Schöner fremder Mann

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Kaum hat Annette den attraktiven Unternehmer Ryan Kincaid auf einer Modenschau in New York kennen gelernt, da macht er ihr auch schon einen Heiratsantrag. Nur um seinem Großvater einen Gefallen zu tun? Oder hat er sich wirklich Hals über Kopf in Annette verliebt?


  • Erscheinungstag 20.05.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733777661
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Ihre Haare waren goldblond, die Augen veilchenblau. Als Annette Franklin die Stufen zum Zwischengeschoss hinunterschritt, dachte Ryan Kincaid einen atemberaubenden Moment lang, sie würde unter dem knöchellangen purpurroten Samtcape nichts als ihre honigfarben schimmernde Haut zur Schau stellen. Doch dann belehrte ihn sein Verstand eines Besseren. Montano war zwar zurzeit das Kaufhaus von New York, aber dennoch würde man hier keine nackten Mannequins über den – wenn auch improvisierten – Laufsteg schicken.

Es war die Art, wie sie den Umhang zuhielt, der diese Illusion bewirkte. Sie hatte die Finger gleich unterm Kinn in den weichen Stoff des hochgestellten Kragens gekrallt, so dass das Cape bei jedem Schritt leicht auseinander schwang und den Blick auf ein unglaublich langes, wohlgeformtes Bein freigab.

Ryan betrachtete sie wohlgefällig. Sie sah wirklich blendend aus. Und dessen war sie sich offenbar auch sehr bewusst, wie die stolze Haltung und der verächtliche Ausdruck auf dem perfekt geschnittenen Gesicht zeigten. Alle anderen Mannequins hatten die Zuschauer angelächelt, aber sie trat wie eine Königin auf, die ihre Untertanen keines Blickes zu würdigen geruhte.

Ryan beobachtete sie mit wachsendem Interesse und empfand seinen notgedrungenen Kaufhausbesuch als immer angenehmer.

„Oh, schau dir die Blondine an“, flüsterte Frank Ross hinter ihm und seufzte. „Der Traum eines jeden Mannes.“

„Das kannst du wohl sagen“, bestätigte Ryan leise, während vor seinem geistigen Auge die erstaunlichsten Bilder erschienen. Und das war schon irgendwie merkwürdig, denn er neigte gar nicht zu sexuellen Fantasien. Er lebte glücklich und zufrieden in der Gegenwart, in der es ihm an attraktiven Frauen nicht mangelte.

„Nimm es mir nicht übel“, meinte Frank mit gedämpfter Stimme, „aber ich würde lieber mit ihr als mit dir auf einen Drink gehen.“

Ryan lächelte. „Vergiss den Drink. Ich würde sie lieber zu mir nach Hause entführen, ihr das Samtcape abstreifen und das Darunter ergründen.“

Die Erwiderung war nur für Franks Ohren bestimmt gewesen, aber gerade als Ryan zu reden begann, gab der Lautsprecher mit einem krächzenden Geräusch den Geist auf und die Musik verklang wie auch das allgemeine Stimmengewirr, so dass seine Worte klar und deutlich durch die plötzliche Stille drangen.

Annette erstarrte zur Salzsäule.

Die Zuschauer hielten amüsiert den Atem an.

Und Ryan stöhnte verlegen auf.

Was mache ich jetzt, überlegte er, einfach lächeln oder die Schultern zucken und das Ganze mit einem Lachen abtun? Oder mich vielleicht entschuldigen?

Am Ende blieb ihm gar nicht die Wahl. Mit versteinerter Miene ging Annette die restlichen Stufen hinunter, um dann hocherhobenen Hauptes auf ihn zuzutreten und sich auch von einer Kollegin nicht davon abbringen zu lassen.

Frank lachte leise auf. „Adiós, muchacho, raunte er und machte einen Schritt zurück.

Weiß vor Zorn, blieb sie vor Ryan stehen und blitzte ihn an. Er räusperte sich und zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht, mit dem er schon viele schöne Frauen betört hatte. „Erstaunlich, was die Akustik einem für Streiche spielen kann“, meinte er freundlich.

Annette erwiderte nichts, sah ihn nur weiterhin wütend an.

Er räusperte sich erneut. „Hören Sie“, sagte er dann, „es tut mir wirklich Leid, aber …“

„Sie benehmen sich wie ein pubertärer Junge“, erklärte sie kühl.

Irgendjemand kicherte, und Ryan fühlte entsetzt, wie er errötete. „Ja. Nun, ich …“

Sie trat noch einen Schritt näher, und eine feine Duftwolke wehte ihn an. War es Opium? L’Air du Temps?

„Oder sind Sie nur ein blöder Ochse?“

Wieder wurde gekichert, diesmal von mehreren. Ryan musste sich sehr bemühen, weiter zu lächeln. „Hören Sie, Miss“, sagte er. „Es tut mir Leid, wenn …“

„Es tut Ihnen absolut nicht Leid“, unterbrach sie ihn. „Sie und Ihresgleichen denken doch, dass Sie jeden beleidigen können, der sich seinen Lebensunterhalt verdienen muss. Stimmt’s?“

„Finden Sie nicht, dass Sie etwas übertrieben reagieren?“, fragte er geduldig. „Ich versuche, mich zu entschuldigen, aber …“

„Ein Esel ist genauso geeignet, Tanzen zu lernen, wie ein Ochse, sich zu entschuldigen.“

Wieder hatte sie die Lacher auf ihrer Seite. Mit finsterer Miene trat Ryan etwas näher. Annette war zwar für eine Frau wirklich nicht klein, aber mit seiner Länge von einsneunzig war er deutlich größer als sie. Und es bereitete ihm ein diebisches Vergnügen, zu sehen, dass sie offenbar eingeschüchtert einen Schritt zurückwich.

„Sie haben Recht“, erklärte er mit samtweicher Stimme. „Es tut mir gar nicht Leid. Ich habe die Schau genossen.“

Verhaltener Beifall breitete sich aus, unter den sich ein leiser, anerkennender Pfiff mischte. Ryan drehte sich kurz um und lächelte in die Runde.

Der Mann hatte vielleicht Nerven! Annette fühlte, wie sie errötete, während sie das selbstgefällige Ekel mit den meergrünen Augen, dem nachtschwarzen Haar und dem süffisanten Lächeln weiter anstarrte. Die Blicke aller waren jetzt auf sie gerichtet.

Hätte sie doch nur seine Worte ignoriert. Hätte sie doch nur auf das Mannequin gehört, das sie davon abzuhalten versucht hatte, auf ihn zuzugehen. Und hätte sie sich doch nur nicht von Mr. Deauville aus der Parfümabteilung hierher zerren lassen.

Die wöchentliche Modenschau würde in fünf Minuten beginnen, hatte ihr der Geschäftsführer mit besorgter Miene erklärt, während er sie mit sich durch das gut besuchte Kaufhaus zog. Leider jedoch sei eines der Mannequins krank geworden, und da sie, Annette, groß und schlank sei, solle sie für die junge Frau einspringen.

Natürlich hatte sie protestiert und ihm gesagt, dass sie vor zwei Tagen als Verkäuferin in der Parfümabteilung eingestellt worden sei, und nicht etwa als Mannequin. Aber er hatte ihr gar nicht zugehört, sie immer weiter mit sich gezerrt und schließlich in einen großen Umkleideraum geschoben.

„Hier ist Ihre Ersatzkraft“, hatte er gesagt, und dann hatte ihr ein Mann namens Clyde mit melodischer Lispelstimme energisch befohlen, das dunkelblaue Kostüm und die weiße Seidenbluse auszuziehen und stattdessen in das Outfit zu schlüpfen, das er ihr schon ungeduldig entgegenhielt. Schließlich hatte er ihr das Samtcape um die Schultern gelegt, das farblich fast so unauffällig war wie ein Feuerwehrauto, und sie zur Tür hinausgedrängt. Unwillkürlich hatte sie den Umhang zusammengerafft, denn zumindest verbarg er weite Teile ihres Körpers, der in einem hauchdünnen Nichts steckte.

Und dann hatte sie oben auf der Treppe gestanden und all die neugierigen Blicke gespürt. „Es wird schon gut gehen“, hatte ihr das gleiche Mannequin Mut gemacht, das sie gerade eben noch aufzuhalten versucht hatte. Tja, und das war es auch, bis dieser ungehobelte, blendend aussehende Kerl, bei dem wahrscheinlich alle dummen Frauen schwach wurden, beschlossen hatte, sich auf ihre Kosten zu amüsieren. Und sie blöde Gans hatte sich von ihm provozieren lassen und verrückt gespielt!

„Was ist?“

Annette blinzelte. Ryan lächelte sie süffisant von oben an. „Wie, was ist?“

„Ist meine Entschuldigung angenommen?“ Er lächelte verwegen.

„Na los, junge Frau“, erklang eine männliche Stimme. „Sagen Sie Ja.“

„Sagen Sie ihm, dass alles in Ordnung ist“, rief ein anderer.

„Sie hören die Leute“, meinte Ryan leise. „Vertragen wir uns wieder und besiegeln es mit einem Kuss.“

Schon umfasste er ihr Kinn und beugte sich herunter, während auf seinem markanten Gesicht noch immer dieses verdammte Lächeln lag. Er macht Witze, dachte Annette verzweifelt, er kann das nicht im Ernst vorhaben …

Sie sah ihm in die Augen und wusste, dass er nicht scherzte. Sofort befreite sie sich aus seinem Griff, ballte die Hand zur Faust und schlug ihn auf die Wange.

Heiliger Strohsack, dachte Ryan, taumelte leicht rückwärts und schüttelte den Kopf, um das Ohrensausen zu bekämpfen.

„Ryan?“

Er blinzelte.

„Ryan? Bist du in Ordnung?“ Frank fasste ihn bei den Schultern. „Verdammt. Sag doch etwas.“

Vorsichtig legte er die Hand auf seine Wange. „Sie hat mich geschlagen“, stellte er erstaunt fest.

Frank grinste. „In der Tat.“

Ärgerlich kniff er die Augen zusammen. „Nun habe ich aber genug.“ Er drehte sich von Frank weg und Annette zu, die sich nicht von der Stelle gerührt hatte. „Jetzt reicht’s“, erklärte er grimmig. „Ich habe versucht, mich zu entschuldigen, bin aber nur auf taube Ohren gestoßen. Ich habe zugegeben, mich wie ein pubertärer Junge benommen zu haben, doch auch das fand keine Gnade. Aber wenn Sie glauben, Sie könnten mich ungestraft schlagen, dann …

„Es tut mir Leid“, meinte sie leise. „Ich wollte das nicht …“

„Miss Franklin! Was ist hier los?“

Annette wurde ganz blass. „Mr. Deauville“, sagte sie schnell. „Ich … ich kann das erklären, wenn Sie mir nur …“

Der Geschäftsführer wandte sich an Ryan. „Was ist passiert, Sir?“

Ryan schaute Annette an. Ihr Gesicht war kreideweiß, die Augen waren groß und dunkel. Verdammt, dachte er und atmete tief aus. „Nichts ist passiert.“

„Sir, ich schätze Ihre Ritterlichkeit, aber wenn wir im Montano weiter die Disziplin unter unseren Mitarbeitern aufrechterhalten wollen …“

„Und ich schätze Ihre Besorgnis“, erwiderte er höflich lächelnd. „Aber es ist wirklich nichts passiert. Diese junge Dame und ich hatten ein kleines Missverständnis, und …“

„Sie hat ihn geschlagen“, rief irgendjemand fröhlich dazwischen.

Der kleine Mann wurde ganz bleich und wandte sich entsetzt Annette zu. „Miss Franklin?“

Sie schluckte. Zwei Wochen lang hatte sie sich die Hacken nach einem Job abgelaufen und sich Bettinas Gerede anhören müssen, wie verrückt sie doch sei, sich eine „erniedrigende“ Arbeit zu suchen. „Es … es ist nicht ganz so gewesen, wie es jetzt klingt“, antwortete sie verzweifelt. „Wenn Sie mir nur einen Moment …“

„Haben Sie diesen Gentleman geschlagen oder nicht?“

„Bitte, Mr. Deauville …“

„Sie sind gefeuert, Miss Franklin!“

„Einen Augenblick, Mr. Deauville“, wandte sich Ryan stirnrunzelnd an ihn. „Sie können sie nicht einfach feuern.“

„Halten Sie sich da raus.“ Wütend blickte sie Ryan an. „Haben Sie heute nicht schon genug angerichtet? Sie scheinheiliger Typ sind doch der Urheber dieses Fiaskos!“

Er schüttelte den Kopf, fühlte sich von ihren Worten getroffen und spürte dann auch wieder seine schmerzende Wange. „Hören Sie, junge Dame, ich versuche, mich wie ein Gentleman zu benehmen, aber …“

„Warum vergeuden Sie Ihre Zeit damit, etwas sein zu wollen, das Sie nicht sind?“

Ryan kniff die Augen zusammen, sah Annette einen endlosen Moment lang an und wandte sich schließlich dem Geschäftsführer zu. „Ja, Sie hat mich geschlagen. Feuern Sie sie.“

„Das habe ich schon“, erwiderte der kleine Mann und schaute dann Annette kühl an. „Ich wiederhole es noch einmal, Miss Franklin, Sie sind gefeuert.“

Sie lachte kurz auf und schüttelte achtlos das purpurrote Cape von den Schultern. „Machen Sie doch Ihren Kram allein.“

Bevor noch einer der beiden Männer etwas sagen konnte, drehte sie sich um und schritt davon. Es wurde der längste Weg ihres bisherigen Lebens. Sie fühlte die Blicke aller auf sich gerichtet und wusste, was die Leute sahen: ein enges, quasi durchsichtiges Kleid aus schwarzer Spitze, einen schwarzen Seiden-BH, einen winzigen schwarzen Satinslip mit passendem Hüfthalter, lange, in hautfarbenen Strümpfen steckende Beine und wahnwitzig hochhackige schwarze Pumps.

Aber sie bewahrte Haltung, ging hocherhobenen Hauptes die Stufen hinauf, machte noch zwei, drei Schritte und hatte dann endlich den rettenden Umkleideraum erreicht. Dort riss sie sich die Sachen herunter, schlüpfte eilig in ihre eigenen und verließ das Kaufhaus durch den Hinterausgang.

Annette war richtig dankbar, dass die zwei kleinen Hotelzimmer, die sie mit ihrer Mutter am Times Square bewohnte, leer waren. Vermutlich bummelt sie mal wieder durch die Stadt, dachte sie dann schon weniger erfreut, und gibt unsere letzten Dollars aus, um sich für den heutigen Abend bei James Kincaid herauszuputzen.

Missmutig setzte sie sich auf das durchgelegene Bett. Warum hatte sie nur zugestimmt, Bettina zu begleiten? Eigentlich reichte ihr noch der Besuch in der vergangenen Woche. Der alte Herr sei nur etwas exzentrisch, hatte Bettina gemeint, aber sie war sich zuerst wie eine Bittstellerin vorgekommen und dann wie ein Käfer unterm Mikroskop.

Und heute würde es bestimmt noch schlimmer werden. Bettina führte irgendetwas im Schilde – alles deutete daraufhin. Wenn sie sich doch nur halb so sehr bemühen würde, eine Arbeit zu finden!

Himmel, einen Job, dachte Annette verzweifelt. Heute Morgen hatte sie noch einen gehabt, aber dank dieses Widerlings bei Montano hatte sie ihn eingebüßt. Und jetzt saß sie hier in einer fremden Stadt, ohne Geld und mit einer Mutter, die der Ansicht war, dass nur Idioten arbeiteten.

Annette konnte noch immer nicht so recht glauben, dass sie diesen Kerl tatsächlich geschlagen hatte. Sie konnte normalerweise keiner Fliege etwas zu Leide tun. Aber er hatte es wirklich verdient. Und irgendwie hatte es ihr gut getan, ihre Faust in seinem Gesicht mit dem selbstgefälligen Ausdruck zu spüren. „Ach, zur Hölle mit ihm“, sagte sie dann laut.

„Mit wem?“, fragte Bettina fröhlich und warf die Tür hinter sich ins Schloss.

Annette schreckte aus ihren Gedanken hoch. „Hallo, Mutter, ich habe dich gar nicht hereinkommen hören.“

„Ich war einkaufen“, meinte sie und lud ihre Päckchen auf dem Bett ab. „Ich möchte heute Abend besonders gut aussehen. Und das solltest du auch.“

„Ich weiß gar nicht, warum wir da überhaupt hingehen“, erwiderte sie leise. „Geschweige denn, warum wir nach New York gefahren sind.“

„Weil wir hier Verwandte haben, darum. Und Verwandte helfen sich gegenseitig, wenn Not am Mann ist.“

„Wir haben keine Verwandten hier.“

„Du hast aber eine grässliche Laune. Hoffentlich hat sich die bis nachher gebessert.“

Annette atmete einmal tief durch. „Ich habe meinen Job verloren.“

„Wirklich“, sagte Bettina ziemlich desinteressiert. „Wie gefällt dir dieses Kleid? Ist es zu langweilig?“

Annette zuckte beim Anblick des fuchsienroten Seidenkleids, das ihre Mutter aus einer der Schachteln holte, leicht zusammen. „Es … es ist prima, Mutter. Hast du mir eben zugehört? Ich bin mit einem unverschämten Kunden aneinander geraten und …“

„Was soll’s? Parfüm zu verkaufen, ist genauso ein blöder Job wie der daheim, als du Pullover verkauft hast.“

„Aber ehrliche Arbeit.“

„Sprich nicht in diesem selbstgerechten Ton mit mir.“ Ärgerlich drehte sich Bettina zu ihrer Tochter um. „Ich habe hart für uns gearbeitet, vergiss das nicht, mein Kind. Ich habe bedient und hinter Leuten abgeräumt, die sich für etwas Besseres hielten als mich, und habe das Geld zusammengekratzt, um dir das Leben zu ermöglichen, das ich mir erträumt hatte – und zwar lange bevor Gordon Kincaid unsere Rechnungen bezahlt hat, falls dir das entfallen sein sollte.“

Nein, ist es nicht, dachte Annette, aber die endlose Reihe von Männern auch nicht. Onkel Harry und Onkel John und Onkel Phil …

„Ich habe getan, was ich tun musste“, sagte Bettina, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. „Und immer für dich.“

„Ich habe um nichts gebeten“, erwiderte sie kurz angebunden.

„Die ganzen Opfer … all die Schwierigkeiten …“

Annette schloss die Augen. Hör nicht hin, befahl sie sich stumm. Sie kannte diese Litanei schon auswendig, war damit aufgewachsen, dass ihre Mutter ihr immer wieder erzählte, was für Entbehrungen sie erdulde und wie sie ihr eigenes Leben fast ganz ihrer Tochter wegen aufgebe.

„Als Nächstes wendest du dich von mir ab, genauso wie dein Vater damals.“

Der bittere Vorwurf traf sie schwer. „Du weißt, dass ich das nie tun würde, Mutter.“

Bettina lächelte. „Das ist lieb von dir.“ Sie beugte sich zu ihr, hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und warf dann einen Blick auf die Uhr. „Oh, es wird Zeit, dass wir uns fertig machen. Großvater Kincaid schickt uns seinen Chauffeur, und wir wollen ihn doch nicht warten lassen. Bitte nimm etwas von meinen Augentropfen. Du schaust aus, als hättest du geweint!“

Das ist immer noch besser, als so auszusehen, als hätte man einen Faustschlag auf die Wange bekommen, dachte Annette und wusste auch nicht, warum ihr gerade dieser Vergleich eingefallen war. Aber sie war froh darüber, denn zum ersten Mal seit dem Fiasko im Kaufhaus konnte sie wieder lächeln.

2. KAPITEL

Wie an jedem Freitag um kurz nach vier strömten die Leute aus den Büros an der Wall Street, und die Lokale füllten sich mit Stammgästen, die gebührend ins Wochenende starten wollten. Ryan und Frank, die die arbeitsreichen Tage seit ihrer Studienzeit immer gemeinsam beschlossen, ergatterten gerade noch die letzten zwei freien Barhocker im The Watering Hole.

„Guten Tag, die Herren“, begrüßte Harry, der Barkeeper, sie freundlich. „Das Übliche?“

„Ja, bitte“, antwortete Frank, aber Ryan schüttelte den Kopf.

„Ich nehme eine Cola.“

„Eine Cola?“, fragte Frank stirnrunzelnd. „Was ist los? Hat dir der rechte Haken den Verstand geraubt?“

Vorsichtig legte Ryan die Hand an die Wange. „Der Schlag war nicht von schlechten Eltern“, sagte er mürrisch. „Sieht man irgendetwas?“

„Vielleicht einen kleinen Schatten, da …“

„Au!“ Er atmete tief ein, gerade als der Barkeeper ein mit Eiswürfeln gefülltes Glas und eine geöffnete Colaflasche vor ihn hinstellte. „Vielleicht hilft das“, meinte er, nahm einen Eiswürfel, wickelte ihn in sein Taschentuch und hielt es gegen die Wange. „Ich habe keine sonderliche Lust, meinem Großvater die Beule zu erklären.“

„Ah, jetzt verstehe ich. Keinen Alkohol heute, weil du noch fahren musst.“

„Genau.“ Vorsichtig bewegte er seine Wange. „Verstehst du diese feine Dame? Sie stöckelt herum, zeigt fast alles, was sie hat, und rastet dann aus, wenn jemand eine Bemerkung macht. Was ist nur aus der guten alten Schicklichkeit geworden?“

„Schicklichkeit?“

„Jawohl, Schicklichkeit. Du weißt schon, weniger Dekolleté, weniger Bein, weniger von allem.“

Frank runzelte kaum merklich die Stirn. „Und das sagt der Mann, der einst mit Miss November liiert war?“

Nur zu wahr, dachte Ryan erstaunt. Wann hatte es ihn je gekümmert, wie viel eine Frau zeigte? Wenn sie gut aussah, konnte es doch gar nicht genug sein. Er schaute Frank an. „Es war Miss Dezember“, antwortete er dann lächelnd. „Erinnerst du dich nicht mehr an diese Glöckchen?“

„Wie könnte ich die vergessen“, meinte er lachend und wurde dann wieder ernst. „Deine Beule verfärbt sich. Du solltest dir vielleicht eine glaubhafte Geschichte für deinen Großvater ausdenken.“

Ryan seufzte. „Zum Teufel damit! Wenn er mich fragt, erzähle ich ihm die Wahrheit. Und wahrscheinlich wird er mir sagen, dass mir recht geschehen sei.“

„Der alte Herr hat sich überhaupt nicht verändert, was?“

„Im Gegensatz zum weiblichen Geschlecht“, antwortete Ryan mit einem liebevollen Lächeln, „ist Großvater ausgesprochen berechenbar.“

Wie auch ein Abend in seinem Haus, dachte er dann, als Frank sich einen Augenblick entschuldigte. Zuerst würden sie in dem altmodisch eingerichteten Wohnzimmer etwas trinken. Er einen Bourbon und Großvater ein Mineralwasser, nachdem ihm die Ärzte jeglichen Alkohol verboten hatten. Etwas später würde sie Agnes Brimley, die spitzgesichtige Hausdame, zu einem gesunden Essen ins Speisezimmer bitten. Es würde grobkörnigen geschälten Reis, weiches Gemüse und zähes Huhn geben und einen Nachtisch, der wie Seifenpulver aussah, roch und schmeckte. Danach würde Großvater sich eine nicht ärztlich genehmigte dicke Zigarre anstecken und ihn, Ryan, mit wässrigen Augen anschauen und ihm den Vortrag des Monats halten.

James fing immer damit an, über die Welt im Allgemeinen zu reden und wie viel besser sie noch vor siebzig Jahren gewesen war. Als Nächstes folgten einige Ratschläge, wie Kincaid Incorporated zu führen wäre – obwohl Ryan in den fünf Jahren, in denen er die von seinem Großvater gegründete Baugesellschaft jetzt schon leitete, diese zu einem nicht nur an der Ostküste, sondern landesweit erfolgreich tätigen Unternehmen gemacht hatte.

Aber diese beiden Themen bildeten nur das Vorwort zu Großvaters Lieblingsvortrag, der immer mit „Die Zeit vergeht, mein Junge“ anfing und mit der Ermahnung endete, dass er, Ryan, bald zweiunddreißig sei und allmählich wirklich daran denken sollte, einen Hausstand zu gründen.

Ryan lächelte vor sich hin. Er würde sich das alles wie üblich anhören und nur zum Schein hier und da einmal protestieren. Was wohl die Experten der Hochfinanz davon hielten, dass er, den das Time – Magazin als geschäftstüchtigen Einzelkämpfer bezeichnet hatte, diese Vorträge einfach so über sich ergehen ließ, nur weil er seinen Großvater liebte und dieser ihn, auch wenn James sich lieber die Zunge abbeißen würde, als das zuzugeben? Er hatte ihn und Gordon nach der schmutzigen Scheidung der Eltern aufgezogen, und nach Gordons Tod hatten sie nun nur noch sich beide.

„Was ist mit Sharon?“

Ryan schreckte aus seinen Gedanken hoch, als sich Frank wieder auf den Barhocker schwang. „Was soll mit ihr sein?“

„Sie ist doch bestimmt nicht begeistert, den heutigen Abend ohne dich zu verbringen. Schon unser wöchentlicher Herrenabend ist ihr ein Dorn im Auge.“

Ryan verzog das Gesicht. „Wenn es dir recht ist, würde ich lieber nicht über Sharon reden.“

„Gibt’s Probleme?“

„Ich habe ihren Geburtstag vergessen.“

„Deshalb wolltest du also zu Montano!“

„Ja, aber das ist nicht alles.“ Ryan seufzte. „Ich hatte gedacht, wir wären uns einig, dass keiner von uns eine zu feste Bindung wollte. Doch jetzt erzählt sie mir immer wieder, dass all ihre Freundinnen heiraten und Kinder bekommen würden.“

„Du hast ihr doch hoffentlich gesagt, dass du dazu noch zu jung bist.“

„Das bin ich eigentlich nicht.“

Frank schaute ihn entsetzt an. „Wie bitte?“

„Wir gehen stramm auf unseren mittleren Lebensabschnitt zu, falls du das noch nicht bemerkt haben solltest.“

„Mit zweiunddreißig?“ Frank lächelte wieder. „Aber ich verstehe schon. Du stellst dich offenbar bereits auf Großvater Kincaids Vortrag über das Heiraten und die Zeugung von Enkeln ein, die ihm sein Alter versüßen sollen.“

„Manchmal denke ich, er hat gar nicht so Unrecht.“ Ryan verzog den Mund. „Schließlich ist mein Bruder tot, und seine Ehe war kinderlos.“

„Ja. Und ein ziemliches Fiasko, wenn ich mich nicht täusche.“

„Das war nicht anders zu erwarten, wenn Gordon San Franciscos Ausgabe von Isebel heiratet.“

„Bettina Eldridge, ich weiß.“ Frank seufzte. „Hör mal, wir sind hier in Amerika. Und Königreiche gehen nicht unter, nur weil der Kronprinz sich noch keine Braut gesucht hat. Warum machst du das dem alten Herrn nicht klar?“

Nachdenklich fuhr Ryan mit dem Finger über den Glasrand. „Großvater ist sehr gealtert“, erwiderte er leise. „Die Zeit vergeht, weißt du.“

„Dir Ehefesseln anzulegen, wird seine Uhr auch nicht am Weiterticken hindern“, erklärte Frank rundheraus. „Aber wenn du das glaubst, hast du ja Sharon.“

Ryan lächelte. Auch schon während ihrer Studienzeit in Yale hatte Frank es immer verstanden, die Dinge auf den Punkt zu bringen. „Nein, vielen Dank. Verheiratet zu sein, ist einfach nicht der Naturzustand des Menschen.“

„Darauf trinke ich.“

„Schau dir doch nur mal die Kincaids an. Meine Mutter hat meinen Vater am fünfzehnten Hochzeitstag um die Scheidung gebeten, ist dann weggegangen und Anthropologin geworden. Mein Vater hat sich ein Jahr später in seine Sekretärin verliebt und ist mit ihr nach irgendwo verschwunden. Mein Bruder hat eine Frau geheiratet, die nur das Geld bei ihm gesehen hat …“

„Ja, eine Ehe ist zum Davonlaufen“, stimmte Frank unumwunden zu.

„Großvater erzählt mir ständig, dass seine Ehe ein Vergnügen gewesen sei. Aber damals waren die Regeln auch noch andere. Meine Großmutter war eine altmodische Frau. Nett, verträglich und darum bemüht, es allen recht zu machen.“

Frank seufzte. „Ja, zu der Zeit wurde ein Mädchen noch zur jungen Dame erzogen. Sie lernte, Klavier zu spielen, den Tee zu servieren und Deckchen zu besticken, dem Ehemann die Pantoffeln und die Zeitung zu bringen …“

Ryan runzelte die Stirn. „Wir reden von einer Ehefrau, nicht von einem Cockerspaniel.“

„Und obendrein“, fuhr Frank unbeirrt fort, „war sie hinreißend und ausgesprochen willig.“

Plötzlich sah Ryan wieder das Bild von der Blondine aus dem Montano vor sich, und ein richtiger Film lief vor seinem geistigen Auge ab: Er streifte der langbeinigen Schönheit das purpurrote Samtcape ab, streichelte ihre sonnengebräunte Haut, liebkoste die festen Brüste und wohlgeformten Hüften … Verdammt, fluchte er stumm und nahm sein Glas, um den letzten kühlen Schluck zu trinken.

„Wenn ich so eine finden könnte, würde sogar ich heiraten“, meinte Frank bestimmt.

„Wer würde das nicht?“ Ryan lächelte, schaute auf die Uhr und stand auf. „Du hast eine ideale Ehefrau beschrieben. Aber so eine gibt es schon seit Jahren nicht mehr. Und das genau werde ich auch meinem Großvater sagen.“ Er zog die Brieftasche hervor und legte einige Dollarnoten auf die Bar. „Danke für das Gespräch, mein Freund. Das habe ich gebraucht.“

Frank lächelte verhalten. „Es war mir ein Vergnügen.“

„Wenn Großvater wieder mit seinem Vortrag über die Gründung eines Hausstands anfängt, erkläre ich ihm, dass ich genauso eine Frau wie Großmutter haben will, und dann lehne ich mich zurück, verschränke die Arme vor der Brust und lächle ihn an.“

Ryan saß wie üblich rechts von seinem Großvater und wunderte sich grenzenlos. Er war schon innerlich gegen die Gesundheitskost gewappnet gewesen und fast vom Stuhl gefallen, als Miss Brimley das Essen hereingebracht hatte.

„Ah“, hatte sein Großvater glücklich gemeint.

„Ah“, hatte er, Ryan, dann pflichtgetreu wiederholt und seinen Augen kaum getraut, als James den Deckel der Terrine öffnete. „Hummercremesuppe?“

„Hummercremesuppe“, hatte sein Großvater seelenruhig bestätigt, während Miss Brimley ärgerlich dreinblickte.

Anschließend hatte es zartes Roastbeef gegeben, dazu Folienkartoffeln mit Sauerrahm sowie einen grünen Salat mit Roquefort-Dressing.

„Und natürlich einen guten Bordeaux, um das Ganze hinunterzuspülen“, hatte James gesagt.

Jetzt war das Essen fast vorbei, und Ryan konnte die Frage einfach nicht länger zurückhalten. „Feiern wir etwas, Großvater?“

Dieser schaute vom Teller auf, und ein merkwürdiges kleines Lächeln umspielte seinen Mund. „So hatte ich es noch gar nicht betrachtet, mein Junge, aber man könnte es eigentlich so nennen.“

Ryan nickte. „Und was ist es?“

James schüttelte lächelnd den Kopf. „Frag jetzt nicht weiter, Ryan. Wir reden nach dem Dessert darüber. Das ist versprochen.“

Wie auf ein Zeichen kam Miss Brimley mit indignierter Miene wieder herein. „Der Nachtisch“, erklärte sie kühl und hielt Ryan einen ovalen Silberteller hin.

Ungläubig blickte er darauf. So viele Leckereien auf einmal hatte er seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen. Mit Schokolade überzogene Eclairs, kleine goldfarbene Windbeutel, feine Biskuitröllchen …

Autor

Sandra Marton
Sandra Marton träumte schon immer davon, Autorin zu werden. Als junges Mädchen schrieb sie Gedichte, während ihres Literaturstudiums verfasste sie erste Kurzgeschichten. „Doch dann kam mir das Leben dazwischen“, erzählt sie. „Ich lernte diesen wundervollen Mann kennen. Wir heirateten, gründeten eine Familie und zogen aufs Land. Irgendwann begann ich, mich...
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