Wenn die Liebe zurückkehrt

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Mac ist wieder da! Der Selfmade-Millionär ist zurückgekehrt, um seine geliebte Pflegemutter zu besuchen. Doch für Lucy, die in den Rebellen von einst verliebt war, wird das Wiedersehen mit Mac eine Reise in die Vergangenheit. Voller Schmerz – aber da ist noch etwas anderes. Hoffnung?


  • Erscheinungstag 18.04.2024
  • ISBN / Artikelnummer 9783751529303
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Hudson Group, was kann ich für Sie tun?“

„Ich möchte bitte Macintyre Hudson sprechen.“

Das Schweigen am anderen Ende der Leitung war vielsagend. Man rief nicht einfach bei einem millionenschweren Konzern an und verlangte nach dem CEO.

„Mr. Hudson ist leider im Moment nicht zu sprechen“, erklang es schließlich kühl. „Ich kann ihm gern eine Nachricht zukommen lassen.“

Lucy erkannte die Stimme. Sie gehörte derselben hochnäsigen Sekretärin, die ihren Namen und ihre Telefonnummer schon dreizehnmal in dieser Woche aufgeschrieben hatte.

Mac würde nur mit ihr sprechen, wenn er es selbst wollte. Offenbar wollte er nicht. Lucy musste sich zwingen, nicht einfach aufzulegen. Sie durfte nicht aufgeben! Es wurde Zeit, die Taktik zu ändern.

„Es ist eine dringende Familienangelegenheit.“

„Er ist nicht in seinem Büro. Ich muss nachsehen, ob er im Gebäude ist, und ich werde ihm sagen müssen, wer angerufen hat.“

Lucy spürte den leichten Argwohn in der Antwort, als sei auch ihre Stimme erkannt worden. Vermutlich stand sie schon auf der schwarzen Liste derer, für die Mac niemals zu sprechen war.

„Sagen Sie ihm, Harriet Freda hat angerufen.“ Ihr war selbst nicht ganz wohl bei dieser Lüge. Verlegen schabte sie einen lila Farbfleck von ihrem Daumennagel.

„Mr. Hudson wird zurückrufen, sobald ich ihn erreicht habe.“ Die Ungeduld am anderen Ende war unüberhörbar.

„Es ist schon gut, ich kann warten“, entgegnete Lucy entschlossen. Sie wollte sich auf keinen Fall abwimmeln lassen.

Während sie wartete, blickte sie auf den Zettel in ihrer farbverschmierten Hand. Darauf stand eine lange Liste von Namen, alle durchgestrichen bis auf einen. Dieser Name stach hervor, als sei er mit Leuchtfarbe geschrieben.

Macintyre W. Hudson. Der Junge, der mein Leben ruiniert hat.

Wie mit einem Fingerschnips waren sieben Jahre verschwunden, und sie konnte ihn vor sich sehen: Mac Hudson, der bestaussehende Junge in der Schule mit dem verschmitzten Lächeln, dem Funkeln in den Augen und dem stets zerzausten schokoladenbraunen Haar.

Bei der Erinnerung spürte Lucy ein Prickeln auf ihrer Haut. Sie wusste genau, wie dieser Junge ihr Leben ruiniert hatte. Allerdings war er jetzt kein Junge mehr, sondern ein erwachsener Mann.

Im nächsten Moment schimpfte sie mit sich selbst. Nein, er hat nicht dein Leben ruiniert, sondern sich allenfalls ein paar Augenblicke gestohlen.

Aber was für Augenblicke! Die Stimme in ihrem Inneren war sehr eindringlich.

„Unsinn!“, widersprach Lucy lautlos, doch ihre in diesen Tagen ohnehin nicht besonders ausgeprägte Zuversicht schwand. Im Moment fühlte sie sich, als sei sie mit allem, was sie je begonnen hatte, kläglich gescheitert.

Sie hatte nicht die Universität besucht, wie es sich ihre Eltern gewünscht hatten, sondern war stattdessen Angestellte in einem Buchladen im Nachbarort geworden.

Dort hatte sie sich hochgearbeitet, bis sie das Geschäft schließlich gemeinsam mit ihrem Verlobten übernehmen konnte. Das Glück hatte nicht lange gewährt. Nach ihrer beschämenden, in aller Öffentlichkeit ausgetragenen Trennung hatte sie den dem Buchladen angeschlossenen Coffeeshop abgestoßen und sich nur noch auf den Buchverkauf konzentriert.

Nun war sie zurück in ihrem Heimatort Lindstrom Beach und leckte ihre Wunden. Ihre verwitwete Mutter hatte ihr großzügig den alten Familiensitz am Ufer des Sunshine Lake überlassen, bevor sie wieder heiratete und nach Kalifornien umsiedelte. Das alte Haus war seit Generationen im Besitz der Lindstrom-Familie, und so sollte es auch bleiben. Das hatte ihre Mutter überzeugend erklärt, und das Timing hätte nicht besser sein können. Dennoch hatte Lucy das ungute Gefühl, dass ihre Mutter glaubte, das Kind würde es ohne ihre Hilfe nicht schaffen.

Aber ich habe einen Traum, erinnerte sie sich selbst entschlossen, während sie darauf wartete, dass Mac ans Telefon kam. Ungeduldig trommelte sie mit den Fingern auf der Tischplatte, während sie der Musik am anderen Ende lauschte. Es war die Melodie eines Liedes über einen Rebellen. Sie hatte es immer mit Mac in Verbindung gebracht. Unwillkürlich summte sie mit. Es ging um einen Jungen, der alles riskierte, nur nicht sein Herz.

Genauso war Macintyre Hudson immer gewesen. Es war schwer vorstellbar, dass der früher so aufsässige Halbstarke aus Lindstrom Beach jetzt ein millionenschweres Unternehmen führte, das die unglaublich populären Wildside-Outdoorprodukte vertrieb.

Unwillkürlich schrak Lucy zusammen, als plötzlich die Musik verstummte.

„Mama?“

Mac klang besorgt. Seine Stimme war tiefer als noch vor ein paar Jahren, aber sie hatte dieselbe sinnliche Schwingung, die ihr immer einen Schauer über den Rücken hatte laufen lassen. Entschlossen rief sich Lucy zur Ordnung.

Jetzt war nicht der Augenblick, sich in Erinnerungen zu verlieren oder an das Bild von ihm auf seiner Website zu denken. Im Stillen hatte sie gehofft, dass er seit damals vielleicht dick geworden oder dass ihm die Haare ausgegangen wären. Doch das Foto hatte sie eines Besseren belehrt. Es war kein langweiliges Porträt in Schlips und Anzug, wie sie es vom Chef einer international tätigen Firma wie der Hudson Group erwartet hatte. Nein, das Bild zeigte den Entwickler der Wildside-Produkte bei einer Testfahrt mit dem neuen Kajak, dem Wild Ride. Er stürzte sich damit auf einem Wildwasserfluss mitten zwischen Felsen hindurch. Umgeben von schäumender Gischt hatte die Kamera Macintyre Hudson mit seiner ganzen maskulinen Ausstrahlung eingefangen.

Er trug eine Rettungsweste, ebenfalls ein Produkt seiner Firma, die seine breiten Schultern und die kräftigen Muskeln seiner sonnengebräunten Arme sichtbar ließ. Er schien in seinem Element, und der Blick aus seinen dunklen Augen verriet Konzentration und Entschlossenheit.

Ob er noch Haare hatte, verriet das Foto nicht, denn er trug einen Helm aus der neuesten Wildside Linie.

„Mama?“, fragte er erneut. „Was ist los? Warum hast du nicht meine private Nummer gewählt?“

Auf diesen Moment war Lucy vorbereitet. Im Stillen war sie wieder und wieder durchgegangen, wie sie dieses Gespräch bestreiten wollte. Doch bevor sie ein Wort sagen konnte, stieg plötzlich ein anderes Bild aus ihrem Gedächtnis auf und überlagerte die Aufnahme im Kajak.

Dieses Bild zeigte einen jüngeren Mac Hudson, der sich gerade aus dem See auf den Steg hinaufstemmte. Wasser perlte über seinen perfekten, sonnengebräunten Körper. Er blickte zu ihr auf, und in seinen Augen glitzerte es verführerisch.

Liebst du mich, Lucy Lin?

Niemals hatte sie ich liebe dich von ihm gehört.

Diese Erinnerung bestärkte sie in ihrem Entschluss, keine Schwäche zu zeigen. Mac war ein außerordentlich gut aussehender Mann, und er benutzte sein Aussehen, wie wohl die meisten gut aussehenden Kerle, in niederträchtiger Weise. Sie war ein gebranntes Kind. Ihr Verlobter war zwar ein eher unscheinbarer Bücherwurm gewesen, aber dabei nicht weniger hinterhältig. Nach solch leidvollen Erfahrungen spielten Romanzen in ihrer neuen Lebensplanung keine Rolle mehr.

In diesem Vorsatz bestärkt, befahl sich Lucy nicht zu stottern, als sie nun Mac antwortete: „Nein, tut mir leid, hier ist nicht Mama Freda.“

Es entstand eine lange, unheilvolle Pause. Im Hintergrund hörte sie geschäftiges Treiben. Als Mac schließlich wieder zu hören war, nahm sie das als positives Zeichen. Wenigstens hatte er nicht sofort aufgelegt.

„Na sieh mal einer an!“, sagte er. „Lucy Lindstrom! Ich hoffe, du hast eine gute Ausrede. Ich stehe nämlich hier tropfnass.“

„Im Büro?“, entgegnete sie überrascht.

„Ich war mit meiner Sekretärin Celeste in der Badewanne“, erklärte er trocken. „Was kann ich für dich tun?“

Geh nicht darauf ein, befahl sie sich, doch ihre Neugier war stärker als der gute Vorsatz.

„Du hast eine Badewanne im Büro?“

„Natürlich nicht – und auch keine Celeste, aber einen großen Wassertank, in dem wir neue Kajaks testen können.“

Lucy hatte in den vergangenen Jahren gelegentlich auf der Website von Macs rasant wachsender Firma gestöbert. Mit Zubehör für Outdooraktivitäten hatte er klein angefangen. Dann hatte er mit Kanus zu handeln begonnen, schließlich eigene Boote entwickelt, und inzwischen führte er eine eigene, sehr erfolgreiche Marke für Outdoorkleidung. Er stand persönlich für den Namen der Produkte, von denen seine Kundschaft schwärmte: Wildside.

Er hatte die ganze Wildheit seiner Jugend in einen riesigen Geschäftserfolg umgemünzt und hatte immer noch seinen Spaß dabei. Wer sonst konnte Kajaks im Büro testen? Aber Mac war es immer um den Spaß gegangen. Manche Dinge ändern sich eben nie.

Jetzt allerdings wirkte er nicht besonders gut gelaunt. „Ich bin nass, und das Boot ist noch nicht serienreif. Du solltest also etwas sehr Wichtiges zu sagen haben.“

„Dieses ist sehr wichtig“, sagte sie.

„Meine Arbeit ist das auch.“ Er seufzte genervt. „Manche Dinge ändern sich wohl nie“, wiederholte er nichtsahnend ihren Gedanken. „Die verwöhnte Arzttochter, Sprecherin des Schülerbeirats und Anführerin der Cheerleader war es immer schon gewöhnt, ihren Kopf durchzusetzen.“

Dieses Mädchen in Designerjeans, mit Goldkettchen am Hals und Dauerlächeln im Gesicht gab es schon lange nicht mehr.

Macs Urteil war so unfair! In den letzten Jahren war sie alles andere als verwöhnt worden. Gerade jetzt versuchte sie, ihren Buchladen in einen gut funktionierenden Onlineshop umzuwandeln und gleichzeitig Boote am Steg vor ihrem Haus zu vermieten. Sie musste mühsam für ihren Lebensunterhalt selbst sorgen.

Die Renovierungsarbeiten an ihrem Haus machte sie selbst, und sie lebte von Makkaroni und Käse. Seit mehr als einem Jahr war sie nicht mehr shoppen gewesen. Jeden Cent legte sie beiseite in der Hoffnung, dass ihr Traum eines Tages Wirklichkeit würde. Als sei das nicht genug, verbrachte sie viel Zeit bei Mama Freda, um dort auszuhelfen.

Dennoch behielt sie ihren Protest lieber für sich. Schließlich hatte sie sich einer Notlüge bedient, um zu ihm durchzudringen.

„Es war unabdingbar, dass ich mit dir spreche“, sagte sie bestimmt.

„Aha. Unabdingbar. Das klingt sehr amtlich. Fast wie der königliche Erlass einer Prinzessin.“

Anscheinend wollte er sie daran erinnern, wer sie gewesen war, bevor er ihr Leben zerstörte: eine selbstbewusste, beliebte Einserschülerin, die sich nie in Schwierigkeiten befunden und nie etwas Falsches gemacht hatte … oder Mutiges … oder Abenteuerliches.

Für die junge Lucy Lindstrom bestand ein schöner Tag daraus, shoppen zu gehen oder mit ihren Freundinnen auf der Terrasse zu faulenzen und sich gegenseitig die Fußnägel pink zu lackieren. Zu ihrer Vorstellung von einem gelungenen Abend gehörte es, im Kreise ihrer Clique zu sitzen und zur Gitarre zu singen.

Bevor sie Mac kennenlernte, war das Aufregendste, das ihr je passiert war, der Brief mit der Zulassung zum College ihrer Wahl.

„Dass du eine verwöhnte Göre bist, wusste ich ja“, fuhr Mac fort, „aber für eine Lügnerin habe ich dich nie gehalten.“

Dabei war er selbst es gewesen, der sie an dem Tag, an dem er aus Lindstrom Beach verschwunden war, zu ihrer verhängnisvollsten Lüge verleitet hatte. Verletzt und wütend, weil er sie nicht gebeten hatte, mit ihm zu gehen, hatte sie stolz den Kopf in den Nacken geworfen und ihm entgegengeschleudert: „Einen wie dich würde ich niemals lieben können.“ Eine aus der Kränkung geborene reine Schutzbehauptung. In Wahrheit war sie hoffnungslos verliebt in Mac.

Energisch verdrängte sie die Erinnerung an jenen Sommer. „Ich muss unbedingt mit dir sprechen“, sagte sie mit mühsam beherrschter Stimme.

„Ja, das sagtest du schon. Unabdingbar.“

Er hatte seinen Sarkasmus anscheinend zur Kunstform entwickelt.

„Es tut mir leid, dass ich angedeutet habe, ich sei Mama Freda.“

„Angedeutet?“, entgegnete er spöttisch. „Das klingt natürlich viel netter als gelogen.“

„Ich musste irgendwie an dem Wachhund an deinem Telefon vorbei!“

„Das war nicht nötig. Ich habe alle deine Botschaften erhalten.“

„Dann müsstest du doch wissen, dass ich unbedingt mit dir persönlich sprechen muss!“

„Es gibt nichts zu besprechen.“ Seine Stimme klang jetzt kühl. „Ich habe alle Informationen erhalten. Du willst eine Gala zu Ehren von Mama Fredas Lebenswerk veranstalten. Es soll eine Kombination aus ihrem achtzigsten Geburtstag und dem Muttertag sein. Das gesammelte Geld soll ihren wohltätigen Projekten zugutekommen. Sie weiß von der Gala und von der Sammelaktion, aber sie soll unter keinen Umständen erfahren, dass alles ihr zu Ehren veranstaltet wird.“

Lucy war erstaunt, dass er offenbar all ihre Nachrichten erhalten hatte. Warum hatte er dann nie zurückgerufen?

Mama Freda war Lucys Rettungsanker gewesen. Völlig verzweifelt hatte sie Zuflucht bei ihr gesucht.

„Wenn du glaubst, dass du den Schmerz nicht mehr ertragen kannst, Kleines, dann denk nicht mehr an dich selbst, sondern an andere.“ Das war der Rat der weisen alten Frau gewesen.

Harriet Freda hatte Lucys Traum am Leben erhalten, hatte sie ermutigt und nach jeder Niederlage wieder aufgerichtet. Es war an der Zeit, sich für all das zu bedanken.

„Am zweiten Sonntag im Mai“, hörte sie Mac mit unüberhörbar missbilligender Stimme herunterbeten. „Dinner im Lindstrom Beach Yachtclub. Festliche Kleidung erwünscht.“

Sie konnte sich denken, woher seine Ablehnung rührte. „Ich weiß, dass dir das nicht gefällt, aber der Yachtclub hat den einzigen Saal für eine solche Veranstaltung. Ich erwarte über hundert Gäste aus Lindstrom Beach und der näheren Umgebung.“

„Damals war ich denen nicht gut genug für einen Job als Tellerwäscher.“

„Erzähl nichts! Du hast dich nie um einen Job im Yachtclub beworben.“

Mac war eines aus einer langen Reihe von Pflegekindern, die bei Mama Freda Zuflucht gefunden hatten. Schon in seiner Jugend hatte er trotz verblichener T-Shirts und abgewetzter Jeans den Kopf hochgetragen wie ein König. Stolz schien ihm angeboren, und die leiseste Provokation ließ ihn in die Luft gehen, bis er lernte, seinen Zorn hinter seinem verzaubernden Lächeln zu verbergen.

„In den Ferien hattest du einen Job bei der Stadtverwaltung. Du hast Gräben für das neue Abwassersystem ausgehoben.“

„Vielleicht keine hoch angesehene, aber eine ehrliche Arbeit“, erwiderte Mac.

Angesehen oder nicht, sie konnte sich an die Muskeln unter der gebräunten Haut erinnern. Wieder verloren sich ihre Gedanken einen Moment in der Vergangenheit.

Mac deutete ihr Schweigen als Missbilligung. „Es liegt in der Familie. Mein Vater hat auch im Tiefbau geschuftet. Sie nannten ihn Digger Dan.“

Lucy war erstaunt. Das hatte sie nicht gewusst. Sie kannte Mac, seit er in das Haus nebenan gezogen war. Er war damals vierzehn gewesen, ein Jahr älter als sie. Wann immer sie sich begegneten, hatte er sie geneckt und geärgert. Dass sie sich alles schweigend gefallen ließ, nahm er als Beweis für die Hochnäsigkeit ihrer Familie.

In Wahrheit war sie fasziniert von ihm. Nie zuvor und auch niemals seitdem war sie jemandem wie Mac begegnet. Er war ein Freigeist, furchtlos und ohne Achtung vor Konventionen. Sie erinnerte sich, wie der vierzehnjährige Bursche an ihrem Haus vorbeiglitt, das Kanu schwer mit Campingausrüstung beladen. Nachts konnte sie dann sein Lagerfeuer auf der anderen Seite des Sees beobachten. Die Leute nannten dieses Ufer die wilde Seite, denn dahinter erstreckte sich unberührtes, dicht bewaldetes Gelände. Manchmal blieb Mac das ganze Wochenende dort. Ganz allein. Sie hätte sich das nie getraut. Angeblich gab es drüben in der Wildnis sogar Bären.

In der Woche, in der sie mit dem Preis als beste Schülerin ausgezeichnet worden war, hatte er sich einen Eintrag wegen wiederholten Fluchens eingehandelt.

Sie bekam an ihrem sechzehnten Geburtstag einen Kleinwagen geschenkt, während er sich von seinem gesparten Geld ein klappriges Motorrad kaufte. Als er sich in Mamas Garten sein erstes Kanu baute, saß sie auf der Terrasse und lackierte ihre Fußnägel.

Dass er jetzt seinen Vater erwähnte, war erstaunlich. Niemals, nicht einmal in dem Sommer, den sie zusammen verbrachten, hatte er auch nur ein einziges Detail über sein Leben vor der Ankunft in Lindstrom Beach preisgegeben. Hatte ihn das Leben in der großen Stadt tatsächlich so verändert?

Sie unterdrückte, was sich lächerlicherweise wie ein Hoffnungsfunken anfühlte, und erwiderte kühl: „Es ist mir eigentlich auch egal, ob du zur Gala kommst oder nicht.“

Alle Menschen, denen Mama etwas bedeutete … bis auf ihn bisher … hatten ihr Erscheinen zugesagt. Nur ihre eigene Mutter hatte erklärt, dass ihr die Safari in Afrika wichtiger sei als die alte Frau aus dem Nachbarhaus. Allerdings hatten auch viele ihrer früheren Mitschüler mit allen möglichen Ausreden abgesagt.

Am anderen Ende blieb Mac stumm, und Lucy erlaubte sich das kleine Triumphgefühl, dass sie ihn verunsichert hatte. „Außerdem tut es mir leid, dass ich dir deinen Muttertag verdorben habe“, fuhr sie fort.

„Was meinst du mit meinem Muttertag?“, fragte er argwöhnisch zurück.

Das war schon immer das Problem mit Mac gewesen. Er ließ niemanden nahe genug an sich heran.

„Ich habe den Muttertag wegen seiner symbolischen Kraft gewählt. Auch wenn Mama Freda nie eine biologische Mutter gewesen ist, so war sie es doch im übertragenen Sinne für so viele. Für mich ist sie geradezu ein Sinnbild für wahre Mutterliebe.“

„Es ist mir egal, welchen Tag du ausgesucht hast!“

„Nein, das ist es nicht.“

„Es ist genau wie früher“, spottete Mac. „Ein Gespräch mit dir ist wie das Überqueren eines Minenfeldes.“

„Du findest, der Muttertag gehört dir und Mama Freda, und ich habe ihn gestohlen.“

„Das ist eine interessante Theorie.“ In seiner Stimme war eine plötzliche Kälte, die sie warnte, doch sie konnte nicht aufhören. Sie wusste, dass sie ihn jetzt gepackt hatte, und das gelang selten mit Mac Hudson. Man mochte glauben, ihn in die Enge getrieben zu haben, doch dann erschien dieses spöttische Grinsen in seinem Gesicht, das zu sagen schien: Ihr könnt mich alle mal.

„Jedes Jahr zum Muttertag versuchst du, dich selbst zu übertreffen“, erinnerte sie ihn. „Du lässt sie mit einer Stretchlimousine abholen. Dann fliegst du mit ihr irgendwohin, so wie letztes Jahr zum Konzert von Engelbert Humperdinck in New York. Sie hat noch tagelang davon gesprochen. Wo ihr überall wart, was ihr gegessen habt. Erzähl mir nicht, dass dir der Tag mit Mama Freda nicht wichtig ist und dass dich meine Terminplanung nicht ärgert!“

„Ach was!“

„Oh, den Tonfall kenne ich, Mr. du-kennst-mich-doch-gar-nicht.“

„Tust du auch nicht! Ich werde einen Scheck mit der Post schicken. Du wirst ihn sehr großzügig finden.“

„Mama wird sich bestimmt über den Scheck freuen. Wahrscheinlich bemerkt sie dein Fehlen nicht einmal. Alle anderen kommen nämlich. Du weißt selbst am besten, dass Mama Freda dreiundzwanzig Pflegekinder großgezogen hat. Ross Chillington verlegt extra die Drehtage für seine neue Fernsehserie. Michael Boylston lässt in Thailand alles stehen und liegen, und Reed Patterson schwänzt das Trainingscamp seiner Footballmannschaft in Florida.“

„All diese verlorenen Kinder von Mama Freda gerettet.“ Er klang unbeeindruckt.

„Sie hat ein Stückchen von dieser Welt besser gemacht!“

„Lucy …“

Sie verabscheute sich selbst dafür, dass ihr Name auf seinen Lippen sie noch immer erschauern ließ.

„Ich habe keine Lust, Teil deiner Realityshow in Lindstrom Beach zu sein. Was kommt nach dem förmlichen Dinner? Halt, lass mich raten. Alle ehemaligen Pflegekinder von Mama werden sich feierlich erheben und bezeugen, wie Mamas Liebe sie gerettet hat.“

Autsch! Das war ein wenig zu nah an dem, was sie tatsächlich geplant hatte. Aber warum klang es aus seinem Mund so billig und abgedroschen?

„Mac …“

„Niemand nennt mich mehr Mac“, wies er sie scharf zurecht.

„Wie hättest du es denn lieber?“ Sie konnte sich keine andere Anrede vorstellen.

„Mr. Hudson“, erklärte er kühl.

Lucy bezweifelte, dass es in seinem Büro so förmlich zuging, denn die Geräusche im Hintergrund klangen eher nach einer wilden Party.

„Also gut, Mr. Hudson“, machte sie sich daran, das unerfreuliche Gespräch zu beenden. „Wie schon gesagt, ist es mir egal, ob du kommst oder nicht. Es ist wohl zu viel verlangt, deine wichtigen Pläne zu Ehren der Frau zu ändern, die dich aufgenommen und vor dem Abgrund bewahrt hat. Viel zu viel.“

Stille.

„Andererseits scheint sie dir sehr wichtig zu sein, denn ich weiß, dass du es bist, der einen großen Teil ihrer Rechnungen bezahlt.“

Sie hörte ihn scharf die Luft einziehen. Er schien sich zu ärgern, dass sie das herausgefunden hatte.

„Ich weiß auch“, fuhr sie fort, „dass du, zusätzlich zu deiner Muttertagstradition, an ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag mit ihr nach Paris geflogen bist.“

„Lucy, von mir tropft Wasser auf den Fußboden, und mir wird langsam kalt. Kannst du langsam mal auf den Punkt kommen?“

Sie hatte wirklich geglaubt, sie würde ihn nie wiedersehen, und es als Segen empfunden, dass er nur selten nach Lindstrom Beach zurückkehrte. Wenn er einmal Mama Freda besuchen kam, war sie ihm aus dem Weg gegangen. Ihm zu begegnen würde zu viele schmerzhafte Erinnerungen wachrufen.

Vor langer Zeit hatte sie einmal verzweifelt versucht, ihm seine Geheimnisse zu entlocken. Sie erinnerte sich noch genau an die Situation. Sie lagen am Ufer des nachtschwarzen Sees im Sand, die Wellen plätscherten leise auf den Strand, und die Glut ihres kleinen Lagerfeuers begann zu verlöschen. Da hatte sie ihn gefragt, wie es kam, dass er in Mama Fredas Obhut gelandet war.

„Ich habe einen Mann getötet“, hatte er geflüstert und auf ihr schockiertes Schweigen mit seinem typischen Lachen geantwortet. Hinter diesem halb spöttischen, halb sinnlichen Lachen verbarg er sein wahres Ich. „Mit meinen bloßen Händen“, hatte er hinzugefügt und dann versucht, sie mit seinen Küssen abzulenken. Noch in der Erinnerung brannten seine Küsse heiß auf ihren Lippen. Doch was sie wirklich von ihm wollte, hatte er ihr nie geschenkt: sein Vertrauen.

Das war der wahre Grund, weshalb sie gesagt hatte, dass sie einen wie ihn nie lieben könnte. Sie hatte gespürt, dass er etwas Wesentliches vor ihr verbarg, während sie bedingungslos offen zu ihm gewesen war. Wenn er sie nach allem, was sie in jenem Sommer geteilt hatten, noch immer für ein verwöhntes Mädchen aus reichem Haus hielt, das hochnäsig auf Jungs wie ihn herabsah, dann war das sein Problem. Sie war die Letzte, die sich Macs Rückkehr nach Lindstrom Beach wünschte.

„Ich habe dich nicht wegen Mamas Geburtstagsfeier angerufen. Ich wollte es dir sagen, wenn du hier wärst, aber da du nicht kommen wirst …“

„Mir was sagen?“

„Mac …“ Zu spät fiel ihr ein, dass er so nicht mehr genannt werden wollte. „Es stimmt etwas nicht.“

„Wie meinst du das?“

„Du weißt doch, dass Mama Freda ihren Führerschein verloren hat, nicht wahr?“

„Nein, das wusste ich nicht.“

„Sie hatte im Winter einen kleinen Unfall. Nichts Schlimmes. Sie hat vor einem Stoppschild zu spät gebremst und dabei Mary-Beth McQueens Zaun und Rosenbeet zerstört.“

„Ha! Ich bezweifle, dass das ein Unfall war. Sie hat gezielt.“

Einen Moment lang teilten sie ein gemeinsames Wissen. Die Rivalität zwischen Mama und Mary-Beth war legendär. Doch der Moment war schnell verflogen.

„Hast du nicht gesagt, das war nichts Ernstes?“, fuhr er nüchtern fort.

„Trotzdem musste sie deshalb zum Amtsarzt. Man hat ihr den Führerschein abgenommen.“

„Ich werde ihr ein Dauerabo bei Ferdinands Taxi einrichten lassen.“

„Nein, nein, es macht mir nichts aus, sie zu fahren. Ich mache das gern. Allerdings glaube ich, dass sie vor diesem Amtsarztbesuch in den letzten zwanzig Jahren keinen Arzt gesehen hat.“

„Dreißig“, korrigierte Mac trocken. „Sie hat ihr Elixier.“

Lucy konnte förmlich sehen, wie er sich schüttelte. Der Mac ihrer Erinnerung hatte Tod und Teufel nicht gescheut. Es war eine erheiternde Vorstellung, dass ihm vor Mamas selbst gemachtem Gebräu grausen sollte.

„Ich fürchte, das Elixier wirkt nicht mehr“, fuhr sie fort. „Sie hatte allein im letzten Monat drei Arzttermine.“

„Was fehlt ihr denn?“

„Gar nichts, wenn man sie fragt.“

Stille. Sie verstand sein Schweigen. Er fragte sich gerade, warum Mama Freda ihm nicht vom Verlust ihres Führerscheins und von den Arztbesuchen erzählt hatte. Vermutlich nahm er an, dass sie ihn nicht beunruhigen wollte.

„Wahrscheinlich ist es wirklich nichts“, sagte er schließlich, doch er klang nicht mehr so überzeugt.

„Das habe ich mir auch einzureden versucht. So wie ich auch nicht glauben will, dass sie achtzig wird.“

„Da ist doch noch etwas, das du mir nicht gesagt hast!“

Autor

Cara Colter

Cara Colter hat Journalismus studiert und lebt in Britisch Columbia, im Westen Kanadas. Sie und ihr Ehemann Rob teilen ihr ausgedehntes Grundstück mit elf Pferden. Sie haben drei erwachsene Kinder und einen Enkel.
Cara Colter liest und gärtnert gern, aber am liebsten erkundet die begeisterte Reiterin auf ihrer gescheckten Stute...

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