Verbotene Küsse eines Dukes

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Für keinen Mann der Welt will Lady Georgiana ihre Freiheit und Unabhängigkeit aufgeben – auch nicht für einen Peer wie Redmond Hartley, den fünften Duke of Everingham! Schließlich gerät sie mit ihm ständig aneinander. Doch sosehr sein Charakter sie auch zur Weißglut bringt, seine verführerischen Berührungen wecken ein überraschendes Feuer in Georgiana! Dummerweise lässt sie sich ausgerechnet auf einer belebten Soirée dazu hinreißen, seine sinnlichen Küsse zu erwidern. Prompt werden die beiden entdeckt, und um ihren Ruf zu retten, verkündet der Duke umgehend ihre Verlobung! Jetzt muss Georgiana die Entscheidung ihres Lebens treffen …


  • Erscheinungstag 03.01.2023
  • Bandnummer 387
  • ISBN / Artikelnummer 9783751516174
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Es gilt als weltweit akzeptierte Wahrheit, dass ein vermögender Junggeselle dringend einer Ehefrau bedarf.

Jane Austen, Stolz und Vorurteil

Agatha, Lady Salter, schaute ungeduldig zu der vergoldeten Uhr auf dem Kaminsims. Sechsundzwanzig, nein siebenundzwanzig Minuten hatte er sie nun schon warten lassen.

Die jungen Leute heutzutage. Einfach keine Manieren.

Sie würde sich jedoch nicht wegen des unhöflichen Benehmens des Dukes von ihrem Plan abhalten lassen. Wie lautete das Zitat noch mal? Es ist eine allgemein bekannte Tatsache … Nein, das war es nicht. Es gilt als weltweit akzeptierte Wahrheit – ja, das war es, Wahrheit.

Es gilt als weltweit akzeptierte Wahrheit, dass ein vermögender Junggeselle dringend einer Ehefrau bedarf. Genau, das war das Zitat. Eine sehr vernünftige Ansicht als Einleitung für ein sehr dummes Buch.

Junge Mädchen, die selbst beschlossen, wen sie heiraten wollten oder nicht. Lächerlich!

Ohne das vernünftige Eingreifen einer Tante hätte diese törichte, sture Elizabeth eine ganz ausgezeichnete Partie ausgeschlagen. Doch besagte Tante hatte den Tag gerettet, indem sie das Mädchen zu einem Besuch auf den Besitz des jungen Burschen mitnahm. Das hatte dem dummen Mädchen die Augen geöffnet.

Lady Salter sah wieder zur Uhr. Neunundzwanzig Minuten. Unerhört. Sie hatte damit gerechnet, dass er nicht gerade darauf erpicht war, sie zu sehen, aber das war keine Entschuldigung für seine Verspätung.

Er war mehr oder weniger vor dem Altar stehengelassen worden – eine gewisse Verstimmtheit war da durchaus verständlich. Junge Männer hatten nun mal ihren Stolz. Aber schließlich wäre es auch keine Liebesheirat gewesen, sondern eine arrangierte Ehe zwischen ihrer schönen Nichte Lady Rose Rutherford und dem Duke of Everingham, der besten Partie der Saison.

Sie hatte wochenlang strategisch geplant, die beiden zusammenzubringen, und als die Verlobung verkündet worden war, hatte sie in allgemeiner Bewunderung geschwelgt. Eine Zeitlang jedenfalls.

Doch Rose hatte sie schwer enttäuscht. Eine heimliche Hochzeit! Mit einem absoluten Niemand! Eine von den Toten auferstandene Vogelscheuche, die zerlumpt und schmutzig mitten in die Trauung hineingeplatzt war. Was für eine bodenlose Schande. Allein der Gedanke daran war unerträglich. Aber sie würde sich nicht geschlagen geben.

Die Tür zum Salon ging auf, und der Duke erschien. Endlich!

Lady Salter sah auf und nickte ihm anmutig zu. „Guten Tag, Redmond.“ Sie kannte ihn schon, seit er ein kleiner Junge gewesen war. Der Gebrauch seines Vornamens anstelle des Titels sollte ihm genau das auch vor Augen führen.

Redmond Jasper Hartley, der fünfte Duke of Everingham, schlenderte in den Salon. Er hatte sie über eine halbe Stunde warten lassen, entschuldigte sich jedoch nicht dafür, sondern beugte sich über ihre Hand. „Lady Salter, wie geht es Ihnen?“, sagte er in gelangweiltem Ton und schaute sie aus kalten grauen Augen gleichgültig an.

Lady Salter kam ohne Umschweife zur Sache. „Soweit ich weiß, hat meine Nichte sich für ihr unerhörtes Verhalten entschuldigt.“

Er zog eine dunkle Augenbraue hoch. „Ihre Nichte?“ Als hätte er keine Ahnung, von wem sie sprach.

Sie presste die Lippen aufeinander. Also war er immer noch zornig. Wenn sie sich nicht täuschte, verbarg sich hinter seiner scheinbaren Gleichgültigkeit sogar eiskalte Wut. Stolz war eine Sache, Unhöflichkeit Älteren gegenüber jedoch eine ganz andere. Außerdem war sie genau wie er ein Opfer von Roses Verhalten. „Ich meine Lady Rose Rutherford, wie Sie sehr wohl wissen. Ich glaube, sie war letzte Woche hier, um sich zu entschuldigen.“

Der Duke kehrte ihr den Rücken zu, ging zum Fenster und sah hinaus. „Haben Sie einen Grund für Ihren Besuch, Lady Salter?“, fragte er nach einer ganzen Weile mit gepresster Stimme.

„Sie brauchen nach wie vor eine Braut.“

Er drehte sich langsam zu ihr um. „Selbst wenn das so wäre, was geht Sie das an?“

Lady Salter hob das Kinn. „Ich habe noch eine Nichte.“

Er rührte sich nicht, und seine Miene war wie versteinert.

„Sie ist natürlich ebenfalls die Tochter eines Earls, obwohl ihre Mutter aus einer Freibauernfamilie stammte. Georgiana selbst ist jung, hübsch, gesund und …“

„Ehrgeizig.“

Sie blinzelte. „Nicht im Geringsten, ganz im Gegenteil sogar. Sie hat …“

„Auch noch alle ihre Zähne, da bin ich mir sicher. Die Vollkommenheit schlechthin, zweifellos, aber ich bin nicht interessiert.“

Sie funkelte ihn aufgebracht an.

Er verzog die Lippen und fuhr mit schneidender Stimme fort. „Wir sind hier nicht bei den Tattersalls, Lady Salter. Sie brauchen also nicht den Rosstäuscher zu spielen und die zahlreichen Qualitäten der jungen Dame anzupreisen. Ich habe kein Interesse daran, die Ambitionen ihrer Nichte oder Ihre eigenen zu unterstützen.“

Sie schäumte innerlich vor Zorn. Sie mit einem Rosstäuscher zu vergleichen! „Sie vergessen sich, junger Mann – Duke hin oder her. Ihre Mutter wäre entsetzt.“ Seine Mutter war nicht nur ihre Patentochter, sondern auch eine gute Freundin.

Er warf einen vielsagenden Blick auf die Uhr.

Seine Gleichgültigkeit machte sie genauso wütend wie seine Unterstellung, sie hätte Ambitionen in Bezug auf ihre Nichte. Natürlich hatte sie die – Georgiana begriff überhaupt nicht, welche Pflichten sie hatte – aber das konnte der Duke ja nicht wissen. Er und Georgiana hatten sich noch gar nicht richtig kennen gelernt, bestimmt hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt. Das war wieder so eine Situation, in der eine Tante eingreifen und das Heft in die Hand nehmen musste. „Ihre Mutter und ich …“

„Werden sich in Zukunft freundlicherweise nicht mehr in meine Angelegenheiten einmischen. Es reicht.“ Mit zwei Schritten durchquerte er den Salon und zog am Glockenstrang. „Guten Tag, Madam.“

Einmischen? Madam? Sie erstickte fast an ihrem Zorn. Was für eine Undankbarkeit jemandem gegenüber, der so unermüdlich – und selbstlos! – darauf hingearbeitet hatte, eine passende Ehe für ihn zu arrangieren!

Der Butler erschien. „Lady Salter möchte gehen, Fleming“, teilte der Duke ihm mit.

Lady Salter erhob sich und schritt würdevoll zur Tür, doch als sie dort ankam, gewann ihr Zorn die Oberhand. Sie drehte sich zu ihm um. „Es war ein Fehler zu glauben, Sie und Georgiana würden gut zusammenpassen, Redmond“, sagte sie eisig. „Sie besitzt ganz und gar nicht den Ehrgeiz, Sie zu heiraten.“ Sie schnaubte verächtlich. „In Wahrheit hat Georgiana sich sogar alle Mühe gegeben, Rose diese Heirat mit Ihnen auszureden …“

„Sie wollte mich zweifellos für sich selbst haben.“

„Ihre Arroganz ist völlig unangebracht, Sir! Sie wollte Sie auf gar keinen Fall, im Gegenteil, sie hat sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie Sie nicht ausstehen kann – und jetzt verstehe ich auch, warum. Jedenfalls hat das dumme Kind lang und breit verkündet, es würde lieber nur mit Pferden und Hunden zusammenleben als zu heiraten.“ Das verschlug ihm die Sprache, sie sah es ihm an. Sie empfand eine gewisse Genugtuung. „Ich hatte gedacht, dass eine Ehe mit einer jungen Frau aus gutem Hause, einer selbstständig denkenden jungen Frau, die Ihnen nicht im Weg steht und sich nichts mehr wünscht, als auf dem Land zu leben, Pferde und Hunde zu züchten und vielleicht auch Kinder zu bekommen, genau das gewesen wäre, was Sie sich wünschten. Eine Frau, die auf eigenen Füßen steht und Ihnen keine Schwierigkeiten macht.“ Sie hielt inne, um ihre Worte auf ihn einwirken zu lassen. Genau diese Vorstellung hatte er von einer zukünftigen Ehefrau gehabt, als Rose noch als Braut in Frage gekommen war. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wie dem auch sei, ich hätte meine ganze Überzeugungskraft aufbringen müssen, um Georgiana zu einer Ehe mit Ihnen zu überreden.“ Mit Befriedigung sah sie, wie seine Miene noch mehr versteinerte. „Es hätte mich nicht überrascht, wenn wir sie förmlich vor den Altar hätten zerren müssen“, fügte sie genüsslich hinzu. „Meine Nichte ist sehr eigensinnig und gibt nichts auf den Rat ihrer älteren, erfahreneren Verwandten. Sie, Sir, sind genauso dickköpfig. Ich möchte fast meinen, Sie hätten einander verdient, aber da Sie beide keinen Respekt vor der Institution der Ehe – und vor mir! – haben, will ich mit Ihnen nichts mehr zu tun haben.“ Aufrichtig entrüstet rauschte sie aus dem Zimmer.

„Ich bin nicht zu sprechen“, teilte Hart seinem Butler mit, nachdem Lady Salter gegangen war. „Für niemanden.“

Die Nachricht von seiner gescheiterten Hochzeit hatte sich wie ein Lauffeuer in der gehobenen Gesellschaft verbreitet. Seither hatten permanent Frauen an seiner Haustür geklingelt – Damen von Rang und Namen, die seine verletzten Gefühle streicheln und ihn geradewegs wieder auf den rechten Weg in eine Ehe zurückführen wollten, wenn schon nicht mit ihnen selbst, dann mit einer Tochter, Nichte oder Enkelin.

Zur Hölle mit ihnen allen. Er war fertig mit den Frauen – nein, nicht mit Frauen, mit Damen.

Er versuchte, sich wieder auf seine Korrespondenz zu konzentrieren, aber noch immer schwelte der Ärger in ihm. Was, zum Teufel, ging es andere an, ob er nun heiratete oder nicht? Er wusste, dass er irgendwann einen Erben brauchte, aber wozu die Eile? Er war ja noch nicht einmal dreißig. Und nur, weil er einmal ganz kurz davor gestanden hatte, hieß das nicht, dass er gewillt war, einen neuen Versuch zu unternehmen. Man sah ja, wie großartig das ausgegangen war.

Vor ein paar Tagen hatte seine ehemalige Braut ihn besucht, angeblich, um sich bei ihm zu entschuldigen. Doch dann hatte sie die Dreistigkeit besessen, ihn zu dem Ball einzuladen, der ursprünglich für seine Hochzeit geplant gewesen war – und mit dem nun die Rückkehr ihres Gatten von den Toten gefeiert werden sollte. Hart hatte nichts gegen den Mann, aber warum, zum Teufel, war er nicht ein, zwei Wochen eher zurückgekehrt? Das hätte ihnen allen viel Ärger erspart.

Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Ihm fiel ein, dass er dem Mädchen begegnet war, das Lady Salter ihm gerade hatte aufdrängen wollen. Lady Georgiana Rutherford hatte Rose bei deren kurzem Besuch begleitet. Ein langbeiniges, dunkelhaariges Frauenzimmer von ziemlicher Unverfrorenheit.

Sie hatte ihre Röcke hochgezogen, um ihre Beine vor dem Kamin zu wärmen, und sie dann in aller Seelenruhe wieder heruntergelassen, als er ins Zimmer gekommen war. Von Verlegenheit keine Spur. Ein Wildfang.

Verdammt hübsche Fesseln, erinnerte er sich.

Sie würde lieber mit Hunden und Pferden zusammenleben.

Er schnaubte. Von ihm aus gern.

„Wie bitte?“ Lady Georgiana Rutherford glaubte, nicht richtig gehört zu haben. „Du hast mich diesem … diesem … Duke angeboten? Wie ein … ein Stück Kuchen? Ohne wenigstens vorher mit mir darüber zu sprechen?“

George trank Tee im Salon mit ihrem Onkel Cal, seiner Frau Emm und ihren beiden Großtanten – der süßen und der sauren. Die Süße, Tante Dottie, strickte, nippte an ihrem Tee und bediente sich von den Marmeladentörtchen, die auf einem Teller lagen, immer abwechselnd. Ihre Schwester, Tante Agatha, saß stocksteif da, rümpfte die Nase über sie alle und verschmähte die angebotenen Erfrischungen.

Cal, der neben seiner Frau auf dem Sofa saß, lachte leise. „Wie ein Stück Kuchen, George? Eher wie eine Kratzbürste.“ Er biss in ein Mandelplätzchen.

Georgie beachtete ihn nicht, sondern starrte weiterhin aufgebracht Tante Agatha an. „Wie kannst du es wagen, ihm hinter meinem Rücken ein solches … solches Angebot zu machen?“

Tante Agatha machte eine wegwerfende Handbewegung. „Nun, irgendjemand muss ja einen Vorstoß unternehmen, um einen Ehemann für dich zu finden, und Emmaline ist gerade anderweitig damit beschäftigt, den Erben auszubrüten. Und da Roses ungeheuerliches Verhalten zu der peinlichen Situation geführt hat, dass der Duke plötzlich allein vor dem Altar stand, schuldet ihm diese Familie eine Wiedergutmachung.“

„Mag sein, aber wir schulden ihm nicht mich!“

Die alte Dame stellte ihre Tasse geräuschvoll ab. „Wenn ein Duke noch zu haben ist, trödelt man nicht lange, mein Mädchen!“

„Aber ich will keinen Duke! Ich will überhaupt keinen Ehemann, das habe ich doch schon mehrfach gesagt! Und selbst wenn, wäre Everingham der Letzte, den ich in Betracht ziehen würde!“ George wusste nicht genau, woran es lag, aber der Duke of Everingham reizte sie bis zur Weißglut mit seinem kalten, harten Blick und seiner gleichgültigen, arroganten Ausstrahlung, als hielte er sich für den Herrscher der Welt. Er konnte einen Dämpfer gut vertragen.

„Unsinn! Jedes Mädchen braucht einen Ehemann. Und auch, wenn es überhaupt nicht so aussieht, bist du nun mal die Tochter eines Earls. Deshalb musst du heiraten und deiner Familie Ehre machen.“

Es regte George maßlos auf, wie über ihre Meinung hinweggegangen wurde. „Ich nicht. Ich will keinen Ehemann, ich brauche auch keinen, und ich werde nicht zulassen, dass du oder sonst jemand einen für mich aussucht.“

„Sei nicht lächerlich, Kind.“

„Das ist nicht lächerlich, und ich bin kein Kind mehr. Ich bin fast zwanzig und …“

„Und damit schon über das Alter hinaus zu heiraten und deinem Onkel und deiner Tante nicht länger zur Last zu fallen. Ashendon und Emmaline gründen gerade ihre eigne Familie.“ Tante Agatha zeigte auf Emms gerundeten Bauch und musterte dann wieder ihre rebellische Großnichte scharf durch die Lorgnette.

George hob das Kinn und hielt ihrem Blick stand. Sie war sich nicht ganz sicher, ob die alte Dame die Sehhilfe tatsächlich brauchte, um besser sehen zu können, oder ob das ihre Waffe zur Einschüchterung anderer war. George jedenfalls ließ sich nicht von ihr einschüchtern.

Tante Agatha fuhr fort. „Ashendons Schwestern sind jetzt verheiratet, ihre Zukunft ist gesichert. Nun bist nur noch du übrig – ein schlecht erzogener, unweiblicher, unwissender Wildfang, der keine Ahnung von damenhaftem oder gar höflichem Benehmen hat und – schlimmer noch! – auch gar kein Interesse hat, sich dieses anzueignen. Du solltest dankbar sein, dass mir an deiner Zukunft gelegen ist.“

Dankbar? Für ungewolltes und unerwünschtes Einmischen in mein Privatleben?“ George war kurz davor zu platzen. Diese Beleidigungen taten ihr weh; auch wenn ein Funken Wahrheit in ihnen steckte, würde sie sich niemals von Tante Agatha unterkriegen lassen.

„Du kannst nicht erwarten, dass sich dein Onkel und seine Frau ewig um das Ungewollte und nicht anerkannte Kind seines verstorbenen Bruders kümmern – erst recht nicht, wenn dieses Kind nur Schwierigkeiten macht. Eine großmütige Geste ist eine Sache, ein peinlicher Klotz am Bein eine ganz andere.“

Emm richtete sich zornig auf. „George ist kein Klotz am Bein, Tante Agatha! Und peinlich ist sie auch nicht. Sie ist ein liebes, süßes Mädchen und ein geliebtes Mitglied unserer Familie. Wenn es nach mir geht, kann sie bei uns wohnen, bis … bis sie hundert ist!“ Sie hielt Cal ihre Hand hin, und der drückte sie zustimmend.

Tante Agatha winkte ab. „Aus dir spricht dein Zustand, Emmaline. Schwangere Frauen sind immer hysterisch.“ Sie wandte sich Cal zu. „Siehst du? Und schon wieder regt Georgiana deine Frau unnötig auf. Und gefährdet dadurch den Erben.“

„Ich bin hier nicht diejenige, die Leute aufregt“, murmelte George vor sich hin.

„Also wirklich, Tante Agatha“, begann Cal verärgert.

„Lass nur, Cal“, fiel George ihm ins Wort. „Was kümmern mich die gehässigen Ergüsse einer anmaßenden, aufdringlichen alten He…“

„George!“, warnte Emm. George schaute sie an und verkniff sich ihre restlichen Beschimpfungen. Mit Tante Agatha konnte sie jederzeit weiter streiten, aber Emm wollte sie auf keinen Fall aufregen.

Tante Agatha richtete sich auf und sah dabei aus wie eine wütende grauhaarige Gottesanbeterin. „Du schreckliches Mädchen! Noch nie im Leben habe ich mir derart infame, unhöfliche Dinge von einem Kind anhören müssen, das noch nicht einmal volljährig ist! Noch dazu von einem Mitglied meiner Familie!“

„Wenn dir der Schuh passt, zieh ihn ruhig an“, erwiderte George zuckersüß. „Wie dem auch sei, ich werde Cal und Emm nicht für immer zur Last fallen. An dem Tag, an dem ich fünfundzwanzig werde und mein Erbe ausbezahlt bekomme, verschwinde ich von hier, und dann braucht sich niemand mehr um mich zu kümmern.“

Tante Agatha schürzte die Lippen. „Das dauert ja noch mehr als fünf Jahre. Keinem jungen Ehepaar sollte es zugemutet werden, die Gesellschaft einer …“

„Ich habe Cal immer wieder gebeten dafür zu sorgen, dass ich Unterhalt bekomme, als Vorschuss auf mein Erbe. Er hat das stets abgelehnt, aber wenn ich dieses Geld hätte, wäre ich sofort weg!“

„Genau deshalb habe ich mich ja geweigert“, warf Cal energisch ein. „Hier geht es nicht darum, etwas oder jemanden zu ertragen, Tante Agatha. Emm und ich hängen sehr an George, und wie Emm schon sagte, darf sie gern solange sie will bei uns wohnen.“

„Genau! Wir lieben dich, George, und du fällst uns in keiner Weise zur Last“, pflichtete Emm ihm bei. „So, und nun wollen wir nicht mehr streiten, sondern in Ruhe unseren Tee genießen.“

Bei dem Wort Tee stand Georges Hund Finn auf, setzte sich neben Cal und fixierte den angebissenen Keks in dessen Hand mit kummervollem Blick.

George runzelte die Stirn. „Ich mache euch wirklich Schwierigkeiten, Cal, das kannst du nicht bestreiten“, sagte sie leise.

Cal wechselte einen Blick mit seiner Frau und lächelte bedächtig. „Sagen wir lieber, du bringst etwas Schwung in unser sonst relativ eintöniges Leben. Du und dein riesiger Hund, meine ich“, fügte er hinzu, als Finn ihn anstupste. „Und nein, Finn, das ist mein Plätzchen und nichts für Hunde.“ Damit aß er es ganz auf, und Finn legte sich niedergeschlagen auf den Boden.

Emm nickte. „Das Haus würde sich so leer anfühlen, nachdem Lily und Rose nicht mehr da sind. Wir könnten gar nicht ohne dich auskommen, George.“

George warf einen Blick auf Emms Bauch. Das Haus würde nicht mehr lange leer und das Leben nicht eintönig bleiben. Das Baby würde Emms ganze Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. „Trotzdem werde ich fortgehen, sobald ich fünfundzwanzig bin.“

„Darüber reden wir, wenn es so weit ist“, entschied Cal. „Niemand wird dich zu einer Ehe zwingen, George, aber ich möchte nicht, dass du allein lebst.“

„Warum nicht? Das habe ich den Großteil meines Lebens getan.“ Abgesehen von ihrer treuen Martha.

„Ein Umstand, den ich zutiefst bedauere“, erwiderte Cal grimmig. „Henry hätte verprügelt gehört, weil er sich nicht um dich gekümmert hat. Und weil er uns deine Existenz so lange verschwiegen hat! Aber nun bist du ein Teil unserer Familie, und deshalb wirst du bei uns bleiben.“

„Ich kann mich nie entscheiden, welche Törtchen mir besser schmecken, die mit Pflaumenmarmelade oder die mit Erdbeermarmelade“, bemerkte Tante Dottie in die eintretende Stille hinein. „Natürlich sind beide sehr gut, aber ich finde immer, rote Marmelade hat so einen fröhlichen Beigeschmack, nicht wahr?“

Die angespannte Stimmung lockerte sich etwas auf.

Tante Agatha stellte ihre Tasse klirrend ab. „Pah! Wenn das deine Einstellung ist, will ich mit dir nichts zu tun haben.“

„Aber die rote Marmelade ist wirklich die Süßeste, meine liebe Aggie. Kein Grund, sich darüber aufzuregen.“

„Ich rede nicht von der Marmelade, wie du sehr wohl weißt, Dorothea. Die Ehe ist die einzige Option für ein Mädchen unseres Standes.“ Durch die Lorgnette sah sie ihre Schwester an. „Wir haben bereits eine Versagerin in unserer Familie, noch eine können wir nicht gebrauchen.“

„Tante Dottie ist doch keine Versagerin!“, riefen Emm und Cal gleichzeitig aus.

Tante Dottie lachte leise. „Keine Sorge, meine Lieben, Aggie lässt es immer an anderen aus, wenn jemand ihr einen Strich durch die Rechnung macht oder sie verärgert ist. Das macht mir nicht das Geringste aus.“ Sie hielt ihrer Schwester den Teller mit den Törtchen hin. „Versuch diese einmal, Aggie, sie sind wirklich gut. Vielleicht versüßen sie ja deine Laune.“

Tante Agatha winkte empört ab. „Du isst viel zu viel von diesem Zeug. Kein Wunder, dass du so fett bist!“

„Sie ist nicht fett!“, brauste George auf. Tante Dottie war rundlich und kuschelig, und Georgie konnte sie sich gar nicht anders vorstellen, sie wollte sie auch gar nicht anders haben.

„Siehst du?“ Tante Dottie zwinkerte George zu. „Sie ist verärgert, und das lässt sie an der nächstbesten Person aus, für gewöhnlich an mir. Wie eine Wespe, das arme Ding. So war das schon in unserer Kindheit. Ich beachte ihre Sticheleien gar nicht, und das solltest du auch tun.“ Sie ließ die Hand über einem kleinen Teller mit Pralinen schweben und suchte sich sorgfältig eine davon aus. „Man muss das Leben genießen, Aggie, und ich genieße meins in vollen Zügen. Du deins auch?“ Sie steckte sich die Praline in den Mund und fing friedlich wieder an zu stricken.

Die folgende Stille wurde nur unterbrochen vom Klirren der Teelöffel in den Tassen und Kaugeräuschen hinter dem Sofa. Emm warf George einen fragenden Blick zu, die jedoch den Kopf schüttelte und in Cals Richtung nickte. Der wiederum versuchte, eine unschuldsvolle Miene aufzusetzen, und wich dem Blick seiner Frau aus.

„Nun, Tante Agatha, spann uns nicht länger auf die Folter – wie hat der Duke auf deinen Vorschlag reagiert?“, fragte er.

George schluckte und hatte plötzlich ein flaues Gefühl im Magen. Er hatte dem Vorschlag doch sicher nicht zugestimmt, oder? An die Reaktion des Dukes hatte sie überhaupt nicht gedacht, sie war viel zu wütend über die Einmischung ihrer Tante gewesen.

„Er hat natürlich abgelehnt, in unmissverständlichen Worten. Schließlich will kein Gentleman einen schlecht erzogenen, frechen Wildfang zur Frau“, fügte Tante Agatha mit kaum verhohlener Genugtuung hinzu.

„Das hat er gesagt?“, brauste George auf. „Wortwörtlich?“

Tante Agatha zog spöttisch eine Augenbraue hoch. „Was hast du denn erwartet? Dass ihm deine vielen Unzulänglichkeiten nicht auffallen würden? Ich habe mir ja alle Mühe gegeben, aber …“ Sie schüttelte ihren Rock aus, griff nach ihrem Stock aus Ebenholz und erhob sich. „Ich muss noch andere Besuche machen. Einen guten Tag euch allen. Ashendon …“

Cal stand auf und führte seine Tante aus dem Zimmer.

Ein schlecht erzogener, frecher Wildfang. „Wie kann er es wagen! Wie kann sie es wagen!“ George sprang auf und ging aufgebracht im Zimmer hin und her. Sie wusste nicht, auf wen sie wütender war, auf Tante Agatha oder auf den Duke of Everingham. Sie hätte sie beide umbringen können. Die Tatsache, dass Tante Agatha sie ihm angeboten und er abgelehnt hatte – obwohl sie ihn ganz sicher nicht haben wollte! –, empfand sie als große Demütigung. „Es steht ihm nicht zu, mich zurückzuweisen! Ich bin diejenige, die ihn zurückweist!“ Der Gedanke, dass sie gar nicht die Gelegenheit dazu gehabt und er sie zurückgewiesen hatte, ohne mit ihr gesprochen zu haben, war demütigend und äußerst ärgerlich zugleich.

„Er sieht aber ziemlich gut aus, nicht wahr?“ Tante Dottie hatte ihn nur einmal in der Kirche bei seiner geplatzten Hochzeit mit Rose gesehen. „Mir gefallen große, dunkelhaarige und etwas mürrisch aussehende Männer.“

„Gut aussehend, vielleicht“, erwiderte George. „Und mürrisch stimmt auch. Darüber hinaus ist er auch eiskalt, hochmütig, unhöflich und arrogant. Er sieht auf uns herab, als wären wir alle nur Gewürm und seiner Beachtung nicht wert.“ Sie war ihm nur ein paar Mal begegnet während der Vorbereitungen seiner Hochzeit mit Rose, aber sie hatte ihn auf Anhieb nicht gemocht. „Seine Freunde, von denen er nicht allzu viele haben dürfte, nennen ihn Hart – sein Nachname lautet Hartley –, aber in der Gesellschaft ist er bekannt als der Herzlose, sagt das nicht alles? Rose ist zum Glück noch einmal davongekommen, aber der Teufel soll mich …“ Sie verstummte mit einem Blick zu Emm. „Ich werde auf keinen Fall an ihrer Stelle das Opferlamm sein.“ Sie ballte die Fäuste. „Tante Agatha hatte kein Recht dazu!“

„Nein, das hatte sie nicht“, stimmte Emm zu. „Niemand wird dich zum Heiraten zwingen, Liebes, wenn du das nicht willst.“

„Nein. Aber Aggie meint es gut“, bemerkte Tante Dottie. „Oh ja, ich weiß, sie ist herrisch, mischt sich in alles ein und glaubt, sie weiß besser als alle anderen, was getan werden muss“, fuhr sie auf Georges überraschten Blick hin fort. „Außerdem hält sie uns alle für Schafe, die von ihr gehütet werden müssen. Doch dabei hat sie nur das Beste im Sinn.“

Fassungslos schaute George sie an. „Wie kannst du so etwas sagen?“

„Für Aggie ist die Ehe das A und O, und sie denkt, dass das für jeden gilt. Aber …“ Tante Dottie seufzte. „Sie hat drei Ehen hinter sich, und keine davon hat ihr Glück beschert. Reichtum, ja, aber Glück?“ Sie schüttelte den Kopf.

Emm legte eine Hand auf ihren Bauch. „Meinst du, weil sie nie Kinder gehabt hat?“

Wieder schüttelte Tante Dottie den Kopf. „Kinder sind natürlich ein Segen, aber Glück ist noch etwas ganz anderes. Ich habe nie geheiratet und nie Kinder gehabt, aber mein Leben war – und ist immer noch – glücklich. Das Geheimnis ist, meine liebe George, dass du genau erkennen musst, was dein Herz will, und dementsprechend deine Entscheidungen triffst. Ich habe im Leben immer selbst für mich entschieden und bereue nichts.“

Angesichts ihres friedvollen Gesichtsausdrucks und ihres heiteren Lächelns glaubte George ihr das sofort. Aber sie war nun mal nicht Tante Dottie und hatte nicht deren sanftes, sich mit allem abfindendes Gemüt. Wegen Tante Agathas Einmischung hätte George am liebsten laut geschrien – oder jemanden geschlagen, vorzugsweise den Duke, der sie so selbstgefällig abgewiesen hatte, wo sie ihn doch ohnehin nie gewollt hatte! Ihre Nerven waren zum Zerreißen angespannt; sie musste unbedingt nach draußen, um tief durchatmen zu können.

Doch vor ihr lagen noch ihre täglichen Verpflichtungen. Endlose, unerträgliche Besuche mit verschämten Fragen nach etwaigen Verehrern, nach der unglaublichen Rückkehr von Roses Mann von den Toten – dieser sieben Tage alte Skandal war immer noch in aller Munde – und, mehr oder weniger taktvoll, wie denn der arme Duke damit umging. Ein Duke, der am Altar von einem heruntergekommenen Niemand verdrängt wurde … Wie himmlisch skandalös das war!

Und dann waren da auch noch Georges Verehrer. Die eindeutigen Mitgiftjäger wimmelte Cal recht schnell ab, aber es gab immer noch mehrere Gentlemen, die, ähnlich wie Tante Agatha, nicht glauben wollten, dass sie es ernst damit meinte, nicht heiraten zu wollen.

Im besten Fall fand George solche Besuche anstrengend. Am heutigen Tag jedoch würden sie unerträglich sein.

„Ich muss an die frische Luft“, verkündete sie abrupt. „Ich will mit Sultan ausreiten.“

„Du bist doch schon heute Morgen geritten“, bemerkte Cal, der gerade wieder ins Zimmer kam.

„Ich brauche einen längeren Ausritt.“ Sie sah Emm an. „Es sei denn, du brauchst mich hier, Emm.“

„Nein, reite du nur aus und reagiere dich dabei ab, George. Wir haben hier alles im Griff; die letzten Antworten auf die Einladungen treffen langsam ein. Burton kümmert sich um die Vorbereitungen für den Ball, dabei ist er ganz in seinem Element, denke ich. Und Rose hat alle Hände voll damit zu tun, das neue Haus bereit für den Einzug zu machen …“

„Und arme Handwerker zu schikanieren“, ergänzte Cal schmunzelnd.

„Lily wiederum ist mit ihrem Mann verreist, ich weiß nicht, wohin“, fuhr Emm fort. „Du kannst also tun und lassen, was du willst.“

„Hauptsache, Kirk begleitet dich.“ Cal meinte den mürrischen schottischen Stallburschen, den er eingestellt hatte, damit er die Mädchen bei ihren Ausritten im Auge behielt.

„Ja, denn Cal wird mit mir einen kleinen Spaziergang machen, solange die Sonne noch scheint“, sagte Emm.

„Ach ja?“ Cal runzelte die Stirn.

„Ja, einmal durch den Park zu Gunter’s.“ Sie lächelte und zeigte ihre Grübchen. „Das Baby möchte noch etwas von dem köstlichen Pistazieneis, das sie dort machen.“

„So, so, das Baby möchte das … Nun, in dem Fall …“ Cal erhob sich und half seiner Frau beim Aufstehen.

An der Tür drehte Emm sich noch einmal zu George um. „Und nach dem Spaziergang werde ich Mittagsschlaf halten. Also entfliehe du nur den gesellschaftlichen Ärgernissen, nimm deinen Hund und dein Pferd …“

„Und Kirk“, erinnerte Cal sie.

„… und tobe dich eine Weile aus.“ Die gute Emm. Sie hatte immer Verständnis für sie.

„Aber nicht übertreiben!“, fügte Cal hinzu.

2. KAPITEL

Er hatte keinen schlechten Charakter, es sei denn, man würde eine gewisse Gefühlskälte und ein gewisses Maß an Egoismus als Makel eines Charakters verstehen …

Jane Austen, Vernunft und Gefühl

Natürlich hat die alte Schreckschraube versucht, mir etwas vorzumachen – sie ist die Patentante meiner Mutter, und den beiden traue ich alles zu. Ich sollte doch allen Ernstes glauben, das Mädchen sei an einer Ehe nicht interessiert.“ Hart schnaubte. Sie müsste sogar buchstäblich vor den Altar gezerrt werden, hatte die alte Dame behauptet! Dieses Detail behielt er allerdings für sich, als er seinem Freund Sinc von der Geschichte erzählte. Es war natürlich alles Unsinn und Sinc ein feiner Kerl, aber er neigte zu Geschwätzigkeit, vor allem nach ein paar Drinks. Hart hatte keine Lust, dass sich so etwas in der Gesellschaft herumsprach.

Sein Freund Sinc – Johnny Sinclair – war vorbeigekommen, kurz nachdem Lady Salter gegangen war. Eigentlich war er auf dem Weg zu seinem Boxverein gewesen, dann aber doch für ein kleines Mittagessen geblieben. „Lady George, also? Großartiges Mädchen. Die Art von Mädchen, mit dem ein Mann sich wohlfühlt.“

„Wohlfühlt?“ Hart war selbst überrascht, wie kalt seine Stimme klang.

Sinc schien das nicht aufzufallen. „Ja, sie hat keinerlei Allüren. Sie spricht immer genau das aus, was sie denkt, und so weiß ein Mann immer ganz genau, woran er ist. Sie ist nicht auf der Suche nach einem Ehemann und macht auch kein Geheimnis daraus. Sie will niemals heiraten, sondern auf dem Land leben und Pferde und Hunde züchten … nun, dagegen ist wohl nichts einzuwenden, oder?“

Hart war anderer Meinung. „Sie ist also ziemlich exzentrisch.“

Sinc schüttelte den Kopf. „So weit würde ich gar nicht gehen. Sie hat Scheu vor der Ehe, das ist alles. Laut meiner Schwester, die die Familie gut kennt, hat ihr Vater sie und ihre Mutter verlassen, als sie noch ein Baby war. Die Mutter starb, und Lady George ist allein und in Armut aufgewachsen. Ungeheuerlich – die Tochter eines Earls, und sie wusste es noch nicht einmal! Musste in einer einfachen Kate Hunger leiden.“ Er leerte sein Glas und hielt es Hart hin, um sich nachschenken zu lassen. „Genauso wenig wusste sie, dass sie noch lebende Familienangehörige hat, bis Ashendon sie fand und nach London zu seinen Halbschwestern brachte.“

„Rührende Geschichte“, bemerkte Hart trocken. Er glaubte nicht ein Wort davon.

„Ja, wirklich.“ Sinc nickte. „Kein Wunder, dass sie sich davor scheut, an die Leine gelegt zu werden. Es ist jedoch eine erfreuliche Abwechslung, mit einem hübschen jungen Ding zu tanzen und dabei zu wissen, dass es nicht insgeheim plant, dich zu ködern.“

Hart machte eine ungeduldige Handbewegung. „Sei nicht so naiv, Sinc, natürlich tut sie das. Sie geht nur etwas subtiler vor als andere, das ist alles.“

„Da spricht der ewige Zyniker. Nun, wenn sie so erpicht darauf ist, sich einen Ehemann zu angeln, warum hat sie dann ein halbes Dutzend Burschen abgewiesen, die ich kenne?“

Hart runzelte die Stirn. „Ein halbes Dutzend?“

„Mindestens. Da wären Porter, Yeovil, Trent …“, zählte er an den Fingern ab, „… Towsett, Belmore und wer noch? Ach ja, Morcombe. Und das sind nur die, von denen ich weiß.“

Towsett? Du meinst den Earl of?“ Sie waren mit ihm zur Schule gegangen. Aus dem langweiligsten Jungen, dem er je begegnet war, war der größte Wichtigtuer geworden.

Sinc nickte. „Genau der. Er ist vollkommen verrückt nach ihr und will ein Nein nicht akzeptieren. Sie hat ihn schon mehrfach abgewiesen, aber er ist fest entschlossen, sie mürbe zu machen.“ Er grinste. „Es ist der Lacher in den Clubs – so ein aufgeblasener Wichtigtuer und dieses lebhafte, eigenwillige Fohlen.“

Nachdenklich schwenkte Hart den Wein in seinem Glas. Towsett war eine mehr als blendende Partie für jedes Mädchen der Gesellschaft – adelig, vermögend und … solide, wenn einem so etwas gefiel.

„Ich habe auf Lady George gesetzt.“

Hart sah ihn scharf an. „Du schließt Wetten auf sie ab?“

Sinc grinste. „Himmel, ja, die Gewinnchancen sind unwiderstehlich. Die meisten setzen auf Towsett, nun ja, zugegeben, er ist ein sehr guter Fang. Die ganzen kupplerischen Mamas sind ihm dicht auf den Fersen – jede ihrer Töchter würde ihn mit Kusshand nehmen – aber er hat nur Augen für Lady George. Aber keiner kennt sie so gut wie ich. Sie ist nicht wie diese anderen Mädchen, sie ist ein Original. Sie zieht ihre Unabhängigkeit vor.“

„Also bist du zuversichtlich.“

Sinc hob schmunzelnd sein Glas. „Oh ja, natürlich werde ich gewinnen. Sie will nichts von ihm, erst recht keine Ehe, und genau das ist ja der Witz, weißt du. Kaum einer glaubt ihr, allen voran Towsett. Er kann sich nicht vorstellen, dass jemand ihm einen Korb gibt, schon gar nicht ein Mädchen wie Lady George.“

Hart zuckte die Achseln. „Da hast du ja deine Antwort – sie hat höher gesteckte Ziele.“ Einen Duke vermutlich.

„Zyniker. Wir werden ja sehen, wer von uns recht behält. Nun zu morgen Abend – was hältst du davon, in die Oper zu gehen? Nach einem Abendessen im Club, natürlich.“

Hart zog eine Braue hoch. „In die Oper?“ Das war der letzte Ort, an dem er sich Sinc vorstellen konnte. „Warum?“

„Monty hat ein Auge auf eine der Tänzerinnen geworfen, und die kleine Hexe führt ihn schwer an der Nase herum. Sie hat angedeutet, dass sie ihm morgen Abend eine Antwort geben wird, daher gehen ein paar von uns mit ihm, falls der arme Kerl hinterher Trost braucht. Montys Mama hat eine Loge. Also, kommst du nun mit oder nicht? Es könnte ganz lustig werden – das Gejaule natürlich nicht, aber zu beobachten, wie Monty versucht, die Kleine für sich zu gewinnen.“

Hart winkte ab. „Ich werde mit dir im Club essen, aber das ist auch alles.“ Er ging nicht gern in die Oper, und Montys Erfolg – oder Misserfolg – bei der Tänzerin war ihm völlig gleichgültig. Er wusste, es war eine reine Sache des Geldes; bot Monty ihr genug, würde sie ihm ihre Aufmerksamkeit schenken. Wenn nicht, würde sie sich einen anderen Beschützer suchen.

Tänzerinnen oder junge Damen der Gesellschaft – seiner Erfahrung nach waren sie alle gleich. Es kam nur auf das richtige Angebot an.

Georges Pferd Sultan trottete missmutig durch die überfüllten Londoner Straßen; das bunte Treiben – die Hunde, die Gassenjungen, die Karren, Fuhrwerke und Kutschen – widerte ihn gründlich an. Nein, das alles gefiel ihm nicht; George merkte es am unruhigen Spiel seiner Ohren und seiner gelegentlichen plötzlichen Anspannung. Die Monate in London hatten Sultan jedoch gelehrt, dass am Ende dieser schrecklich lästigen Straßen ein herrlicher Galopp wartete.

Es war schon zu spät am Tag, um noch einmal im Hyde Park auszureiten; es sei denn, man wollte sich im Schritttempo fortbewegen, Bekannte grüßen und nur ab und zu den Luxus eines gemäßigten Trabs für ganze fünf Minuten genießen. Das machte keinem von ihnen Spaß, auch Finn nicht, und so waren sie auf dem Weg zu den weiten Feldern und Wiesen von Hampstead Heath. Natürlich dauerte es viel länger, dorthin zu gelangen, aber das war es wert, und Emm hatte gesagt, sie hätte den Nachmittag frei.

Und Freiheit war genau das, wonach George sich sehnte.

Sie ritt voraus; Finn trabte neben ihr her, gänzlich unbeeindruckt von den kläffenden Straßenkötern. Kirk folgte ihr, wachsam Ausschau haltend nach möglichen Schwierigkeiten, aber sein Gesichtsausdruck war mürrisch wie immer. Er hatte diesen Ausritt schon oft mit ihr gemacht und fand normalerweise Gefallen daran – obwohl man ihm das nur schlecht ansehen konnte – doch an diesem Tag strahlte er grimmige Missbilligung aus.

Angefangen hatte es, als er sie vor den Stallungen angetroffen hatte, schon zu Pferd und bereit für den Ausritt. Für gewöhnlich holte er die Pferde und brachte sie zum Haus; ein stirnrunzelnder Blick auf sie hatte genügt. „Weiß Mylord, dass Sie in diesem Aufzug in die Öffentlichkeit gehen wollen?“

George lächelte. „Es geht nach Hampstead Heath. Ich will richtig reiten.“

„Das schickt sich nicht, Lady Georgiana, und das wissen Sie.“

„Es ist ein Hosenrock, hier, sehen Sie.“

Er schnaubte. „Und ein Männersattel.“

„Ach, tatsächlich?“ Sie tat erstaunt. „Und trotzdem sitze ich hier!“ Er wollte protestieren, doch sie fiel ihm ins Wort. „Ach, seien Sie doch nicht so spießig, Kirk. Sie wissen genau, dass ich schon Dutzende Male so ausgeritten bin – sogar wenn Cal dabei war.“

„Ja, in der Dämmerung, wenn sonst niemand unterwegs war. Aber jetzt ist helllichter Tag, und wir reiten durch die Stadt. Sie werden einen Skandal auslösen, Lady Georgiana.“

„Pah, niemand wird mich erkennen.“ Sie holte eine Männerkappe hervor und setzte sie auf ihr ohnehin kurzes Haar, dann zog sie sich den Schirm tief ins Gesicht. „Sehen Sie? Jetzt kommen Sie schon.“ Sie beendete die Debatte, indem sie zur Straße ritt.

Er schürzte die Lippen, folgte ihr aber, auch wenn seine Miene dabei finsterer war denn je.

„Sind Sie schon einmal im Damensattel geritten, Kirk?“ Er antwortete nicht und warf ihr nur einen vielsagenden Blick zu. „Nein, natürlich nicht. Und wie kommt das? Alle Männer erzählen uns immer, Damensättel seien so viel besser für Damen und dazu vollkommen sicher, aber kein Mann würde je einen benutzen. Und warum nicht? Weil solche Sättel töricht sind. Außerdem ist es viel schwieriger, damit zu reiten, und nicht etwa einfacher, weil man im Damensattel nämlich nur die Zügel, die Reitgerte und sein eigenes Gewicht hat, um das Pferd zu beherrschen; im Herrensattel hingegen kann man sein Pferd auch mit den Schenkeln antreiben …“

„Lady Georgiana!“, rief Kirk gequält.

Sie unterdrückte ein Grinsen. Das hatte sie ganz vergessen – Damen hatten keine Schenkel, und falls doch, durfte man sie mit keinem Wort erwähnen. „Wenn ich also vernünftig reiten will, brauche ich einen Herrensattel.“ Es gab nichts Schöneres, als im schnellen Galopp zu reiten, tief über den Hals des Pferdes gebeugt, das Gesicht im Wind und das Gefühl, eins zu sein mit dem kraftvollen Tier unter ihr. Ganz ohne Sattel war es sogar noch besser – so hatte sie damals reiten gelernt –, aber daran war gar nicht zu denken, nicht in London. Aber eines Tages, wenn sie wirklich frei war …

Es war nicht so, dass ihr ihr jetziges Leben überhaupt nicht gefiel. Sie mochte London nicht, mit all den Hunderten, Tausenden von Menschen, die sie fast erdrückten – wenigstens kam ihr das so vor. Und sie mochte den Schmutz und die Gerüche nicht. Wie kam es nur, dass der Londoner Schmutz so viel schlechter roch als der auf dem Land?

Auch verstummte der Lärm in London nie. Selbst nachts gab es rumpelnde Wagenräder, Schreie, Krach und lautstarke Streitereien, und obwohl es auf dem Land in der Nacht auch viele Geräusche gab – das Gebell eines Fuchses, das Heulen einer Eule und Hundegebell –, so waren es doch friedliche Geräusche.

Es gab jedoch Dinge, die sie an diesem Leben mochte. Zwar hatte Cal sie gegen ihren erbitterten Widerstand regelrecht in die Familie gezerrt – sie hatte nie eine Familie gehabt und war sich sicher gewesen, auch keine zu brauchen –, doch zu ihrem Erstaunen gefiel es ihr dort. Ihr gefiel das Gefühl der Zugehörigkeit, die Gesellschaft ihrer Tanten Lily und Rose, die eher wie Schwestern für sie waren. Und ihre angeheiratete Tante Emm, gleichzeitig Schwester, Freundin und Mutter für sie, war ein Segen. Sogar mit Cal hatte Georgie sich angefreundet, trotz seiner Besserwisserei.

Die Großtanten … Tante Dottie war wirklich ein Schatz, aber auf Tante Agatha hätte sie gern verzichtet. Wie konnte sie es wagen, sie diesem kalten, arroganten Duke anzubieten?

Je weiter sie London hinter sich zurückließen, desto besser wurde Georges Stimmung. Der Verkehr ließ nach; Lärm, Schmutz und Chaos der Stadt blieben hinter ihnen zurück. Braun und Grau wichen unzähligen Schattierungen von Grün, und die Luft fühlte sich sauberer und frischer an. George atmete sie tief ein, und mit jedem Atemzug fühlte sie sich leichter und beschwingter.

Auch Sultan merkte den Unterschied und begann vor Vorfreude zu tänzeln. George spürte seine kaum gebändigte Kraft und nahm die Zügel kürzer.

„Vorsicht, Lady George“, murmelte Kirk. „Er ist noch zu frisch und ausgeruht.“

Lady George, nicht Lady Georgiana – ihr Hosenrock war also vergeben und vergessen. Der gute, alte Kirk war fest davon überzeugt, dass Sultan zu stark, zu temperamentvoll und zu männlich für eine Dame war, und hatte ihr das auch schon oft gesagt. Sie konnte die Männer gar nicht mehr zählen, die ihr dasselbe gesagt hatten. Sie jedoch war bei Sultans Geburt dabei gewesen, hatte das Fohlen großgezogen und später ausgebildet. Sie verstanden einander blind.

Außerdem war George – Titel hin oder her – keine Dame.

Ein schlecht erzogener, frecher Wildfang … Sie verdrängte den Gedanken. Es war ihr egal, was der Duke über sie sagte.

Die Heide erstreckte sich vor ihnen, keine Menschenseele war zu sehen. George nahm die Kappe ab. „Kommen Sie, Kirk, wer zuerst bei der großen alten Eiche dort hinten am Waldrand ist!“ Ohne seine Antwort abzuwarten, preschte sie los, gefolgt von ihrem Hund Finn.

„Na, ist das nicht viel besser, als den Nachmittag im Jackson’s zu verbringen?“ Hart zeigte auf die Landschaft vor ihnen, endlose grüne Weiten, umsäumt von einem knorrigen, dunklen Wald.

„Ich dachte, du meinst den Hyde Park, nicht diese verdammte Wildnis.“

Hart schnaubte. „Hyde Park? Zu dieser angesagten Uhrzeit?“ Er konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen.

Mir macht es nichts aus, mit all den hübschen Damen Klatsch und Tratsch auszutauschen.“ Sinc stellte seinen Kragen auf. „Besser, als am Ende der Welt in einem eisigen Sturm zu erfrieren.“

Hart lachte. „Hör auf zu jammern. Das ist nur eine frische Brise, nichts weiter. Außerdem bläst sie die Spinnweben fort.“

„Spinnweben? An mir? Sei nicht albern. Meinen Diener würde der Schlag treffen. Was sage ich da? Mich würde der Schlag treffen!“

„Komm, lass uns zur Kuppe des Hügels reiten. Bei der Aussicht wirst du dich gleich besser fühlen.“ Er trieb sein Pferd zu einem leichten Galopp an.

Sinc folgte ihm murrend. Er hatte vorgehabt, den Nachmittag mit seinen Freunden und einigen Drinks in Jackson’s Boxclub zu verbringen. Sinc interessierte sich mehr für den geselligen Aspekt des Sports als für den kräftezehrenden, trotzdem war es nicht schwer gewesen, ihn stattdessen zu einem Ausritt zu überreden. Natürlich hatte er darauf bestanden, vorher nach Hause zu gehen und sich etwas Passenderes anzuziehen.

Sinc legte immer größten Wert auf elegante Kleidung, doch jetzt begriff Hart, dass sein Freund sich dieses Mal ganz besondere Mühe gegeben hatte, weil er davon ausgegangen war, im Hyde Park zu flirten, anstatt über die Heide vor der Stadt zu galoppieren.

Hart hielt sein Pferd auf der Kuppe des Hügels an und ließ den Blick über die Umrisse von London in der Ferne schweifen. Er konnte nur die Kuppel der St. Paul’s Cathedral ausmachen. Er versuchte gerade, noch weitere Gebäude zu erkennen, als das Geräusch galoppierender Hufe ihn dazu veranlasste, sich umzudrehen.

Ungefähr fünfzig Meter von ihm entfernt donnerte ein schimmernder schwarzer Hengst über die Heide; ein herrliches Geschöpf, schnell wie der Wind, kraftvoll und doch anmutig. Ein Vollblut, eindeutig ein Araber.

Ein Junge klammerte sich an ihn, tief über den Hals des Hengstes gebeugt, wie ein Jockey bei einem Pferderennen. Er ritt, als wäre er im Sattel geboren. Kein Gentleman, nein, ein Lehrling vielleicht. Oder ein junger Stallbursche. Wer war der Narr, der einen Jungen dafür bezahlte, so ein prachtvolles Pferd zu bewegen?

Dem Jungen folgte ein großer grauer Hund. Weiter hinter ihnen erschien ein weiterer, etwas untersetzter Reiter – noch ein Stallbursche? Es war schwer zu sagen, ob er zu dem schwarzen Hengst gehörte oder nicht.

Während Hart Pferd und Reiter weiter beobachtete, blitzte eine Erinnerung in ihm auf, ein flüchtiger Eindruck, dieses Pferd und diesen Reiter schon einmal irgendwo gesehen zu haben …

Doch dann hatte Sinc ihn eingeholt, und Hart wurde von seinem Gedanken abgelenkt. „Brr, hier oben ist es ja noch kälter! Können wir nicht langsam nach Hause reiten?“

Hart konnte den Blick nicht von dem Hengst wenden. „Was für ein herrliches Tier.“

„Hm? Oh ja, sehr hübsch“, bemerkte Sinc. Er interessierte sich nicht besonders für Pferde.

„Verdammt, dieses Tier muss ich kaufen.“ Ohne weitere Erklärung trieb Hart sein Pferd an und nahm die Verfolgung auf. Sinc rief irgendetwas, aber der Wind trug seine Worte fort, und Hart war ohnehin viel zu sehr darauf konzentriert, den Hengst einzuholen.

Langsam wurde der Abstand zwischen ihnen kürzer. Der Junge sah über die Schulter hinweg zu Hart, ein kurzes Aufblitzen heller Augen, und dazu eine finstere Miene.

„He, du, ich will dich etwas fragen“, rief Hart.

Der Junge ignorierte ihn, und der Hengst wurde schneller.

Hart trieb auch sein Pferd an. „Warte! Ich möchte dein Pferd kaufen!“, brüllte er. „Wer ist der Besitzer?“

Junge und Pferd bogen scharf links ab und preschten einen steilen Hang hinunter. Hart folgte ihnen auf ein sumpfiges Stück Wiese zu. Matsch spritzte von den Hufen des Hengstes in Harts Gesicht, aber er wischte ihn nicht fort. Die Entschlossenheit des Jungen, ihm zu entkommen, war ärgerlich, aber die wilde Jagd selbst war berauschend.

Wieder ging es einen Hügel hinauf. Immer schneller werdend strebte der Hengst auf ein dicht bewaldetes Gebiet zu. Er war stärker und schneller als Harts Pferd, und weil er das leichtere Gewicht des Jungen trug, hatte Hart keine Chance gegen die beiden. „Anhalten, verdammt! Ich will doch nur mit dir reden!“, brüllte Hart frustriert.

Am Waldrand blickte der Junge sich noch einmal um. Hart sah das Aufblitzen weißer Zähne und eine Handbewegung, die durchaus ein übermütiges Winken hätte sein können, oder – Hart kniff die Augen zusammen – eine sehr unanständige Geste.

Vor sich hin fluchend ritt Hart langsam zu Sinc zurück, der zusammengesunken im Sattel saß.

„Hast du dich gut amüsiert? Ich bin fast steif gefroren. Aber natürlich, als dein ältester Freund bin ich nur zu gern bereit, ein Eisblock zu deinen Diensten zu werden.“

Hart überhörte den Sarkasmus. „Der kleine Bengel hat sich geweigert anzuhalten. Dabei wollte ich doch nur den Namen des Besitzers wissen.“

„Ist das alles? Nun, dann hättest du auch mich fragen können, das hätte dir die ganze Hatz erspart. Weißt du, dass dein Gesicht voller Schmutzspritzer ist? Und deine Stiefel …“ Sinc schüttelte sich.

Wie bitte? Du weißt, wem dieses Pferd gehört? Wer ist es?“

„Hast du kein Taschentuch dabei?“ Sinc betrachtete kritisch das Gesicht seines Freundes. „Ich habe noch ein sauberes, falls du eins brauchst. Mit so einem schmutzigen Gesicht kannst du dich nicht sehen lassen.“

Entnervt zog Hart ein Taschentuch hervor und rieb damit über sein Gesicht. „So! Und wem gehört nun das verdammte Pferd?“

„Da ist noch etwas. Genau da.“ Er zeigte auf sein eigenes Gesicht.

Hart rieb über die entsprechende Stelle. „So, du sagst mir jetzt sofort, wem dieser verdammte Hengst gehört, sonst erwürge ich dich!“

„Oh, sie wird ihn aber nicht verkaufen.“

Sie? Du meinst, der Besitzer ist eine Frau?“ Törichte Frau, ein so wertvolles, temperamentvolles Pferd einem Jungen anzuvertrauen. Obwohl er zugeben musste, dass der Junge wirklich reiten konnte. Ganz ausgezeichnet sogar. Wenn er den Hengst kaufte, konnte er dem Jungen vielleicht eine Stelle anbieten.

„Ja, natürlich. Wusstest du das nicht?“

„Woher soll ich das wissen?“ Er blinzelte. „Willst du andeuten, dass ich die Besitzerin kenne? Wer ist sie? Wo kann ich sie finden?“

Sinc warf ihm einen seltsamen, belustigten Blick zu und nickte dann in die Richtung, in die der Hengst und sein Reiter verschwunden waren. „Du hast sie doch gerade eben gesehen!“

Hart sah sich um, konnte aber nirgends eine Frau entdecken. „Wo?“

„Auf dem Hengst. So wie es aussieht, hat sie dich ordentlich an der Nase herumgeführt.“

Hart starrte ihn an. Der Reiter war eine Frau? Gott, konnte diese Frau reiten! Genau genommen … Seine Augen wurden schmal. Irgendetwas an ihr war ihm bekannt vorgekommen … „Wer …?“

„Wenn du dich je aufraffen könntest, im Hyde Park auszureiten, wärst du Pferd und Besitzerin dort längst begegnet. Sie und ihre Familie reiten da fast jeden Morgen – in aller Frühe. Praktisch bei Anbruch der Morgendämmerung“, fügte Sinc hinzu und schüttelte sich.

Hart zog die Brauen hoch. „Wie kommt es, dass du sie dann gesehen hast? Du stehst doch fast nie vor Mittag auf!“

„Auf dem Nachhauseweg, natürlich! Ich sehe oft den Tagesanbruch nach einer durchzechten Nacht.“

„Und wer ist nun diese Familie, die so furchtlos zu solch einer Uhrzeit ausreitet?“

Sinc grinste. „Das ist die Familie, in die du beinahe eingeheiratet hättest.“

Hart verschlug es die Sprache.

Sinc lachte leise. „Ja, das war Lady George Rutherford, die du eben verfolgt hast. Ich habe dir ja gesagt, sie ist ein Original.“

3. KAPITEL

Er legte größten Wert darauf, in seiner Bibliothek ungestört und in Ruhe arbeiten und lesen zu können. Er war gern bereit, in jedem anderen Raum seines Hauses nur Torheit und Einbildung anzutreffen, aber seine Bibliothek wollte er frei davon wissen.

Jane Austen, Stolz und Vorurteil

Es war ein heißer Nachmittag. George, Tante Dottie und Emm überquerten gerade den Berkeley Square auf dem Weg zu Gunter’s, wo sie sich Eis kaufen wollten, als sie Aufschreie und lautes Kläffen vernahmen.

Eine elegant gekleidete ältere Dame sprang entsetzt auf und ab, wedelte mit den Händen und schrie ein ganzes Rudel Hunde an, das sich wenige Meter von ihr entfernt drängelnd und schnappend um etwas zu scharen schien.

„Das ist Milly Prescott!“, rief Tante Dottie aus.

„Foofoo!“, klagte Mrs. Prescott verzweifelt. „Hört auf, ihr Ungeheuer! Meine arme kleine Foofoo!“

George erkannte das Problem. Inmitten des Hunderudels saß ein kleiner, zarter Pekinese mit rosa Bändchen im Fell, dem die ungestüme Aufmerksamkeit von einem Dutzend struppiger Straßenköter zuteilwurde.

„Sitz und bleib!“, befahl sie Finn, der beträchtliches Interesse an der Szene zu haben schien. Nur widerstrebend gehorchte er. George schob sich beherzt in das Getümmel, hob den kleinen Hund auf und überreichte ihn der Dame. Dann verscheuchte sie energisch die anderen Hunde, die sich ein paar Meter zurückzogen und hoffnungsvoll abwarteten.

Ein mutiges, verliebtes Tier wagte sich vor und sprang Mrs. Prescott an, um zu Foofoo zu gelangen. Mrs. Prescott schrie auf, George brüllte den zudringlichen Verehrer an, und Finn tat knurrend einen Satz nach vorn. Alle Hunde wichen wieder zurück.

„Oh, Sie mutiges, mutiges Mädchen, Lady Georgiana! Ein Wunder, dass Sie nicht gebissen worden sind – Sie sind eine wahre Heldin! Danke, danke!“, rief Mrs. Prescott. „Gott, ich zittere immer noch am ganzen Leib! Diese schrecklichen Ungeheuer tauchten ganz plötzlich auf und griffen mein armes, kleines Baby an!“

George warf Emm und Tante Dottie einen Blick zu, die beide versuchten, ein Lächeln zu unterdrücken. „Hm … sie haben sie nicht angegriffen“, wandte sie ein.

„Doch, doch, Sie haben es doch gesehen! Ach, meine arme kleine Foofoo, ist alles in Ordnung mit dir, mein Liebling?“ Sie untersuchte den kleinen Hund besorgt und ordnete die rosa Bändchen. „Mama ist jetzt ja da, Schätzchen. Diese bösen Hunde werden dir nichts mehr tun.“

„Doch, das werden sie schon noch“, sagte George. „Es sei denn, Sie sperren Foofoo die nächsten paar Wochen ein.“ Die Hunde hatten sich zwar etwas zurückgezogen, sahen aber alle erwartungsvoll zu der kleinen Foofoo, die sich zappelnd wand, um wieder heruntergelassen zu werden.

„Einsperren? Warum sollte ich das tun? Foofoo liebt ihre Spaziergänge im Park.“

„Ja, aber es ist gerade ihre Zeit“, erklärte George, und als die Dame sie nicht zu verstehen schien, fügte sie hinzu: „Sie ist läufig. Diese Hunde wissen das, sie können es riechen.“

Mrs. Prescott machte ein entsetztes Gesicht. „Riechen? Aber ich habe sie erst heute Morgen mit meiner eigenen Seife gewaschen und gebadet! Und warum sollten sie sie deshalb angreifen? Ich benutze dieselbe Seife, und mich haben sie nicht angegriffen!“

George fiel keine andere Erklärung mehr ein, jedenfalls keine höfliche. Hilfesuchend sah sie sich nach Emm um.

„Was meine Nichte meint, Mrs. Prescott, ist, dass Ihre Hündin jetzt schwanger werden kann.“ Dabei strich sie mit der Hand sanft über ihre eigene gewölbte Mitte.

Mrs. Prescott schaute auf Emms Bauch, verstand endlich und schnappte erschrocken nach Luft. „Nein, das kann gar nicht sein! Dafür ist meine kleine Foofoo noch viel zu jung! Sie ist doch noch ein Welpe!“

„Sie ist kein Welpe mehr, und diese Köter wissen das“, teilte George ihr unverblümt mit. „Also halten Sie sie in den nächsten Wochen von anderen Hunden fern.“

„Das werde ich, oh ja, ganz bestimmt! Ich danke Ihnen so sehr, meine liebe, mutige Lady Georgiana! Ihnen einen guten Tag, Lady Ashendon, Lady Dorothea.“ Mrs. Prescott eilte davon und presste Foofoo fest an sich, die mit wehmütigem Blick und schwanzwedelnd ihren Bewunderern nachsah.

„Sie ist letztes Jahr Witwe geworden“, erklärte Tante Dottie. „Sie hat keine Kinder, und ihr Ehemann war ein kalter, hartherziger Mensch, der ihr nie erlaubt hat, ein Haustier zu halten. Foofoo ist ihr erstes.“

„So wie diese Hunde eben auf Foofoo reagiert haben, ist es vielleicht nicht mehr lange ihr einziges“, bemerkte George trocken.

Emm brach in helles Gelächter aus. „Georgie, Liebes, du bringst so viel frischen Wind in unser Leben! Bleib bitte immer so, wie du bist.“

„Dem stimme ich zu“, sagte Tante Dottie. „Und jetzt – Eiscreme!“

Am darauffolgenden Nachmittag läutete es wieder an der Haustür des Dukes. Die Glocke hatte den ganzen Tag immer wieder geläutet – vergeblich. Mit zufriedener Miene beugte Hart sich wieder über seine Korrespondenz. Die klatschsüchtigen Geier würden ihr Glück hier nicht finden. Fleming hatte seine Anweisungen.

Er starrte auf den Brief, den er gerade zu schreiben versuchte. Das war schwieriger, als er es sich vorgestellt hatte. Am vergangenen Abend hatte er dem Earl of Ashendon eine Nachricht geschickt, dass er den schwarzen Hengst gern kaufen würde. Er erwähnte nicht, dass er die Nichte des Earls auf dem Pferd gesehen hatte und erst recht nicht, dass der junge Wildfang im Herrensattel geritten war. Er war sich sicher, dass Sinc unrecht hatte mit seiner Behauptung, der Hengst gehöre dem Mädchen.

Doch an diesem Morgen war eine kurze Nachricht vom Earl eingetroffen mit der Mitteilung, dass der Hengst Lady Georgiana gehörte und sie ihn sicher nicht verkaufen wollte. Wenn Everingham jedoch Interesse an ihm als Deckhengst für eine seiner Stuten hätte, würde sie das eventuell in Betracht ziehen. In dem Fall sollte Everingham sich direkt an sie wenden.

Das war lächerlich. Ashendon hatte auf ihn immer den Eindruck eines vernünftigen Mannes gemacht, aber wenn er seiner Nichte gestattete, ihr Pferd selbst als Deckhengst vorzuschlagen … Ein junges, unverheiratetes Mädchen sollte keine Ahnung von der Pferdezucht haben und sie erst recht nicht selbst betreiben.

Er beendete den Brief, in welchem er ihr ein großzügiges Angebot für den Hengst gemacht hatte – er dachte nicht im Traum daran, mit einer Dame über Pferdezucht zu diskutieren –, adressierte und versiegelte ihn, dann widmete er sich wieder seiner geschäftlichen Korrespondenz, die viel unkomplizierter war.

Kurze Zeit später ließen ihn Stimmen, darunter die einer Frau, in der Eingangshalle aufhorchen. Was zum Teufel…?

Sein Butler klopfte diskret an und steckte den Kopf zur Tür herein. „Euer Gnaden, verzeihen Sie die Störung, aber …“

„Welchen Teil von ich bin nicht zu sprechen haben Sie nicht verstanden, Fleming?“

„Es tut mir leid, Euer Gnaden, aber …“

„Was für ein Unsinn, für mich ist mein Sohn doch bestimmt zu sprechen“, ertönte eine sanfte Stimme an der Tür.

Sein Butler warf ihm einen gequälten, um Verzeihung bittenden Blick zu. Hart winkte ab. Er mochte zwar verärgert sein, aber er verstand den Mann auch. Die meisten Männer reagierten hilflos auf seine Mutter.

Die Duchess of Everingham schob sich an dem Butler vorbei, ein Inbegriff zarter, hilfloser Zerbrechlichkeit. Hübsch und immer noch recht jugendlich wirkend – sie gab nie zu, über vierzig zu sein, aber da er selbst achtundzwanzig war, konnte sie es kaum abstreiten – pflegte sie diese Ausstrahlung, die bei manchen Männern sofort Beschützerinstinkte auslöste.

Er gehörte nicht zu ihnen.

„In der Bibliothek, Redmond?“, klagte sie. „Du empfängst deine Mutter in der Bibliothek?“

Er zeigte auf die Papiere auf seinem Schreibtisch. „Ich arbeite.“

Seine Mutter schmollte, trippelte durch das Zimmer und ließ sich anmutig in den bequemsten Sessel fallen, wobei sie erschöpft seufzte. Sie wurde begleitet von ihrer neuesten Gesellschaftsdame, einer farblosen Frau in deprimierendem Grau, die in den Händen ein großes Retikül hielt.

Er nickte ihr zu. Sie war irgendeine entfernte Cousine; Harriet? Henrietta? Ihr Name fiel ihm nicht ein. Seine Mutter wechselte ihre Gesellschaftsdamen so oft, dass man fast den Überblick verlor. Sie alle fingen „hingebungsvoll“ an, wurden aber nach ein paar Monaten „unmöglich“, und Hart musste sie in Pension schicken.

Die Gesellschaftsdame brachte nun eine Reihe kleiner Flakons zum Vorschein, die sie auf dem kleinen Tisch neben dem Sessel seiner Mutter aufstellte. Riechsalze, Hirschhorn, Federn zum Verbrennen und diverse Tränke, die alle selbst den schwächsten Invaliden wiederbeleben konnten.

Nicht, dass seine Mutter invalide gewesen wäre. Manche behaupteten, die Duchess of Everingham genieße ihre angegriffene Gesundheit. Hart hätte sogar gesagt, dass sie sie nicht nur genoss, sondern geradezu darin schwelgte. Seiner Meinung nach war sie stark wie ein Pferd.

Die Arzneien dienten nur als stumme Warnung, dass es fatale Folgen haben würde, wenn man sich ihren Wünschen widersetzte. Diese Lektion hatte Hart schon beizeiten gelernt.

Die Gesellschaftsdame zog nun ein Tuch aus dem scheinbar bodenlosen Retikül und breitete es über den Knien seiner Mutter aus. Ihre Gnaden hasste Zugluft.

„Ach, mach nicht so viel Aufhebens um mich, Hester“, sagte seine Mutter gereizt. „Geh und lass uns allein. Ich möchte mit meinem Sohn sprechen.“

Hester reichte ihr eine kleine Kristallphiole – vermutlich noch ein Riechsalz – und drehte sich zu Hart um. „Versuchen Sie, sie nicht aufzuregen, Euer Gnaden. Sie fühlt sich heute sehr schlecht“, sagte sie leise.

Wann tat sie das nicht? Vor allem, wenn sie etwas von ihm wollte, aber das sagte er nicht laut. Er sah zur Tür, wo noch immer sein Butler stand. „Tee und Gebäck, Fleming.“

„Oh nein, das vertrage ich nicht“, wehrte seine Mutter ab. „Nur etwas Gerstenwasser, bitte, mit Honig und einer Scheibe Zitrone. Und vielleicht ein Stück Zwieback.“

Fleming verneigte sich, ging und nahm die Gesellschaftsdame mit. Stille kehrte ein. Hart widmete sich wieder seiner Korrespondenz. Seine Mutter seufzte. Er schrieb weiter.

„Ich vermisse dieses Haus so sehr.“

Hart beachtete sie gar nicht. Sein Leben lang hatte seine Mutter sich über die Unbequemlichkeit und die altmodischen Möbel in Everingham House beklagt und behauptet, es wäre zu groß, zu abweisend und zu kalt. Sein verstorbener Vater hatte ein Vermögen ausgegeben bei dem Versuch, ihr eine Freude zu machen, aber immer vergebens.

Papa hatte nie daraus gelernt. Hart jedoch schon.

Vor ein paar Jahren hatte er endlich nachgegeben und ihr ein hübsches Haus gleich um die Ecke gekauft. Es war kleiner, heller, wärmer und moderner. Sie hatte es komplett neu eingerichtet und war glücklich eingezogen, während sie gleichzeitig ihren Freundinnen traurig anvertraut hatte, ihr Sohn hätte seine Mutter hartherzig aus dem Zuhause ihrer Familie verbannt.

Er selbst hatte zu der Zeit in einer Junggesellenwohnung gelebt und Everingham House geschlossen. Im vergangenen Jahr jedoch, als er beschlossen hatte zu heiraten, hatte er es wieder geöffnet, renoviert und Teile davon modernisiert – vor allem die Küchen und die Rohrleitungen –, ehe er wieder eingezogen war.

Natürlich hatte seine Mutter sich sofort verzweifelt danach gesehnt, auch wieder hier zu wohnen.

Sie seufzte erneut und ergriff, als er keine Anstalten machte, seine Korrespondenz zu unterbrechen, mit klagender Stimme das Wort. „Es erschöpft mich über alle Maßen, aus dem Haus zu gehen, weißt du.“

„Warum tust du es dann?“

„Weil ich verzweifelt bin, Redmond, völlig verzweifelt.“

Er schrieb weiter.

„Verzweifelt wegen dir und deiner Situation, Redmond!“ Sie schien selbst zu merken, wie gereizt sie klang, und fügte abmildernd hinzu: „Mein Lieber.“

Er hob nicht einmal den Kopf. „Mach dir meinetwegen kein Kopfzerbrechen, Mutter. Das ist wirklich unnötig.“

„Es ist sehr wohl nötig, mein Sohn! Diese schreckliche, abgebrochene Trauung, der Klatsch, der Skandal, diese Schande! Dieser unsägliche Makel auf dem guten Namen unserer Familie! Ich würde am liebsten vor Scham im Erdboden versinken.“ Sie erschauerte, zog den Stöpsel aus dem winzigen Flakon und nahm einen tiefen Atemzug, um sich zu stärken.

Hart sagte nichts, es hatte auch keinen Zweck. Dieses Gespräch hatten sie schon unzählige Male geführt. Ja, es gab Klatsch, aber so etwas hielt nie lange an. Und wenn sie nicht so oft zu Festen gegangen wäre – wozu sie sich selbstverständlich zwingen musste –, hätte sie sich das alles gar nicht anhören müssen.

„Mach dir keine Gedanken, mein Sohn, ich versuche, das alles zu ertragen“, verkündete seine Mutter tapfer. „Um dich mache ich mir Sorgen, mein Lieber! Ich dachte, du hättest endgültig einen eigenen Hausstand gegründet, sodass ich endlich in Frieden gehen kann.“ Sie lehnte sich ermattet in ihrem Sessel zurück und schloss die Augen.

„Wohin möchtest du denn gehen, Mutter? Wieder nach Bath?“ Er löschte die Tinte auf seinem Brief, faltete ihn zusammen und griff nach dem Siegelwachs. „Oder vielleicht eine Anwendung mit Meerwasser? Ich habe gehört, dass das erfrischende Eintauchen in das salzige, kalte Meerwasser den Menschen sehr gut tun kann.“

Sie schüttelte sich und drückte den Flakon an ihren Busen. „So etwas würde mich umbringen.“

„Nur, wenn du dabei ertrinkst, und ich glaube, es gibt in den Badebereichen kräftige Frauen, die genau das verhindern sollen. Das Ganze ist vollkommen sicher.“

Sie richtete sich wieder auf und schaute ihn empört an. „Sei nicht so begriffsstutzig, Redmond … mein lieber Junge. Du musst wissen, dass das Einzige, das mich am Leben hält – das Einzige – mein Wunsch ist, dich endlich sesshaft zu sehen. Verheiratet.“

„Dann werde ich mit einer Hochzeit noch endlos lange warten und dir so ein langes Leben bescheren.“

„Nein! Nein … ach, du ziehst mich nur auf, und das darfst du nicht.“ Sie schwenkte erschöpft den Flakon mit dem Riechsalz. „Dr. Bentink sagt, ich wäre in sehr schlechter Verfassung, und jeder Schock, selbst ein nur ganz leichter, könnte mich dahinraffen.“

Hart gab sich gar nicht erst die Mühe, darauf zu antworten. Dr. Bentink wusste schon, wo etwas zu holen war.

Fleming kehrte zurück, begleitet von einem Lakaien, der ein Teetablett mit einer Teekanne, zwei Tassen, einem Glas Gerstenwasser, Zwieback und einem Teller köstlich aussehender Cremetörtchen hereinbrachte.

Die Duchess winkte ab. „Ach, wie reizend, aber ich kann nicht, ich bringe keinen Bissen herunter.“

„Sie müssen bei Kräften bleiben, Eure Gnaden“, murmelte Fleming. Er holte einen kleinen Tisch und stellte ihn neben den Sessel der Duchess. Er schenkte Tee ein, fügte Milch und zwei Stück Zucker hinzu und rührte gründlich um, ehe er die Tasse, das Glas Gerstenwasser, den Zwieback und einen Teller mit zwei rosafarbenen Cremetörtchen auf dem Tischchen abstellte. Für Hart bereitete er eine Tasse mit schwarzem Tee ohne Zucker vor und platzierte sie neben den Sessel gegenüber seiner Mutter.

„Ich mache das nur noch eben fertig.“ Hart versiegelte und adressierte den Brief. Als er den Kopf hob, sah er, dass auf dem kleinen Teller seiner Mutter noch immer die beiden Törtchen lagen, aber auf dem größeren fehlten bereits ein paar. Wie immer hatte Fleming seine Mutter genau richtig eingeschätzt.

Hart verließ seinen Schreibtisch, nahm ihr gegenüber Platz und trank einen Schluck von seinem Tee.

„Ich kann nichts essen, Redmond, mir ist so elend.“

Hart trank weiter Tee.

„Vielleicht etwas Zwieback. Manchmal muss man sich zwingen, seinen Liebsten zuliebe.“ Sie nahm einen Zwieback und spielte damit herum. „Die liebe Lady Salter …“

„War gestern bei mir mit deinem neuesten Vorschlag einer Heiratskandidatin. Ich habe sie abblitzen lassen.“

Seine Mutter hielt den Atem an. „Sag mir nicht, dass du unhöflich zu ihr warst, Redmond! Sie ist nicht nur meine Patentante, sondern auch eine meiner liebsten Freundinnen.“

„Ich war eher ehrlich als unhöflich, und ich sage dir jetzt, was ich auch ihr gesagt habe. Hör auf, dich in mein Leben einzumischen, Mutter, oder …“ Er verstummte, als seine Mutter in sich zusammensank und offenbar gequält nach Luft rang. Er wartete. 

Nach einer Weile bemerkte sie seine Gleichgültigkeit und atmete wieder normal. „Oder?“

„Oder ich drehe den Spieß einfach um.“

Autor

Anne Gracie

Schon als junges Mädchen begeisterte sich Anne Gracie für die Romane von Georgette Heyer – für sie die perfekte Mischung aus Geschichte, Romantik und Humor. Geschichte generell, aber auch die Geschichte ihrer eigenen Familie ist Inspirationsquelle für Anne, deren erster Roman für den RITA Award in der Kategorie beste...

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