Verführe mich – nur für eine Nacht!

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Matthieu Montcour hat gelernt, seine Gefühle unter Verschluss zu halten. Nach einem furchtbaren Unglück ist der Körper des millionenschweren Geschäftsmannes von Narben entstellt. Doch der sinnlichen Maria gelingt es, seinen Schutzwall zu durchbrechen. Nur eine einzige Nacht will Matthieu mit ihr verbringen und dann für immer aus ihrem Leben verschwinden. Zu tief sitzt die Angst, verletzt zu werden. Aber unerwartet taucht Maria bei ihm auf … mit einer Nachricht, die alles verändert!


  • Erscheinungstag 28.07.2020
  • Bandnummer 2451
  • ISBN / Artikelnummer 9783733714291
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Nein, nein, nein!

Was um alles auf der Welt hatte sie nur getan! Nach ihrem Streit mit Theo war Maria aus dem luxuriösen Ballsaal des Hotels La Sereine geflohen. Sie zitterte beim Gedanken an das Entsetzen, das sich in seinem Gesicht und dem seiner Verlobten widergespiegelt hatte, als ihr aus Versehen herausgerutscht war, er habe überhaupt nicht vor, Sofia zu heiraten. Theo Tersi – der Mann, den sie sechs lange Jahre zu lieben geglaubt hatte.

Dass das nie der Fall gewesen war, hatte sie in dem Moment erkannt, als sie die Fassungslosigkeit und Trauer in den Augen der beiden Verlobten gesehen hatte. Für einen solchen Schmerz hätte das, was sie für Theo empfand, niemals gereicht.

Maria Rohan de Luen holte tief Luft, während ihr heiße Tränen über die Wangen liefen. Tränen, die sie um die beiden weinte, aber auch um sich selbst. Denn sie wusste, dass sie zwischen Theo und Sofia womöglich genau das zerstört hatte, wonach sie selber sich schon so lange sehnte. Und sie wusste auch, dass das, was sie für Theo zu empfinden geglaubt hatte, nichts anderem entsprungen war als dem verzweifelten Bedürfnis, geliebt zu werden.

Für diese Schwäche verfluchte sie sich im Stillen. Am liebsten wäre sie wieder in den Ballsaal zurückgekehrt, um Sofia und Theo um Verzeihung zu bitten. Aber tief im Innersten wusste sie, dass sie eher noch mehr Schaden anrichten würde, und so ließ sie sich seufzend in dem weichen Gras am Ufer des Sees nieder, dessen spiegelglatte Oberfläche sich unter dem dunklen Nachthimmel ausbreitete.

In der Hand hielt sie eine Flasche Champagner, nach der sie blind gegriffen hatte, während sie die Worte ausgestoßen hatte, die das Band zwischen zwei Menschen, die sich ganz offensichtlich liebten, mühelos zerschneiden konnten. Sie hatte sich nie viel aus Alkohol gemacht, aber wenn es einen Moment gab, sich mit zweiundzwanzig Jahren sinnlos zu betrinken, dann war es eindeutig dieser.

Sie schwankte zwischen dem Bedürfnis, sich selbst leidzutun, und dem, sich zu bestrafen. Sie hasste sich für das, was sie gerade getan hatte.

Seit ihrem sechzehnten Geburtstag hatte Theo, der beste Freund ihres älteren Bruders, eine herausragende Rolle in ihrem Leben gespielt. Sebastian und er waren seit einem Geschäftsabschluss, der für beide Seiten äußerst lukrativ gewesen war, unzertrennlich. In den vergangenen sechs Jahren hatte es kein Ereignis innerhalb der Familie gegeben, bei dem sie nicht zusammen aufgetaucht waren. Fast hätte Maria bei dem Wort Familie laut aufgelacht. Ihren Vater und ihre Stiefmutter hatte sie seit achtzehn Monaten nicht gesehen – und auch nicht vermisst.

Sie fragte sich, was ihr Vater von ihr und dem, was sie gerade getan hatte, halten würde. Er würde sie wahrscheinlich mit diesem gewissen Blick bedenken. Demjenigen, mit dem er nicht wirklich sie sah, sondern eine andere Frau – eine, die er so bedingungslos geliebt hatte, dass er nie über ihren Verlust hinweggekommen war.

Von ihrem Aussehen abgesehen war Maria nichts von ihrer Mutter geblieben. Dafür hatte Valeria, ihre Stiefmutter, gesorgt. Bis auf eine Halskette. Die Maria auch jetzt trug – die sie immer trug, denn sie schenkte ihr Halt und war für sie eine Hommage an die Frau, die ihr eigenes Leben für das ihrer Tochter gelassen hatte.

Der im Exil lebende Herzog Eduardo Rohan de Luen hätte vermutlich teilnahmslos wie immer auf das reagiert, was gerade geschehen war. Valeria hingegen hätte vor Verachtung geschnaubt und missgünstig erklärt, sie habe ja immer gewusst, dass dieser Junge, Theo Tersi, nichts als Ärger bedeute.

Dabei bestand Theos einziges Vergehen darin, dass er Sebastians Freund war. Valeria hatte ihrem Stiefsohn nie die drastischen Maßnahmen vergeben, die er hatte ergreifen müssen, um die Familie vor dem totalen Untergang zu bewahren. Als Maria acht Jahre alt gewesen war, hatte Eduardo bei einem extrem riskanten Ölgeschäft im Mittleren Osten nicht nur sein eigenes Geld verloren, sondern auch große Vermögen anderer spanischer Adliger. Dieses Fiasko hatte dafür gesorgt, dass die Familie Rohan de Luen Spanien verlassen musste. Ihren Titel jedoch hatte sie behalten dürfen.

Es war Sebastian gewesen, der sie vor dem völligen Ruin gerettet hatte, als er im Alter von achtzehn Jahren die Kontrolle über den Familienbesitz übernommen und getan hatte, was getan werden musste. Dazu gehörte, dass er alle Ländereien und Wertgegenstände verkaufte, die die Familie noch besaß. Und da Valeria Eduardo nur wegen seines Ansehens und seines Reichtums geheiratet hatte, kam das bei ihr nicht sonderlich gut an.

Und Maria? Für sie hatte der Eklat bedeutet, alles hinter sich lassen zu müssen, was ihr vertraut gewesen war. Sie waren von Spanien nach Italien umgezogen und hatten ganz von vorne angefangen. Alles, was ihr selbstverständlich und verlässlich gewesen war, wurde ihr mit einem Mal genommen. Sie schloss keine neuen Freundschaften und machte sich wenig aus der Schule. Trost fand sie nur in der Kunst.

Als sie dann vom Camberwell College of Arts in London zum Studium zugelassen worden war, hatte sie sich sofort in die Stadt, die Menschen und die Freiheiten verliebt, die sie weit weg von ihrer Familie genoss. Sie lernte neue Leute kennen und liebte die kleine Wohngemeinschaft, in der sie lebte … In diesem Moment, in dem sie hier allein am Seeufer im Gras saß, sehnte sie sich schmerzhaft dorthin zurück.

In der Stille der Nacht stöhnte sie laut auf und rieb sich die Augen.

Oh Gott, was habe ich nur getan?

„Ist hier noch ein Platz frei?“

Als Matthieu die Gestalt am Ufer des Lac Peridot sah, riet sein Selbsterhaltungstrieb ihm, zu fliehen. Wegzulaufen, so schnell er konnte. Von der verlassenen Veranda hinter dem Ballsaal des Hotels in Iondorra aus, in dem die Wohltätigkeitsgala stattfand, sah er das weiße Kleid der Frau im Dunklen leuchten. Ihr dunkles, sanft gewelltes Haar reichte ihr fast bis zur Taille. Bei ihrem Anblick musste er unvermittelt an das Lieblingsbild seiner Mutter denken. Die plötzlich auftauchende Erinnerung raubte ihm beinahe den Atem. Als sie sich kurz zum Ballsaal umsah, konnte er ihr Gesicht im Mondlicht deutlich sehen. In ihren Zügen lag etwas, das eine lange vergessene Saite in ihm zum Klingen brachte.

Matthieu wusste, dass es nicht besonders klug war, sich einer Frau zu nähern, die so offensichtlich in ihren Gedanken versunken war, aber er konnte nicht anders. Ihrer Schönheit haftete etwas eigentümlich Tragisches an. Und mit Tragik kannte er sich aus. Er hatte auf schmerzhafteste Weise erfahren müssen, wie das Leben von einem Moment zum nächsten vollkommen aus den Fugen geraten konnte.

Er beobachtete, wie sie ansetzte, einen Schluck Champagner aus der Flasche zu trinken.

Fast hätte ihr misslungener Versuch ihn zum Lächeln gebracht. Der Champagner schäumte über und lief ihr übers Kinn und ins Gras, als sie ihm auszuweichen versuchte.

Aber lächeln war etwas, das Matthieu nur äußerst selten tat. Wenig elegant wischte sie sich nun Mund und Kinn mit dem Handrücken ab, bevor sie die Flasche vor sich auf dem Rock ihres Kleides abstellte und den Blick wieder auf den See richtete. Die Nachlässigkeit ihrem Ballkleid gegenüber verriet ihm einiges darüber, wie weit weg sie gedanklich sein musste. Sie wirkte ganz anders als die erfahrenen Verführerinnen, mit denen er sich sonst bevorzugt umgab – viel selbstvergessener und unschuldiger. Und das war ein weiterer Grund, warum er sich von ihr fernhalten sollte.

Doch etwas an ihrer Traurigkeit zog ihn magisch an, und so konnte er dem Drang, sich der Unbekannten zu nähern, nicht widerstehen. Er trat von der Veranda, ließ das Licht und die Geräusche, die aus dem Ballsaal drangen, hinter sich und ging über das weiche Gras zu ihr.

„Ist hier noch ein Platz frei?“

Sie schreckte zusammen und sah ihn vom Boden aus an. Er hatte sie auf Englisch angesprochen, der meistgesprochenen Sprache auf dem Ball, denn er bezweifelte, dass sie Französisch verstand, wie es in der Schweiz gesprochen wurde.

„Nur noch ein Stehplatz, fürchte ich.“

Ihre Antwort überraschte ihn, ebenso wie ihr leichter südländischer Akzent. Spanisch vielleicht, oder Italienisch? Sie schien sein kurzes Schweigen als Hartnäckigkeit zu deuten und neigte schließlich den Kopf.

„Immer rein in die gute Stube“, lud sie ihn ein.

Wieder fühlte er sich überrumpelt. „Das ist ein ziemlich eigenartiger Ausdruck für einen so südlichen Akzent.“

„Und das ist ein ziemlich durchsichtiger Versuch herauszufinden, woher ich komme.“

Ihre Art gefiel ihm, genau wie die Tatsache, dass sie nicht zu wissen schien, wer er war. Als sie sich ihm zuwandte, um ihn genauer anzusehen, tat sie das wie aus weiter Ferne.

Er setzte sich neben sie ins Gras und stieß dabei einen Seufzer der Erleichterung aus. Er war froh, dem Ballsaal entronnen zu sein. Diesen Teil seiner Arbeit als Vorstandsvorsitzender der Montcour Mining Industries verabscheute er. Beziehungspflege nannte Malcolm das. In Matthieus Augen hingegen war es reine Zeitverschwendung. Doch er war klug genug, darüber nicht mit seinem Geschäftsführer und langjährigen Freund zu streiten, der einst sogar sein Vormund gewesen war. Der iondorrische Handelsminister hatte entschieden, dass die Gala den perfekten Hintergrund abgab, um herauszufinden, wie die Chancen für ein gemeinsames Bergbauprojekt in dem kleinen europäischen Land standen. Noch hatte Matthieu Vorbehalte. Er war sich nicht sicher, ob Iondorra tatsächlich über die finanziellen Mittel für ein solch ehrgeiziges Vorhaben verfügte. Mittlerweile war er sehr wählerisch, wenn es darum ging, auf welche Unternehmung er sich einließ, einfach weil er es sich leisten konnte.

Aus dem Augenwinkel sah er, wie die Frau sich unauffällig etwas von der Wange wischte. Einen Grashalm, Champagner? Eine Träne womöglich?

Ihr Parfüm kitzelte seine Sinne, der Duft von Salbei kombiniert mit etwas, das ihn an das Meer denken ließ … Salz, wie er erkannte. Völlig unerwartet lief ihm das Wasser im Mund zusammen, und Erregung stieg in ihm auf.

„Möchten Sie einen Schluck?“

Matthieu schüttelte den Kopf. Er trank kaum Alkohol, denn er ertrug es nicht, keinen klaren Kopf zu haben. Allerdings hatte er das Gefühl, allein wegen dieser Frau und der ungewöhnlichen Situation leicht berauscht zu sein.

Eine Weile saßen sie einfach schweigend beieinander und blickten aufs Wasser, als verspüre keiner von ihnen das Bedürfnis, etwas zu sagen. Es war eine willkommene Abwechslung nach all den Stunden, die er an der Seite des redseligen Handelsministers verbracht hatte. Der Mann war gekränkt darüber gewesen, dass Matthieu in die Schweiz zurückfahren wollte, ohne die Annehmlichkeiten des kleinen Gastlandes zu genießen. Matthieu hatte das wenig geschert – mit Schmeicheleien gab er sich schon lange nicht mehr ab. Das hatte er nicht mehr nötig, denn er war der viertreichste Mann Europas, sowohl, was sein Privatvermögen anging als auch das seines Unternehmens. Die Leute wollten etwas von ihm.

Anders anscheinend als die Unbekannte neben ihm, die unverwandt auf den See sah.

„Glauben Sie, man kann etwas anrichten, was unverzeihlich ist?“, fragte sie nach einer Weile.

Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass die junge Frau, die nicht einmal Champagner aus der Flasche trinken konnte, etwas Böses getan haben sollte. Gleichzeitig war er aber auch davon überzeugt, dass Vergebung in manchen Fällen unmöglich war, und so wählte er seine Worte mit Bedacht.

„Ich glaube, jede Geschichte hat immer zwei Seiten.“

Darüber schien sie nachzudenken.

„Ich habe heute Abend vielleicht die Verlobung von zwei sehr lieben Freunden zerstört“, gestand sie nach einer Weile.

„Tatsächlich?“ Es gelang ihm nicht, seine Überraschung zu verbergen. „Wenn das so ist, war er es vielleicht einfach nicht wert, oder ihre Gefühle für ihn waren nicht stark genug.“

„So einfach soll das sein?“

„Das ist es meistens. Sobald man Emotionen aus dem Spiel lässt.“ Darin war er gut – er musste es sein. „Lieben Sie ihn?“, fragte er aufrichtig interessiert.

„Das dachte ich.“

Auch diese Erfahrung war ihm nicht unbekannt. „Dann hat er entweder Sie oder seine Braut angelogen.“

„Es ist nicht so, wie Sie denken. Er hatte seine Gründe.“

„Die haben Männer immer.“

„Nein. Ich meine, er hat nie … ich habe nie …“

Fragend runzelte er die Stirn.

Zum ersten Mal wandte sie sich ihm ganz zu, und ihre unglaubliche Schönheit traf ihn wie ein Schlag. „Wie fühlt es sich an, geküsst zu werden?“

Langsam stieß er den Atem aus. Er hatte nicht einmal gemerkt, dass er ihn angehalten hatte. „Sie haben geglaubt, Sie würden ihn lieben, obwohl er Sie nicht einmal geküsst hat?“, fragte er ungläubig.

Vielleicht weiß ich gar nicht, was Liebe ist …

Sie hatte die Worte nicht laut ausgesprochen, aber ihr Gesicht war so offen und ausdrucksstark, dass Matthieu zu wissen glaubte, was in ihr vorging.

Im warmen Licht des Mondes leuchtete ihre Haut ebenso wie ihr weißes Kleid. Sie war makellos. Ihr Unterkiefer war auf aparte Weise ausgeprägt, der Zug darum beinahe trotzig, und er lenkte den Blick auf ihre vollkommenen Lippen. Sie hatte dunkle Brauen und Augen, die lediglich von ein wenig Mascara und einem Lidstrich betont wurden und mit denen sie ihn verwirrt und gleichzeitig voller Hoffnung ansah. Und in denen eine Frage lag, von der er sich sicher war, dass sie sich ihrer gar nicht bewusst war.

Wie fühlt es sich an, geküsst zu werden?

Maria schämte sich in Grund und Boden. So eine Frage hätte sie niemals stellen dürfen! Schon gar nicht einem Mann wie diesem. Sie kannte ihn zwar nicht – was wahrscheinlich einer der Gründe war, warum sie ihm überhaupt ihr Herz ausschütten konnte –, aber auch so war ihr klar, dass er mit Sicherheit wusste, wie man küsste, jemanden berührte …

Sie rief sich zur Ordnung, bevor ihre Fantasie noch weiter mit ihr durchging.

Ihre Wangen begannen zu glühen, doch sie hoffte, er würde es in der Dunkelheit nicht sehen. Neben ihm fühlte sie sich naiv und ungeschickt. Und klein. Denn seine schiere Präsenz war gewaltig. Ihr waren seine eindrucksvollen Oberarme aufgefallen, als er sich neben sie gesetzt und sich nach hinten abgestützt hatte. Sie glaubte nicht, dass sie sie mit ihren beiden Händen würde umfassen können. Wäre da nicht die Champagnerflasche zwischen ihren Beinen, so hätte sie die Oberschenkel aneinandergepresst, um das Gefühl zu unterdrücken, das heiß zwischen ihnen aufstieg. Sie war noch Jungfrau, und die erschreckende Erregung, die von ihr Besitz ergriff, war etwas, das sie noch nie verspürt hatte. Nicht einmal in Theos Nähe.

Sie sah weg, doch seine Gesichtszüge hatten sich ihr eingebrannt. Markante Wangenknochen über einem Dreitagebart, unter dem sich ein kräftiger Unterkiefer verbarg, und der einen fast brutal sinnlichen Mund umrahmte. Die Brauen lagen dicht über hellen bernsteinfarbenen Augen, in deren Tiefe sie sich am liebsten verloren hätte.

Sie rechnete nicht mit einer Antwort, und so zuckte sie zusammen, als er zu sprechen begann.

„Es gibt viele verschiedene Arten von Küssen. Manipulative, durch die man bekommt, was man will. Grausame Küsse, mit denen man jemanden bestraft. Sanfte, zärtliche Küsse, die eine Mutter ihrem Kind gibt – und leidenschaftliche, selbstvergessene Küsse, die alles mit sich fortreißen und Menschen in Egoisten verwandeln.“

Maria richtete den Blick wieder auf ihn und bemerkte, mit welcher Intensität er sie betrachtete. Als versuchte er, etwas herauszufinden. So als ob … nein. Es musste daran liegen, dass sie sich fragte, wie es wohl wäre, diesen Mann zu küssen.

„Aber der erste Kuss?“, fügte er hinzu. „Ganz ernsthaft? Wahrscheinlich ziemlich verkrampft und unsexy.“

Sie war enttäuscht. Als habe er sie einer Hoffnung beraubt. „Dann sollte ich ihn vermutlich so schnell wie möglich hinter mich bringen.“

Er lachte leise. „Vermutlich“, gab er ihr recht.

„Würden Sie mir dann einen Gefallen tun und mich bitte küssen?“

Er sah ihr in die Augen, der Mann, dessen Namen sie nicht einmal kannte. Und sie spürte es. Das tiefe Vibrieren in ihrem Inneren, als würde er direkt in ihre Seele blicken, sie erfassen und verstehen. Das war es, wonach sie sich sehnte, erkannte sie in diesem Moment. Seit Jahren schon. Nach jemandem, der sie wirklich sah und verstand. Und sich dann dazu entschied, bei ihr zu bleiben.

Er ließ den Blick über ihr Gesicht wandern. Wonach er suchte, wusste sie nicht. Die Härchen auf ihren Armen richteten sich auf, und sie bekam eine Gänsehaut. Sie hatte Angst. Nicht vor ihm, sondern vor dem, was gerade mit ihr geschah. Noch nie hatte sie etwas so sehr gewollt wie diesen einen Kuss. Sie sah, wie er die Stirn runzelte, als würde er einen inneren Kampf ausfechten. Dann streckte er die Hand nach ihr aus und hob mit einem Finger ihr Kinn. Beinahe prüfend sah er sie an.

„Bist du dir sicher?“

Außerstande, ein Wort hervorzubringen, nickte sie stumm. Würde er einfach gehen und sie hier sitzen lassen oder würde er sich dem Zauber hingeben, der sie beide umgab und vom Rest der Welt trennte?

Seine Bewegungen waren langsam, als wollte er ihr die Möglichkeit geben, ihre Meinung zu ändern und sich abzuwenden. Dann senkte er den Kopf, doch anstatt ihren Mund mit seinen Lippen zu verschließen, legte er seine Wange an ihre. Die Hitze, die er ausstrahlte, wärmte ihre Haut und ihr Herz. Sie hörte ihn einatmen, als wollte er sie in sich aufnehmen. Dann hob er den Kopf und streifte sanft ihren Mund mit seinen Lippen. Einmal, dann noch einmal.

Die zarte und gleichzeitig bestimmte Berührung ließ ihr Herz schneller schlagen. Alles in ihr schrie danach, ihn an sich zu ziehen, mehr von ihm zu bekommen als die Berührung seiner Finger unter ihrem Kinn und seiner Lippen an ihren.

Verzweifelt und voller Angst, er könnte sich von ihr lösen, umfasste sie impulsiv sein Gesicht. Sie spürte seinen weichen Bart unter ihren Händen. So hielt sie ihn und zog ihn an sich, damit er sich nicht von ihr abwenden konnte.

Jetzt war sein Mund nur wenige Millimeter von ihrem entfernt. Sie spürte seinen Atem und sog ihn ein. Ihr Magen zog sich zusammen, so sehr wünschte sie sich, sie wüsste, was sie als Nächstes tun sollte. Doch sie verharrten in diesem Beinahe-Kuss, während das Blut siedend heiß durch ihre Adern floss und ihr Herz so heftig pochte, dass sie kaum noch Luft bekam. Dann bewegten sie sich gleichzeitig aufeinander zu – sie öffnete sich seiner Zunge und hieß sie mit ihrer eigenen willkommen.

Sie verlor sich in dem Kuss, dem Tanz ihrer Zungen und dem unsagbar schwindelerregenden Gefühl, das sie erfasst hatte.

Irgendwann spürte sie seine Hände in ihrem Haar. Er wickelte sich einzelne Strähnen um die Finger und spielte mit ihnen. Mit ihm fühlte Maria sich ebenso sicher aufgehoben wie begehrt. Es schien ihr unfassbar, dass es ihm gelang, mit einem einzigen Kuss derartige Emotionen und eine solche Erregung in ihr zu erwecken.

Sie konnte ein verzücktes Stöhnen nicht länger unterdrücken und verspürte tiefe Enttäuschung, als er den Kuss beendete und seine Stirn an ihre legte. Sein Atem ging genauso stoßartig wie ihrer, als sei er wie sie vollkommen überwältigt.

„Fühlt es sich … immer so an?“, wagte sie zu fragen.

„Nein“, antwortete er mit rauer Stimme. „Nie.“

Sanft nahm er ihre Hände von seinem Gesicht und streichelte wie zum Trost mit den Daumen ihre Handflächen, bis er auf eine Narbe stieß, die bis zum Handgelenk verlief. Maria entzog ihm die Hand und begann, mit einem Finger über die Narbe zu fahren. Nicht weil sie ihr wehtat, sondern wegen des Prickelns, das seine Berührung ausgelöst hatte.

Sie stieß ein leises Lachen aus, um ihre Überraschung über den Genuss, den er ihr bereitet hatte, zu verbergen.

„Meine Stiefmutter hasst sie.“

„Wen?“, fragte er irritiert.

Sie warf ihm einen Blick zu. Er konnte die Schwielen, die kleinen Narben und Schnitte an ihren Fingerkuppen nicht übersehen haben, genauso wenig wie die seit Langem vernarbte Brandwunde auf ihrer Handfläche.

„Meine Hände. All die Narben. Sie findet, eine Dame sollte zarte, makellose, zierliche Hände haben und jeden Tag in Milch baden.“

„Und auf Rosenblüten schlafen.“

„Und sich in Watte wickeln.“

„Und was findest du?“, fragte er leise.

Zum ersten Mal seit Langem unterzog Maria ihre Hände einer gründlichen Betrachtung. Für sie waren sie mehr als Körperteile, denn sie dienten ihr als Werkzeuge, die sie benutzte, wenn sie ihren Schmuck schmiedete. Sie brauchte sie, um Edelmetalle zu schmelzen und zu formen und um Schönheit zu erschaffen.

„Ich finde, die Narben sprechen von harter Arbeit und von Opfern, von Lektionen, die ich lernen musste, und ich bin stolz auf jede einzelne.“

Für Matthieu war es eigenartig, sie auf diese Weise über etwas sprechen zu hören, das große Teile seines Lebens zerstört hatte. Voller Stolz und Trotz anstatt mit Abscheu oder morbider Faszination. Letzeres hatte er oft genug erlebt. Ebenso wie die Frauen, die nur das sahen, was er ihnen zu bieten hatte, trotz der Narben, die seinen ganzen Oberkörper bedeckten. Frauen, die sich nur für seinen Reichtum interessierten und die Genüsse, die er ihnen zu bieten hatte.

„Das kannst du nicht verstehen“, sagte sie beinahe mitleidig.

Da musste er lachen. Ein echtes Lachen, das tief aus seinem Innersten kam. Neugierig sah sie ihn an.

Er nickte kurz, dann nahm er seine Krawatte ab, zog das Jackett aus und öffnete die obersten Hemdknöpfe. Er drehte den Kopf zur Seite, zog leicht am Kragen und zeigte ihr die Narben an seinem Hals. Dann streckte er einen Arm aus, öffnete den Manschettenknopf und krempelte den Ärmel hoch, um ihr die Narben zu zeigen, die vom Handgelenk zum Hals verliefen.

„Es tut mit leid.“

Während Matthieu sich wieder herrichtete, dachte er daran, wie oft er diese Worte schon gehört hatte. Von all den Ärzten und Krankenschwestern, sogar von Malcolm. Und, am allerschlimmsten, von den Frauen, die es nicht ertrugen, in seiner Nähe zu sein oder ihn zu berühren. Sie alle hatten diesen ganz bestimmten Tonfall. Entschuldigend und noch viel öfter voller Abscheu. Nichts davon hörte er in der Stimme dieser Frau, und so fragte er zum ersten Mal: „Was tut dir leid?“

„Dass du glaubst, sie verstecken zu müssen.“

Er zuckte zusammen. Das hatte noch nie jemand zu ihm gesagt. Noch nie hatte jemand seine Narben einfach so akzeptiert. Er musste daran denken, wie sie sich geküsst hatten. Er hatte nicht gelogen, als er gesagt hatte, einen solchen Kuss noch nie erlebt zu haben.

Noch immer spürte er das Verlangen in sich, und noch immer hatte sein Herzschlag sich nicht beruhigt. Vielleicht hatte er ihr deshalb seine Narben gezeigt, um ihr unbewusst Angst einzujagen und fortzuscheuchen. Denn sie brachte ihn auf eine Weise durcheinander, wie er es noch nie erlebt hatte.

Leidenschaftliche, selbstvergessene Küsse, die alles mit sich fortreißen und Menschen in Egoisten verwandeln.

Seine eigenen Worte verfolgten ihn, und er erkannte, wie recht er gehabt hatte. Ihr Kuss hatte ihn egoistisch werden lassen. Er wollte mehr. Bitter lachte er in sich hinein, denn er wollte nicht einfach mehr, er wollte alles. Alles, was sie ihm geben konnte. Das Verlangen nach ihr jagte heiß durch seine Adern. Mühsam widerstand er dem Drang, sie einfach zu sich auf den Schoß zu ziehen und sich zu nehmen, was er wollte. Wie das Ungeheuer, das er in Wirklichkeit war.

„Die Narben habe ich vom Einschmelzen“, riss sie ihn aus seinen Gedanken. „Das ist …“

„Ich weiß, was Einschmelzen ist“, unterbrach er sie barscher, als er gewollt hatte. Auch ihr war sein Tonfall nicht entgangen, wie er an ihrem verwirrten Gesichtsausdruck sah. „Berufliches Interesse. Bergbau.“

Sie nickte, als würde das alles erklären. „Aber mögen tust du es nicht“, stellte sie fest.

„Ich mag kein Feuer.“

Sie spielte mit den Armreifen an ihrem Handgelenk. Schmuck. Sie musste Schmuck herstellen. Ohne weiter auf seine Narben einzugehen, sagte sie: „Ohne könnte ich gar nicht arbeiten.“

Er wünschte, das hätte sie nicht gesagt, denn jetzt sah er vor sich, wie sie das geschmolzene Silber zähmte, sich die Macht des Feuers – seines ärgsten Feindes – zunutze machte und es ihrem Willen unterwarf. Dazu bedurfte es mehr Kraft, als er ihr vor nur zehn Minuten noch zugetraut hatte. Doch als er sie jetzt ansah, verliehen der Stolz, die Erfüllung durch ihre Arbeit und selbst die Narben ihr etwas Majestätisches.

„Hast du die selbst gemacht?“

„Ja, das sind meine ersten Stücke.“ Versonnen sah sie die Silberreife an, die weniger glatt waren als andere, dafür aber perfekt in ihrer Unvollkommenheit.

Matthieu hatte nicht gemerkt, wie viel Licht aus dem Ballsaal nach draußen gedrungen war, bis die Kristallleuchter ausgeschaltet wurden. Die Gala war vorbei, und die Angestellten waren anscheinend mit dem Aufräumen fertig. Ein kurzer Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass es bereits zwei Uhr morgens war.

„Was hast du jetzt vor?“, fragte er, unwillig, den Abend so enden zu lassen.

Sie schüttelte den Kopf und zuckte die schmalen Schultern. „Ich weiß es noch nicht. Zurück in die Suite kann ich nicht. Mein Bruder wird dort sein, und ich bin noch nicht bereit …“ Sie beendete den Satz nicht.

„Du kannst nicht die ganze Nacht hier draußen verbringen.“

Sie hatte angefangen zu zittern, als hätte der Ballsaal hinter ihnen nicht nur Licht, sondern auch Wärme gespendet. Er nahm sein Jackett und legte es ihr um die Schultern. Dankbar lächelte sie ihn an, und er verfluchte die Unschuld in ihrem Blick. Wenn doch nur …

Autor

Pippa Roscoe

Pippa Roscoe lebt mit ihrer Familie in Norfolk. Jeden Tag nimmt sie sich vor, heute endlich ihren Computer zu verlassen, um einen langen Spaziergang durch die Natur zu unternehmen. Solange sie zurückdenken kann, hat sie von attraktiven Helden und unschuldigen Heldinnen geträumt. Was natürlich ganz allein die Schuld ihrer Mutter...

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