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Countrysängerin P.J. Morgan stürmt alle Charts! Vorbei ist die Zeit, als das Geld knapp war. Bis sie plötzlich anonyme Briefe bekommt, voll dunkler Ankündigungen und unheimlicher Botschaften. Zwar kennt sie keine Angst vor einem durchgeknallten Fan. Denn auf den Straßen von Denver hat P.J. gelernt, sich zur Wehr zu setzen. Doch ihre Plattenfirma geht auf Nummer Sicher und heuert einen Bodyguard für das wilde Goldgirl an. Jetzt hat P.J. wirklich ein Problem! Denn ausgerechnet Jared Hamilton betritt sexy lächelnd ihren Tourbus, der einzige Mann, der sie jemals schwach gemacht hat. Auf dem Absatz ihrer Cowboyboots dreht P.J. sich um und sucht das Weite. Verfolgt von Jared, der noch eine Rechnung mit ihr offen hat ...


  • Erscheinungstag 01.08.2009
  • Bandnummer 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783862782680
  • Seitenanzahl 368
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Mama’s Girl wird wütend –

Grammygewinnerin feuert Manager-Mom!

– Nashville Tattler

Jared Hamilton dirigierte das Taxi durch die dunklen Straßen von Denver. Vor einem typisch amerikanischen Bungalow hielt der Fahrer an. Jared stieg aus und sah dem Wagen hinterher, bis er in der Dunkelheit verschwunden war. Er schlug den Kragen hoch – die Nächte im Frühsommer waren doch noch recht kalt – und stieg die überdachte Verandatreppe hinauf.

Der Empfangsbereich von Semper Fi Investigations lag im Dunkeln. Einzig am Ende des Korridors schimmerte Licht durch die mattierte Glastür von John Miglionnis Büro. Jared ging an seinem eigenen Büro vorbei und streckte den Kopf in das seines Schwagers. „Hey! Was machst du denn um diese Uhrzeit noch hier?“

Nach zwei, drei weiteren Anschlägen auf die Tastatur rollte John seinen Stuhl zurück, um Jared anzusehen. „Tatsächlich hatte ich gehofft, dich noch zu treffen.“

„Warum? Was ist los?“ Jared ließ seinen Schlafsack zu Boden fallen und setzte sich. „Es muss mit der Arbeit zu tun haben. Wenn es um Tori oder die Kinder ginge, würdest du an einem Donnerstagabend um Viertel vor zwölf sicher nicht mehr hier sitzen.“

John betrachtete ihn mit aufgesetzt väterlichem Blick. „Hab ich nicht schon immer gesagt, dass du schlauer bist als so mancher andere?“

„Jaja, schon gut. Aber jetzt sag schon: Was ist los?“

John setzte sein berühmtes Ich-bin-so-toll-dass-man-mich-klonen-müsste-Lächeln auf. „Ich habe gestern einen äußerst lukrativen Auftrag an Land gezogen.“

„Gut gemacht, Rocket!“ Bei derartigen Anlässen passte der Spitzname, den sich sein Schwager bei den Marines hatte verpassen lassen.

„Ja, ganz toll. Abgesehen davon, dass Willie, der sich eigentlich darum kümmern sollte, mit Blinddarmdurchbruch im Krankenhaus liegt. Und ich stecke bis über beide Ohren im Sanderford-Fall.“

Jared streckte die Beine aus, faltete die Hände über dem Bauch und grinste John schelmisch an. „Dann ist es ja ein unbeschreiblich großes Glück, dass ich meinen Fall gerade abgeschlossen habe, wie?“

„Wenn du erfährst, wen wir aufspüren sollen, wirst du das vermutlich nicht mehr denken.“

Da er sich nicht vorstellen konnte, was sein Glück an einem neuen Auftrag trüben sollte, hob Jared nur fragend die Augenbrauen.

„Wild Wind Records hat uns beauftragt, deine alte Freundin Priscilla Jayne zu finden.“

Jared spürte, wie sein Herz ein paar Sekunden lang schneller schlug. Er wusste, dass es lediglich an der Überraschung lag, so unvermittelt mit diesem Namen konfrontiert zu werden – eine Annahme, die er in dem Moment bestätigt sah, als sein Puls sich schlagartig wieder beruhigte. „P.J.?“ Er sah Rocket geradewegs in die Augen. „Warum sollte ich damit ein Problem haben?“

John warf ihm einen vielsagenden Blick zu. „Tja, lass mich überlegen … Vielleicht, weil ihr zwei ein paar der intensivsten Wochen eures Lebens miteinander verbracht habt?“

„O ja, das haben wir – vor fünfzehn Jahren! Seither ist viel Wasser den Fluss hinuntergeflossen, großer Häuptling.“ Er setzte sich wieder aufrecht hin. „Erzähl mal – was ist los mit der heißen neuen Diva der Countryszene? Ich dachte, alles läuft bestens. Wie kommt es, dass sie gefunden werden muss?“

„Keiner scheint Genaueres zu wissen. Offenbar fing alles damit an, dass sie vergangenen Montag ihre Mutter gefeuert hat. Sie war ihre Managerin.“

„Tatsächlich?“ Jared spürte Genugtuung in sich aufsteigen. „Gut für sie. Das war längst überfällig.“ Er hatte P.J.s Mutter schon vor fünfzehn Jahren gehasst, und er würde das Familienerbe darauf setzen, dass diese Frau sich seither nicht zum Besseren verändert hatte.

„Ich weiß allerdings nicht, wie gut das für Priscillas Karriere ist, zumindest kurzfristig, denn ihre Mutter erzählt den Musikmagazinen und der Regenbogenpresse allen möglichen Mist. In etwa zwei Wochen soll P.J. zu einer großen Tournee starten, und bei Wild Wind Records wird man ziemlich nervös, weil niemand auch nur die blasseste Ahnung hat, wo sie steckt. Wenn du diesen Auftrag annimmst, hast du zweierlei Aufgaben. Als Erstes sollst du Miss Priscilla Jayne aufspüren. Und dann sollst du sie auf ihrer Tour begleiten, damit sie nicht wieder ausbüxt.“

Jared stieß einen leisen Pfiff aus. „Die gesamte Tour? So was kann ganz schön lange dauern.“ Er sah John prüfend an. „Über welchen Zeitraum sprechen wir?“ Er war nicht sicher, wie er es finden würde, monatelang seine Privatsphäre aufzugeben, nur um für P.J. Morgan den Babysitter zu spielen. Ihre Freundschaft mochte die wichtigste Beziehung seines damals siebzehnjährigen Lebens gewesen sein, aber das war nun wirklich lange her.

„Fünf Wochen – ein paar Tage hin oder her.“

Also gut, etwas über ein Monat müsste zu schaffen sein. „Haben die bei Wild Wind eine Vorstellung davon, was sie das alles kosten wird?“

„Das sollten sie. Ich habe es ihnen nämlich bis ins Letzte vorgerechnet. Aber sie scheinen sehr viel besorgter darüber zu sein, was es kostet, wenn sich ihr Goldkehlchen in Luft auflöst.“

„Das ist doch aber sehr unwahrscheinlich, oder? Das hört sich nach P.J.s großem Durchbruch an. Warum sollte sie kein Interesse daran haben, eine Tournee zu starten, die ihre Karriere in den Himmel katapultiert?“

„Wie du schon sagtest: In fünf zehn Jahren kann viel passieren.“

Dem konnte Jared nichts entgegensetzen. Alles, was er dieser Tage über P.J. Morgan wusste, hatte er aus dem Fernsehen oder Zeitungsartikeln.

Ihre Beziehung damals war intensiv gewesen, aber nur kurz – und schon längst Geschichte. Durchaus möglich, dass sich das süße, kratzbürstige Mädchen von damals in ein ebenso eiskaltes Luder verwandelt hatte, wie ihre Mutter eines gewesen war.

1. KAPITEL

Wo um alles in der Welt steckt Priscilla Jayne?

Country Now

Ach, du liebe Zeit!“ P.J. Morgan warf die Zeitschrift beiseite und sprang auf. „Mysteriöses Verschwinden, pah! Wo nehmen die bloß solchen Mist her?“ Welch schreckliche Vorstellung, dass Country Now eigentlich zu den besseren Magazinen gehörte – da konnte sie sich gut ausmalen, was die niveaulosen Klatschzeitungen über sie schrieben!

Sie ging zum Fenster und schob den ausgebleichten olivgrünen Vorhang beiseite. Nicht, dass es in diesem Ort, der aus einer Handvoll Häusern neben einer Landstraße bestand, viel zu sehen gäbe! Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass sie zu einer Zeit in ihrem Leben, in der sie sich endlich luxuriöse 5-Sterne-Hotels leisten konnte, ausgerechnet in einem billigen Motel an einer abgelegenen Straße auf der heißen texanischen Einöde übernachtete.

„Tja.“ Sie stieß ein humorloses Lachen aus. „Du kannst ein Mädchen zwar aus dem Wohnwagenpark herausholen, aber das Wohnwagenflair nicht aus ihr.“

Seufzend ließ sie den Vorhang wieder fallen und drehte sich um. So hatte sie das eigentlich nicht geplant, als sie sich am Montag aus dem Staub gemacht hatte. Eigentlich wollte sie nach Los Angeles – eine Stadt, die sie noch nie gesehen hatte, die exotisch war und außerdem weit genug von zu Hause fort. Bestimmt zerbrachen sich dort nicht viele Menschen den Kopf darüber, wo sich eine Countrysängerin herumtrieb, die am Anfang ihrer Karriere stand.

Mit der verlockenden Vorstellung, bald an einem palmenbeschatteten Pool zu sitzen und riesige Mengen süffiger Cocktails mit bunten Papierschirmchen zu trinken, war sie siebzehn Stunden am Stück durchgefahren und hatte nur angehalten, um sich die Beine zu vertreten und den Tank aufzufüllen. Doch als sie dann kaum mehr die Augen offen halten konnte, war sie ins Wind Blew Inn eingekehrt, ein altersschwaches, aber sauberes Motel im Norden von Texas. Sie war sofort ins Koma gefallen und erst sechsunddreißig Stunden später wieder aufgewacht. Da hatte sie beschlossen, erst einmal hierzubleiben. Irgendetwas an dieser nur eine Häuserzeile langen Ortschaft im Nirgendwo erinnerte sie an die unzähligen kleinen Kaffs, in denen sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte.

Wenn alles den Bach runtergeht, halte dich an das, was du kennst.

Ihr Magen rumorte. Erst jetzt merkte sie, wie hungrig sie war. Welcher Tag war überhaupt – Mittwoch? Nein, du meine Güte, es war ja schon Donnerstag!

Schon am Montag hatte sie überhaupt keinen Appetit mehr gehabt. Und wenn das nichts über ihren Gemütszustand aussagte, was dann? Einmal, in einem Sommer vor einer halben Ewigkeit, war sie zusammen mit einem Jungen namens Jared tagelang hungrig durch die Straßen von Denver gelaufen. Seit dieser Erfahrung achtete sie geflissentlich darauf, keine einzige Mahlzeit ausfallen zu lassen. Dennoch hatte sie seit ihrer Abreise außer etwa dreißig Liter Kaffee und dem einen oder anderen Schokoriegel, den sie beim Bezahlen der Tankrechnung mitgenommen hatte, nichts weiter zu sich genommen.

P.J. drehte die Haare am Hinterkopf zusammen, griff nach ihrer Baseballkappe und stülpte sie über. Dann setzte sie ihre übergroße Sonnenbrille auf, stopfte sich eine Handvoll Dollarscheine in die Tasche ihrer Shorts und verließ das Zimmer.

Für Anfang Juni war es ungewöhnlich heiß, und aus der Klimaanlage, die in ihrem Zimmerfenster montiert war, tropfte grünliches Kondenswasser auf den Betonboden. Sie blinzelte ein paarmal, zog sich den Schirm ihrer dunkelblauen Kappe tiefer in die Stirn und marschierte über den Parkplatz.

Das Prairie Dog Cafe war ein niedriges, orangefarbenes Gebäude direkt neben Elmerson’s Futter- und Samenhandlung. P.J. öffnete die Fliegengittertür. Das Klappern von Geschirr drang ihr entgegen, Männerstimmen, die mit lauten, tiefen Stimmen über ihre Ernten diskutierten, und Countrysängerin Lari White, die aus der alten Wurlitzer in der Ecke sang. P.J. trat aus der Sonne in den Geruch von Grillfleisch und Zigarettenrauch. Die wenigen Gäste, die keine Schirmmützen auf dem Kopf trugen, hatten ihre Cowboyhüte aus Stroh über die Stuhllehnen gehängt.

Für einen kurzen Moment wurden alle Gespräche unterbrochen und dann unbeirrt wieder aufgenommen. P.J. war die einzige Frau im Lokal. Nichtsdestotrotz durchquerte sie den Raum bis zur Theke und schwang sich auf einen der freien Drehstühle mit rotem Vinylbezug. Wäre sie eine Frau, die sich von Männern einschüchtern ließe, dann hätte sie wohl schon bei ihrem ersten Versuch, professionell zu singen, gleich wieder damit aufgehört. Tatsächlich genoss sie männliche Gesellschaft sehr. Sie arbeitete fast nur mit Männern – ihre Band bestand aus zwei Exemplaren dieser Art, und die Roadies, die zu Konzerten die Bühne auf- und wieder abbauten und die Ausrüstung von Stadt zu Stadt kutschierten, waren ebenfalls fast ausschließlich Männer.

Sie schob den Aschenbecher zur Seite und griff nach einer laminierten Speisekarte.

Eine Kellnerin, die den Namen Sandy über der Brusttasche ihrer pinkfarbenen Uniform gestickt trug, stellte wenige Minuten später ein Glas Wasser vor P.J. ab. „Was kann ich Ihnen bringen, Schätzchen?“

P.J. bestellte frisches Graubrot mit Schinken und Käse. Eigentlich wollte sie das Sandwich mitnehmen. Doch da sie es gewohnt war, ständig von Menschen umgeben zu sein, empfand sie das Gemurmel von Stimmen als äußerst beruhigend und brachte es nicht über sich, den wohligen Klang gegen die allzu große Stille ihres Motelzimmers einzutauschen.

Dass dies keine gute Entscheidung gewesen war, erkannte sie, als Sandy irgendetwas in die Küche rief, als sie P.J.s Bestellung durchgab. Gleich darauf steckte der Koch seinen Kopf durch die Durchreiche, um einen Blick auf sie zu werfen. Auch Sandy sah immer wieder verstohlen zu ihr hin, während sie durch das Lokal ging, Kaffee nachschenkte, Rechnungen auf ihren Block schrieb und die abgerissenen Zettel auf die Tische legte. Dann ertönte Mama’s Girl aus der Jukebox, P.J.s allererste Aufnahme, und mit einem innerlichen Aufstöhnen versuchte sie, in ihrem Stuhl ein Stückchen tiefer zu rutschen.

Kurz darauf brachte Sandy ihre Rechnung. „Das sind Sie doch, oder?“, fragte sie und reckte dabei das Kinn Richtung Wurlitzer.

P.J. sah ihr fest in die Augen und verzog bedauernd das Gesicht. „Schön war’s! Die Leute verwechseln mich ständig mit ihr, dabei kann ich keinen einzigen Ton singen.“

„Doch, Sie sind es“, beharrte Sandy. „Ich habe einen Ihrer Auftritte im Fernsehen gesehen! Und erkenne auch Ihre Sprechstimme.“

Mist! Dass ausgerechnet die sie verraten musste! P.J. hasste ihre Sprechstimme, die so rau und krächzend klang, als würde sie drei Schachteln Zigaretten am Tag rauchen. Manchmal fragte sie sich, ob Gott ihr nur deshalb eine so schöne und kräftige Singstimme geschenkt hatte, um das mit ihrer blöden Sprechstimme wiedergutzumachen.

Trotzdem spielte sie ihr Spielchen weiter. „Oh, so klinge ich normalerweise aber nicht. Vor ein paar Tagen habe ich mir eine schreckliche Halsentzündung zugezogen.“ Doch sie musste einsehen, dass ihre Tarnung aufgeflogen war. Sie gab ein hohes Trinkgeld und ging zur Tür. Wie es aussah, würde sie Kalifornien doch noch zu Gesicht bekommen.

„Ganz schön kaltschnäuzig, die eigene Mutter zu feuern, wenn Sie mich fragen“, rief die Kellnerin ihr noch hinterher.

Autsch! Nach dem Hickhack mit ihrer Mutter am Anfang der Woche war Sandys Schlussbemerkung ein Volltreffer.

„Dich fragt aber keiner“, murmelte sie halb laut, als sie außer Hörweite war. Sie musste sich, verdammt noch mal, vor niemandem rechtfertigen, der nicht die geringste Ahnung von der Beziehung zwischen ihr und ihrer Mutter hatte. Wütend stapfte sie zurück ins Wind Blew Inn.

Sie hatte gerade den Reißverschluss ihres Koffers wieder zugezogen und suchte weiter nach ihren Flipflops, als es kräftig an die Tür klopfte.

P.J. erstarrte und stellte fest, dass die Tür keinen Spion hatte. Du liebe Zeit! Jetzt schon Reporter?

Dann zwang sie sich zu entspannen. Sei nicht albern. Das ist wahrscheinlich nur der Manager des Motels. Selbst wenn Sandy jemandem Bescheid gesagt hätte, was sie bezweifelte, wäre der einzige Reporter, der so schnell hier sein könnte, von einem lokalen Wochenblatt, bei dessen Erscheinen sie bereits drei Staaten entfernt wäre. Sie ging ans Fenster, hob den Vorhang an einer Ecke hoch und versuchte zu erspähen, wer vor der Tür stand.

Es war ein groß gewachsener Mann, aber der Winkel war ungünstig, sodass sie nicht mehr erkennen konnte als breite Schultern unter einem marineblauen T-Shirt, kurz geschnittene braune Haare und eine ausgewaschene Jeans. Als er den rechten Arm hob, um erneut an die Tür zu klopfen, entdeckte sie eine lange, schmale Tätowierung auf seinem Unterarm, die sich mit der Bewegung zu schlängeln schien. Sie war an den meisten Stellen grün und sah aus wie eine Gottesanbeterin.

„Oh, mein Gott!“

P.J. sprang zur Tür und riss sie auf. Der Mann konnte seine Faust gerade noch stoppen, aber P.J. hatte gar nicht bemerkt, wie nahe sie ihrem Kopf gekommen war. Ihr Blick fiel auf das Tattoo. Es sah genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Dann sah sie dem Mann ins Gesicht. „Jared?“, hauchte sie. „Jared Hamilton?“

„Hallo, P.J.“

„Ach, du meine Güte!“, entfuhr es ihr erneut. Ein Schauer übersprudelnder Freude lief ihr den Rücken hinunter, und mit schallendem Lachen sprang sie auf ihn zu, schlang ihre Arme um seinen Nacken und ihre Beine um seine Taille. „Du. Meine. Güte!“ Sie lehnte sich zurück und sah ihm ins Gesicht. Und schmunzelte. „Du bist ja prächtig gewachsen und gedeiht!“

Das war eine Untertreibung. Er hatte schon mit siebzehn gut ausgesehen, aber nun waren seine Gesichtszüge reif und geschärft. Kantiges Kinn, aristokratische Nase, fein geschwungener Mund mit voller Unterlippe. Wie damals war sein Haar noch immer von sonnengebleichten Strähnchen durchzogen, aber er trug es mittlerweile kürzer. Und er war nicht mehr so knochig wie damals – noch immer groß und schlank, aber mit breitem Kreuz und muskulösem Körper.

Seine Hände, mit denen er sie locker festhielt, seit sie ihn angesprungen hatte, drückten eine Spur fester auf ihr Hinterteil. Er zog einen seiner Mundwinkel zu einem feinen Lächeln nach oben. „Du bist selbst ausnehmend gut gediehen.“

Gediehen. Nicht gedeiht. Ihre Freude war schlagartig getrübt. Jared war der Grund gewesen, weshalb sie im Literatur- und Englischunterricht bis zum Schulabschluss so hart an sich gearbeitet hatte, und ihre Grammatik war heute sehr viel besser als noch mit dreizehn. Aber anscheinend immer noch nicht gut genug. „Gut gedeiht, gut gediehen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Nicht jeder war auf der Privatschule, reicher Junge. Manche Leute sprechen eben nicht wie diese Schreibtischakrobaten.“

„Das sollte keine Belehrung sein, Peej.“ Er ließ seine Hände zu ihren Hüften gleiten. „Das war einfach eine Feststellung. Du siehst toll aus.“

„Oh. Tja. Danke.“ Sie löste ihre Umklammerung, sodass Jared sie knapp hinter der Türschwelle wieder absetzen konnte, und spürte den abgewetzten Teppich unter ihren bloßen Füßen. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah zu ihm auf. „Möchtest du reinkommen?“

„Unbedingt.“ Er trat ins Zimmer.

Während sie ins Innere des Zimmers zurückwich, meldete sich verspätet ihre instinktive Vorsicht. „Was um alles in der Welt machst du hier eigentlich? Dieses Motel ist doch nicht gerade deine Liga.“

„Deine doch mittlerweile auch nicht mehr.“

Seine Augen strahlten noch immer im selben Graugrün, das sie in Erinnerung hatte, nur lagen darin nicht mehr die Angst und Sorge von früher. Stattdessen lauerte in ihren moosigen Tiefen eine besondere Wachsamkeit und kühle Zurückhaltung, die sie nur schwer mit dem Jungen von damals in Verbindung bringen konnte. Und allmählich bekam sie ein ungutes Gefühl im Magen. „Was führt dich hierher, Jared? Wie hast du mich gefunden?“ Ein plötzlicher Verdacht ließ sie scharf einatmen. „Du bist doch nicht etwa ein Reporter?!“

„Ach, Peej!“ Er zog seine dunklen Augenbrauen zusammen. „Das wäre wirklich der letzte Beruf, den ich ausüben würde!“

Für einen Moment hatte sie die Verfolgungsjagden der Presse vergessen, damals, als er der Hauptverdächtige am Mord seines Vaters gewesen war. „Natürlich. Entschuldige bitte, Jay“, sagte sie, und sein Spitzname kam ihr so leicht über die Lippen wie früher, als er der einzige Mensch der Welt gewesen war, bei dem sie sich sicher gefühlt hatte. „Ich hatte nicht mehr an die Sache mit deinem Vater gedacht.“ Doch ihr Wunsch, ihn zu besänftigen, hatte auch seine Grenzen. Sie sah ihn misstrauisch an. „Also, warum bist du hier?“

Jared straffte sich und sah ihr geradewegs in die Augen. „Wild Wind Records hat mich engagiert, um dafür zu sorgen, dass du alle deine Konzerte wahrnimmst.“

„Die haben was?“ Hatte sie da richtig gehört?

Er sah sie nur schweigend an, und ihr wurde flau. So schockiert war sie nicht mehr gewesen, seit einer der Freunde ihrer Mutter sie für eine freche Antwort geohrfeigt hatte. „Meine Plattenfirma hat einen Wachhund angeheuert?“

„Wenn du es so nennen willst.“

Wut begann in ihr zu schwelen. Sie richtete sich zu voller, wenn auch nicht gerade beeindruckender Größe auf. „Niemand kann mir vorwerfen, unzuverlässig zu sein.“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe dir nur gesagt, wie mein Auftrag lautet.“

„Tja, schön für dich.“ Sie kehrte zur Tür zurück, riss sie auf und starrte ihren ehemals treuen Freund vielsagend an. „Es ist lange her, Jared, und es war nett, dich wiederzusehen. Pass auf, dass dir die Tür beim Rausgehen nicht auf den Allerwertesten knallt.“ Es ärgerte sie, dass sie vor Aufregung kaum noch Luft bekam und fast schon keuchen musste. Erst nach ein paar tiefen Atemzügen bekam sie sich wieder in den Griff.

„Ich spiele Konzerte, seit ich achtzehn Jahre alt bin“, fuhr sie etwas ruhiger fort. „Und ich wäre unendlich blöd, meine Karriere jetzt in den Sand zu setzen, indem ich zu meiner ersten großen Tournee nicht erscheine.“ Es war bestimmt nicht fair, Jared für den Schlamassel verantwortlich zu machen, in dem sie steckte. Aber zu erfahren, dass ihre eigene Plattenfirma sich genötigt fühlte, einen Aufpasser zu engagieren, war ein Schlag ins Gesicht. Ganz abgesehen davon, dass er so gut aussah, aber auf enttäuschende Weise überhaupt nicht mehr dem Jungen glich, der sie über all die Jahre zu etlichen Tagträumen verleitet hatte.

Er rührte sich nicht vom Fleck. „Tut mir leid, P. J.“, sagte er, klang aber nicht im Mindesten beschämt. „Aber wir haben einen Vertrag unterschrieben.“

„Wer ist wir, Mr. Supercool? Ich habe keinen derartigen Vertrag unterschrieben.“

„Nein, aber Wild Wind Records und Semper Fi Investigations. “

„Semper Fi?“ Wie klein die Welt war! Das war doch das Motto der United States Marine Corps, vom Lateinischen semper fidelis. Auf ewig treu. „Das Detektivbüro, das uns in Denver aufgespürt hat?“

„Genau. Erinnerst du dich an Rocket? Er ist jetzt mein Schwager.“

„Natürlich erinnere ich mich an ihn.“ John Miglionni war nett zu ihr gewesen. Tatsächlich war er einer der ersten Erwachsenen gewesen, der sie behandelt hatte, als wäre sie ebenso viel wert wie jeder andere auf Gottes weiter Welt. Doch das Lächeln, das bei der Erinnerung an den großen, dunklen Mann um ihre Mundwinkel zuckte, verschwand sofort, als sie in das Gesicht des Mannes sah, der vor ihr stand. „Bist du etwa auch ein Privatdetektiv?“

Er nickte. „Ja. Wir übernehmen Ermittlungsarbeiten und Personenschutz.“

„Ich habe angenommen, du bist inzwischen der Boss irgendeiner Bonzenfirma.“

Er schnaubte.

„Na, dann nicht. Tja, schön für dich. Aber jetzt geh.“

„Das werde ich nicht tun, Peej.“

Sie musste den Kopf weit in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu sehen, und spürte die Frustration in jeder Faser ihres Körpers. Er war groß und stark, und rein physisch hatte sie keine Chance, ihn aus dem Zimmer zu bekommen.

Doch wenn sie eines konnte, dann war es bluffen. Sie sah ihm fest in die Augen und sagte ruhig: „Also gut. Dann muss ich wohl die Polizei anrufen, damit sie dich hier rauswerfen.“

Jared zuckte mit den Schultern und setzte sich in den einzigen Sessel im Zimmer. Er rutschte mit dem Po bis an den Rand hinunter, streckte seine langen Beine aus, die fast die halbe Zimmerlänge ausmachten, und verschränkte die Arme vor der Brust. „Bitte sehr.“

Mist! Als ob sie es sich leisten könnte, den bereits kursierenden Skandalnachrichten eine weitere demütigende Geschichte hinzuzufügen! Trotzdem ging sie zum Telefon und nahm den Hörer ab. Nach einem kurzen Blick auf Jared, der sich noch tiefer in den Sessel lümmelte und sie kühl beobachtete, tippte sie eine Nummer, die sie erst seit dieser Woche auswendig kannte.

Am anderen Ende der Leitung wurde abgehoben. „Benjamin McGrath, Musikmanagement“, sagte eine professionell melodische Frauenstimme.

„Hallo, hier ist Priscilla Jayne Morgan.“

„Einen Moment bitte – ich verbinde Sie mit Mr. McGrath“, erwiderte die Frau ohne weiteres Zögern und schaltete P.J. in die Warteschleife.

Augenblicklich meldete sich ihr neuer Manager. „PJ.“, sagte Ben McGrath in seinem britisch anmutenden Neuengland-Akzent. „Was kann ich für dich tun?“

„Ich habe hier ein Problem. Bei mir befindet sich ein Mann namens Jared Hamilton, der sich weigert, mein Zimmer zu verlassen. Er sagt, er kommt von …“

„Semper Fi Investigations.“

Sie hoffte, Jared würde ihre plötzlich aufkeimende Nervosität nicht bemerken. Er beobachtete sie mit gerunzelter Stirn.

„Darf ich bitten?“, meinte sie kühl. „Ich wäre gern einen Augenblick allein.“

Er stand auf, verließ das Zimmer und schloss leise hinter sich die Tür.

„Du weißt davon?“, rief P.J. ins Telefon. „Was zum Teufel ist da los, Ben?“

„Du scheinst in letzter Zeit keine Zeitung mehr gelesen zu haben.“

„Nein, nur die Country Now. Der Artikel war schlimm genug, deshalb wollte ich gar nicht erst wissen, was sich die Klatschpresse zusammenfantasiert hat.“

„Kluges Mädchen. Bei Wild Wind ist man sehr nervös wegen der ganzen Publicity, die Ihre Mutter verbreitet. Jodeen behauptet, du seist schon immer weggelaufen, wenn es schwierig wurde. Sie verbreitet diese Geschichte von damals … Denver.“

„Wie bitte? Warum tut sie so was? Ich bin damals nicht weggelaufen – sie hat mich rausgeworfen!“ Entrüstung war ein unzureichender Ausdruck für das Gefühl, das sie überkam. Ihre eigene Mutter hatte dafür gesorgt, dass alle Welt über ihre Zeit als Straßenkind Bescheid wusste. P.J. musste sich fast übergeben.

„Das weiß ich doch. Aber bei Wild Wind haben sie Angst, dass du deinen Verpflichtungen nicht nachkommst und …“

„Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen Vertrag gebrochen!“

„Mich musst du nicht überzeugen, P.J., ich glaube dir. Aber solange du mir verbietest, all den Mist, den deine Mutter verzapft hat, öffentlich zu machen, sind mir die Hände gebunden. Als Wild Wind darauf bestand, einen Babysitter anzuheuern, um sicherzugehen, dass du zu deinen Konzerten erscheinst, konnte ich lediglich einen Vorschlag machen, an wen sie sich wenden sollen. Lass uns der Presse die Wahrheit über deine Mutter erzählen und …“

„Nein. Wie ich schon sagte: Ich werde nicht darüber sprechen.“ Schlimm genug, dass nun alle von ihrer Zeit als Obdachlose wussten! Sie könnte es nicht ertragen, wenn dazu noch jeder erfuhr, dass ihre Mutter sie nie geliebt hatte.

Am anderen Ende hörte sie Ben seufzen. „Wenn du je zur Vernunft kommst, werde ich diesen ganzen Mist richtigstellen. Bis dahin dachte ich, wenn du schon einen Aufpasser haben musst, dann wenigstens jemanden, den du kennst und der gut zu dir war.“

„Im Moment bereue ich sehr, dass ich dir überhaupt davon erzählt habe, Ben.“ Sie hatte es nur getan, weil er darauf bestanden hatte, alles zu wissen, was je gegen sie verwendet werden könnte. Und als sie von der Zeit in Denver berichtet hatte, war es nur konsequent gewesen, den Jungen zu erwähnen, der eine zu Tode verängstigte Dreizehnjährige davor bewahrt hatte, alle Hoffnung zu verlieren. Das wiederum hatte spontan solch ein warmes, kribbeliges Gefühl in ihr verursacht, dass sie Ben auch anvertraut hatte, wie John Miglionni und Jareds Schwester Tori sie damals gerettet hatten.

„Tatsächlich hatte ich nicht damit gerechnet, dass dein alter Freund auf den Fall angesetzt wird. In meinem Geschäft ist man normalerweise nicht auf Detektive oder Spezialisten für Personenschutz angewiesen. Aber als man bei Wild Wind darauf zu sprechen kam, fiel mir wieder ein, dass du Semper Fi erwähnt hattest, und ich dachte, es wäre das Beste, sich an diese Agentur zu wenden.“

Das wird mich wohl lehren, nicht mehr so geschwätzig zu sein, dachte P.J. bitter.

„Ich bin davon ausgegangen, dass der Besitzer der Agentur sich selbst darum kümmern würde, und dachte, dass jemand, den du damals sehr geschätzt hast, die Situation erträglicher für dich machen würde. Ich wusste nicht, dass auch Mr. Hamilton dort arbeitet, bis Mr. Miglionni mich anrief, um mir zu sagen, wie sein Büro mit dem Auftrag verfährt“, berichtete Ben. „Es tut mir wirklich leid, dass es so weit kommen musste, Priscilla, aber bei Wild Wind bestand man darauf. Das wird dein großer Durchbruch und …“

„Ich dachte, der war, als ich den Grammy gewonnen habe.“

„Das war dein erster Durchbruch. Bei der Tournee geht es darum, dich wirklich überall im Land bekannt zu machen. Ich fürchte also, du wirst dich einfach damit abfinden müssen und tun, was deine Plattenfirma verlangt.“

Es gelang P.J., noch bis zum Ende des Gesprächs ruhig zu bleiben, doch beim Auflegen kochte sie innerlich vor Wut.

Seit sie fünfzehn war, hatte sie gearbeitet. Dabei war sie oft die einzige Person ihres Haushalts gewesen, die Geld verdient hatte, und nun wagten die von Wild Wind, ihr mangelnde Zuverlässigkeit zu unterstellen und dass sie nicht zu vertraglich vereinbarten Konzerten erschien?

Durch das Fenster starrte sie wütend zu Jared hinüber, der auf der schattigen Seite des Innenhofes an der Wand lehnte, die Hände in den Taschen und einen Fuß gegen die ausgebleichte Ziegelwand gestemmt. Er hatte ihr Zimmer im Visier, und als er sie aus dem Fenster blicken sah, stieß er sich ab und marschierte über den Parkplatz auf sie zu.

Instinktiv fuhr sie zurück. Genug war genug. Sie hatte mit ihrer Mutter schon genug Probleme am Hals. Sie brauchte nicht auch noch einen Aufpasser, der ihr auf Schritt und Tritt folgte.

Sie hatte genug von Leuten, die ihr sagten, was sie zu tun hatte. Sie war nicht dumm – Singen war das Einzige, was sie wirklich gut konnte, und sie hatte keinesfalls die Absicht, ihre eigenen Konzerte zu schwänzen.

Aber die Tournee begann erst in ein paar Wochen, und sie brauchte etwas Zeit für sich, um ihre Wunden zu lecken und wieder ganz und gar auf die Beine zu kommen, bevor es losging. Und obwohl sie offenbar keine andere Wahl hatte, als ihren ehemals besten Freund während der Tournee tatsächlich bei sich zu dulden, sah sie keinen Grund, sich auch schon vorher mit seiner Begleitung abzufinden.

Sollte er sie doch zum Tourauftakt in Portland treffen! Sonst würde sie Jared Hamilton bei der ersten sich bietenden Gelegenheit abschütteln wie den Staub all der verschlafenen Nester, die sie hinter sich gelassen hatte.

2. KAPITEL

Läuft Priscilla Jayne weg, wenn’s schwierig wird?

Ihre Mutter Jodeen Morgan behauptet: Ja.

Gleich ist sie bei uns. Bleiben Sie dran!

– Jay Pollen, Kickin’ Country Radio –

J ared stand auf dem Parkplatz des Wind Blew Inn. Gaukelte ihm das schwache Licht des Mondes etwas vor? Ein Blick auf die vier platten Reifen seines Leihwagens sagte ihm allerdings, dass dies keine Täuschung war. Er fluchte wie ein Seemann und trat wütend gegen eine der Radkappen über dem schlaffen Gummi.

Dann hielt er abrupt inne. Was, zum Teufel, machte er da? Er war kein Mensch, der die Kontrolle verlor – nein, er sprang eher kopfüber ins Schlachtgetümmel und hörte nicht eher auf, gezielte Hiebe auszuteilen, bis er wieder obenauf war. Fluchen und Jammern und Reifentreten brachten ihn nicht weiter. Er zog sein Handy aus der Tasche und drückte die Kurzwahltaste des Detektivbüros.

Doch in der Sekunde, da er die Stimme seines Schwagers hörte, übermannte ihn erneut die Frustration. „Sie ist mir entwischt“, knurrte er. „Kannst du dir das vorstellen? Es ist noch kein Tag vergangen, und sie hat mich abgehängt.“

Einen Moment lang war es still, dann lachte Rocky lauthals los. „Das Mädchen hat mir schon immer gefallen.“

„O ja, wirklich witzig. Ich lach mich tot!“

„Das höre ich.“ Rocky wurde wieder still, doch Jared war überzeugt, sein Grinsen noch immer in seiner Stimme zu erkennen. „Was ist passiert?“

„Sie hat mit mir gespielt wie die verdammte Katze mit der Maus.“ Und wie! Von dem Moment an, da sie die Tür geöffnet und ihn angesprungen und umklammert hatte wie ein Affchen seinen Lieblingsbaum, hatten ihn die Erinnerungen überwältigt.

Er dachte daran, wie sie vor fünfzehn Jahren sein Leben gerettet hatte, indem sie ihm zeigte, wie man auf der Straße überlebt – und das, obwohl sie wie jeder andere im Bundesstaat Colorado dachte, er hätte seinen Vater umgebracht.

Ihr feuriges Temperament und ihre absolut offene und aufrichtige Art war ihr schon damals als Dreizehnjährige zu eigen gewesen. Bei ihr hatte man immer gewusst, woran man war.

Er dachte an das schlechte Gewissen, das ihn jedes Mal überkommen hatte, wenn ihr damals noch magerer und flachbrüstiger Körper die Lust in ihm geweckt hatte.

Heute war sie immer noch schmal, und ihre Brüste könnte er vermutlich locker unter seinen Händen verstecken, aber ihre Arme und Beine waren kräftiger und keineswegs mehr so knochig wie damals. Und sie hatte einen überraschend wohlgerundeten, festen Hintern. Er bildete sich ein, noch immer seine Wärme auf den Handflächen zu spüren.

„Es ist nicht leicht, mit dir zu spielen“, sagte Rocky langsam. „Wie hat P.J. das geschafft?“

Jared klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter und rieb mit den Handflächen über die Außennähte seiner Jeans, um die Erinnerung loszuwerden. Er musste heute kein schlechtes Gewissen mehr haben, wenn er P.J. attraktiv fand, aber er würde auf gar keinen Fall darauf eingehen. Er war ein Profi und hatte einen Auftrag zu erledigen.

Ja, genau. Ein echter Vollprofi bist du! Sie hat dich ahgeschüttelt, ohne dabei ins Schwitzen zu kommen. Er straffte die Schultern. Also gut. Er würde Arbeit und Vergnügen nicht vermischen. „Ich habe die eiserne Grundregel missachtet“, gab er zu.

„Hast dich einwickeln lassen und nicht aufgepasst, wie?“

„Sie hat sich riesig gefreut, mich zu sehen, bis ich ihr gesagt habe, warum ich hier bin.“ Er war noch immer ganz überwältigt davon, wie ihr Gesicht angefangen hatte zu strahlen, als sie die Tür geöffnet und ihn entdeckt hatte. Als wäre es nicht sie gewesen, die ihn aus ihrem Leben verbannt hatte. „Als sie dann hörte, dass ihre Plattenfirma mich als Wachhund angeheuert hat, wurde sie natürlich wütend. Aber dann beruhigte sie sich wieder – zumindest dachte ich das. Doch im ersten Moment, in dem ich nicht aufgepasst habe, ist sie mir entwischt.“

„Na, dann hast du eben einen Fehler gemacht und sie wie eine ganz gewöhnliche vermisste Person behandelt“, meinte John leichthin. „Das hätte jedem passieren können.“

„Dir nicht.“

„Doch, mir wahrscheinlich auch. Ich habe P.J. zwar vor fünfzehn Jahren das letzte Mal gesehen, aber diesen kratzbürstigen Drang nach Unabhängigkeit werde ich nie vergessen. Aber weißt du, was mir am stärksten im Gedächtnis geblieben ist? Was für ein süßes Früchtchen sie war. Nach außen gab sie sich hart und abgebrüht, aber innen drin war sie zum Herzerweichen verletzlich. Da vergisst man leicht, wie flink und gerissen sie sein kann.“

„Das stimmt, Rocket, so war sie. Aber du bist nicht derjenige, den sie ausgetrickst hat. Sie kann sich nur wünschen, dass sie erheblich flinker ist als ich“, meinte Jared verbissen. „Ich muss nämlich einen Auftrag erledigen, und niemand – keine alte Freundin und ganz sicher kein aufstrebender Countrystar – wird mich davon abhalten.“

Ganze sechs Tage später holte er sie in Idaho wieder ein. Da dies fünf Tage später war, als er dafür veranschlagt hatte, fühlte Jared sich nicht besonders entspannt, als er P.J. im Hotel dabei beobachtete, wie sie zur Kontrolle an ihrer Zimmertür rüttelte, die Schlüsselkarte einsteckte und sich dann in seine Richtung drehte. Er drückte sich tiefer in die Wandnische, in der eine Eiswürfelmaschine stand, wartete ab, bis sie an ihm vorbeigegangen war, ließ ein paar Sekunden verstreichen und trat wieder in den Korridor. Hätte sie über die Schulter nach hinten geblickt, hätte sie ihn dort stehen sehen, aber ihre Aufmerksamkeit war nach vorne gerichtet.

Jared folgte ihr. Er betrachtete die Bewegungen ihres wohlgeformten Hinterteils in der engen Jeans. Sie trug einen Cowboyhut aus Stroh und ein durchsichtiges, mit kleinen Rosen bedrucktes Hemdchen über einem schwarzen, miederähnlichen Top. Als er das helle „Ping“ des Aufzugs hörte, beschleunigte er seine Schritte und schlüpfte gerade noch durch die sich schließenden Türen in die Kabine.

„Hallo“, sagte er, während sie ihn mit weit aufgerissenen, goldbraunen Augen entgeistert anstarrte. Nachdem die Türen sich endgültig geschlossen hatten, hielt er den Aufzug an. „Na, wohin des Wegs? Essen?“

Sie antwortete nicht, sondern zuckte nur mit den Schultern.

„Wie ich sehe, hast du dir diesmal ein besseres Hotel ausgesucht. Es ist immer noch nicht so gut, wie dein neu erworbener Status es erlauben würde, aber immerhin bedeutend besser als das Wind Blew Inn …“

„Wie hast du mich gefunden?“ Ihre Wangen glühten, und ihre leicht schrägen, mandelförmigen Katzenaugen wirkten dadurch noch exotischer.

Jared unterdrückte jegliche Bewunderung für ihren Anblick und antwortete nüchtern: „Du fährst immer noch deinen eigenen Wagen. Dass du gleich am ersten Tag Geld aus drei verschiedenen Automaten geholt hast, war schlau, aber du hättest auch dein Auto gegen ein neues eintauschen und bar bezahlen müssen.“ Da sie nichts erwiderte, hatte er neuerlich Zeit, sie zu mustern. Mit ihrem kleinen und nicht gerade üppig gerundeten Körper und den langen kastanienbraunen Locken war sie das genaue Gegenteil der statuenhaften blonden Schönheiten, die im Moment sämtliche Musikvideos zu bevölkern schienen. Gleichzeitig war sie äußerst … verlockend. Verführerisch.

Nicht, dass sie ihn damit um den Finger wickeln konnte. Er schüttelte die verwirrenden Gedanken ab und sah P.J. streng an. „Dabei fällt mir ein, dass du mir siebenundsechzig Dollar fünfzig für das Wiederaufpumpen meiner Reifen schuldest.“

Alle Anzeichen des Schocks waren mittlerweile aus ihren Augen gewichen, die ihn wütend anfunkelten. Dennoch klang ihre Stimme kühl und kontrolliert, als sie entgegnete: „Das mag wohl sein. Aber du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich dir das bezahle!“

Er zuckte mit den Schultern. „Stimmt, es ist wohl eher unwahrscheinlich, dass du die Kohle rausrückst. Vergiss, dass ich es überhaupt erwähnt habe.“ Er setzte sein strahlendstes Lächeln auf, um zu zeigen, wie großzügig er sein konnte. „Ich werde es einfach Wild Wind auf die Rechnung setzen.“

Sie sah ihn ausdruckslos an. „Hau ab, Jared.“

„O nein, Priscilla, auf gar keinen Fall. Und da wir dieses Thema bereits beim letzten Mal besprochen haben, schlage ich vor, dass du es einfach akzeptierst.“ Als er allerdings an seine nicht besonders gut geglückte Verfolgungsjagd dachte, presste er verdrießlich die Kiefer zusammen. Doch er zwang sich augenblicklich, wieder zu entspannen, und atmete unhörbar tief durch.

P.J. drückte ihren Cowboyhut fester auf den Kopf und sah schmollend zu ihm auf. „Was soll das? Für mein erstes Konzert muss ich erst am zweiundzwanzigsten in Portland sein. Was willst du jetzt schon von mir? Und was hattest du letzte Woche in meinem Motel verloren?“

Mist! Sie stellte genau die richtigen Fragen – dieselben Fragen, die er sich selbst auch gestellt und dann beiseitegeschoben hatte, weil es keine befriedigenden Antworten gab. Oh, eine logische Erklärung zu finden, warum er so penetrant hinterherspionierte, war leicht: Nachdem sie ihn wie einen Trottel mit vier platten Reifen in Texas hatte stehen lassen, hatte er fast eine verdammte Woche gebraucht, um sie endlich aufzuspüren – nun wollte er nicht noch einmal riskieren, dass sie ihm entwischte! Aber warum er sich ihr letzte Woche und heute überhaupt gezeigt hatte, war nicht so leicht zu erklären.

Und offenbar hatte er auch jetzt schon wieder zu lang mit einer Antwort gewartet, denn sie stieß ihn mit der flachen Hand auf den Bauch. „Na? Ich warte.“

„Hey!“ Auf keinen Fall wollte er zeigen, dass sie ihn überrascht und fast in Atemnot gebracht hatte, also packte er sie am Handgelenk und schob ihre Hand zurück. „Nicht anfassen!“

Doch ihre Geste war typisch für die P.J., die er einst gekannt hatte. Und plötzlich wurde ihm klar, warum er sie fast zwei Wochen früher als nötig mit seiner Anwesenheit konfrontiert hatte.

Neugier.

Es war reine Neugier gewesen, die ihn zu ihr ins Wind Blew Inn getrieben hatte. Normalerweise hätte er sie bis kurz vor ihrem ersten Konzerttermin nur aus der Distanz beobachtet, doch der Drang, zu sehen, ob sie noch der P.J. von damals glich, hatte sich als stärker erwiesen als seine für gewöhnlich knallharte Professionalität.

Und es bestand kein Zweifel, dass noch Ähnlichkeiten vorhanden waren.

Sie blinzelte irritiert. „Seit wann magst du nicht mehr angefasst werden? Du warst doch früher eher ein gefühlsduseliger Typ.“

„War ich nicht.“

„Warst du doch. Erinnerst du dich an die Baustelle, auf der wir übernachtet haben, kurz bevor deine Schwester dich gefunden hat? Da hast du mich mindestens ein halbes Dutzend Mal in den Arm genommen.“

Er trat einen Schritt auf sie zu. „Ja, weil du damals so große Angst vor dem kleinen Gewitter hattest!“

Sie reckte ihr kleines, spitzes Kinn in die Höhe. „Soweit ich mich erinnern kann, war das vielmehr, weil du getröstet werden wolltest.“

„Du bist echt besch…“ Er hielt abrupt inne und trat einen Schritt zurück. Himmel, was dachte er sich nur dabei, mit ihr zu streiten, als wäre er immer noch siebzehn? Er setzte den Fahrstuhl wieder in Gang. „Damals war damals“, sagte er knapp, „und jetzt ist jetzt.“

„Ach ja? Tja, damals hast du mir besser gefallen. Da dachte ich noch, du bist der klügste und attraktivste Mann der Welt. Jetzt weiß ich, dass du nichts anderes bist als ein kaltherziger Mistkerl.“

„Und stolz drauf“, gab er zurück, wie um sich selbst zu beweisen, dass ihr Urteil ihn nicht verletzte.

Der Fahrstuhl hielt im Erdgeschoss, und die Türen glitten auf. Jared legte seine Hand auf P.J.s Rücken und schob sie sanft aus der Kabine. „Wo wolltest du hin? Gehst du was essen?“ Das hoffte er schwer, weil es beinahe einundzwanzig Uhr war und er riesigen Hunger hatte.

„Ich habe um sechs gegessen, wie alle normalen Menschen“, erwiderte sie kühl. „Nur Schwachköpfe und Kinder reicher Eltern essen abends um neun noch was.“ Sie musterte ihn von oben bis unten. „Und wenn ich so darüber nachdenke, kommt das jedenfalls bei dir aufs Gleiche raus.“

„Na schön.“ Er legte eine Hand auf ihren Arm und brachte sie so zum Stehen. „Dann können wir ja gleich wieder hochfahren, damit du deine Sachen packen kannst.“

Sie riss sich los. „Lass mich in Ruhe, Jared Hamilton! Mir bleiben noch acht Tage bis zu meinem ersten Auftritt. Mag sein, dass ich keine Wahl habe, sobald die Tour losgeht, aber bis dahin muss ich mich ganz sicher nicht von dir herumkommandieren lassen.“ Ihr Blick sprach Bände. Sie meinte es ernst. „Diesmal werde ich ganz bestimmt die Polizei rufen. Zum Teufel mit der Presse!“

An ihren störrischen Gesichtsausdruck konnte er sich ebenfalls noch gut erinnern.

„Und zum Teufel mit Wild Wind Records! Sie hätten niemanden beauftragen dürfen, mich herumzuscheuchen wie einen aufmüpfigen Teenager. Wie konnten sie nur glauben, was meine Mutter über mich erzählt hat?“ Ihr verstockter Gesichtsausdruck wurde noch härter. „Vielleicht sollte ich Schadensbegrenzung betreiben und mich einfach von ihnen trennen.“

Na wunderbar. Semper Fi Investigations stünde ja wirklich gut da, wenn Jared die Plattenfirma darüber informieren müsste, dass er nicht nur ihr heißes neues Talent nicht begleitet hatte, sondern P.J. sich außerdem seinetwegen von Wild Wind trennen würde. Von beispiellosem Personenschutz war das meilenweit entfernt. „Findest du nicht, du solltest erst mal mit ihnen reden, bevor du einfach abhaust?“

„Warum?“ Sie trat dicht an ihn heran und sah zu ihm auf. „Haben sie denn auch nur ein einziges Mal mit mir geredet? Nein, Sir. Sie haben dich auf mich angesetzt, ohne zu ahnen, dass Mama ihr eigenes Süppchen kocht.“

Doppelt und dreifach verdammt! Er kannte diesen Blick. Wenn man der alten P.J. gesagt hatte, was sie tun sollte, hatte das ihre Bockigkeit nur noch verstärkt, vollkommen egal, ob sie recht hatte oder nicht. Also setzte er ein gelangweiltes Gesicht auf und zuckte mit den Schultern. „Wenn du deine Karriere in den Sand setzen willst – einverstanden. Wahrscheinlich war sie dir dann ohnehin nie wichtig. Wie gewonnen, so zerronnen, nicht wahr?“

„Nein, das ist nicht wahr!“ Sie bohrte ihm ihren Zeigefinger in den Brustkorb. „Du hast keine Ahnung, wie hart ich arbeiten müsste, um bis an diesen Punkt zu kommen.“

Man drehte sich bereits zu ihnen um, und Jared müsste sich eingestehen, dass sie anbetungswürdig aussah, wenn sie sich aufregte. Allerdings ahnte er, dass er jetzt durch eine lobende Äußerung über ihr Aussehen keine Punkte sammeln würde. Er schloss seine Faust um ihren bohrenden Finger und schob sie von sich. „Dann denk nach. Man wirft nicht so einfach weg, was man sich über Jahre erarbeitet hat, nur weil man sauer ist. Was genau hat deine Mutter eigentlich getan?“ Er stellte diese Frage teilweise, um sie abzulenken, hauptsächlich aber, weil er wirklich wissen wollte, wie es dazu gekommen war, dass P.J. sich von ihrer Mutter losgesagt hatte.

Doch sie machte sofort dicht. „Das geht dich verdammt noch mal nichts an.“ Sie befreite ihren Finger. „Du bist nicht mehr mein Freund. Du bist nichts weiter als ein Lakai von Wild Wind Records.“

Schwer getroffen reckte er sich zu voller Größe. „Ich bin niemandes Lakai, Baby! Ich bin mein eigener Herr.“

„Wenn du meinst. Da muss ich dich beim Wort nehmen. Trotzdem hast du keine Verfügungsgewalt über mich, also lass mich in Ruhe. Ich hab was zu erledigen.“ Sie schob sich an ihm vorbei und hastete zum Ausgang in Richtung Parkdeck.

Jared ging neben ihr her. Mit seinen langen Beinen fiel es ihm leicht, Schritt zu halten. „Wohin willst du?“

Sie blieb stehen. Sah ihn mit blitzenden Augen an.

Dann seufzte sie.

„Du lässt mich nicht in Ruhe, wie?“

„Nein.“

„Na, schön.“ Sie ging weiter Richtung Tiefgarage. „Tu, was du nicht lassen kannst – ich kann dich nicht davon abhalten, mir an öffentlichen Plätzen zu folgen. Aber erwarte nicht, dass ich es dir leicht mache. Und komm ja nicht auf die Idee, dass du bei mir mitfahren kannst.“

„Daran würde ich im Traum nicht denken. Ich fahre dir nach.“

„Wenn du mithalten kannst …“

Das konnte er, aber nur, weil er seinen Mietwagen ganz in der Nähe von ihrem Wagen geparkt hatte. Kaum hatte er den Motor des SUV gestartet, da schoss sie bereits im Eiltempo aus der Garage, und er musste höllisch aufpassen, dass sie ihn auf ihrem Weg aus der Stadt nicht abhängte. Während er wie ein Rennfahrer hinter ihr her düste, rief er per Handy noch das Hotel an, das sie gerade verlassen hatten, um für sich selbst ein Zimmer zu reservieren.

Eine Viertelstunde später bog P.J. auf den kiesbedeckten Parkplatz einer lang gezogenen Taverne mit Schindelverkleidung ein, die in leuchtender Neonschrift den Schriftzug Guitars and Hot Cars auf dem Dach trug. Noch ehe Jared auf dem riesigen Terrain geparkt hatte, war P.J. aus dem Wagen gesprungen und durch die beeindruckenden Schwingtüren der Spelunke getreten.

Das Lokal, das Jared schließlich einige Minuten später betrat, war ausnehmend gut besucht. Bei gedämpftem Licht und lauter Musik drängten sich die Leute auf der Tanzfläche. Die meisten Frauen trugen Cowboyhüte aus Stroh und hautenge Jeans. Fast befürchtete er, P.J. wäre ihm durch die Hintertür schon wieder entwischt, als er sie endlich an der Theke entdeckte. Sie sprach dort mit einem halslosen Barkeeper, der an beiden Oberarmen tätowiert war und ein blaues Tuch um seinen kahl rasierten Kopf trug. Obwohl er so hartgesotten aussah, blickte der Mann aus seinen eng zusammenstehenden Augen beinahe benommen, während er abwechselnd auf P.J. und dann wieder auf die Whiskyflasche achtete, aus der er ein Glas einschenkte. Jared konnte es ihm gut nachfühlen. Er wusste aus Erfahrung, dass P.J. wie ein Wasserfall reden konnte.

„Die Band fängt gleich zu spielen an. Ich hole Burt“, sagte der Barkeeper gerade, als Jared hinzukam. „Er wird durchdrehen, weil Sie tatsächlich gekommen sind.“ Er stellte das Schnapsglas vor ihr ab, klatschte mit der flachen Hand auf die Theke und lachte.

„Danke, Wayne.“

„Er dachte, Sie wollten ihn auf den Arm nehmen. Er wird total aus dem Häuschen sein.“ Kopfschüttelnd zog Wayne ein Handtuch von der Schulter, wischte einen Tropfen Bourbon von der Theke und rief einen Kollegen, der ihn kurz vertreten sollte. Sobald der Ersatzmann da war, sprang er für einen Mann seiner Größe überraschend flink hinter der Theke hervor und verschwand durch einen Korridor nach hinten.

Jared setzte sich auf den freien Stuhl neben ihr. „Hast du ein heißes Date?“

Er dachte, sie würde ihn ignorieren, doch nach einer Sekunde des Schweigens stieß sie ihn kameradschaftlich mit der Schulter an. „Darauf kannst du wetten.“ Sie stürzte den Whisky in einem Zug hinunter, schüttelte sich und drehte sich dann zu ihm um. „Ich bin beschwipst. Ich bin heiß. Ich bin voller Tatendrang. Burt und ich werden uns zwischen den Laken vergnügen, dass das Bett wackelt.“

Zu seiner Überraschung spürte er, dass diese Vorstellung ein seltsames Gefühl in ihm auslöste. Es fiel ihm schwer, P.J. als erwachsene Frau zu sehen, noch dazu als sexuelles Wesen, das Whiskys hinunterkippte und ankündigte, es mit Fremden zu treiben. Doch das war allein sein Problem. Also starrte er sie nur kühl und unbeteiligt an. „Offensichtlich hast du seit damals deine Meinung über Sex geändert.“

Sie drehte sich in ihrem Stuhl herum und klopfte Jared mit den Fingerknöcheln auf die Stirn. „Hallo? Als wir uns das letzte Mal über Sex unterhielten, war ich dreizehn Jahre alt. Natürlich habe ich seit damals meine Meinung geändert.“

„Tja … gut. Schön. Das klingt gesund.“

Sie sah ihn mit ihren bernsteinfarbenen Augen an, als könnte sie seine Gedanken lesen, und verzog den Mund zu einem wissenden Lächeln. „Ja, genau das ist es, nicht wahr?“

In diesem Moment kam ein älterer, stämmiger Mann dazu, und als wäre Jared plötzlich unsichtbar, drehte P.J. sich auf ihrem Stuhl ein Stück weiter, um den Neuankömmling zu begrüßen. Ein 100-Watt-Lächeln erstrahlte auf ihrem Gesicht. „Sie müssen Burt sein.“ Sie streckte ihre Hand vor.

Der Mann griff zu und schüttelte sie begeistert. „Oh, Mann, Sie sind es wirklich! Ich dachte, Wayne will mich bestimmt verar… äh, veräppeln.“

„Oh, nein. Wie ich schon am Telefon sagte, würde ich wirklich gern mit der Band zusammen singen, wenn Sie nichts dagegen haben.“

„Oh, Mann“, wiederholte er. „Die werden ausflippen. Warum kommen Sie nicht mit, und ich stelle Sie schon mal vor?“

„Das wäre toll.“ Sie wandte sich wieder zu Jared um. „Und du dachtest, ich wäre nur hergekommen, um Sex zu haben!“

Burt sah sie erschrocken an. „Was? Warum sollte jemand so etwas denken?“

„Das weiß ich auch nicht“, meinte sie mit gespielter Betrübtheit. „Manche Menschen auf dieser Welt sind einfach kranke Idioten.“

Der ältere Mann sah Jared angewidert an und legte beschützend die Hand um P.J.s Ellbogen.

Jared sah ihnen nach. „Was für ein Luder“, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen, während sie in der Menge verschwanden. Er rutschte auf P.J.s Hocker, ignorierte die hübsche Blondine mit dem Cowboyhut in Leopardenmuster, die ihn einladend anlächelte, und griff nach der Schale mit Erdnüssen. Es war ein verdammt langer Tag gewesen.

Und augenscheinlich war er noch nicht vorüber.

3. KAPITEL

Priscilla Jaynes zweites Album Watch Me Fly

stürmt trotz anhaltender Kontroversen die Charts

Country Billboard

P.J. einigte sich mit den Musikern der Band über die Reihenfolge der Lieder, ging zu einem der beiden Mikrofone und stellte es auf ihre Größe ein. „Halloooo, Pocatello! Ich bin Priscilla Jayne. Cold Creek haben freundlicherweise zugestimmt, dass ich heute Abend mit ihnen auftrete. Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen!“

Das Publikum brüllte seine Zustimmung, und P.J. musste vor Freude grinsen. Oh, wie sie das liebte! Singen war das Einzige, das sie je für sich allein gehabt hatte, und bei einem Auftritt vergaß sie für eine Weile allen Mist, der ihr Leben beschwerte. Sie warf noch einen kurzen Blick zu Jared an der Theke, widmete sich aber sofort wieder wichtigeren Dingen – ihrem Publikum.

„Ron Taber, den Leadsänger von Cold Creek, kennt ihr vermutlich alle. Wir haben noch nie zusammen gesungen, aber wenn ihr uns einen gelegentlichen Patzer verzeiht, versprechen wir, die beste Show abzuliefern, die wir draufhaben. Wir wissen, dass ihr hergekommen seid, um zu tanzen, also zeigt uns, was ihr draufhabt! Und hier kommt unser erster Song: I Ain’t No Quitter von Shania Twain.“ Sie trat dicht ans Mikro und sang: „He drinks …“

Schlagzeuger und Gitarrist setzten ihren Kontrapunkt.

„He smokes …“

Während die Band die zwei Noten von eben wiederholte, beugte Ron Taber sich zu seinem Mikrofon, sah zu P.J. und setzte mit ihr gemeinsam ein: „He curses, swears and he tells bad jokes …“

Die Gäste strömten zur Tanzfläche, und P.J. und die Band hielten sie dort fest, während sie einen Countrysong nach dem anderen spielten. Erst als sie sah, dass die Tänzer vor der Bühne allmählich erschöpft aussahen, sagte P.J. : „Mit unserer nächsten Nummer wird es jetzt ein bisschen langsamer: Mama’s Girl.“

Einige Leute im Publikum lachten auf, und P.J. verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln und nickte. „Ich weiß, ich weiß … Wenn man die Schlagzeilen der letzten Tage bedenkt, ist es eine ziemlich ironische Wahl.“ Ihr Blick wanderte automatisch wieder zu Jared, doch sofort rief sie sich wieder zur Ordnung und sprach zum Publikum. „Aber tut mir den Gefallen und glaubt nicht alles, was ihr lest, okay?“ Sie drehte sich zur Band. „Auf geht’s, Jungs!“

Sie begannen mit dem Intro, und P.J. hob das Mikro an die Lippen. Mit Blick auf die hinter der Tanzfläche im Dunklen liegenden Tische sang sie:

„Sie war achtzehn damals und ganz allein,

und seine schönen Worte, die lullten sie ein.

Er stieg aus dem Wagen, öffnet ihr die Tür:

Komm, schöne Lady, und fahr mit mir …“

Natürlich war es die pure Ironie, ausgerechnet jetzt dieses Lied zu singen, aber sie liebte es noch immer. Ihre Freundin Nell hatte es geschrieben, und schon als sie es das erste Mal hörte, konnte P.J. sich voll und ganz mit dem Text und der Melodie identifizieren. Es drückte Gefühle aus, die zu sagen sie sich zu sehr schämte. Denn wie sollte man seine Sehnsucht nach einer Mutter ausdrücken, die man nicht hatte, sondern sich nur wünschen konnte? Mama’s Girl handelte von ihrem schönsten und innigsten Traum – eine Mutter zu haben, die ihre Tochter bedingungslos liebte und jedes Opfer auf sich nahm, um das Glück ihres Kindes zu sichern.

Es war ein Wunschtraum, ein Hirngespinst … Aber jedes Mal, wenn sie das Lied sang, schien sie sich selbst überzeugen zu wollen, dass es stimmte, dass diese Geschichte der alleinerziehenden Mutter, die ihr ganzes Leben nach dem Wohlergehen ihrer Tochter ausrichtete, ihre Geschichte war. Selbst jetzt, nachdem ihre Mutter sie um ihr Geld hatte betrügen wollen und noch dazu intimste Details ihres Privatlebens in den Medien ausbreitete, konnte dieses Lied sie wieder mitten in ihren Traum befördern.

Als das Lied immer häufiger im Radio gespielt worden war, hatte sie den Medien gegenüber allerdings zu einer Notlüge greifen müssen. Was hätte sie sonst auch sagen sollen, wenn die Journalisten fragten, ob der Text auf ihren eigenen Erfahrungen beruhte? Dass die Frau in dem Lied so weit von ihrer eigenen Mutter entfernt war, wie man sich nur vorstellen konnte? Dass sie damit eine Ode an eine namenlose, gesichtslose Frau sang, für die sie ihren rechten Arm gegeben hätte, nur um von ihr großgezogen zu werden?

Nein, die Frau war ganz und gar nicht namen- und gesichtslos. Sie stand für Jareds Schwester Victoria, die P.J. niemals vergessen hatte, vor allem nicht die Art und Weise, wie sie mit ihrer Tochter Esme umgegangen war. Nie hatte P.J. den durch und durch liebevollen Blick vergessen, mit dem Tori ihre kleine Tochter angesehen hatte. Auch ihre Großzügigkeit war ihr immer in Erinnerung geblieben. Als P.J. Denver verlassen hatte, um wieder bei ihrer Mutter zu leben, hatte Victoria ihr das schönste Puppenhaus geschenkt, das sie je gesehen hatte.

Deshalb hatte sie jedes Mal, wenn sie dieses Lied sang, Victorias Gesicht vor Augen.

Autor

Susan Andersen

Mit ihren liebenswert skurrilen Heldinnen und ihren ebenso spannenden wie warmherzigen Geschichten erobert Susan Andersen regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten. Gemeinsam mit ihrem Mann und den 'boys', zwei verspielten Katern, lebt die erfolgreiche Autorin an der Pazifikküste Washingtons.

Foto: © Brooke Clark 2008 for Studio B Portraits

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