Vermählt mit einem Fremden

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Miss Harriette Lydyard pflegt eine gewagte Familientradition: Schmuggeln! Doch eines Tages beschert ihr die See mehr als verbotenes Strandgut: Sie rettet einen ohnmächtigen, höchst attraktiven Fremden. Wachend verbringt sie die Nacht an seinem Bett - und schon ist ihr Schicksal entschieden! Denn ihr Bruder drängt auf Heirat


  • Erscheinungstag 25.01.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733775346
  • Seitenanzahl 224
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Beeilt euch! Der Himmel klart auf! Wir müssen weg!“

Die dunklen Segel gerefft, lag der schlanke englische Kutter vor der französischen Küste. Lydyard’s Ghost hieß er und machte seinem Namen alle Ehre, denn er war kaum mehr als ein geisterhafter Schatten auf der grauen Dünung des Meeres. Den Warnruf hatte der Kapitän ausgestoßen, ein junger, sichtlich befehlsgewohnter Mann von kraftvoller Statur, soweit es die seemännische Kleidung – grober, weiter Mantel über weiten Hosen und schweren, hohen Stiefeln – erkennen ließ. Er stand am Ruder und beobachtete wachsam Ufer, Himmel und gleichzeitig das Verstauen von Ballen, Kisten und Fässern.

Schon kehrte ein halbes Dutzend Ruderboote leer zur Küste, nach Port St Martin, zurück, nur aus einem wurden noch Fässchen mit feinstem Cognac, alles illegale Fracht, an Deck gehievt.

Der Kapitän erlaubte sich ein Gefühl der Befriedigung. Bisher war alles nach Plan gelaufen.

„Fertig, Captain Harry, alles an Bord.“ George Gadie, ein nicht mehr ganz junger, untersetzter Mann, löste sich mit einer grüßenden Geste von der Reling.

„Großartig! Hisst die Segel!“ Der Kapitän eilte, eine lederne Börse in der Hand, nach vorn und beugte sich zu dem französischen Schmuggler in dem Ruderboot hinunter. „Au revoir, Monsieur Marcel. Einträgliche Fracht für uns, ein Beutel Guineas für Sie! Bis bald, mon ami.“

„Ah, noch eine Minute, Captain, wenn’s gefällt.“ Zu des Kapitäns Überraschung schwang Monsieur Marcel sich aufs Deck des Kutters. „Wir haben noch eine andere Fracht. Nehmen Sie sie mit?“

„Wertvoll?“

„Nein.“ Marcel lachte grob. „Aber wir sind nicht interessiert. Los, hoch damit, Pierre!“ Er winkte den Männern unten im Boot, die im gleichen Moment ein dunkles Bündel nach oben schoben, bis es über die Reling auf die Planken des flotten Seglers plumpste.

Misstrauisch beugte der Kapitän sich darüber. „Was ist das?“

„Fanden ihn auf dem Kai. Wohl eine Prügelei, und ihn hat’s am schlimmsten erwischt.“ Verächtlich zuckte Monsieur Marcel die Achseln. „Engländer – und noch lebt er. Mehr weiß ich auch nicht. Leere Taschen, wurde wohl ausgeraubt.“ Während er zurück in sein Boot kletterte, fügte er hinzu: „Eins weiß ich noch, der hat sich mit einer miesen Bande eingelassen, die von einem Widerling namens Jean-Jacques Noir angeführt wird. Der Kerl würde seine eigene Schwester verkaufen – ha, seine Mutter, wenn er nur genug dafür bekäme! Und das Messer sitzt ihm verdammt locker.“

Der Kapitän starrte auf den leblosen Körper zu seinen Füßen. „Was soll ich mit ihm?“

„Bringen Sie ihn zurück nach England. Oder werfen Sie ihn meinetwegen über Bord. Wenn er sich mit Noir abgibt, hatte er bestimmt nichts Gutes im Sinn. Höchstwahrscheinlich ist er ein Spion, der gegen gutes Gold Informationen verkauft. Anscheinend erfüllte er Noirs Erwartungen nicht, und sie haben gestritten …“ Marcel winkte flüchtig und legte sich in die Riemen.

„Die Flut kommt, Captain!“, rief George Gadie warnend vom Bug des Kutters.

„Stimmt!“ Ein Blick auf die anrollenden Wogen, dann entschied der Kapitän: „Nehmen wir ihn mit.“ Er warf die schwere Börse in Monsieur Marcels Boot, grüßte noch einmal und nahm dann wieder das Steuerrad. Bemerkenswert geschwind setzten seine Leute die Segel. Im Licht der Mondstrahlen sah man ein Lächeln um den Mund des Kapitäns spielen, während er den Kutter in die offene See hinaus manövrierte.

Erst als sie eine Weile unterwegs waren, entfernt vom unsicheren Ufer, winkte der Kapitän seinem Bootsmann, der den leblosen Körper unsanft an der Schulter fasste und umdrehte.

„Was haben wir da, George? Ist bestimmt nicht lohnenswert, was?“ Doch dann verstummte er. Zwar war das Jackett des Mannes von Blut und Salzwasser verdorben, doch sein ausgezeichneter Schnitt zeugte davon, dass er nicht unvermögend sein konnte. Der Kapitän beugte sich hinunter und riss die Aufschläge über der Brust auf; zum Vorschein kam ein ebenfalls blutgetränktes Hemd, das aber von feinstem, ehemals schneeweißem Leinen war. Spionage schien also zwar gefährlich, doch durchaus lukrativ zu sein. Ein wenig mitleidig betrachtete er das unglückliche Opfer, an dessen Schläfe sich eine blutige Platzwunde zeigte. Blut verklebte auch das dunkle Haar des Fremden. Der Mann war nass bis auf die Haut, sein Gesicht totenbleich, die schön geschnittenen Lippen farblos und vor Schmerz verzerrt. Auf der Wange prangte eine Messerwunde, nur oberflächlich, doch ebenfalls noch blutend.

Der Kapitän tastete nach dem Herz des Bewusstlosen. Es schlug regelmäßig, doch sehr langsam.

George knurrte: „Was meinen Sie, Captain? Ein Spion? Sieht jetzt ganz harmlos aus, was? Der Schnitt hat ihm sein hübsches Gesicht ganz schön versaut. Schaffen wir ihn aus dem Weg! Gabriel …!“ Er rief nach seinem Sohn, und gemeinsam hoben sie den leblosen Körper in die Höhe, bis er fast auf der Reling ruhte.

„Wartet!“, rief der Kapitän und beugte sich erneut über den Fremden, der in diesem Augenblick ein dumpfes Stöhnen von sich gab und die schweren Lider mühsam aufschlug. „Wo bin ich?“, flüsterte er heiser, sichtlich verwirrt.

„Auf dem Weg nach England“, entgegnete Captain Harry.

„Nein … Ich kann nicht weg … noch nicht …“

Schwerfällig hob der Mann eine Hand und krallte sie in den Ärmel des Kapitäns, wobei er ihn mit schmerzgetrübtem Blick flehend ansah. „Bringen Sie mich zurück. Ich zahle …“

„Womit? Ihre Taschen sind leer, mein Freund.“

„Wie? Kann mich nicht erinnern …“ Verständnislos starrte er zum Kapitän auf, ihm sanken die Lider zu, doch mit großer Anstrengung riss er sie wieder auf. „Noir … hat sein Wort gebrochen …“

„Wie zu erwarten. Und Sie wurden ausgeraubt, scheint mir“, sagte der Kapitän. Angewidert verzog er den Mund. Was dieser Noir darstellte, ekelte ihn an. Freihandel war eine Sache. Schließlich betrieb und befürwortete er selbst dieses Geschäft. An der Küste von Suffolk war Captain Harry allseits wohlbekannt. Und er schämte sich der Schmuggelei nicht. Aber für den Feind zu spionieren war etwas völlig anderes. Die Gentlemen vom Freihandel hatten ihren eigenen Ehrenkodex und lebten danach, hielten es jedoch für verachtenswert, dem Feind geheime Informationen zu verschaffen. „Es gab wohl eine deftige Prügelei – Sie haben sich mit Ihrem französischen Verbindungsmann nicht einigen können?“

„Was?“ Vage versuchte der Fremde, sich auf sein Gegenüber zu konzentrieren. Er runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht …“

„Was bringt denn einen Mann dazu, gegen sein eigenes Land zu intrigieren?“, sagte der Kapitän mit einem Zynismus, der im Widerspruch zu seinen jugendlichen Zügen stand. „Vermutlich doch die einträgliche Belohnung. Und manchmal geht es eben schief. Was immer Sie Monsieur Noir verkauften, er hat Sie nicht dafür bezahlt. Sie haben sich umsonst bemüht.“

„Ich bin kein Spion …“, murmelte der Mann kaum verständlich, „… kein Verräter.“ Im gleichen Moment ließ eine Welle den Kutter heftig schwanken, sodass der Kopf des Fremden gegen die hölzerne Reling schlug und er abermals in Ohnmacht sank.

Mit einem verächtlichen Auflachen murrte der Kapitän: „Das sagen sie alle, wenn sie erwischt werden. Und wie kann er wissen, ob er ein Spion ist, wenn ihm die Erinnerung fehlt?“

„Sollen wir ihn den Behörden übergeben?“, fragte George Gadie.

„Mal sehen.“ In den Augen des Kapitäns, der den Leblosen düster betrachtet hatte, blitzte Mutwille auf. „Ein Geschenk für die Zollfahnder als Ausgleich dafür, dass sie uns nie mit unseren feinen Waren erwischen? Geschähe dem Burschen recht. Aber ich weiß nicht … Warten wir, was er zu sagen hat, wenn er zu sich kommt.“

„Wir könnten ihn immer noch über Bord werfen, Captain Harry. Würd’ uns ’ne Menge Ärger ersparen.“

„Nein, sein Blut soll nicht an meinen Hände kleben, gleich, was er auf dem Gewissen hat. Los, sehen wir zu, dass wir die Fracht sicher heimbringen.“

Als das Schiff einen Wellenkamm erklomm, sich aufbäumte und vorwärtsschoss, reckte Captain Harry sich dem Wind entgegen und zog seine wollene Mütze vom Kopf – die eine wilde Mähne dunklen Haares freigab. Es umwogte ein klassisch ovales Gesicht, das von funkelnden Augen beherrscht wurde, jetzt bleigrau wie das Meer selbst, manchmal aber kühl wie der silberne Spiegel eines lieblichen Sees. Kein Zweifel war möglich – trotz der Seemannskleidung war Captain Harry, oder eigentlich Miss Harriette Lydyard, eine sehr attraktive und sehr feminine Frau.

Ehe sie sich endgültig dem Steuerrad widmete, das vorübergehend von George gehalten wurde, wandte sie sich noch einmal der stillen Gestalt zu ihren Füßen zu und betrachtete sie gründlich. Der Mann war schön, wie George so spöttisch angemerkt hatte. Nass und von Blut verklebt, wie sein Haar war, gab es seine Farbe nicht preis. Blond war es jedenfalls nicht. Auch die Augen des Mannes, verdunkelt von Schmerz, hatte sie nicht deutlich sehen können. Noch einmal bückte sie sich und hob seine schlaffe linke Hand an. Von Schmutz verschmiert, doch fein geformt, mit gepflegten Nägeln. Sacht fuhr sie über seine Fingerkuppen. Keine Schwielen, also offensichtlich nicht mit schwerer Arbeit befasst. Ganz klar ein wohlhabender Mann, wie auch seine Kleidung bewies, die mit Sicherheit von einem Londoner Schneider stammte. Obwohl Harriet nicht viel davon verstand, so erkannte sie doch, dass diese Eleganz nicht einem Laden in Lewes oder Brighton entstammte.

Obwohl ihr Rechtsempfinden ihn wegen seiner Verräterei verdammte, legte sie seine Hand durchaus sanft wieder zurück. Manch einer hielt die Schmuggelei für eine unehrenhafte Beschäftigung, die Geld in die Taschen des Feindes schaffte, doch verglichen mit Spionage – nein, das konnte man nicht vergleichen, oder?

Die Züge des Fremden waren wirklich auffallend schön. Harriette konnte nicht widerstehen; mit zwei Fingern folgte sie der Kontur seiner Wange, seines Kinns, und plötzlich begann ihr Herz laut zu pochen. Ganz zweifellos musste dieses Gesicht den Blick jeder Frau anziehen. Sie spürte, wie ein Schauer sie überlief, so bewusst war sie sich der Nähe dieses Mannes, dessen Leben in ihrer Hand lag. Wenn die Dinge anders lägen …

Fatalistisch zuckte sie die Achseln. Sie konnte nichts für den Mann tun. Allerdings löste sie, praktisch veranlagt, wie sie war, seine zerdrückte, einst so perfekt gestärkte und gelegte Krawatte, faltete sie mehrfach und stopfte sie unter seinem Jackett auf die Verletzung, um die Blutung zu stoppen. Wenn es ihm bestimmt war zu überleben, würde das dazu beitragen.

Unwillkürlich musterte sie erneut das Gesicht des Mannes, die gerade Nase, die hohen Wangenknochen, bis der Mond hinter eine Wolke schlüpfte und ihr die Sicht nahm. Mit einem abfälligen Schnauben erhob sie sich. Eine Schande, ein so attraktiver Mann, und man musste ihm Verrat vorwerfen. Trotzdem nahm sie sich die Zeit, eine grobe Decke über die schlaff hingestreckte Gestalt zu werfen, und schob ihm sogar ein Päckchen, in dem sich kostbare Spitze befand, unter den Kopf.

Ein paar Stunden später atmete Harriette tief und erleichtert aus. Der Reiz eines solch aufregenden Törns ließ ihr stets das Blut schneller durch die Adern rinnen, doch vor der Landung an der englischen Küste stieg die Spannung ins Unerträgliche. Immer bestand die Möglichkeit, dass alles in einem Desaster endete, die Zollbeamten sich triumphierend ihrer Fracht bemächtigten und sie und ihre Mannschaft vor den Richter geschleppt wurden. Jeder, der dem Freihandel huldigte, wusste, dass die Strafe für Schmuggel der Strick sein konnte.

Heute Nacht lief alles glatt. In der heimischen Bucht, in der sie anlegten, war alles ruhig. Weder lauerte ein Zollkutter im Fahrwasser, noch stürmte ihnen die bewaffnete Zollgarde die Klippen hinab entgegen. Zweifellos schlummerte deren Anführer Captain Rodmell tief und fest, ahnungslos, was sich auf dem Kiesstrand von Old Wincomlee abspielte.

Als Harriette endlich am Ufer stand, rieb sie sich die Hände, zufrieden, wieder einmal gute Arbeit geleistet zu haben. Für ein solches Unternehmen war dies die perfekte Stelle; ein schmale Bucht mit sanft abfallendem Strand, von hohen, schützenden Klippen umgeben, auf deren scharfem Grat hoch oben Lydyard’s Pride aufragte, ihr heiß geliebtes Heim mit seinen massiven Mauern und dem Turm am Seitenflügel. Aus dessen höchstem Fenster schickte eine brennende Laterne ihr Licht, wenn sie ungefährdet landen konnten. Und nun war alles erledigt. Die Fässchen und Ballen waren schnell ausgeladen und auf kräftigen Schultern oder auf Ponys fortgeschafft worden. Man hatte den schnittigen Kutter, Harriettes Stolz und Wonne, hinauf auf den Strand gezogen, als wäre er ein ganz gewöhnliches Fischerboot.

Leer lag der Strand nun, nur George Gadie und sein Sohn standen noch bei Harriette. Der Freihandel lag ihnen im Blut, denn ihre Familien lebten schon seit Generationen in Old Wincomlee. Genau wie ihre eigene Familie hier schon immer ansässig war. Auch den Lydyards war das Schmuggeln quasi angeboren; seit wenigstens zwei Jahrhunderten schon segelten Lydyards über den Kanal nach Frankreich und schafften die sonst unverschämt hoch besteuerten Luxusgüter illegal nach England. Alle, außer ihrem Bruder Sir Wallace, Friedensrichter und stolzer Besitzer von Whitescar Hall. Ihr Halbbruder, kein echter Lydyard, was vielleicht seine Missbilligung bezüglich des Freihandels erklärte. Und so oblag es Harriette, die Tradition fortzusetzen und die Schmuggeltörns zum Besten des Fischerdorfes Old Wincomlee zu leiten.

Aber nun musste sie sich mit ihrer unvorhergesehenen Fracht befassen. Der Mann lag auf dem Kies, wo ihn zwei kräftige Burschen hatten fallen lassen, denen die geschmuggelten Brandyfässchen eher am Herzen lagen als ein fremder, blutverschmierter Passagier.

„Na, Captain Harry, was ist nun mit ihm?“, fragte George.

Ja, was? Harriette schaute auf den Verletzten. Sollte sie ihn zum Sterben am Strand liegen lassen und so einen Verräter ausrotten? Oder sollte man ihn Captain Rodmell übergeben? Oder … oder was? Möglicherweise war er sowieso längst tot. Er lag auf dem Rücken, das Gesicht abgewandt, einen Arm zur Seite gestreckt, doch seine Finger bogen sich wie um Gnade bittend aufwärts. Gegen besseres Wissen rührte die Haltung ihr Herz.

Als sie den Kies unter schweren Schritten knirschen hörte, schreckte sie auf. Quer über den Strand schritt eine hochgewachsene Gestalt auf sie zu. Harriette entspannte sich und hob grüßend eine Hand. „Alex!“

„Es ist gut gelaufen, Harry.“ Ihr Cousin Alexander Ellerdine trat zu ihnen. „Ein guter Törn, und verflixt schnell!“

„Und eine ebenso gute Landung, dank deiner Hilfe. Monsieur Marcel wäre im Laufe des Monats an einem weiteren Törn interessiert.“

„Das schaffen wir“, sagte Alexander zuversichtlich. „Ich werde es den anderen sagen.“ Während er sich zum Gehen wandte, wurde er der leblosen Gestalt am Boden gewahr. „Wer ist das?“

Schon wollte Harriette es ihm erklären, doch dann schwieg sie, ohne zu wissen, warum. Üblicherweise hatte sie keine Geheimnisse vor Alexander, doch was sie über den Mann mit dem schönen Gesicht und den üblen Taten wusste, behielt sie lieber für sich. Bis sie mehr über ihn erfahren – und entschieden hatte, was sie mit ihm anfangen würde.

„Ein Landsmann, den es böse erwischt hat“, erklärte sie obenhin. „Wir wissen nichts über ihn, außer dass seine Kleidung auf Wohlstand schließen lässt. Marcel brachte ihn an Bord, zusammen mit der Ladung, also nahmen wir ihn mit.“ Sie wich George Gadies Blick aus, spürte aber ihre Wangen heiß werden. Lügen fiel ihr nicht leicht.

„Soll ich ihn übernehmen? Ich kann ihn in Sam Babbacombes Gasthof abladen“, bot Alexander nicht besonders interessiert an.

„Nein!“, erwiderte sie schärfer als beabsichtigt. „Ich nehme ihn mit.“

„Wieso denn das?“

„Egal.“ Die Lippen zusammengepresst, musterte sie den hilflosen Mann. Ihn den groben Händen des Gasthausbesitzers überlassen, der einen mittellosen Verletzten eher sterben lassen würde, als ihn zu pflegen? Niemals! Und außerdem … Unbehagen erfasste sie, als der Mann plötzlich stöhnte, leise nur, eher wie ein Seufzen. Er drehte den Kopf, sodass die hässliche Wunde auf seiner Wange zu sehen war. Aus irgendeinem rätselhaften Grund mochte sie ihn nicht in Alexanders Hände geben. „Er ist sowieso schon halb tot, besser, wir bringen ihn nach Lydyards Pride, das ist näher.“ Und als Alexander die Brauen hob, fuhr sie hastig fort: „Vielleicht kann er uns wichtige Informationen geben. Und vielleicht fällt etwas für uns ab, wenn wir ihm das Leben retten!“

„Wieso sollte er etwas wissen, das für uns von Vorteil ist?“, fragte Alexander, kniete neben dem Mann nieder und betrachtete ihn forschend. Angespannt beobachtete Harriette ihn. Verdüsterte sich seine Miene? Sie bemerkte seinen scharfen, ironischen Blick. „Wie, Harriette? Du willst ihn retten, den Schutzengel spielen, seine Wunden pflegen?“

„Unsinn! Wie albern du bist!“ Weder die Neckerei noch die Bosheit in Alexanders Tonfall gefielen ihr, doch sie zwang sich zu lächeln und sagte leichthin: „Hier jedenfalls sollten wir das nicht ausdiskutieren, Alex. Ist die Ladung fortgeschafft?“

„Ja, nur ein Bündel besonders feiner Spitze habe ich zurückbehalten. In Brighton werden die modebewussten Damen dafür gut bezahlen. Brauchst du hier Hilfe?“ Freundschaftlich schlang er ihr einen Arm um die Taille und küsste sie leicht auf die Schläfe.

Eine kurze Sekunde lehnte sie den Kopf an seine Schulter. Zu ihrer Erleichterung hatte er das Interesse an dem Fremden verloren. „George und Gabriel werden anfassen. Wenn du nur eins für mich tun willst: Lass meinen Bruder nichts hiervon wissen, sonst wird er gewaltig toben. Wenn Wallace fragt, sag ihm, ich bleibe über Nacht hier oben und kehre erst morgen nach Whitescar Hall zurück. Und wirst du mir bitte Meggie herüberschicken? Sie wird wissen, was nötig ist. Ah, sie soll einen von Wallaces Hausmänteln mitbringen.“

„Ich werde es ihr ausrichten“, versprach Alexander, während er sie abermals forschend musterte. Dann strich er sanft mit der Hand über ihren Arm.

Eine seltsam vertrauliche Berührung, fand Harriette, die sie überraschte, sodass sie ein wenig zur Seite trat. Alexander hatte ihr nie etwas anderes als verwandtschaftliche Zuneigung gezeigt, nie den leisesten Versuch zu flirten gemacht oder sich um ihre Aufmerksamkeit bemüht. Sie musste die Geste wohl falsch interpretieren.

„Vergeude nicht zu viel Energie an deinen blutigen Fang“, fuhr er fort und stieß den Körper leicht mit dem Fuß an. „Vermutlich nicht besonders einträglich. Ich würde ihn zurück ins Meer werfen und Schluss!“

Noch ein Kuss auf ihre Wange, und er schritt zu seinem Pferd hinüber.

Der „blutige Fang“, wie Alexander so mitleidlos geäußert hatte, wurde von Gabriel quer über den Rücken eines Ponys gehievt, George nahm das Tier beim Zügel und führte es den steilen, ausgetretenen Pfad nach Lydyard’s Pride, in dessen Turmfenster immer noch hell und willkommen heißend die Laterne brannte.

Harriette, die neben dem Pony einherschritt, konnte kaum der Versuchung widerstehen, glättend über das dunkle Haar des Fremden zu streichen.

2. KAPITEL

Auf Lydyard’s Pride angekommen, schafften die Gadies den Mann in eines der vielen leer stehenden Zimmer. Staubig und unwirtlich kalt, wie nun einmal die Räume eines unbewohnten Hauses waren, gab es darin doch zumindest ein Bett mit Nachttisch und einen Stuhl. Im Kamin lag Feuerholz bereit.

Harriette folgte dem Trüppchen. Wie immer, wenn sie ihr Eigentum betrat, spürte sie, dass sie eigentlich hierher gehörte. Mochte das Haus auch meistens leer und verschlossen sein, so war es ihr doch, als umfingen die schützenden Wände sie warm wie die Umarmung eines Liebsten. Sie atmete leichter, und ihr Herzschlag beruhigte sich. In diesem weitläufigen uralten Gebäude fühlte sie sich sicher. Sie hatte es von ihrer Tante Dorcas geerbt, denn der Besitz ging seit Generationen stets an die weibliche Linie der Lydyards.

Am liebsten hätte sie hier gelebt, doch Wallace verbot es ihr und wies immer wieder streng darauf hin, dass sie angesichts ihres jugendlichen Alters und unverheiratet, wie sie war, nicht ohne eine Anstandsdame hier leben könne, ohne gegen die guten Sitten zu verstoßen. Er bestand darauf, dass sie bei ihm in Whitescar Hall blieb. Wie sie überhaupt erwägen könne, in diesen riesigen Bau ziehen zu wollen, der seit Jahrzehnten im Verfall begriffen war, sei ihm unbegreiflich.

Da sie nicht die finanzielle Unabhängigkeit besaß, sich dem Willen ihres Halbbruders zu widersetzen, wurde also ihr Haus verrammelt und setzte Staub an. Nur ein ältliches Faktotum und zwei Mädchen aus dem Dorf hüteten es noch. Es wurde nur noch dazu benutzt, den Freihändlern aus dem Turmzimmer in luftiger Höhe Lichtsignale zu senden.

Doch dies war nicht der richtige Moment für Selbstmitleid. Harriette wandte ihre Gedanken ihrem unerwarteten Gast zu, der gerade auf dem Bett abgelegt wurde.

„Gabriel, zünde das Feuer an, und dann schick mir Wiggins herauf, mit heißem Wasser und Tüchern, außerdem Leinenstreifen zum Verbinden. Und eine Flasche Brandy. Und hör, kein Wort zu Außenstehenden!“ Sie trat an das Bett und versuchte, dem Mann die Jacke von der verletzten Schulter zu schieben. „Schauen wir, dass wir ihn aus den nassen Sachen herausbekommen.“

„Das mach ich, Captain. Schickt sich nicht für Sie, Miss Harriette“, mahnte George.

Trotz ihrer Ungeduld musste sie lächeln, weil George sie trotz ihrer Schmugglerkluft plötzlich wieder als Herrin des Hauses wahrnahm. „Schickt sich nicht? Wenn wir nichts unternehmen, wird er ganz bestimmt sterben.“

„Es gehört sich nicht, dass Sie einen Mann bis auf die Haut ausziehen, Miss Harriette!“

„Ich weiß, wie ein Mann aussieht.“ Sie mühte sich immer noch an dem Jackett ab, wobei ihr abermals das feine Tuch und der hervorragende Schnitt auffielen. „Deine dürren Stelzen habe ich oft genug gesehen, wenn du dich am Strand ausgezogen hast, weil du pitschnass geworden warst.“

Was Gabriel, der gerade aus dem Zimmer ging, grunzend auflachen ließ.

„Mag sein, aber das ist was anderes“, sagte George störrisch. „Dieser Bursche hier ist jung und ansehnlich!“ Trotzdem begann er, dem Mann die Stiefel auszuziehen. „Machen Sie mir nur keine Vorwürfe, wenn Ihr Bruder davon hört und Sie zur Rechenschaft zieht.“

„Keine Sorge, und mit ein bisschen Glück erfährt er sowieso nichts davon.“

Während George mit den Stiefeln kämpfte, gelang es Harriette, das eng sitzende Jackett zu entfernen, allerdings nur, indem sie ein Messer zu Hilfe nahm und die Nähte auftrennte; der feine Stoff des Hemdes hingegen riss ganz leicht. Die einstmals elegante Batistkrawatte lag noch immer als Druckverband auf der Wunde. Angesichts der teuren Kleidung dachte Harriette, dass Verrat wirklich ein einträgliches Geschäft zu sein schien. Verächtlich verzog sie den Mund.

„Miss Harriette, Sie gehen jetzt besser raus.“

„Himmel, George, mach einfach!“

Unter missbilligendem „Tststs“ zog George dem Fremden Hosen und Unterwäsche aus.

Nun ja! Harriette war durchaus mit männlicher Nacktheit vertraut. Wenn an Bord des Kutters die Männer bei der schweren Arbeit ihre Jacken und Hemden abwarfen und ihre Hosenbeine hochkrempelten, hatte sie ohne Verlegenheit zugesehen, wie sich kräftige Muskeln und straffe Sehnen unter glatter Haut spannten. Schließlich war es ihre Mannschaft, da irritierte es Harriette nicht. Ein Mann war ein Geschöpf aus Fleisch und Knochen und Muskeln und für seine Aufgabe, den Elementen zu trotzen, entsprechend ausgestattet.

Noch nie jedoch hatte sie einen Mann so gesehen – völlig nackt. Einen Augenblick verhielt sie, in tiefer Bewunderung befangen.

Seine Haut war glatt, nicht von Wind und Sonne gegerbt, sein Körper prachtvoll, schlank und langbeinig, mit breiten Schultern, kraftvollen Arme und ausgeprägter Muskulatur. Vermutlich trieb er irgendeinen Sport, focht vielleicht oder boxte gar, wie es bei den vornehmen Herren gerade Mode war, und kutschierte wahrscheinlich wie der Teufel. Vor ihren Augen erstand das Bild, wie er einen Phaeton mit einem feurigen Paar edler Rösser davor mühelos beherrschte. Er mochte reich sein, träge war er nicht, wie sie es von den Kumpanen ihres Bruders kannte, deren einzige Betätigung, von der Jagd abgesehen, reichliches Essen und Trinken war.

Langsam ließ sie ihren Blick über die feste Haut seiner Brust mit dem Flaum dunklen Haares gleiten, über die schlanke Taille, die schmalen Hüften und die kraftvollen, muskulösen Schenkel. Angesichts seiner beachtlichen Männlichkeit stieg ihr die Röte in die Wangen, und der Mund wurde ihr trocken. Ihre Reaktion auf diesen Mann, den sie doch verachten sollte, entsetzte sie.

Mit einem gemurmelten Kommentar, was – und was nicht – zu sehen sich für wohlerzogene junge Damen schickte, entzog George ihr den anstößigen Anblick, indem er ein Leintuch über den immer noch Bewusstlosen breitete.

Doch Harriette stand und starrte immer noch, wie von einer unwiderstehlichen Macht gebannt. Das hier wäre der Mann ihrer Träume, wenn sie sich das Aussehen ihres zukünftigen Gemahls je ausmalen sollte. Und da war er nun, ihr ausgeliefert. Leider nicht Herr seiner Sinne. Was vielleicht besser ist, entschied sie, blinzelte kurz und brachte ihre irrenden Gedanken wieder auf Kurs, da Wiggins gerade mit den benötigten Utensilien hereinkam. Schließlich war ihr Seemannsanzug mit den Stiefeln und Hosen nicht gerade das passende Gewand, um sich einen reichen, gut aussehenden Gatten zu angeln. Oder überhaupt einen Gatten. Bisher hatte sie sich in ihren dreiundzwanzig Lebensjahren auf dem Gebiet als vollkommen erfolglos erwiesen. Ah, nicht, dass sie diesen hier gewollt hätte, mit seiner zweifelhaften Moral bezüglich seines Vaterlandes!

Sie überließ es George, den geschundenen, zerschlagenen Körper des Mannes zu waschen, während sie selbst sich um seine Verletzungen kümmerte. Bei näherer Betrachtung stellten sie sich als weniger schlimm heraus, als man auf den ersten Blick vermuten musste, denn sie bluteten kaum noch. Die Platzwunde am Kopf rührte wohl von einem heftigen Schlag her, dem Harriette auch die Verwirrtheit und streckenweise Ohnmacht des Mannes zuschrieb, schien aber nicht so gefährlich zu sein, dass man bleibenden Schaden fürchten müsste. Über eine Schulter zog sich ein hässlicher Bluterguss, wie von einem Knüppelschlag hervorgerufen, und der Schnitt auf der Wange, der nur oberflächlich war und gut heilen würde, schien von einem schmalen Dolch zu stammen. Die größte Sorge bereitete ihr die Schusswunde im linken Oberarm, die jedoch nur verbunden werden musste, da das Fleisch glatt durchschlagen worden war.

Mit Wasser, weichem Tuch und Leinenstreifen machte Harriette sich behutsam an die Arbeit, säuberte und verband die Verletzungen und gab sich erst zufrieden, als sie alles in ihren Kräften Stehende getan hatte. Vorsichtig, um ihn nicht zu stören, hockt sie sich auf die Bettkante und betrachtete den Mann. Er sah wirklich gut aus, mit männlich schönen Zügen, die eine Frau zum Träumen bringen konnten. Markant geschnitten, mit hohen Wangenknochen, gerader Nase und ebenmäßigen Brauen. Sein Mund war schön geschwungen, aber fest. Harriette stellte sich vor, wie er sich zu einem Lächeln bog oder im Zorn anspannte. Sanft zeichnete sie mit einer Fingerspitze die Konturen nach. Seine Lippen waren kühl, wie leblos.

Wie es wohl wäre, ihren Mund darauf zu drücken, sie zum Leben zu erwecken, zu spüren, wie sie sich erwärmten. Sie konnte es sich nicht vorstellen.

Sie war noch nie geküsst worden.

Erschrocken zog sie ihre Hand fort, als seine Lider plötzlich zuckten, so als spürte er, dass sie ihn ansah; dann öffneten sie sich einen Spalt, doch sein Blick blieb verschwommen. Undeutlich murmelte er: „Wo ist sie? … Sie haben versprochen … hatten abgemacht …“

Harriette beugte sich vor, um besser verstehen zu können. Weich strich sie über seine Stirn, seine Wange.

„Sie müssen sie gehen lassen … mit mir …“

Also schien er jemanden zu suchen, ein weibliches Wesen. Harriette, jäh von scharfem Bedauern erfasst, wagte eine neuerliche Liebkosung. Jene Frau war ihm also wichtig, er ängstigte sich um sie. Wie würde sie sich fühlen, wenn sie die Frau wäre, um die er sich derart sorgte? Ihr wurden die Wangen heiß, und ihr Herzschlag stockte kurz. Wie es wohl wäre, von einem so begehrenswerten Mann derart hoch geschätzt zu werden, dass er sich dafür in Gefahr, sogar in Todesgefahr, begab? Wie wäre es, sich von diesen seinen Armen umfangen zu fühlen, eng umfangen …

Wie närrisch! Wie anstößig! Was würde Wallace sagen, wenn er ihre unziemlichen Gedanken lesen könnte? Hastig riss sie ihre Hand fort und sprang auf. Alberne Mädchenträume! Wenn es nach ihrem Bruder ginge, würde sie als Gattin eines seiner trinkfreudigen, öden, abstoßenden Kumpane enden. Schluss mit dem Geseufze und den Wunschvorstellungen eines Schulmädchens angesichts eines schönen Mannes. Und wo sollte sie wohl einen Mann wie diesen kennenlernen? Nie im Leben würde sie Wallace überreden können, ihr eine Saison in London zu spendieren. Oder wenigstens in Brighton.

„Wo ist sie? … Sie haben versprochen … kann sie nicht im Stich lassen.“

Angesichts seiner offensichtlichen Pein konnte Harriette nicht anders, sie strich ihm das wirre Haar aus der Stirn. „Nur ruhig … Sie sind versorgt.“ Wie aufgewühlt er war!

„Helfen Sie mir …“, stöhnte er, dann senkten sich die Lider mit den langen, dunklen Wimpern erneut.

„Aber ja. Und nun schlafen Sie.“ Sie drückte sanft seine Hand und spürte, wenn auch schwach, dass er den Druck erwiderte, spürte, wie sich seine Finger wie besitzergreifend um die ihren schlangen, als ob ein unlösbares Band zwischen ihnen bestünde.

Ihr Herz pochte schneller in ihrer Brust, sie sog einen zitternden Atemzug ein; in diesem einen Augenblick wollte sie nur eines, hier an seiner Seite bleiben, ihn trösten, seine Schmerzen lindern.

Du bist verliebt!, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Du hast dich in ihn verliebt.

„Nein, habe ich nicht! Natürlich nicht!“, sagte sie laut, während sie ihre Hände hastig hinter dem Rücken versteckte wie ein kleines Mädchen, das bei einer Missetat erwischt worden war – und damit sie ihn nicht abermals berührte, wonach es sie sehnlich verlangte. „Wie kann ich bloß so albern sein!“ Doch ihr Atem ging keuchend, ihr Gesicht brannte, und das Blut rann ihr stürmisch durch die Adern und erhitzte jeden Teil ihres Körpers.

„Na, Miss Harriette? Bedauern Sie schon, ihn hergebracht zu haben?“ George Gadie kam und schaute auf das Bett nieder. „Aber er wird’s überleben, glaub ich.“

„Mehr können wir jetzt auch nicht tun.“ Harriette fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, mimte jedoch Gleichgültigkeit. Sie ärgerte sich über sich selbst und betete stumm um eine Portion Vernunft. „Lassen wir ihn in Ruhe. Wir werden sehen, ob er sich erholt. Eins der Mädchen – Jenny – kann sich hersetzen und auf ihn aufpassen.“

„Wenn Sie mich dann nicht mehr brauchen, komm ich morgen wieder, Captain.“

„Du hast heute schon genug für mich getan, George.“ Dankbar legte sie ihm ihre Hand auf den Arm. „Geh nur, deine Frau soll wissen, dass alles gut gegangen ist. Es war ein feiner Törn.“

„Ja, das war’s. Ich hoffe nur, dass der hier Ihnen nicht mehr Ärger macht, als er wert ist. Vielleicht hätten wir ihn doch ins Gasthaus schaffen sollen, wie Mr. Alexander vorschlug.“

„Hättest du Gabriel in einem solchen Fall in Mr. Babbacombes Hände gegeben?“

Zwar bestand Georges Antwort nur aus einem Grunzlaut, der aber alles sagte. Harriette wandte sich an Jenny, die eben hereinkam. „Wenn er aufwacht oder sein Zustand sich verschlimmert, schick nach mir“, erklärte sie ihr. „Vermutlich wird er aber die Nacht durchschlafen und vielleicht noch länger.“

Nachdem das Mädchen sich, mit einem Korb Nähzeug bewaffnet, auf dem Stuhl neben dem Bett niedergelassen hatte, ging sie hinaus und langsam die Stufen hinab, in Gedanken immer noch bei dem Mann, der die erstaunliche Macht besaß, ihr Blut in Wallung zu bringen. Auf halber Treppe kam ihr Meggie schwerfällig entgegen, unter jedem Arm einen Weidenkorb.

„Na, Miss Harriette, um was geht’s denn?“, keuchte sie.

Harriette winkte ihr. „Komm mit, du wirst schon hören.“ Der älteren Frau voran stieg sie zurück in den ersten Stock zu dem Schlafzimmer, das sie benutzte, wenn sie ihrem Bruder und seiner herrischen Frau für eine Weile entkommen wollte. Was Sauberkeit und Möblierung anging, war es kaum besser als das, in dem sie den Fremden untergebracht hatte, doch an den mangelnden Komfort gewöhnt, beachtete sie das gar nicht, sondern schritt unverzüglich zum Fenster, das einen weiten Ausblick über die Bucht und die atemberaubende Küstenlandschaft bot.

Meggie, breit und untersetzt, mit ehrlichem, geradlinigem Blick, setzte ihre Last auf dem Bett ab. Schon länger, als sie denken konnte, war sie Miss Harriettes Hüterin und Dienerin und somit an deren exzentrische Anwandlungen gewöhnt, wenn sie sie auch nicht unbedingt billigte. Doch sie nahm kein Blatt vor den Mund. „Was haben Sie nun wieder angestellt, Miss? Mr. Alexander wollt’ es nicht sagen.“

Harriette wusste, dass sie ihr vollkommen vertrauen konnte. Sie sagte: „Ich glaube, ich habe einem Spion das Leben gerettet.“

„Nein, ein Spion? Meinen Sie, das wär’ richtig?“ Meggie klang keineswegs empört.

„Nein, aber ich konnte ihn doch nicht einfach sterben lassen. Übrigens sind seine Kleider völlig verdorben.“ Von einem grell leuchtenden Farbklecks angezogen, ging sie zum Bett und zog aus dem einen der Körbe eine schreiend rot und golden gemusterte Hausjacke mit schwerer Goldschnürung heraus, auf der gewaltige chinesische Drachen eingewebt waren.

Trocken erklärte Meggie: „Um das hier freiwillig zu tragen, muss er schon an der Schwelle zum Tode sein!“

Harriette schmunzelte. „Sir Wallace hält sich für den Inbegriff eines Dandys.“ Sie warf sich die Jacke um und stolzierte mit bemerkenswert an ihren bombastischen Halbbruder erinnernder Haltung durchs Zimmer. „Was den Bewohner meines einzigen möblierten Gästezimmers angeht, so bleibt ihm keine Wahl, so geschmacklos dieses Teil auch sein mag.“ Aufschauend fragte sie: „Was hat mein Bruder gesagt? Oder konntest du ihm die Nachricht vorenthalten?“

„Es war eher Ihre Ladyschaft, die sich aufregte. Sir Wallace ist geschäftlich in Lewes. Wie Sie sich wohl denken können, war Lady Augusta nicht eben erfreut.“

Bei dem Gedanken an Lady Augustas permanent mürrisch verzogenen Mund zog Harriette eine Grimasse, obwohl sie sich mit der Missbilligung ihrer Schwägerin längst abgefunden hatte. „Ich hatte gehofft, Alex wäre ein wenig diskreter. Lady Augusta weiß also von dem heutigen Törn?“

„Natürlich, man kann’s wohl kaum geheim halten, wenn sämtliche Männer in Old Wincomlee wissen, wer Captain Harry ist. Aber zumindest sind sie klug und treu genug, vor den Zolloffizieren schön den Mund zu halten. Und trotz seines Amtes als Friedensrichter wird Sir Wallace denen auch nichts sagen. Der weiß, woher sein guter Cognac stammt. Aber sobald er zurück ist, wird er hier auftauchen, um zu sehen, was Sie wieder im Schilde führen! Und warum Sie noch nicht wieder in Whitescar Hall sind und im feinen Kleid die Dame mit Geschmack und Eleganz spielen!“

„Weil ich dann vor Langeweile sterben würde. Hoffen wir nur, dass Wallace über Nacht fortbleibt, damit ich hier noch eine Zeit lang ungestört bin.“ Mutwillig lächelnd fügte sie hinzu: „Ah, am besten schicke ich eine Nachricht, dass ich mich erkältet habe – nein, besser noch, ich habe mich an der französischen Küste mit einem Fieber angesteckt. Wallace hat eine wahnsinnige Angst vor Krankheiten; das wird ihn fernhalten.“ Sie fuhr sich mit den Fingern durch das zerzauste Haar. „Vielleicht bringt mir das eine ganze Woche Freiheit ein. Wenn er denkt, dass ich ihm ein grässliches Leiden anhänge – noch dazu eins aus dem Ausland, vom Feind! –, wird er bestimmt nicht nach mir schauen!“

Meggie schnaufte belustigt, wurde aber gleich wieder ernst. „Miss Harriette, ganz unrecht hat Lady Augusta nicht; Sie sollten längst verheiratet sein. Obwohl ich niemanden wüsste, der Ihrer wert ist.“ Als Harriette gespielt angriffslustig auf sie zumarschierte, wechselte sie schnell das Thema. „Ich hab’ Ihnen Kleidung mitgebracht, damit Sir Wallace, falls er doch kommen sollte, wenigstens an Ihrer Erscheinung nichts auszusetzen findet.“ Grimmig musterte sie die ausgebleichte, fleckige Seemannskluft. „Weiß der Kuckuck, was er sagen würde, wenn er Sie so sähe …“

Es klopfte leicht an der Tür, und Jenny kam herein. Ohne die unpassende Kleidung ihrer Herrin zu beachten, knickste sie und sagte: „Der Gentleman ist wach, Miss.“

„Tatsächlich? Er hat eine kräftigere Konstitution, als ich dachte. Ich komme.“

„Aber nicht so!“ Energisch hielt Meggie sie am Arm zurück. „Was soll er denn denken?“

„Das ist mir gleich.“ Oder doch nicht? Normalerweise gab sie nichts auf ihr Äußeres, schon gar nicht, wenn es auf einen Törn ging, doch wollte sie wirklich, dass dieser unbekannte Herr sie derart zerzaust und schmutzig sah? Dass er mit entsetzt aufgerissenen Augen ihre unschickliche Kleidung anstarrte? Die Missbilligung ihres Halbbruders war ihr gleichgültig. Aber ihr gefangener Spion … Ihre Wangen färbten sich vor Scham tiefrot bei dem Gedanken, dass er sie für sittenlos und überspannt halten mochte. Andererseits … „Andererseits – vielleicht äußert sich unser Gast offener, wenn er glaubt, mit einem Mann zu sprechen. Einer Frau gegenüber wird er seine krummen Wege nicht erwähnen …“ Mit einer raschen Geste zog sie sich die Mütze fest über die Ohren und stopfte ihr Leid gewohntes Haar darunter. „Zu einem Schmuggler hat er vielleicht Vertrauen; so unter Schurken redet es sich leichter. Was ist schon der Unterschied zwischen einem Schmuggler und einem Spion? So wird doch mancher denken, nicht wahr? Da, seht her: Harry Lydyard!“ Sie reckte sich ein wenig und stolzierte in ihren Hosen und Stiefeln mit männlichem Schritt hinaus.

„Eines Tages werden Sie in Teufels Küche kommen, mein Mädchen!“, rief Meggie ihr nach.

„Aber es macht das Leben so aufregend!“, entgegnete Harriette. Ihre unbewusst verdüsterte Miene zeigte teils Melancholie, teils Bedauern. „Warum soll ich einen von Wallaces betrüblichen Freunden heiraten wollen, wenn ich die Lydyard’s Ghost durch die raue See jagen kann.“

Das Erste, was Lucius Hallaston spürte, war hämmernder Kopfschmerz, so als ob sein Schädel in einen Eisenring gespannt worden wäre. Und als reichte das nicht, pochte es in seiner Schulter zum Gotterbarmen, und sein linker Arm brannte wie Feuer. Gab es eine Stelle an seinem Körper, die nicht schmerzte?

Er wollte sich aufsetzen, unterließ den Versuch aber sofort, als er merkte, dass ihm schwindelig wurde und seine Gedanken sich verwirrten. Lohnte es sich überhaupt, sie zu sammeln, wo doch hinter seiner Stirn schmerzhaft ein Paukenkonzert dröhnte? Vage, lückenhafte Erinnerungen fanden sich ein. Lucius schüttelte, wie um seine Gedanken zurechtzurücken, den Kopf und wünschte sofort, er hätte davon abgesehen.

Schließlich öffnete er vorsichtig die Augen. Ein düsterer Raum, verstaubte Bettvorhänge, kaum Mobiliar. Das Leintuch, unter dem er lag, war zerschlissen und roch muffig, schien aber zumindest sauber. Wo, zum Teufel, war er? Neben seinem Bett saß, über eine Flickarbeit gebeugt, ein junges Mädchen, eine Magd ihrer Kleidung nach.

„Wo bin ich?“ Seine Stimme aus völlig ausgetrockneter Kehle war mehr ein Krächzen.

„Oh, Sie sind wach, Sir“, bemerkte das Mädchen und stand auf.

„Ja.“ Sogar für ihn selbst klang seine Stimme wie eingerostet. „Bitte, sagen Sie …“

Doch da war sie schon gegangen, und während er sich noch fragte, ob er sie sich nur eingebildet hatte, wurde es abermals dunkel um ihn. Als er wieder zu sich kam, drang eine andere Stimme zu ihm durch. Ebenfalls weiblich, doch kühl und ruhig, befahl sie ihm, den Mund zu öffnen und zu trinken. Ein Arm schlang sich um seine Schultern und hob ihn ein wenig an, und ein Becher wurde an seine Lippen gedrückt. Er schluckte, und ein belebender, nach Zitrone schmeckender Trank rann lindernd durch seine raue Kehle. Von irgendwo her drang ihm Lavendelduft in die Nase. Er wollte sich bedanken, brachte jedoch nur einen unverständlichen Laut hervor. Wem gehörte die Stimme? Darüber nachzudenken fiel ihm zu schwer, also gab er auf und schlief erneut ein.

Als schließlich sein Bewusstsein wiederkehrte, kehrte langsam auch sein Erinnerungsvermögen zurück. Er war auf einem Schiff gewesen. Und man hatte ihn drangekriegt … in einem französischen Hafen … Port St Martin. Und dann erinnerte er sich, dass er versagt hatte, überlistet worden war. Dieser Schuft Jean-Jacques Noir, der hatte ihn ausgeschaltet. Scham und Wut stiegen in ihm auf, weil er sich derart hatte hereinlegen lassen, aber natürlich hatte er auch nicht mit einem Hinterhalt gerechnet. Zu naiv, das war er. Und man hatte auf ihn geschossen, zumindest erinnerte er sich an einen starken Schmerz, und dann war alles um ihn her dunkel geworden.

Er hatte keine Ahnung, wer ihn gerettet hatte. Da war der Überfall auf dem Kai, und danach wusste er nur, dass er in einem kleinen Schiff lag, das unangenehm schwankte. Ah ja, er hatte gesagt, dass er zurück nach Frankreich müsse … und dann nichts mehr.

Als er ein Geräusch hörte, hob er den Kopf, ließ ihn aber gleich mit einem schmerzerfüllten Stöhnen wieder aufs Kissen sinken. Durch die Tür trat ein junger Mann in Seemannskleidung – tief in die Stirn gezogene Wollmütze, schwere Stiefel, weite Hosen, ein grobes, kittelartiges Hemd, alles ausgebleicht und salzverkrustet – und nahm den Stuhl am Bett ein.

Lucius fand sich von einem Paar kühl blickender Augen gemustert, so hellgrau, dass sie fast silbern wirkten.

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