperrte Jarvis die Tür und machte ihr ein Angebot, dessen Unverschämtheit ihr den Atem nahm.

„Wie würde Ihnen ein Berufswechsel gefallen?“ Ohne weitere Umschweife und süffisant lächelnd schlug er ihr vor, seine Geliebte zu werden. Falls er ihrem Geschmack nicht entspräche, könne sie ihre Wahl unter einigen strammen Stallburschen treffen. „Sicher mangelt es Ihnen an männlicher Gesellschaft, seit Sie verwitwet sind. Und ich schaue gern zu. Natürlich werde ich Sie großzügig bezahlen, sagen wir hundert Pfund pro Monat.“

Statt zu antworten, schlug sie ihm mitten ins Gesicht und sein Grinsen erstarb.

„Also wollen Sie mehr Geld, Sie habgierige kleine Hure?“, stieß er hervor.

„Lassen Sie mich gehen, verdammt!“, fauchte sie.

Nur widerstrebend sperrte er die Tür auf. „Hüten Sie sich, irgendjemandem zu erzählen, was wir hier erörtert haben, Mrs Marchmain!“, drohte er ihr. „Sonst werde ich Sie ruinieren.“

Nun schritt sie schweren Herzens in Davenants luxuriöser Bibliothek auf und ab und versuchte, sich zu beruhigen.

Mit Jarvis war sie fertiggeworden. Auch mit Davenant müsste ihr dies gelingen. Aber auf welche Weise – das mochte nur der Allmächtige wissen.

Draußen verdunkelte sich der Himmel, obwohl es erst vier Uhr nachmittags war. Um sich von ihren düsteren Gedanken abzulenken, betrachtete Belle die Papiere auf dem Schreibtisch – es handelte sich um Landkarten von Somerset und geologische Skizzen. Auf einem Tablett lagen Gesteinsproben, daneben stand ein Modell aus Messing, das vermutlich eine Dampfmaschine darstellte. Sie nahm das kleine Gerät in die Hand und betrachtete es aufmerksam. Onkel Philip hatte ihr erklärt, mit solchen Maschinen würde die Eisenbahn angetrieben, der die Zukunft gehöre. Das Zeitalter der Pferde sei dem Untergang geweiht.

Auch ihre Welt würde untergehen, wenn sie mit Davenant zu keiner Einigung käme.

Sie stellte das Modell zurück und sank in einen Sessel. Was würde er sagen – oder tun, wenn er wüsste, dass sie fast jede Nacht von der verhängnisvollen Begegnung in Sawle Down träumte?

Nach ihrem Sturz hatte er vor ihr gestanden, groß und stark, voller Staub, einfach gekleidet. Bereits in diesem Moment hatte irgendetwas von ihren Sinnen Besitz ergriffen und ihr das Atmen erschwert.

Sie konnte die Kraft seiner Hände nicht vergessen, mit der er sie in den Sattel gehoben hatte, die unverkennbar männliche Ausstrahlung seines Körpers. Noch immer sah sie das Sonnenlicht auf seinen Wangenknochen, die nackte Brust im geöffneten Kragen seines Hemdes …

Jetzt wusste sie, dass dieser Mann, der sie in ihren Träumen verfolgte, Adam Davenant war.

Während sie nervös an ihrem Ehering drehte, wurde abrupt die Tür geöffnet und er trat ein – Lord Jarvis’ Freund und ihr Feind.

Unsicher sprang sie vom Sessel auf. Davenant schloss die Tür, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Belle. „Ah, wie ich sehe, sind Sie immer noch hier, Mrs Marchmain.“

„Ja. Es tut mir leid, wenn ich Sie enttäusche …“

Er schaute auf seine Taschenuhr. „Zehn Minuten kann ich für Sie erübrigen.“

Durch das Fenster sah Belle, dass die Sonne hinter dunklen Wolken verschwunden war, und sie glaubte, in der Ferne Donnergrollen zu hören. Wie passend, denn der Donnergott Thor, in Gestalt von Mr Adam Davenant, stand vor ihr …

Noch einmal atmete sie tief, dann begann sie zu erklären, wie hart Edward arbeitete, um dem inzwischen stark verkleinerten Landgut höhere Erträge abzuringen. „Im letzten Jahr fiel die Ernte wegen des anhaltenden Regens sehr gering aus. Und die neuen Steuern, die die Landbesitzer entrichten müssen …“

Verächtlich hob Davenant die Brauen. „Die Steuern und das schlechte Wetter haben wohl nur Ihrem Bruder geschadet und den anderen Gutsherren nicht?“

Brennend stieg ihr das Blut ins Gesicht. „Offenbar amüsiert es Sie, mich zu verspotten, Sir. Aber ich bin noch nicht fertig! Wie Sie wissen, verkaufte Edward Ihnen vor einem Jahr einen Teil seines Landes. Aufgrund seiner Schulden war er dazu gezwungen. Bedauerlicherweise haben Sie ihm viel zu wenig gezahlt …“

Davenants bisher ausdrucklose Züge veränderten sich und erschienen ihr plötzlich so hart wie Granit. „Zweitausend Guineen.“

Verwirrt starrte sie ihn an. „Zweitausend?“

„Ja“, bestätigte er, ohne sie aus den Augen zu lassen. „Ich vermutete, dass es sich lohnen würde, die Förderarbeiten in dem alten Steinbruch wieder aufzunehmen. Darüber informierte ich Ihren Bruder und bot ihm Anteile an. Das lehnte er ab und behauptete, ich hätte unrecht. Also bot ich ihm die zweitausend Guineen. Das war viel mehr, als er von jemand anderem bekommen hätte.“

„Weil Sie wussten, dieses Gestein würde Ihnen wesentlich mehr einbringen!“

„Haben Sie eine überhaupt eine Vorstellung davon, wie viel man in Ausrüstung und Arbeitskräfte investieren muss, wenn man einen Steinbruch eröffnet? Bis sich das rechnet, wird es Jahre dauern. Deshalb hätte niemand Ihrem Bruder einen so hohen Betrag gezahlt. Aber der junge Narr tat mir einfach leid.“

Draußen donnerte es wieder. Immer dichtere Wolken verdunkelten den Himmel und Davenant zündete den Leuchter auf dem Schreibtisch an. Belle beobachtete ihn. Für einen so großen und breitschultrigen Mann bewegte er sich erstaunlich geschmeidig …

Hör auf, an so etwas zu denken, ermahnte sie sich energisch.

Zweitausend Guineen … Sie sank in den Sessel zurück.

„Scheinbar gibt es gewisse Fehlinformationen, was die Höhe des Verkaufserlöses betrifft“, bemerkte Davenant. „Habe ich recht?“

Belle schob ein Band ihres Hutes beiseite, das ihre Wange gestreift hatte. „Das weiß ich nicht. Vielleicht habe ich etwas missverstanden …“

„Daran zweifle ich“, unterbrach er sie. „Befragen Sie Ihren Bruder noch einmal. Möglicherweise wird er sich auf die Wahrheit besinnen.“ In seinen Augen erschien ein eisiger Glanz. „Bei dieser Gelegenheit sollten Sie ihn auch fragen, warum er meine Schafe gestohlen hat.“

„Gewiss, das müssen Sie für einen Diebstahl halten, Sir. Dennoch war es ein bedauerlicher Irrtum.“

„Er hat Ihnen wahrscheinlich erzählt, meine Schafe seien auf seine Weide geraten“, erwiderte Davenant gelassen. „Und dies sei meine Schuld, weil ich meine Zäune nicht instand halten ließe.“

Errötend schwieg sie. Genau das hatte Edward behauptet.

„Glauben Sie mir, Mrs Marchmain, ich achte sehr sorgfältig auf meine Zäune.“ Er schaute wieder auf seine Uhr. „Schon nach vier. Wie ich bereits betont habe, habe ich stets viel zu tun. Hoffentlich werden Sie mir demnächst einen konkreten Vorschlag unterbreiten, wie Ihr Bruder die Schafe zu ersetzen gedenkt. Falls ich Sie darauf hinweisen darf – es handelt sich um eine nicht unbeträchtliche Summe.“

Für gewöhnlich zügelte Adam seine Gefühle, doch in diesem Moment wurde er fast von seinem Zorn überwältigt. Auf eine unerklärliche Weise bedrohte diese Frau sein inneres Gleichgewicht – und das durfte er nicht zulassen. Türkis und Rosa, um Himmels willen – jedes Mal, wenn er sie anschaute, musste er blinzeln. Wäre er bloß seinem ersten Impuls gefolgt und hätte ihr die Tür gewiesen.

„Mr Davenant …“ Wieder einmal hob sie ihr kleines Kinn. „Bitte, verstehen Sie – meinem Bruder fällt es sehr schwer, unser Erbe so verringert zu sehen.“

„Ah, das gekränkte blaue Blut … Ersparen Sie mir das, Madam. Es ist bekannt, dass das Hathersleigh-Vermögen schon seit Generationen dahinschmilzt, dank fataler Verschwendungssucht und Achtlosigkeit. Haben Sie bemerkt, auf welche Weise Ihr Bruder seine Geschäfte erledigt? Haben Sie den Berg ungeordneter Papiere in seinem sogenannten Arbeitszimmer gesehen?“

„Nun, er hat viel zu tun …,“ Belle stockte, „und seiner Frau geht es nicht gut.“

„Deshalb schickt er seine ältere Schwester, damit sie sich für ihn einsetzt. Ich wiederhole – für dieses Land habe ich einen viel zu hohen Preis bezahlt, und das nicht zuletzt, weil ich in Somerset keinen bankrotten Nachbarn wünsche. Das würde nicht gut aussehen.“

Beklommen schaute sie ihn an. Dieser Mann war so kalt und hart wie die Gesteinsbrocken, die seine Arbeiter aus dem Felsen schlugen. Sie stand auf. „Welche Summe schuldet Edward Ihnen für die Schafe?“

„Wollen Sie die bezahlen? Sicher haben Sie noch weniger Geld als Ihr Bruder.“

„Ich betreibe einen sehr erfolgreichen Modesalon.“

„Nicht erfolgreich genug.“

Sie setzte sich wieder. Welch ein verdammter Schwächling ihr Bruder doch war, dachte Adam ärgerlich. Er hatte gehofft, dem jungen Hathersleigh mit dem Kauf des Landes zu helfen, aber der Bursche war ein Narr und obendrein ein Lügner. Offensichtlich hatte er seiner tüchtigeren Schwester die wahre Höhe des Kaufpreises verschwiegen.

Jetzt saß sie vor ihm und rieb ihm ihre gottverdammte höhere gesellschaftliche Stellung unter die Nase. Scheinbar glaubte sie, Adam wäre allein deshalb schon zur Milde verpflichtet.

Leute wie sie verachteten Männer von Davenants Kaliber, die ein neues Zeitalter symbolisierten und sich über die alten Privilegien hinwegsetzten. Zweifellos würde sie es verdienen, wenn er sie demütigte. Leider weckte ihr Anblick den unwillkommenen Wunsch, sie in seine Arme zu schließen, diese süßen, rosigen Lippen zu kosten und mit seiner Zunge nach und nach Besitz von ihr zu ergreifen …

Scheinbar hatte Jarvis vor einiger Zeit vergeblich versucht, die schöne Witwe zu erobern – oder eher zu kaufen.

Adam bemerkte, dass ihre Finger zitterten.

Trotzdem starrte sie ihn noch immer herausfordernd an. „Mein Bruder verdient es nicht, im Gefängnis zu landen, Sir.“

„Wirklich nicht?“

„Bald wird sein erstes Baby zur Welt kommen …“

„Nun, das wird er mit vielen seiner Mithäftlinge im Newgate gemeinsam haben.“

„Wie verachtenswert Sie sind!“ Empört sprang sie auf und ballte ihre Hände zu Fäusten. Unter dem eng zugeknöpften rosa Jäckchen hoben und senkten sich ihre Brüste deutlich sichtbar. „Verachtenswert“, wiederholte sie. „So abscheulich benahmen Sie sich schon in Sawle Down, als Sie mir verheimlicht haben, wer Sie sind. Welch ein ehrloses Täuschungsmanöver!“

Ehrlos? Das wagte sie ihm vorzuwerfen, diese arrogante kleine Witwe? Obwohl sie ihm das Geld abluchsen wollte, das ihm zustand?

„Ausgerechnet Sie reden von Ehre?“, herrschte er sie an. „Finden Sie es etwa ehrbar, dass Hathersleigh seine Schwester zu mir schickt, um seine Probleme zu lösen?“

Seine Worte schienen sie getroffen zu haben, denn sie zuckte zusammen. „Es war meine Entscheidung, Sie aufzusuchen! Wenn Sie glauben, Edward hätte mich dazu überredet …“

„Wissen Sie, was ich glaube?“, unterbrach er sie. „Ihr feiger Bruder erzählte Ihnen von seiner Notlage, weil er hoffte, Ihr Charme würde mein hartes Bauernherz erweichen. In meiner Welt grenzt das an Zuhälterei.“

Was? Niemals käme mein Bruder auf den Gedanken …“ Entsetzt wich sie zurück. Dabei blieb der Ärmel ihrer Jacke an dem kleinen Messingmodell auf dem Schreibtisch hängen. Es fiel zu Boden und brach auseinander. „Oh …“, flüsterte sie und beugte sich bestürzt hinab, um die einzelnen Teile aufzuheben.

„Lassen Sie das“, befahl Davenant. „Einer meiner Lakaien wird sich darum kümmern.“

Nein! Das erledige ich. Und dann gehe ich! Edward hat völlig recht, Sie sind ein widerwärtiger Bauer. Irgendwie werden wir das Geld aufbringen, bevor ich noch einmal vor Ihnen im Staub krieche!“

Während sie sich bückte, bot sie ihm den Anblick ihrer wohlgerundeten Kehrseite. Verdammt! Er hasste sich dafür, dass dieses unpassende Interesse in ihm erwachte, und versuchte wegzuschauen. Dennoch erschien vor seinem inneren Auge das Bild einer unbekleideten Mrs Marchmain, auf das sein Körper unverzüglich reagierte.

Schon vor langer Zeit hatte Adam entschieden, dass er sich nicht für die Ehe eignete. Zum einen war er zu beschäftigt, um sich mit einer Frau zu befassen. Zum anderen widerstrebte es ihm, eine junge Dame zu umwerben und ihr zu schmeicheln. Aufgrund seines Reichtums wurden ihm oft genug hoffnungsvolle Mädchen im heiratsfähigen Alter präsentiert, doch er konnte an ihrer Gesellschaft keinen Gefallen finden.

Eine zusätzliche Abschreckung stellte die Ehe seiner Eltern dar. Dank seines Vermögens war es dem einzigen Sohn von „Bergmann Tom“ gelungen, eine adelige Braut zu erobern, die jedoch von ihren Eltern zu der Heirat gedrängt worden war und ihn wegen seiner niederen Herkunft verachtete. Nachdem sie ihm zwei Erben geschenkt hatte, tröstete sie sich mit zahlreichen Affären. Während seiner Kindheit hatte Adam stets versucht, seinen jüngeren Bruder Freddy vor dem verwerflichen Lebenswandel der Mutter und den Wutanfällen des Vaters zu schützen.

Vor einigen Jahren waren seine Eltern gestorben, und Adam hatte nicht vor, dem Beispiel ihrer unglücklichen Ehe zu folgen. Für seine körperlichen Bedürfnisse sorgte eine Geliebte, auf die schon bald die nächste folgte. Er behandelte diese Frauen sehr großzügig, stellte ihnen aber seine Bedingungen. „Wenn ich sage, es ist vorbei, dann ist es vorbei. Sollten wir uns später bei gesellschaftlichen Anlässen begegnen, werden wir höflich miteinander umgehen. Nicht mehr und nicht weniger.“

Die meisten seiner ehemaligen Geliebten wussten es besser, als ihm Schwierigkeiten zu bereiten. Die letzte allerdings, Lady Farnsworth, bildete eine Ausnahme. Schon bald war er ihrer besitzergreifenden und überheblichen Art überdrüssig geworden.

Seitdem hatte er noch nicht wieder nach einer neuen Gespielin Ausschau gehalten. Normalerweise entschied er sich für Witwen oder verheiratete Frauen, die sich gütlich von ihren Ehegatten getrennt hatten. Die Auswahl in der Londoner Gesellschaft war reichlich, aber keine der Damen reizte ihn, denn eine andere beflügelte seine Fantasie und weckte sein Verlangen – die kleine Hexe, die ihn an jenem Nachmittag in Sawle Down so sehr beleidigt hatte.

Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Donnerschlag. Nein! Zögerte er allen Ernstes, eine neue chère amie zu wählen, weil seine Gedanken viel zu oft um Mrs Marchmain kreisten? Unmöglich …

Wütend sammelte Belle die letzten Stücke der kleinen Dampfmaschine vom Boden auf. Ihr Strohhut war hinabgefallen, und zerzauste schwarze Locken umrahmten ihr Gesicht.

„So, das wären alle Teile von Ihrem – was immer das ist!“, fauchte sie und erhob sich. Sie legte die Bruchstücke auf den Schreibtisch und stemmte ihre Hände in die Hüften.

So aufgeregt und erhitzt sah sie einfach bezaubernd aus. Wie mochte sie im Bett sein? Jarvis hatte angedeutet, dass sie nicht abgeneigt wäre, wenn man ihr eine entsprechende Summe anböte.

„Hören Sie auf, mich so anzustarren, Sir!“

Mrs Marchmains Ermahnung riss ihn aus seinem Tagtraum. „Falls es Sie interessiert, was Sie da zerstört haben, Ma’am – das war eine Miniatur der Newcomen-Dampfmaschine. Um auf Ihr Anliegen zurückzukommen – vielleicht lässt sich das Problem Ihres Bruders lösen.“ Er lehnte sich lässig gegen eine Kommode, die an der Wand stand, und musterte sie abschätzend.

Plötzlich hatte Belle das Gefühl, der Raum wäre zu klein – oder die Nähe dieses beeindruckenden Mannes zu bedrohlich. Sie verspürte ein deutliches Unbehagen, das ihre Kehle zusammenschnürte. „Seien Sie versichert, Edward wird Ihnen keinesfalls noch mehr von seinem Land verkaufen. Das werde ich ihm auch nicht anraten. Es ist sein Erbe!“

„Ja, natürlich“, antwortete Adam ungerührt. „Und Sie wünschen nicht, dass ich Ihren Bruder wegen Viehdiebstahls vor Gericht bringe. Verständlicherweise verlange ich dafür eine Bezahlung. Jetzt weiß ich auch, in welcher Form. Ich glaube, Sie ahnen bereits, worauf ich hinauswill.“

„Nun, ich – ich dachte an eine Ratenzahlung.“

„Das würde mir missfallen. Ich ziehe eine andere Möglichkeit vor.“

„Was genau meinen Sie, Mr Davenant?“

„Verstehen Sie wirklich nicht, was Sie mir anbieten können, um die Schulden zu begleichen? Sich selbst. Werden Sie meine Geliebte.“

5. KAPITEL

Belle glaubte, alle Luft würde ihr aus den Lungen gepresst. Lord Jarvis’ Beleidigungen hatten ihr bereits den Magen umgedreht. Dieser Mann jedoch drohte ihre Welt in den Grundfesten zu erschüttern und sie jeglicher Sicherheit zu berauben.

„Werden Sie meine Geliebte.“

An die wuchtige Kommode aus Eichenholz gelehnt, beobachtete er sie mit fast schläfrigen grauen Augen. Kerzenlicht fiel auf sein kurz geschnittenes dunkles Haar, auf sein verhasstes und dennoch überaus attraktives Gesicht.

Verdammt, wie dreist er sie abschätzte … Zu ihrem Leidwesen konnte sie ihn nicht anschauen, ohne ein unerwünschtes Prickeln zu spüren, das ihren ganzen Körper durchlief. Diese stattliche Gestalt, seine breite Brust und die kraftvollen Schenkel … Oh, allein schon seine Nähe weckte lang vergessene Gefühle in ihr.

Seine Geliebte! Wie konnte er es wagen, ihr einen solchen Vorschlag zu machen? Andererseits – sie hätte nicht hierherkommen dürfen. Großer Gott, was für eine arrogante Närrin war sie gewesen! Welch ein Leichtsinn, die Höhle des Löwen zu betreten, nur mit ihrer Kühnheit bewaffnet – und mit den Lügen ihres Bruders. Unsicher bückte sie sich und hob ihren Hut auf, der zu Boden gefallen war. So lächerlich kam ihr sein fröhlich bunter Stil jetzt vor.

Sie entsann sich, wie ihr nach dem Tod ihres Ehemanns zumute gewesen war, als sie ihre finanzielle Situation erkannt hatte. Sie dachte daran, wie tapfer sie sich gegen Lord Jarvis behauptet hatte … Dieser Mann war noch viel gefährlicher!

Nach einer langen Pause begann sie schließlich zu sprechen. Zu ihrer eigenen Überraschung klang ihre Stimme ruhig und kühl. „Um ehrlich zu sein, Mr Davenant, ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie mit Ihrem … Angebot eine Beleidigung beabsichtigen oder ob es einfach ein schlechter Scherz war.“

„Weder – noch“, entgegnete er und zuckte mit den Achseln. „Im Moment ist die Position zu vergeben.“

„Ich dachte, Sie hätten bereits eine Geliebte …“ Sofort presste sie die Lippen zusammen. Belle, du dumme Kuh, schalt sie sich. Keinesfalls durfte sie auch nur das geringste Interesse zeigen. In ihrem Modesalon kam sie nicht umhin, die Klatschgeschichten der Hautevolee anzuhören. Daher wusste sie, dass Adam Davenant die Aufmerksamkeit der schönsten Damen Londons erregte.

Amüsiert hob er die Brauen. „Also sind Sie über meine Affären informiert? Dann müssten Sie Bescheid wissen. Vor Kurzem habe ich mich von meiner letzten Gefährtin getrennt.“

Belle lächelte ihn honigsüß an. „Wie froh und glücklich muss sie sein, nachdem sie Ihnen entronnen ist!“

Daraufhin brach er in Gelächter aus. Tatsächlich, er lachte. „Ah, ich wünschte, das würden Sie ihr sagen, denn sie sieht die Situation etwas anders.“ In seidenweichem Ton fuhr er fort: „Eigentlich nahm ich an, ich hätte Ihnen ein vernünftiges Angebot unterbreitet. Ich würde Ihnen selbstverständlich ein Haus in der Stadt und ein angemessenes Einkommen zur Verfügung stellen. Also hören Sie bitte auf, sich wie ein jungfräuliches Schulmädchen zu verhalten, Mrs Marchmain.“

Empört schnappte sie nach Luft. „Als gebildete Dame versuche ich lediglich herauszufinden, was Sie bei so einem Arrangement gewinnen würden. Sicher begreifen Sie, wie schwer es mir fällt zu glauben, Ihr Ansinnen würde einer gewissen – Zuneigung entspringen.“

Wieder einmal zuckte er mit den Schultern. „Frauen, die mich für die Antwort auf alle ihre Gebete halten, langweilen mich.“

„Oh ja, das widert Sie geradezu an, nicht wahr?“

Davenant nickte. „Ein bisschen – ja.“

Ohne eine Antwort Belles abzuwarten, sprach er unbekümmert weiter. „Ich glaube jedoch, Sie würden in die Beziehung, die ich Ihnen vorschlage, eine erfrischende Ehrlichkeit einbringen. Natürlich würde ich Ihrem Bruder, diesem armseligen Schwächling, den Diebstahl der Schafe vergeben …“ Plötzlich unterbrach er sich, weil er sah, wie sie zitterte. „Stimmt etwas nicht, Mrs Marchmain?“

„Sie dachten, ich wäre hierhergekommen, um mit Ihnen zu verhandeln, Sir.“

„Etwa nicht?“

„Doch! Aber jetzt nicht mehr – nicht auf diese Weise!“

Eine Zeitlang schwieg er, dann antwortete er mit ruhiger Stimme: „Ich verstehe. Jetzt nicht mehr, nachdem Sie festgestellt haben, wer ich bin. Halten Sie mich wegen meiner Herkunft für eine wesentlich schlechtere Wahl als Lord Jarvis?“

Belle erschauerte. „Oh, Jarvis ist abscheulich!“

Da sie so angewidert und verächtlich sprach, fühlte Adam sich etwas verunsichert. „Ich stand unter dem Eindruck, Sie hätten mehr Geld von ihm verlangt.“

„Mehr Geld …“, wiederholte sie bitter. „Oh, Sie sind ein Freund Seiner Lordschaft, deshalb nehmen Sie seine Lügengeschichten für bare Münze. Was ich sage, spielt keine Rolle. Glauben Sie wirklich, ich würde nur einen wie auch immer gearteten Vorschlag dieses Mannes in Erwägung ziehen?“

„Immerhin hätte er Ihre Probleme gelöst. So vermögend wie ich ist er nicht, aber dafür ein Aristokrat. Wahrscheinlich stammt er aus einer ebenso alten Familie wie die Ihre – wenn auch vielleicht kein Duke zu seinen Vorfahren zählt.“

Wieder begann sie zu zittern. „Wie verabscheuungswürdig Sie sind, Mr Davenant! Ich werde Mittel und Wege finden, um die Schulden meines Bruders zu begleichen, das schwöre ich! Doch Sie verstehen hoffentlich, dass ich Ihre Gesellschaft nicht mehr länger ertrage.“

Bergmann Toms Makel, dachte er sarkastisch. Dann sollte sie eben die Konsequenzen der verdammten Arroganz, an die sie sich ebenso wie ihr törichter Bruder klammerte, zu spüren bekommen.

Sie ging bereits zur Tür, als er unter ihren dunklen Wimpern etwas funkeln sah. Tränen.

„Warten Sie!“, rief er.

Nur zögernd drehte sie sich um, wobei sie ihn nicht anschaute. Sie war einem Zusammenbruch nahe, dies verrieten ihm die bleichen Wangen und ihre bebenden Hände, mit denen sie sich den Strohhut auf die schwarzen Locken setzte. Sekundenlang schnürte ihm ein gefährliches Gefühl, das entfernt an Mitleid erinnerte, die Kehle zu.

„Jarvis ist nicht mein Freund“, erklärte er. „Er war aus rein geschäftlichen Gründen hier, und das konnte ich schon kaum ertragen. Was genau ist zwischen Ihnen und diesem Mann vorgefallen?“

Inzwischen hatte Belle sich ein wenig gefasst und hielt seinem Blick stand. „Vor zwei Jahren lud Lord Jarvis mich in sein Haus ein – angeblich, weil er in mein Geschäft investieren wollte. Stattdessen machte er mir ein – obszönes Angebot.“ Mühsam schluckte sie. „Das bezweifeln Sie, nicht wahr, Sir? Sie glauben tatsächlich, ich wäre bereit … Ich hätte Sie aufgesucht, um … Oh, wie dumm von mir! Ich bereue zutiefst, dass ich hierhergekommen bin!“

Weil sie jetzt weiß, wer ich bin. „Im Gegensatz zu Jarvis zwinge ich mich niemals den Damen auf. Sie haben dieses Haus aus eigenem Antrieb betreten, Madam. Falls Sie gehen wollen, werde ich Sie nicht daran hindern.“

Sie wollte sich wieder zur Tür wenden, hielt dann aber inne. „Dennoch …“

„Was die Schafe betrifft“, fügte Adam gnadenlos hinzu, „mein Sekretär wird Ihnen eine Rechnung schicken, die Sie dann bezahlen können. Vorhin erwähnten Sie ja Ihren erfolgreichen Modesalon, nicht wahr?“

Lässig schlenderte er zu ihr und öffnete die Tür.

Belle erstarrte. Ihr Salon – erfolgreich? Oh Gott, was sollte sie tun? Wie leichtsinnig war es gewesen, das Angebot abzulehnen, das alle ihre Schwierigkeiten hätte beseitigen können …

Denk nach, Belle.

Sie holte tief Atem. „Mr Davenant.“

Diese Frau und ihre Beleidigungen würde er nicht länger erdulden und er wünschte inständig, sie würde endlich gehen. Nun aber schwang unverkennbar Verzweiflung in ihrer Stimme mit und weckte seine Aufmerksamkeit. „Ja?“

„Wenn ich bereit wäre, Ihre Geliebte zu werden …“

Was zum Teufel …?

Plötzlich riss sie sich den Strohhut vom Kopf und schleuderte ihn beiseite. Adam schloss die Tür zur Halle wieder.

Dieser Hut darf sich glücklich schätzen, wenn er den Tag überlebt, dachte er leicht verwirrt. Schon trat sie an ihn heran, hob ihr bezauberndes Gesicht mit den reizvoll geschwungenen Lippen zu ihm empor und …

Verflucht! Sie legte auch noch die Fingerspitzen auf seine Schultern.

„Mrs Marchmain …“, begann er.

Dann versagte ihm die Stimme, denn sie zog ihn mit ihren zarten Händen näher an sich heran. Er atmete ihren köstlichen Duft ein – Lavendelseife, wie er vermutete. Als er die Nähe ihres warmen Körpers spürte, schlug sein Puls schneller, und er fühlte, wie sein Blut heiß in seine Lenden strömte.

Trotzdem schob er sie behutsam von sich. „Ich dachte“, brachte er nur mühsam hervor, „sie würden die Schulden aus den Einnahmen Ihres Geschäfts begleichen.“

„Vielleicht habe ich mich anders besonnen“, flüsterte sie.

Welch ein gefährliches Spiel sie wagt … Er unterdrückte einen Fluch.

„Ein tückisches kleines Biest“, hatte Jarvis ihn gewarnt. Doch Adam ließ nicht mit sich spielen. Halb wütend, halb lustvoll zog er sie an sich und verschloss mit seinen Lippen ihren weichen Mund.

Sein Kuss stürzte Belle in einen Strudel aus Glück und Verlangen, der alle ihre Gedanken auszulöschen schien. Aber das war in den Armen dieses Mannes vollkommen bedeutungslos.

Angesichts der geöffneten Zimmertür und der kalten Abfuhr, die Davenant ihr erteilt hatte, waren ihr die bedrückenden Tatsachen schlagartig klar geworden. Sie konnte es sich nicht leisten, wählerisch zu sein, was die Methode ihre Rettung betraf. Die Schulden bezahlen? Großer Gott, sie hatte keine Ahnung, was eine Schafherde kostete. Und falls Davenant keine Gnade walten ließ, wäre sie ebenso wie ihr Bruder verloren.

Was ist schon dabei? Eine scheue Unschuld bin ich sicher nicht. Andere Frauen machen es ebenso und umgarnen wohlhabende Männer, um zu bekommen, was sie wollen. Warum soll ich es nicht auch tun? Davenant glaubt ohnedies, ich wäre nur deshalb zu ihm gekommen.

Aber da gab es ein Problem. Anders als Jarvis widerte er sie nicht an, ganz im Gegenteil. Sobald sein drängender Mund den ihren berührte, vergaß sie, dass Davenant ihr Feind war und sie die Kontrolle über das Geschehen behalten musste. Die Leidenschaft seines Kusses ließ sie erbeben und seine starken Hände streichelten viel zu betörend ihren hungrigen Körper.

Dann öffnete seine Zunge ihre Lippen, erforschte ihren Mund. Belle schmeckte ihn, fühlte ihn in sich und spürte seine Anspannung. Mit seinem unverhüllten Begehren berührte er jeden ihrer Sinne und ließ ihre Nerven vibrieren. Sie hatte beabsichtigt, nur zum Schein auf seine Avancen einzugehen, doch was sie nun vorantrieb, war keine Heuchelei. Instinktiv grub sie ihre Fingernägel in seine Schultern. Als er ihre Taille umfing und sie an sich presste, spürte sie die pulsierende Härte seiner Erregung durch den Stoff ihres Rockes hindurch. Es gelang ihr kaum noch zu atmen, ihre Gedanken entglitten ihr endgültig.

Seine Küsse waren tief und voller Leidenschaft. Belle erschauerte. Sie sehnte sich danach, ihren Busen an seine kraftvolle Brust zu schmiegen, seine Haut auf der ihren zu spüren.

Und dann rang sie nach Luft, als seine warme Hand eine ihrer empfindlichen, fast schmerzhaft erregten Brüste umschloss. Durch die Seide ihres Kleides hindurch strich er mit dem Daumen über ihre geschwollene Knospe, bis Belle stöhnend nach noch stärkeren Reizen verlangte.

Unvermittelt riss er sich los und trat einen Schritt zurück. Belle schwankte leicht und empfand es geradezu als qualvoll, dass sein starker warmer Körper sich von ihr entfernte.

„Eine absurde Situation, Mrs Marchmain“, sagte er ruhig. „Das wissen wir beide.“

War da tatsächlich eine gewisse Besorgnis in seinen dunklen Augen zu erkennen oder bildete sie sich das nur ein? Sofort erlosch dieser seltsame Glanz wieder und sie fühlte sich zutiefst erniedrigt. „Absurd?“ Sie lächelte gezwungen. „Inwiefern, Sir? Ich wollte Ihnen nur verdeutlichen, dass ich Ihr Angebot annehme und …“

„Dieses Angebot hätte ich niemals aussprechen dürfen“, unterbrach er sie und wandte sich zur Tür. „Bitte, vergessen Sie meinen Vorschlag, Mrs Marchmain. Leider waren Sie so töricht, allein herzukommen und mich herauszufordern.“

„Aber – mein Bruder …“, stammelte sie.

„Richten Sie ihm aus, er würde mir nichts schulden. Die Sache ist erledigt.“

Bestürzt zuckte sie zusammen. „Das war also Ihre Rache!“

„Was?“ Adam ließ den Türknauf los, den er bereits ergriffen hatte, und fuhr herum.

„Ich war verzweifelt. Das entging Ihnen nicht. Und da Sie glauben, ich hätte Sie in Sawle Down beleidigt, wollten Sie die Gelegenheit nutzen, um mich das büßen zu lassen.“

„Unsinn“, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, „Sie missverstehen mich.“

„Nein“, widersprach Belle mit bebender Stimme, „ich verstehe Sie nur zu gut.“

Wieder einmal unterdrückte er einen Fluch. „Ich lasse meine Kutsche vorfahren.“

„Nicht nötig, ich gehe lieber zu Fuß.“

Adam warf ihr einen letzten vernichtenden Blick zu. „Zwischen Unabhängigkeit und reiner Dummheit besteht ein wesentlicher Unterschied. Deshalb wiederhole ich – ich lasse meine Kutsche vorfahren.“

Während sie aus dem Fenster des luxuriösen Wagens schaute, bemerkte sie, dass eine strahlende Sonne die dunklen Wolken vom Himmel vertrieben hatte. In ihrem Herzen jedoch sah es ganz anders aus. Was soeben geschehen war, stürzte sie in tiefste Verzweiflung. Noch nie war sie so grausam erniedrigt worden. Doch daran musste sie sich selbst die Schuld geben. In ihrem sträflichen Leichtsinn hatte sie Davenant ermöglicht, sich für ihre Beleidigung zu rächen.

Erbarmungslos hatte er sie provoziert. Er hatte sie dazu gebracht, ihren Stolz zu vergessen und sich ihm anzubieten. Mit einem einzigen Kuss hatte er ihr bewiesen, wie hilflos sie in seinen Armen dahinschmelzen würde – und danach sein Desinteresse bekundet. Mehr als deutlich hatte er ihr seine Verachtung gezeigt, sein Bestreben, sie und ihren Bruder so schnell wie möglich loszuwerden.

Was wäre geschehen, wenn er ihren Entschluss akzeptiert, sie noch leidenschaftlicher geküsst hätte …?

Nein, das wollte sie sich nicht vorstellen. Schaudernd sank sie etwas tiefer in das üppige Samtpolster seiner Kutsche. Sie hatte Edward vor dem drohenden Bankrott gerettet, und ihr Feind hatte sein Verlangen nach Rache gestillt. Nur sie fühlte sich so elend wie nie zuvor in ihrem Leben.

Kurz nach fünf Uhr betrat sie ihr Geschäft durch die Hintertür. Sie wollte unbemerkt nach oben gehen, um ihre Fassung wiederzuerlangen, bevor sie sich zu Gabby gesellte.

Als sie an dem kleinen Büro, das im hinteren Teil des Ladens lag, vorbeiging, sah sie durch die offene Tür, dass Edward darin auf und ab schritt. Auch er hatte Belle entdeckt und fragte sofort: „Nun, wie ist es mit Davenant gelaufen? Morgen muss ich nach Somerset zurück, zu der armen Charlotte. Vorher möchte ich sicher sein, dass alles geklärt ist.“

Erschöpft ging sie zu ihm und schloss die Tür hinter sich. „Wieso weißt du, wo ich war?“

„Weil ich schon etwas früher herkam und hörte, dass Matt einen Wagen für dich ausgeliehen hat. Nun, Schwesterchen, hast du Davenant um deinen kleinen Finger gewickelt?“

Ihre Augen verengt zu Schlitzen, während sie ihn musterte. Was würde er sagen, wenn sie ihm erzählte, welches Arrangement Davenant ihr vorgeschlagen und sich dann eines Besseren besonnen hatte?

Natürlich würde Edward sich über die Familienehre auslassen und Davenant einen unverschämten Emporkömmling nennen. Das konnte Belle in diesen Moment nicht ertragen. „Alles ist geregelt“, antwortete sie tonlos. „Er hat sich bereit erklärt, deinen Diebstahl zu vergessen.“

„Ich habe die Schafe nicht …“ Sie schaute ihn nur an und seine Stimme erstarb. Aber – typisch für ihn – dauerte sein Schweigen nicht lange. „Wie großzügig von Davenant!“, spottete er. „Wenn man bedenkt, dass diese Schafe auf dem Land gegrast haben, das von Rechts wegen mir gehört!“

„Mit deiner Behauptung, er hätte dir nur zweihundert Pfund dafür gezahlt, hast du mich in eine unmögliche Situation gebracht, Edward“, antwortete Belle ihm wütend. „In Wirklichkeit handelte es sich zweitausend. Wie konntest du nur!“

Immerhin errötete er ein bisschen. „Und wenn schon – der Kerl hat kein Recht, sich aufzuspielen.“

„Der Kerl hätte dich ins Schuldgefängnis bringen können.“

„Hat er das gesagt?“

Belle nickte. „Mehr oder weniger.“

„Oh, dieser rachsüchtige, vulgäre Schurke! Wie kann er sich erdreisten, unseren guten Namen in den Schmutz zu ziehen!“

„Herrje, welchen guten Namen meinst du?“, seufzte sie.

Unbehaglich zerrte er an seinem gestärkten Hemdkragen. „Nun – dann gehe ich jetzt und überlasse dich deinem hübschen Modesalon, der dir so viel Freude bereitet.“

„Für den ich hart arbeite.“ Sie presste ihre Lippen zusammen. „Sehr hart.“

„Oh, ich weiß. Doch du tust es gern, nicht wahr? Was solltest du denn sonst mit deiner Zeit anfangen? Seit fünf Jahren bist du verwitwet. Also sehnst du dich wohl kaum nach einem liebevollen Ehemann und Kindern.“

„Wohl kaum“, wiederholte sie und begleitete ihn zur Hintertür.

Ein letztes Mal wandte er sich zu ihr. Das Tageslicht, das von draußen durch die geöffnete Tür fiel, erhellte die alte Narbe auf seiner Stirn. „Jedenfalls bin ich froh, dass die leidige Angelegenheit geklärt ist. Übrigens, du wirst Charlotte nichts davon erzählen, oder? Das wusste ich. Auf dich kann ich mich verlassen, Belle.“ Dann setzte er seinen neuen Hut auf und eilte hinaus.

Müde schloss sie die Tür und lehnte sich dagegen. Ich bin vermutlich die dümmste Kuh von ganz London.

Wie geringschätzig Davenant von Edward gesprochen hatte. Den Grund dafür kannte sie nur zu gut. Trotzdem würde sie diesem arroganten Gentleman nie verraten, warum sie ihren Bruder beschützte und es immer tun würde. Verzweifelt kämpfte sie mit den Tränen.

Was an diesem Nachmittag in Davenants vornehmem Stadthaus geschehen war, würde ihre Seele für den Rest ihres Lebens belasten. Niemals würde sie die kalte Verachtung in seinen grauen Augen vergessen.

Gabbys Stimme unterbrach ihre düsteren Gedanken. „Alles in Ordnung, Madame?“

Hastig betupfte Belle ihre Lider mit einem Taschentuch. „Oh ja, Gabby. Brauchen Sie mich?“

Die Französin warf einen Blick in den Korridor, der zum Salon führte. „Nun – ich versuchte sie zu beruhigen, aber… Ach, Madame, schon wieder eine Beschwerde! Lady Jenkinson ist da.“

Oh nein. Belle ging mit Gabby in den Verkaufsraum, wo Ihre Ladyschaft auf und ab stolzierte, eine eingeschüchterte Zofe in ihrem Schlepptau. Glücklicherweise war keine andere Kundschaft anwesend.

„Eine Schande ist das!“, verkündete Lady Jenkinson.

„Kann ich Ihnen helfen, Mylady?“, fragte Belle freundlich. Gabby hielt sich ängstlich im Hintergrund.

„Allerdings!“, zischte Lady Jenkinson. „Geben Sie mir mein Geld zurück und entschuldigen Sie sich!“ Sie wandte sich an ihre Zofe und befahl: „Zeigen Sie dieser Pfuscherin, was sie getan hat!“

Belles Nerven spannten sich. „Sicher gibt es keinen Grund für eine solche Beleidigung, Mylady.“

„Wenn Sie davon überzeugt sind – schauen Sie sich das an!“

Mit zitternden Händen breitete die unglückliche Zofe ein aprikosenfarbenes Seidenkleid auf dem Ladentisch aus. Ihre Herrin hob ihren fleischigen Zeigefinger, der von mehreren kostbaren Ringen eingequetscht wurde, und deutete auf den Saum des Kleides.

Inständig wünschte sich Belle, sie hätte die Lady bei ihrem ersten Besuch höflich zu einer anderen, möglichst weit entfernten Schneiderin geschickt. „Ein Fehler im Material?“, fragte sie und zwang sich zur Ruhe. „Normalerweise überprüfen wir die Stoffe sehr gewissenhaft. Aber wir werden den schadhaften Teil natürlich ersetzen …“

„Kein Fehler im Stoff“, zeterte Lady Jenkinson, „sondern in der Näharbeit! Da!“ Sie hielt einen abgerissenen Teil des Saums hoch.

Belle inspizierte das Malheur mit gerunzelter Stirn. „Das tut mir leid, Mylady. Wir werden das sofort reparieren. Möchten Sie einen dieser Seidenschals annehmen? Als kleine Entschädigung für Ihre Unannehmlichkeiten? Dieser pfirsichfarbene würde perfekt zu Ihrem Kleid passen …“

„Glauben Sie bloß nicht, ich lasse mich bestechen! Ihre Sorte kenne ich! Geben Sie mir bitte mein Geld zurück. Und seien Sie versichert, dass alle meine Freundinnen, nicht zuletzt Lady Jersey, von dieser Schlamperei erfahren werden.“

Belle presste die Lippen zusammen und holte den Schlüssel der Geldkassette. Gabby fing ihren Blick auf und schnitt eine Grimasse. Den Verlust des Geldes konnten sie verkraften. Viel schlimmer war die Ankündigung der boshaften Lady, den Modesalon in der ganzen Stadt schlechtzumachen.

Seltsamerweise hatte sich Lady Jenkinson geradezu enthusiastisch von Belle einkleiden lassen. Was mochte ihren plötzlichen Sinneswandel bewirkt haben?

Gabby hielt der Lady und ihrer Zofe die Ladentür auf, wobei sie den üblichen Knicks nur andeutete. Sobald sie die Tür geschlossen hatte, wandte sie sich zu Belle um und verdrehte die Augen. „Dumme Gans! Wahrscheinlich war sie ungeschickt, als sie in ihr neues Cabriolet gestiegen ist, und hat sich den Saum abgerissen.“

„Nein, Gabby, das war kein Missgeschick. Der Faden wurde sauber durchgeschnitten.“

„Was, durchgeschnitten?“

„Schauen Sie.“ Belle griff nach dem Kleid, das noch immer auf dem Ladentisch lag. „Hier wurde der Faden zerschnitten, und da – und da. Wer das getan hat, hat sogar den Stoff mit einer kleinen, sehr scharfen Schere beschädigt.“

Verwirrt hielt Gabby den Atem an. „Oh ja, Madame, Sie haben recht. Aber – warum? Als Lady Jenkinson das Kleid zum ersten Mal anprobierte, war sie ganz begeistert!“

„Jetzt ist sie offensichtlich anderer Meinung. Vielleicht hat eine ihrer Freundinnen die Farbe oder den Stil bemängelt.“

„Sicher nicht. Alle diese Ladies haben unseren Salon praktisch gestürmt.“

„In der Modewelt ändern sich die Dinge sehr schnell, Gabby“, erwiderte Belle leise.

Im Moment waren ihre Auftragsbücher noch gut gefüllt. Aber es würde nicht lange dauern, bis ein Geschäft wie ihres, das von den Launen der feinen Gesellschaft abhängig war, nach einem anfänglichen Aufschwung um sein Überleben kämpfen musste. Doch auch diese Sorge verlor an Bedeutung angesichts der ungeheuren Demütigung, die Adam Davenant ihr an diesem Tag zugemutet hatte.

Dieser verabscheuungswürdige Mann hatte sie dazu gebracht, ihm zu Gefallen zu sein, er hatte sie so unglaublich leidenschaftlich geküsst – um sie dann abzuweisen.

Nur dein Stolz wurde verletzt, sagte sie sich. Nur dein dummer Stolz.

Nun, sie würde diese Erniedrigung überwinden und den elenden Schurken vergessen – nicht wahr?

6. KAPITEL

Bitte, Mr Davenant …“, erstaunt nahm Adams Anwalt Turnbull am nächsten Morgen die veränderten Verhältnisse zur Kenntnis. „Die Schafe waren immerhin ein paar hundert Pfund wert. Und es handelt sich eindeutig um Diebstahl!“

Adam hatte Turnbulls Büro in der Aldwych aufgesucht, um zu verhindern, dass der Anwalt weitere Schritte unternahm, die Edward Hathersleigh ins Gefängnis bringen würden. „Vermutlich war es nur ein Irrtum des jungen Mannes. Ich denke, mehrere Schafe haben sich verirrt.“

„Aber Ihre Zäune werden regelmäßig überprüft, Sir, die Tiere sind gekennzeichnet …“

„Die Schafe haben sich verlaufen“, entschied Adam, „Ende der Debatte.“

Dann verließ er den Anwalt, der sich verwundert zu seinem Schreiber umwandte. „Aus diesem Mann werde ich niemals schlau.“

In den nächsten Tagen konzentrierte Adam sich auf seine Verhandlungen mit Bankiers und Geschäftsmännern, um mit dem Gestein aus Sawle Down den größtmöglichen Gewinn zu erzielen. Aufträge würde er dank der zahlreichen Londoner Bauvorhaben genug erhalten. So plante beispielsweise der Prinzregent zusammen mit dem Architekten John Nash einige repräsentative Gebäude an der Regent Street.

Aber es war weiterhin ungeklärt, wie das Material nach London transportiert werden sollte. Alles hing von der Bahnlinie zum Kennet-und-Avon-Kanal ab, die Adam bauen wollte. Nur acht Meilen lagen zwischen dem Steinbruch und dem Kanal, wenn die Strecke der Bahn an Monkton Sawle vorbeiführen würde. Der erste Teil des Gebiets gehörte Adam, der zweite seinem Freund Bartlett. Doch die letzten zweieinhalb Meilen bis zum Kanal bei Limpley Stoke verliefen über Jarvis’ Land. Ein Umweg über die nördlicher gelegene Gegend würde teure und für die Arbeiter gefährliche Sprengungen und Tunnelarbeiten erfordern.

Wenn Adam auf die Südroute verzichtete und Auseinandersetzungen mit Jarvis vermied, würde er noch mehr Land kaufen müssen, womöglich von Eigentümern, die diesem Geschäft ablehnend gegenüberstanden. Immer wieder studierte er die Landkarten, zusammen mit seinem Chefingenieur George Shipley, der eigens aus Somerset nach London gekommen war, um ihn bezüglich des Streckenverlaufs zu beraten.

Aber Adam wurde zum ersten Mal in seinem Leben von geschäftlichen Überlegungen abgelenkt – durch hartnäckige Gedanken an eine provozierende Frau namens Belle Marchmain, die ihn aus tiefer Sorge um ihren Bruder aufgesucht hatte.

Für Edward Hathersleigh empfand Adam nur Verachtung. Hatte er dem jungen Narren nicht schon mit einem zu hohen Preis für das Land zu helfen versucht? Das war ihm mit einer Lüge und dem Diebstahl seiner Schafe gedankt worden. Trotzdem prahlte Hathersleigh immer noch mit seiner adeligen Herkunft und glaubte, die Welt wäre ihm so viel Geld schuldig, wie er nur wünschte. Wann immer Adam solchen Aristokraten begegnete, könnte er zum Anhänger der Französischen Revolution werden.

Dennoch war ihm bewusst, dass man sich mit Geld kein Glück erkaufen kann. Das bewies ihm die zerrüttete Ehe seiner Eltern. Schonungslos hatte die Mutter ihm erklärt, nur aus Liebe zu ihm und seinem Bruder Freddy wäre sie der Hölle an der Seite seines Vaters nicht entflohen.

„Was ist nur los mit dir, Adam?“, hatte Freddy letztens lachend gefragt. „Du musst nur unter den zahlreichen hübschen Kandidatinnen der Londoner Damenwelt wählen. Du bist neunundzwanzig Jahre alt, attraktiv und steinreich, aber du kannst noch immer keine Gemahlin aufweisen, geschweige denn einen Erben.“

„Und wenn schon …“, hatte Adam ungerührt geantwortet. „Dank deiner drei strammen Söhne wird unsere Familie nicht aussterben. Ich wäre nicht überrascht, wenn dir eine weitere Vaterschaft bevorstünde.“

„Da du es gerade erwähnst …“ Triumphierend nickte sein Bruder. „Louisa ist im dritten Monat. Vorerst wollen wir es für uns behalten.“

„Freut mich.“ Adam klopfte ihm auf die Schulter. Also darf ich zudringliche Frauen weiterhin reinen Gewissens abwehren.“

Freddy hatte gegrinst. So glücklich war er mit seiner Familie auf seinem Landgut in Surrey, wo die drei Söhne – der älteste war erst sieben – auf ihren Ponys fröhlich um die Wette ritten.

Für Adam war das kein Leben. Die Verantwortung für das Familienerbe – die Ländereien, die Geschäfte, seine Angestellten – beanspruchte den Großteil seiner Zeit. Und eine Ehe? Mit einer hochmütigen Tochter aus vornehmem Haus, die ihm ständig vorhalten würde, sie habe unter ihrem Stand geheiratet? Niemals.

Eines Nachts in den Schulferien hatte der damals zehnjährige Adam einen Streit seiner Eltern belauscht. Sie hatten an diesem Abend einen luxuriösen Ball gegeben. Nachdem alle Gäste gegangen waren, hörte er deutlich die Stimme seiner Mutter.

„Meine Freundinnen bedauern mich“, klagte sie verbittert. „Mit dem Sohn eines Bergmanns verheiratet! Mein Gott, alle lachen über deine Manieren, deine Sprechweise … Geh nicht weg, wenn ich mit dir rede!“, schrie sie. „Wohin gehst du?“

„In den Stall“, hatte Adams Vater geantwortet. „Dort schlafe ich sehr gern, nur um von dir wegzukommen. Warum zum Teufel läufst du nicht mit einem deiner Liebhaber davon?“

Wann immer eine heiratswillige Frau an Adam herantrat, glaubte er die schrille Stimme seiner Mutter zu hören, so wie in jener Nacht. Schon damals hatte er sich geschworen, niemals zu heiraten, und bisher hatte sich die sorgsame Auswahl seiner Geliebten bewährt. Aber – verdammt, diese Belle …

Von ihm provoziert, hatte sie sich als Mätresse angeboten, um ihren Bruder zu retten. Sie hatte es dabei tatsächlich geschafft, seine unerschütterliche Selbstkontrolle zu gefährdet.

Sie war schön, das hatte er schon vorher gewusst. Welch ein unglaublicher Genuss war es, ihren weichen, schlanken Körper zu umarmen, die rosigen Lippen zu kosten … Allein schon bei dieser Erinnerung spannten sich seine Lenden. Er hatte seine ganze innere Kraft aufbringen müssen, um Belle loszulassen und sie aufzufordern, sein unsittliches Angebot zu vergessen.

Jede andere Frau hätte ihn vermutlich kokett auf den Beweis seiner Erregung hingewiesen und versucht, ihn zu noch intensiveren Intimitäten zu verführen. Stattdessen war Mrs Marchmain sichtlich bestürzt gewesen.

Warf sie ihm zu Recht vor, er würde sie demütigen, um sich für ihre Beleidigungen zu rächen? Vielleicht. Wie auch immer, für ihn waren alle Angelegenheiten, die mit den Hathersleighs zusammenhingen, erledigt. Keinesfalls würde er so tief sinken und ihren nichtsnutzigen Bruder wegen einer Schafherde vor Gericht bringen.

Dennoch – Mrs Marchmain würde sicherlich noch oft an jenen Kuss denken, den sie ebenso leidenschaftlich genossen hatte wie er. Daran zweifelte er nicht. Wenn er eine neue Gespielin gefunden hatte, würde er sie eventuell in Mrs Marchmains Modesalon führen und ihr ein schönes Kleid kaufen. Manchmal war Herablassung die süßeste Rache.

Eine Woche nach seiner Begegnung mit Belle saß Adam bei Kerzenlicht an seinem Schreibtisch in der Clarges Street, als es an die Tür der Bibliothek klopfte. Sein Sekretär Bernard Lowell trat ein, in der Hand einen Stapel Papiere.

„Da sind die Briefe, die ich für Sie entwerfen sollte, Mr Davenant.“

Der Sekretär legte die Schriftstücke auf den Tisch, die Adam nur kurz überflog. „Danke, Lowell. Wie üblich haben Sie ausgezeichnete Arbeit geleistet. Noch etwas?“

„Nun müssten noch zwei Dokumente unterzeichnet werden. Und …“ Lowell zögerte. Unsicher blinzelte er durch seine Brille. „Haben Sie Mrs Marchmain seit der letzten Woche noch einmal gesehen, Sir?“

Auf seinem Stuhl zurückgelehnt, musterte Adam den Mann, der seine hohe Intelligenz und unerschütterliche Loyalität oft genug bewiesen hatte. Eine solche Frage würde er wohl kaum ohne einen guten Grund stellen. „Sie kannten Mrs Marchmains Familie, nicht wahr, Lowell?“

„Ja, Sir. Wie Sie wissen, wuchs ich in Bath auf, wie auch Mrs Marchmain. Damals hieß sie noch Miss Hathersleigh und galoppierte auf einem viel zu großen Pferd über die Hügel. Oft genug wurde sie abgeworfen, doch das kümmerte sie nicht. Diese junge Dame hatte wahrlich Schneid …“ Lowell seufzte. „Dann fiel ihr Ehemann im Krieg, ein schwerer Schicksalsschlag. Soviel ich gehört habe, ist sie seitdem unverheiratet geblieben – obwohl … Wie ich mich entsinne, hätte sie ihre Wahl unter den vornehmsten Gentlemen von Bath treffen können. Nur noch dieses Dokument, Mr Davenant …“

Adam unterschrieb das Papier und gab es zurück. „Können Sie sich vorstellen, warum sie nicht wieder geheiratet hat?“

„Vielleicht liebte sie ihren Gemahl und trauert noch immer um ihn.“

„Sieht sie wie eine trauernde Witwe aus?“

„Nein, das muss ich zugeben, Sir.“

„Kennen Sie auch Ihren Bruder?“

„Master Edward? Er ist ein oder zwei Jahre jünger als sie – und leider etwas leichtfertig in finanziellen Dingen. Zurzeit hat er ziemlich hohe Spielschulden im White’s Club.“

Beinah hielt Adam den Atem an. Der gottverdammte Narr …

„Diese Schulden stammen noch von seinem letzten Aufenthalt in London“, fuhr Lowell fort. „Wegen seiner familiären Situation – seine Frau erwartet demnächst ein Kind – hat sich der Besitzer des White’s bereit erklärt, ihm die Summe einen Monat lang zu stunden. Allerdings gibt es jemanden, der die Schulden übernehmen möchte.“

„Wer?“

Wieder zögerte der Sekretär. „Lord Jarvis, Sir.“

In der Halle tickte die große Standuhr, sonst hörte Adam kein einziges Geräusch im ganzen Haus. Schließlich fragte er: „Wie viel muss Hathersleigh dem White’s zahlen?“

„Etwa fünftausend Guineen.“

„Gehen Sie sofort in den Club und begleichen Sie die Schulden in meinem Namen.“

Lowell blinzelte nur ein einziges Mal. „Ja, selbstverständlich, Sir.“

Genauso gut hätte Adam ihn beauftragen können, die Rechnung für die wöchentliche Holzlieferung zu bezahlen.

Am nächsten Nachmittag, um drei Uhr, schlenderte Adam in seinen Club an der St. James’s Street und beobachtete dort, wie Lord Rupert Jarvis die Aktienpreise in der Times studierte.

Bei Adams Anblick stand Jarvis lässig auf. „Also wollen Sie mit mir sprechen.“ Ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen. „Aber ich werde es mir nicht anders überlegen. Das Stück Land, das Sie für Ihre Bahnlinie brauchen, werde ich nicht verkaufen.“

Er setzte sich wieder, und Adam nahm ihm gegenüber Platz. „Nicht einmal Sie können die Zukunft aufhalten, Jarvis. Eines Tages wird man Ihre Pferdewagen genauso veraltet finden wie Ochsenkarren oder Boote aus Weidengeflecht.“

„Seit Jahrhunderten benutzen wir Pferde, Davenant,“ Jarvis schenkte für beide Brandy ein, „und so wird es noch viele Jahrhunderte lang bleiben. Bald werden Ihre verdammten neumodischen Dampfmaschinen von selbst in die Luft fliegen.“

Adam musterte ihn nachdenklich. Vor ein paar Jahren war die Ehefrau Seiner Lordschaft gestorben, ein bedauernswertes kleines Ding, das stets völlig eingeschüchtert gewirkt hatte. „Was Sie von meiner Eisenbahn halten, haben Sie zur Genüge bekundet, Jarvis. Heute möchte ich etwas anderes mit Ihnen besprechen. Es geht um die Dame, die mich bei Ihrem letzten Aufenthalt in meinem Haus aufgesucht hat, Mrs Belle Marchmain.“

Langsam hob Jarvis die Brauen, dann grinste er. „Ah, ist sie wieder auf der Jagd nach einem Beschützer? Sie ist ziemlich wählerisch. Reich und von Adel muss er sein. Trotzdem war sie so arrogant, mich abzuweisen.“

In diesem Moment servierte ein Kellner die Mahlzeit, die sich der Lord bestellt hatte. Sofort machte er sich gierig über sein Beefsteak her. „Essen Sie nicht hier, Davenant?“

„Nein. Ich wüsste gern, warum Sie die Schulden übernehmen wollen, die Mrs Marchmains Bruder im White’s gemacht hat.“

Ruckartig hob Jarvis den Kopf. „Davon haben Sie gehört? Ja, der junge Hathersleigh hat sich ganz schön in die Bredouille gebracht. Einen Monat hat er Zeit, allerdings nicht die geringste Chance, seine Spielschulden zu begleichen. Wenn ich sie übernehme, werde ich ihm erklären, dass er mir die Summe nicht ersetzen muss, sondern stattdessen seine hübsche Schwester zu mir schicken soll.“

„Sie hat Ihr Angebot schon einmal abgelehnt.“

„Nun, diesmal wird sie es dank der Schulden ihres Bruders akzeptieren müssen.“ Lachend legte Jarvis sein Besteck auf den Teller. „Ob es ihr passt oder nicht, ich hole sie in mein Bett. Wenn ich mit ihr fertig bin, verbreite ich Geschichten über sie, sodass ihr letzten Endes keine andere Möglichkeit bleibt, als sich auf der Straße zu verkaufen und …“

„Bevor Sie sich zu sehr in Ihre Fantasien hineinsteigern“, fiel Adam ihm ins Wort, „ich fürchte, Sie sind zu spät dran.“

„Wieso?“ Jarvis runzelte die Stirn. „Was zum Teufel meinen Sie? Schon heute Abend bin ich im White’s verabredet.“

„Das sollten Sie absagen, weil ich Hathersleighs Schulden beglichen habe.“

Jarvis’ Gesicht färbte sich puterrot, dann erblasste er. „Warum, zum Henker …?“

Lässig zuckte Adam mit den Achseln. „Eine Laune, ein Impuls.“

„Verkaufen Sie mir den Schuldschein.“

„Nennen Sie mir einen überzeugenden Grund, warum ich das tun sollte.“

„Weil ich Ihnen die doppelte Summe zahle.“

„Ihr Geld will ich nicht, Jarvis. Nur Ihr Land.“

Der Lord atmete tief durch. „Überlassen Sie mir die Frau, und Sie bekommen es.“

Reglos saß Adam da.

„Oder – überlegen wir mal.“ Jarvis füllte sein leeres Brandyglas. „Mich verabscheut sie. Das weiß ich. Ihnen jedoch widersteht keine Frau. Deshalb werden Sie erledigen, was ich mit diesem verdammten hochnäsigen Biest abzumachen habe.“ Er beugte sich vor und hob grinsend einen Zeigefinger. Anscheinend hatte er schon etwas zu viel getrunken.

„Das müssen Sie mir etwas genauer erklären …“, erwiderte Adam gleichmütig.

„Ganz einfach. Durch die Spielschulden haben Sie Mrs Marchmain und Ihren Bruder in der Hand. Natürlich, ich begehre die Frau, fürchte allerdings, sie würde meine Nerven zu sehr strapazieren. Ich habe daher eine bessere Idee.“ Jarvis nahm einen großen Schluck Brandy. „Gehen Sie mit ihr ins Bett, dann geben Sie ihr den Laufpass und Sie bekommen das Land, das Sie haben wollen.“

„Ein interessanter Vorschlag“, meinte Adam gelassen, „aber den höre ich mir lieber an, wenn Sie nüchtern sind.“

Herausfordernd schlug Jarvis mit der Faust auf den Tisch. „Noch nie war ich so nüchtern wie jetzt! Dieses Abkommen werden wir schriftlich festlegen, alles soll seine Richtigkeit haben. Oh ja, ich würde die Frau gern selbst von ihrem hohen Ross runterholen. Dennoch befriedigt es mich genauso, wenn sie von Ihnen erniedrigt wird, weil …“ Seine Stimme erstarb, seine hellen Augen glitzerten.

Adam hätte den Satz mühelos vollenden können. Weil Sie Bergmann Toms Enkel sind und Mrs Belle Marchmain glaubt, sie würde haushoch über Ihresgleichen stehen. In seinem Gesicht zuckte kein Muskel, nichts verriet, was er empfand. Schweigend wartete er, bis Seine Lordschaft wieder zu sprechen begann.

„Jetzt fällt mir noch etwas Besseres ein!“ Eifrig rieb Jarvis sich die Hände. „Wenn Sie nur mit ihr schlafen – das genügt mir nicht, Davenant. Verloben Sie sich mit ihr. Dann lassen Sie die schöne Belle in aller Öffentlichkeit fallen und behaupten, Sie müssten sich von ihr trennen, weil sie es mit einem Ihrer Lakaien getrieben hätte. Nach dieser Demütigung ist sie gesellschaftlich ruiniert, dem Hohn der Hautevolee ausgeliefert. Sie hingegen bekommen das ganze Land, das Sie für Ihre vermaledeite Eisenbahn brauchen.“

Wortlos stand Adam auf.

„Dagegen haben Sie doch nichts einzuwenden?“, fauchte Jarvis.

„Ganz im Gegenteil, Mylord.“ Adam schenkte ihm ein frostiges Lächeln. „Nun möchte ich jemanden suchen, der unsere Vereinbarung bezeugen soll.“

Wenig später legte Adam das Abkommen in der Bibliothek des Clubs schriftlich nieder und fertigte noch eine Kopie an, wobei Jarvis ihm über die Schulter schaute. Im Hintergrund wartete gelangweilt ein gemeinsamer Bekannter, Sir Gareth Blakeley, der die Richtigkeit der Unterschriften auf den Dokumenten bezeugen sollte. Während die beiden Vertragspartner unterschrieben, wurde der Inhalt der Vereinbarung mit Papieren verdeckt. Solche Arrangements waren in Londoner Clubs nicht unüblich.

Nachdem Jarvis seine Kopie eingesteckt und mit Blakeley die Bibliothek verlassen hatte, blieb Adam noch eine Weile am Schreibtisch sitzen. Allein in dem stillen Raum überdachte er, was soeben geschehen war.

Autor

Margaret Moore
Margaret Moore ist ein echtes Multitalent. Sie versuchte sich u.a. als Synchronschwimmerin, als Bogenschützin und lernte fechten und tanzen, bevor sie schließlich zum Schreiben kam. Seitdem hat sie zahlreiche Auszeichnungen für ihre gefühlvollen historischen Romane erhalten, die überwiegend im Mittelalter spielen und in viele Sprachen übersetzt wurden. Sie lebt mit...
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