Zurück auf der Insel der Liebe

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Ein paradiesisches Inselreich im Pazifik: Hier begegnet die junge Kirsten zum ersten Mal dem faszinierenden Vicomte de Aragon. Wie magisch fühlt sie sich zu ihm hingezogen. Dabei will sie ihn doch verabscheuen! Denn eiskalt brach der Playboy ihrer Schwester einst das Herz …


  • Erscheinungstag 18.02.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751521505
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Kirsten Bond atmete tief durch und versuchte standhaft, den stummen Protest ihrer Füße gegen die neuen Schuhe zu ignorieren, die sie dummerweise angezogen hatte.

Zum Glück war dies die letzte Führung für heute, und so schenkte sie der Gruppe um sich herum ihr strahlendstes Lächeln. Nur noch fünfzehn Minuten! Sobald alle gegangen waren, würde sie in ihr Büro flüchten, die quälenden Dinger von den Füßen schleudern und sich mit einem kühlen Drink belohnen!

Selbst schuld! Energisch unterdrückte sie den Drang, vor Schmerz laut aufzustöhnen. Aber mit einem Meter sechzig Körpergröße war sie natürlich leicht zu überreden gewesen, als die Verkäuferin ihr versichert hatte, die zwölf Zentimeter High Heels der schicken schwarzen Sandalen würden Kirstens Beine optisch verlängern und unglaublich attraktiv aussehen lassen.

Trotzdem hätte sie die neuen Traumschuhe erst nach und nach in ihrer Wohnung einlaufen sollen, anstatt sie gleich während ihrer Arbeitszeit im Schloss zu tragen. Zumal sie hier den größten Teil des Tages stehend verbrachte.

Wie auch immer: Sie war nicht zimperlich und kam einigermaßen zurecht.

Bis … ja, bis sich dieser große, gut aussehende Mann ihrer Gruppe anschloss. An sich kein Vergehen, da die Führungen im Château Merrisand kostenfrei waren und es häufiger passierte, dass sich Nachzügler hinzugesellten.

Normalerweise nickte Kirsten ihnen freundlich zu und fuhr einfach in ihrem Vortrag über das Schloss und dessen wundervolle Kunstschätze fort. Alle waren Eigentum der Fürstenfamilie von Carramer. Doch Kirsten, wie die meisten Kunstkenner eine glühende Bewunderin der Sammlung, betrachtete sie insgeheim als ihre Schätze. Und deshalb erzählte sie gern, kompetent und voller Begeisterung davon.

Mit der Ankunft dieses speziellen Zuhörers stockte allerdings ihr gewohnt flüssiger Vortrag. Ihr Mund war plötzlich ganz trocken.

Was hatte Romain Sevrin hier zu suchen? Er kam nie ins Château Merrisand. Sonst hätte sie niemals in Erwägung gezogen, hier einen Job anzunehmen. Das letzte Mal hatte sie ihn auf einem Sportkanal gesehen, als er in einem Formel-1-Wagen mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf einer der europäischen Rennstrecken unterwegs war. Auf der Jagd nach Medaillen, die er mit der gleichen Leidenschaft und Energie sammelte wie Supermodels.

Warum er dabei so einen Erfolg hatte, konnte sie leicht nachvollziehen. Romain, oder Rowe, wie er von den meisten genannt wurde, war ein wahres Prachtexemplar von Mann. Groß, breitschultrig, auf eine raue Art ausgesprochen attraktiv, mit dunklem Teint und dichtem schwarzen Haar, wie es fast alle männlichen Mitglieder der Fürstenfamilie hatten.

Seine Augen, die er die ganze Zeit auf Kirsten gerichtet hielt, strahlten in einem tiefen Ozeangrün, unter dichten schwarzen Wimpern, um die ihn manche Frau beneidet hätte. Als er leicht den Kopf wandte, präsentierte er ihr ein arrogantes, klassisches Profil, das jeder antiken Statue zur Ehre gereicht hätte.

Kirsten selbst konnte keine der Supermodelqualitäten aufweisen, die seinen interessierten Blick gerechtfertigt hätten, der so intensiv und durchdringend war, als wolle er sich jedes winzige Detail ihrer Erscheinung einprägen.

Neben ihrer wenig spektakulären Größe war eigentlich nur ihr überschulterlanges glänzendes Haar bemerkenswert, das eine recht ungewöhnliche Farbe aufwies. Es leuchtete in einem lebhaften Rot, durchzogen von goldfarbenen Strähnchen, und wirkte dadurch wie tanzende Flammen. Sich selbst überlassen, strebten die widerspenstigen Locken in alle Richtungen, sodass Kirsten sie meist mit einer Spange im Nacken zusammenhielt, wobei ihr grundsätzlich die eine oder andere Strähne entwischte. Das ließ ihre Gesichtszüge noch feiner und zarter wirken, als sie es ohnehin waren. Große, silbergraue Augen komplettierten ihren ungewöhnlichen Look, den sie gern gegen blondes Haar und blaue Augen eingetauscht hätte.

Nach Aussage ihrer Freunde entsprach ihr Temperament durchaus ihrer feurigen Haarfarbe, was Kirsten selbst allerdings für eine bodenlose Übertreibung hielt. Okay, sie geriet vielleicht ziemlich schnell in Rage, wenn man sie über die Maßen reizte, doch normalerweise hatte sie sich ganz gut im Griff.

Wäre es anders, würde sie auf der Stelle von Rowe Sevrin Aufklärung darüber fordern, was er hier zu suchen hatte!

Denn es gab keinen Grund dafür, dass sich ein Vicomte de Aragon, der diesen Titel zwar selten benutzte, ihrer Führung anschloss, wenn er sich die Kunstschätze anschauen wollte, zwischen denen er aufgewachsen war.

Und selbst dann musste er sie nicht so unverschämt anstarren! Das vermittelte ihr den Eindruck, als sei er mehr an ihrer Person als an ihrem Vortrag interessiert. Aber warum?

Kirsten trat unbehaglich von einem Bein auf das andere, was nur eine neue Schmerzwelle auslöste, die von ihren armen Füßen bis ins Hirn ausstrahlte. Doch diesmal nahm sie es kaum wahr, weil sie durch ganz andere, verwirrende Emotionen abgelenkt wurde, die Romains eindringliche Inspektion in ihrem Innern auslöste.

Erst jetzt registrierte Kirsten, dass ihr Pulsschlag bedenklich in die Höhe schoss. Und die Raumtemperatur, die zum Schutz des kostbaren Interieurs gleichbleibend war, schien sich massiv erhöht zu haben. Kirsten widerstand der Versuchung, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, da dieser sicher nur ein Produkt ihrer Einbildung war – ebenso wie die Interpretation von Romains unablässigem Starren.

Trotzdem! Was wollte er hier?

Einer der Besucher verlangte nach ihrer Aufmerksamkeit. „Betrifft die Legende ausschließlich Mitglieder der Herrscherfamilie?“

Mit Rowe als Zuhörer wünschte Kirsten, sie hätte diesmal auf die Merrisand-Legende verzichtet. Aber dazu war es zu spät.

Sie räusperte sich leise, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. „Die Legende besagt, dass jeder, der dem Merrisand-Trust aufrichtig dient, seine wahre Liebe finden wird. Also betrifft es nicht ausschließlich das Adelsgeschlecht.“

Rowe schien diesen Teil ihres Vortrags ganz besonders aufmerksam zu verfolgen, deshalb mied Kirsten tunlichst seinen Blick und wandte sich einem Mann zu, der offenbar auch noch eine Frage loswerden wollte.

„Wie groß ist das Merrisand-Anwesen?“

Erleichtert stürzte Kirsten sich auf ein Thema, das ihr im Moment weit weniger verfänglich erschien. Dennoch konnte sie Rowe, wie sie ihn inzwischen auch für sich nannte, nicht ganz aus ihrem Bewusstsein verbannen. Er musste unauffällig an sie herangerückt sein, denn den maskulinen Duft dieses herben Rasierwassers, kombiniert mit etwas Frischem, Erdigem, hatte sie bisher nicht wahrgenommen.

Ich bilde mir das ganz sicher nur ein! rief sie sich zur Ordnung und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Der Raum, oder besser Prunksaal, in dem sie sich befanden, war über hundert Quadratmeter groß, mit einer unglaublich hohen, gewölbten Decke, da würde sich jedes Aroma sofort verflüchtigen. Und trotzdem verursachte ihr dieses Gemisch aus Sandelholz, Limone und etwas nicht Greifbarem eine wohlige Gänsehaut. Verärgert über sich selbst und ihre ausschweifende Fantasie strich Kirsten eine vorwitzige Strähne hinter ihr Ohr und räusperte sich.

„Als das Schloss im Jahre 1879 von Honoré de Marigny, dem ersten Marquis de Merrisand, erbaut wurde, umfasste der Grundbesitz etwa achthundert Hektar Hügelland, Waldflächen und kleine Farmen, die von Pächtern betrieben wurden. Über die Jahre und Jahrhunderte wuchs die Fläche auf sechzehn Millionen Hektar an, zu denen inzwischen ein großes Naturschutzgebiet gehört, um heimischen Tierarten einen möglichst natürlichen Lebensraum zu bieten. Das Emblem zum Schutz der Fauna findet sich auch im Familienwappen wieder.“

Honoré müsste Rowes Ur-ur-urgroßvater gewesen sein, hätte Kirsten am liebsten hinzugefügt, konnte sich aber gerade noch bremsen.

Der Fragesteller nickte nachdenklich und schien die Information erst einmal verdauen zu müssen. Dann meldete sich ein Mädchen im Teenageralter, das wie in der Schule die Hand hob und mit den Fingern schnipste.

„Wie sind Sie an diesen Job hier im Schloss gekommen?“

Das war eine ungewöhnliche Frage, doch Kirsten ließ sich nicht irritieren.

„Château Merrisand ist wie eine Stadt im Miniaturformat angelegt“, erklärte sie freundlich. „Mit Karrierechancen in vielerlei Hinsicht. Das reicht von der Landwirtschaft über Verwalterposten, von der Tierpflege über die Geschichtsforschung bis hin zum modernen Medienbereich. Am besten ist es, sich zuerst im Beruf seiner Wahl zu qualifizieren, dann in der Personalabteilung vorzusprechen und nach vakanten Stellen zu fragen.“

„Wollten Sie schon immer Fremdenführerin werden?“

Ohne hinzuschauen wusste Kirsten sofort, dass die Frage von Rowe kam. Trotzdem richtete sie sich mit ihrer Antwort an die gesamte Gruppe. Nur ihre Stimme hatte plötzlich einen leicht rauen Klang. „Ich bin nicht hauptberuflich als Fremdenführerin tätig, wie etliche unserer Mitarbeiter, sondern springe nur bei Bedarf ein. Meine Berufsbezeichnung lautet korrekt: Kunst-Kuratorin des Merrisand-Trustes. Ich habe Kunstgeschichte studiert, mit dem Schwerpunkt auf Restaurierung alter Substanz, und während des Studiums ein praktisches Semester im Château Merrisand absolviert. Als ich später erfuhr, dass jemand zur Betreuung der gesamten Kunstsammlung gesucht wurde, habe ich mich um die Stelle beworben und bin angenommen worden.“

„Einfach so …“, stellte Rowe halblaut fest.

Diesmal begegnete sie seinem Blick direkt, weil sie die unterschwellige Herausforderung in seiner Bemerkung nicht einordnen konnte. Was wollte er nur von ihr?

Kirsten beschloss, in die Offensive zu gehen. „Haben Sie damit ein Problem, Vicomte de Aragon?“

Wie beabsichtigt führte die Nennung seines Titels dazu, dass sich ihm schlagartig alle Köpfe zuwandten. Neugieriges Gemurmel brandete auf.

Rowes dunkle Brauen, die er angesichts ihrer Ansprache zusammengezogen hatte, bildeten eine harte, schwarze Linie. Sein gesamter Gesichtsausdruck erinnerte an eine Gewitterwolke kurz vor der Entladung.

Kirsten lächelte breit und wandte sich an ihre Gruppe. „Meine Damen und Herren, da wir heute das große Privileg genießen, ein Mitglied der Fürstenfamilie in unserer Mitte begrüßen zu dürfen, bietet sich Ihnen die Gelegenheit, ihm alle Fragen zu stellen, die Ihnen noch am Herzen liegen. Ich bin sicher, er wird sie ebenso kompetent wie gern beantworten. Nicht wahr, Eure Lordschaft?“

Nun gibt es kein Zurück mehr! dachte Kirsten schadenfroh. Sein sengender Blick, der Eis zum Schmelzen hätte bringen können, prallte wirkungslos an ihr ab. Oder doch nicht so ganz, musste Kirsten sich eingestehen, als sie spürte, dass ihr Blut plötzlich wie glühende Lava durch die Adern floss.

Aber wenn Rowe lieber inkognito geblieben wäre, hätte er sich eben nicht so weit aus dem Fenster lehnen dürfen!

„Liebend gern …“, log er dreist, und Kirsten hätte beinahe applaudiert für dieses Glanzstück an Schauspielkunst, obwohl in den meergrünen Augen eine unmissverständliche Warnung stand: Wir sprechen uns später!

Kirsten schluckte trocken und fragte sich, warum sie so heftig auf seine Provokation reagiert und ihn quasi bloßgestellt hatte. Es geschah durchaus ab und zu, dass Mitglieder der königlichen Familie auftauchten, während sie eine Führung veranstaltete. Und normalerweise respektierte sie deren Privatsphäre, wenn sie nicht eindeutig zu verstehen gaben, dass sie angesprochen werden wollten.

Nach ihrer Ermutigung hatte ihre Gruppe jedenfalls keine Scheu, Rowe für den Rest der Besichtigungstour mit Fragen zu löchern. Zwei junge Mädchen baten ihn sogar um ein Autogramm in ihrem Reiseführer.

Unwillkürlich fragte Kirsten sich, ob sie dabei eher an den Vicomte de Aragon oder an den Rennfahrer und Playboy dachten. Während er sich immer noch den Besuchern widmete, fühlte sich Kirsten zunehmend schlechter, weil sie ihn so unvorbereitet ins Rampenlicht gezerrt hatte. Dass sie ein Problem mit ihm hatte, gab ihr noch lange nicht das Recht dazu, ihn so zu behandeln. Und genau das würde sie ihm, verbunden mit einer Entschuldigung, mitteilen, sobald sie die Gelegenheit dazu bekam.

„Ich bin sicher, Sie alle sind dankbar für die Zeit und Aufmerksamkeit, die der Vicomte de Aragon uns geschenkt hat, aber ich denke, wir dürfen ihn nicht länger für uns beanspruchen. Die Führung ist hiermit offiziell beendet. Einige von Ihnen werden von Ihren Reiseleitern zum Bustransfer am Ostausgang erwartet, deshalb lassen Sie uns dem Vicomte für die interessanten Ausführungen danken …“

Durch die fantastische Akustik im Saal hallte der begeisterte Applaus von den Wänden wider, während Rowe höflich lächelte und eine elegante Verbeugung andeutete.

„Sobald Sie hier fertig sind, möchte ich Sie im Kuratoriumsbüro sehen“, raunte er Kirsten zu, als er an ihr vorbeiging.

Nicht dass es sie besonders überraschte nach ihrem Fauxpas, dennoch fiel es ihr schwer, die Fassung zu wahren, während sie die Teilnehmer der Führung um sich versammelte.

„Wenn Sie mir jetzt bitte folgen würden …“

Nachdem der letzte Besucher das Schloss verlassen hatte, machte sich Kirsten ohne Hast zunächst auf den Weg in ihr kleines Privatbüro. Was hätte sie darum gegeben, dort bleiben zu können und ihre schmerzenden Füße zu massieren. Doch diesen Genuss hatte sie sich leider selbst verbaut.

Rowe war Mitglied des Kuratorium-Vorstandes. Auch wenn er nicht an den regelmäßigen Sitzungen teilnahm, war er doch so etwas wie ihr Boss. Kirsten wusste, dass ihr Verhalten Kritik verdiente. Denn ihr persönliches Problem mit dem Vicomte de Aragon konnte ihr unprofessionelles Benehmen keineswegs rechtfertigen. Wenn sie doch nur den unangenehmen Auftritt bereits hinter sich hätte!

Ihre Gedanken wanderten zurück zu dem Tag, an dem sie das erste Mal von Romain Sevrin gehört hatte …

Damals hatte sie gerade ihr praktisches Semester im Schloss angetreten und musste sich zudem auch noch um ihre jüngere Schwester kümmern. Beides war schwer zu vereinbaren gewesen und funktionierte nicht besonders gut. Doch wie sehr sie versagt hatte, erkannte Kirsten erst, als Natalie ihr eines Tages eröffnete, sie sei schwanger.

Kirsten wusste zwar, dass Nat sich öfter auf dem Autorennkurs bei den Angel Falls herumtrieb, wo sogar internationale Grand-Prix-Rennen stattfanden, doch sie hatte ihr plötzliches Interesse für den Rennsport als eine mädchenhafte Schwärmerei für heiße Typen in schnellen Autos abgetan.

Leider!

Seit dem Unfalltod der Eltern, als Kirsten gerade mal zwanzig war, hielt Nat ihr immer wieder vor, sie sei viel zu streng mit ihr. Außerdem ließ sie nie durchblicken, dass zu einem der Rennfahrer eine engere Beziehung bestand, und Kirsten war der Meinung, je weniger Widerstand sie dem launischen Teenager entgegenhielt, desto schneller würde der Spleen vorübergehen.

Sich nachträglich Vorwürfe zu machen, die Zügel nicht strenger angezogen zu haben, brachte dann auch nichts mehr.

Was allerdings ein weltgewandter Mann wie Rowe Sevrin, dazu noch Mitglied einer königlichen Familie, in einem blutjungen Mädchen wie Natalie gesehen hatte, war ihr ein Rätsel. Erst als sie versuchte, ihre Nat nicht mit schwesterlichem Blick, sondern ganz objektiv zu betrachten, bekam sie eine Ahnung davon.

Der frühe Tod der Eltern hatte sie beide schneller erwachsen werden lassen.

Die bereits gefestigtere Kirsten schlüpfte zwangsläufig in die Mutterrolle, während sich Natalie wie ein hübsches Füllen aufführte, das vor der Zeit auf die Weide gelassen wurde, und vor Unsicherheit und Übermut die verrücktesten Kapriolen veranstaltete. Viel zu früh kleidete, sprach und benahm sie sich wie ihre weit älteren Geschlechtsgenossinnen. Dazu setzte sie die unschuldige Koketterie und den mädchenhaften Charme ihres wahren Alters ein. Eine gefährliche Mischung, von der sich Männer leicht den Kopf verdrehen ließen.

Sogar Rowe Sevrin?

Natalie blieb eisern bei ihrer Version der Geschichte, und Kirsten sah keinen Anlass, ihr nicht zu glauben. Daher rührte ihre Verachtung und Wut auf den Vicomte und seine Rolle in dieser unglücklichen Affäre. Obwohl er damals selbst kaum älter als zweiundzwanzig gewesen sein konnte, hätte er sich auf jeden Fall erwachsener und verantwortungsvoller zeigen müssen. Denn trotz der gerade erreichten Volljährigkeit und ihrem erwachsenen Aussehen war Natalie nicht mehr als ein verletzlicher Teenager gewesen, der die Trauer um die Eltern noch nicht wirklich verarbeitet hatte.

Als Kirsten vorschlug, den Vicomte anzurufen und ihn von der Lage der Dinge zu unterrichten, führte ihre jüngere Schwester einen Tanz auf, der ihrer Unreife alle Ehre machte.

„Die meisten Frauen würden sich darum reißen, mit einem Mitglied der königlichen Familie liiert zu sein“, hatte Kirsten verwundert angeführt.

Doch Natalies Antwort kam völlig unerwartet und haute sie förmlich um. „Die meisten Frauen hätten ihm ja auch kein falsches Alter und einen falschen Namen genannt und dann noch behauptet, sie würden die Pille nehmen.“

Nur mit übermenschlicher Selbstbeherrschung und psychologischem Geschick war es Kirsten gelungen, ihrer Schwester den Rest der Geschichte zu entlocken. Wie es aussah, hatte Natalie versucht, sich unter falschem Namen den Zugang zur Siegesfeier des Rennteams zu erschleichen, zu dem auch der Vicomte gehörte.

Rowe hätte ihre lebhafte Verhandlung mit seinen Sicherheitsleuten von einer beschatteten Terrasse aus verfolgt, sich amüsiert eingemischt und selbst dafür gesorgt, dass sie bleiben konnte. Eigentlich wollte sie ihm nur dafür danken, da er ihr aber sehr deprimiert vorkam, begann sie ein Gespräch mit ihm, und irgendwann erzählte sie ihm von ihrem eigenen Unglück.

Er schlug Natalie vor, ihn später zum Dinner zu begleiten, und irgendwie verpasste sie die Gelegenheit, ihm doch noch ihren richtigen Namen zu nennen. Eins führte zum anderen … und dann war sie mit seinem Kind schwanger.

Wenn er jetzt davon erfahren sollte, würde er unter Garantie annehmen, sie habe ihn absichtlich in eine Falle gelockt, was absolut nicht ihre Absicht war, wie Nat beteuerte. Rowe sei ein ausgesprochen netter Typ, der ihr in ihrem Schmerz sehr geholfen habe und es nicht verdiene, jetzt die Quittung für den wundervollen Trost, den er ihr gespendet hatte, serviert zu bekommen.

Kirsten beurteilte die Affäre eher von der praktischen Seite her. Die Wahrheit musste dem werdenden Vater ja nicht gefallen, er sollte nur seinen Teil der Verantwortung übernehmen.

Doch als sie versuchte, ihn ans Telefon zu bekommen, wurde ihr kühl mitgeteilt, der Vicomte de Aragon weile inzwischen mit dem ganzen Rennzirkus längst im Ausland und sei in den nächsten Monaten auch nicht zu sprechen. Alle weiteren Versuche, ihn telefonisch zu erreichen, scheiterten tatsächlich. Deshalb besorgte sich Kirsten, die ja bereits im Château Merrisand arbeitete, seine postalische Adresse und zwang ihre Schwester, einen Brief zu schreiben. Zunächst weigerte sich Natalie rundheraus, dann gab sie schließlich nach, und der Brief wurde abgeschickt.

Doch eine Antwort erfolgte nie.

Dann hörten die Schwestern, dass Rowe den Rennsport aufgegeben habe und inzwischen eine internationale Event-Agentur betreibe. Dass er damit einen Bombenerfolg haben würde, bezweifelte Kirsten nicht im Geringsten. Mit seinen Verbindungen, dem Aussehen und der Energie? Ganz abgesehen von der königlichen Herkunft …

Wieder hatte sie versucht, ihre Schwester zu überreden, noch einmal zu versuchen, Kontakt zu ihm zu bekommen, doch diesmal blieb Nat standhaft und erklärte, sie wolle mit einem Mann, der es vorziehe, die Geburt seines Babys zu ignorieren, nichts zu tun haben. Und Kirsten hatte nachgegeben.

Leider zeigte sich Natalie auch als Mutter ebenso unzuverlässig und sprunghaft wie zuvor. Sobald das Baby, ein zauberhafter kleiner Junge, auf der Welt war, überließ sie ihrer großen Schwester den Hauptteil der Fürsorge und Arbeit, um erneut in die Rennszene einzutauchen. Sosehr Kirsten dieses Verhalten missfiel, war sie doch froh darüber, dass Rowe aus dieser verschwunden war und Nat nicht noch mehr mit seiner indifferenten Haltung verletzen konnte, als ohnehin schon geschehen.

Kirsten wusste, dass sie eigentlich hätte versuchen müssen, ihrer Schwester als Mutter des kleinen Jeffrey mehr Pflichterfüllung abzufordern, doch sie hatte nicht das Herz dazu. Nat hatte in ihrem jungen Leben bereits so viel erleiden müssen – erst den Verlust der Eltern, dann die Ignoranz und das mangelnde Interesse von Jeffreys Vater …

Sie hatte ihre Jugend gar nicht wirklich auskosten können. Und so tat Kirsten ihr Bestes, dem Baby die Mutter zu ersetzen, in der Hoffnung, Nat würde zu ihrer Verantwortung stehen, wenn sie sich erst ausgetobt hätte. Man musste ihr nur ein wenig Zeit lassen.

Wie sich dann tragischerweise herausstellte, war Zeit ein Faktor, der Natalie nur noch sehr begrenzt zur Verfügung stand. Bei einem Qualifikationsrennen machte sich ein Reifen selbstständig, flog über die Schutzbarriere in die Zuschauermenge und traf Natalie direkt am Kopf. Sie war sofort tot.

Jeffrey war zu diesem Zeitpunkt sechs Monate alt gewesen. Inzwischen hatte er bereits seinen sechsten Geburtstag gefeiert. Kirsten wusste nicht, wie sie den erneuten Verlust ohne ihn verkraftet hätte. Doch die Sorge um das mutterlose Baby lenkte sie von ihrem Kummer ab und half ihr, eine ganz neue Stärke zu entwickeln.

Um Jeffreys willen kämpfte sie sich durch die dunkle Zeit nach Natalies Tod und schaffte ihren Abschluss mit Auszeichnung via Fernstudium, als Jeffrey seinen ersten Geburtstag feierte. Obwohl er noch zu klein war, um es wirklich honorieren zu können, hatte sie ihm einen Kuchen gebacken, diesen mit Zuckerguss garniert und eine Kerze in die Mitte gesteckt. Ihre kleine Feier war allerdings überschattet von den Erinnerungen an ihre Lieben, die nicht mehr bei ihnen sein konnten.

Im Laufe der Zeit war Jeffrey ihre neue Familie geworden, ebenso wie Kirsten seine. Sie war die einzige Mutter, die er kannte, und sie liebte ihn wie ihr eigenes Kind.

Mit seinem Schweigen hatte Rowe in ihren Augen jedes Recht auf seinen Sohn verloren. Wenn er Nats Brief beantwortet oder wenigstens später auch nur einen Funken Interesse bekundet hätte, wäre sie verpflichtet gewesen, das Sorgerecht mit ihm zu teilen, aber darauf hatte er verzichtet, indem er sich nicht meldete.

Autor

Valerie Parv
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