Baby, lass uns tanzen

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Die hübsche junge Frau starrt ihn entgeistert an. "Tom", flüstert sie. Dann verliert sie das Bewusstsein - und Smith Rutledge sein Herz. Doch die Vergangenheit trennt ihn von Jessica wie eine unsichtbare Wand. Kann er sie überwinden?


  • Erscheinungstag 17.01.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733772871
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Smith Rutledge sah von seinen Käse-Makkaroni hoch und erblickte eine junge Frau in Kakishorts, einem Maxishirt und mit einer Kappe auf dem Kopf. Sie trug ihr Speisetablett vor sich her und schaute sich in der voll besetzten Cafeteria in Harlingen, Texas, nach einem freien Tisch um.

Hübsche Beine, war sein erster Gedanke, und sein Interesse war geweckt. Während er noch das Übrige bewunderte, blieb ihr suchender Blick plötzlich an ihm hängen.

Gerade wollte er aufstehen und ihr einen Platz an seinem Tisch anbieten, da weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen, und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht.

„Tom!“, rief sie, verdrehte die Augen und sank mitsamt dem Tablett zu Boden.

Direkt hinter ihr kam ein stämmiger Motorradfahrer mit Tattoos auf den beiden mächtigen Oberarmen und trug ebenfalls ein schwer beladenes Tablett. Er stolperte über sie und landete genau auf ihr.

Sämtliche Geräusche im Raum verstummten. Alle außer Smith waren erstarrt. Der sprang auf, um der Frau Hilfe zu leisten.

Der Biker, über und über bedeckt mit Kartoffelpüree, Soße und Kirschtorte, sortierte seine Glieder. „Mann, was war das denn?“, fragte er verdutzt.

„Ich glaube, sie ist ohnmächtig geworden“, erklärte Smith ihm. „Holen Sie den Geschäftsführer.“ Er ging neben der Frau in die Hocke und fühlte ihren Puls. Zum Glück schlug er regelmäßig, aber sie war immer noch bewusstlos und blutete stark aus einer Wunde an der Stirn.

Der Geschäftsführer eilte herbei. „Ich habe den Notarzt gerufen, die Ambulanz ist bereits unterwegs. Was ist passiert, Mr Rutledge?“

„Ich weiß es auch nicht, Juan. Sie fiel einfach um und der Mann hinter ihr auf sie. Sie ist ohnmächtig.“

Smith behielt für sich, dass sie ihn zuvor angesehen hatte, als wäre er Hannibal Lecter. Schön, er war vielleicht nicht so attraktiv wie sein Bruder Kyle oder seine Cousins, die einen guten Schuss Indianerblut in den Adern hatten, aber normalerweise wirkte er nicht dermaßen abschreckend. Und wer zum Teufel war Tom?

Die Sanitäter kamen mit Trage und Notarztkoffer – und mit einer Menge Fragen, die Smith nicht beantworten konnte. Er wusste weder den Namen der Frau noch ob sie Diabetikerin war oder bestimmte Allergien hatte.

Smith griff nach ihrer Tasche, einem rucksackähnlichen Leinenbeutel, der sich anfühlte, als transportierte sie Bowlingkugeln darin, und durchsuchte sie nach einer Brieftasche. Er fand eine rote Ledermappe, und als er sie öffnete, erstarrte er.

Aus einer Plastikhülle lächelte ihm sein Bild entgegen. Woher hatte die Frau ein Foto von ihm? Er war ihr noch nie im Leben begegnet. Er blätterte weiter, und auf dem nächsten Foto waren sie beide zu sehen. Was zum …

„Sir, Sir“, drängte der Sanitäter. „Wir müssen sie in die Notaufnahme bringen. Wie heißt sie denn nun?“

Verwirrt starrte Smith ihn an und versuchte, den Sinn der Frage zu begreifen.

„Wie ist ihr Name?“

Rasch warf er einen Blick auf ihren Führerschein. „Jessica O’Connor Smith“, las er. „Ihr Name ist Jessica O’Connor Smith. Ich komme mit.“

„Sir, Sie dürfen nicht im Krankenwagen mitfahren.“

„Dann fahre ich hinter Ihnen her.“ Smith steckte die Brieftasche in seine Jackentasche, schnappte sich den Leinenbeutel und rannte hinter der Trage her.

Smith saß auf einem der Plastikstühle im Warteraum. Dann stand er auf und lief unruhig umher. Bereits seit einer Stunde saß und lief er abwechselnd. Er hatte versucht, in das Behandlungszimmer der fremden Frau zu gelangen, doch eine energische Schwester, die sich nicht einmal von einer in Aussicht gestellten großzügigen Spende für das Krankenhaus bestechen ließ, hatte ihn abgewiesen.

„Sie stehen nur im Weg“, hatte sie ihm erklärt. „Der Arzt kommt zu Ihnen, sobald er fertig ist.“

„Und der lässt sich Zeit“, murmelte Smith vor sich hin. Natürlich machte er sich Sorgen um die Frau, aber noch mehr beschäftigte ihn der Inhalt ihrer Brieftasche.

Er setzte sich erneut und betrachtete die Fotos. Auch das hatte er seit einer Stunde immer wieder getan und dabei versucht herauszufinden, wann und wo sie aufgenommen worden waren. Er konnte sich beim besten Willen an nichts erinnern.

Vor Jahren hatte er einmal mit ein paar Kollegen zu viel Tequila getrunken und war erst zwei Tage später in dem wohl schäbigsten Hotel von Matamoros, Mexiko, zu sich gekommen, mit leeren Taschen und total benommen. Der Vorfall hatte ihm einen gehörigen Schreck eingejagt. Doch das war ein einziges Mal gewesen, er hatte seine Lektion gelernt. Abgesehen von hin und wieder einem Glas Wein oder einer Flasche Bier, trank er keinen Alkohol mehr.

Stirnrunzelnd studierte er das Foto, das ihn zusammen mit Jessica O’Connor Smith zeigte. Eine schöne Frau mit einem hinreißenden Lächeln. An so jemanden würde er sich garantiert erinnern. Auf dem Bild war ihr blondes Haar kürzer. Jetzt trug sie es in einem dicken Zopf, aber es handelte sich zweifellos um dieselbe Frau.

Jessica O’Connor Smith, Elm Street 218, Bartlesville, Oklahoma, stand in ihrem Führerschein. Smith war sicher, nie in Bartlesville gewesen zu sein. Des Weiteren befanden sich in der Brieftasche ein Bibliotheksausweis, ein Wahlschein, eine Kreditkarte sowie achtundzwanzig Dollar in bar. Der Leinenbeutel war angefüllt mit einer Unmenge Kram, der jedoch nichts weiter über die Frau aussagte. Kein Adressbuch, keine Briefe. Er hatte alles gründlich durchsucht.

O’Connor Smith hörte sich wie ein Doppelname an. Ob Smith ihr Mädchenname war? War sie überhaupt verheiratet? Sie trug keinen Ehering, das hatte er gleich festgestellt. Sie hatte auch keinen weißen Streifen an der bewussten Stelle.

Wahrscheinlich war sie eine Touristin, eine von den unzähligen Besuchern, die aus dem kalten Norden in das sonnige Tal des Rio Grande in Texas flohen, um den Vorfrühling zu genießen. Viele Menschen, meistens ältere, überwinterten im Valley, aber sie war keine Seniorin.

Smith hatte sogar die Telefonauskunft in Bartlesville angerufen, um zu erfahren, ob sie Familienangehörige hatte. Doch man sagte ihm, dass keine Smiths unter der angegebenen Adresse registriert seien. Merkwürdig. Nun, vielleicht hatte sie eine Geheimnummer.

„Mr Smith?“

Smith sah auf. Ein Arzt stand vor ihm. Er erhob sich. „Nein, mein Name ist Rutledge. Smith Rutledge.“

„Pardon, dann habe ich das verwechselt. Ich dachte, die Patientin hieße Smith. Sind Sie der Ehemann?“

„Sie heißt tatsächlich Smith, aber ich bin nicht ihr Mann, sondern ein flüchtiger Bekannter.“

„Ja, natürlich, Sie sind Smith Rutledge von der Smith Computer Corporation. Verzeihung, ich habe Sie nicht gleich erkannt, Mr Rutledge“, sagte der Arzt äußerst zuvorkommend. Er hielt offenbar mehr von Smiths Spenden für die Klinik als die Schwester.

„Wie geht es Mrs Smith?“

„Sie ist noch etwas benommen. Der Riss an der Stirn ist nichts Ernstes. Ich habe ihn geklammert, aber sie könnte eine Gehirnerschütterung haben. Und ihr Handgelenk ist höchstwahrscheinlich gebrochen. Wir warten auf die Röntgenbilder. Wie Mrs Smith mir sagte, hatte sie heute noch nichts gegessen. Ich vermute, ihr Blutzucker war zu niedrig, und deshalb wurde sie ohnmächtig. Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen, aber ich denke, wir können sie nach Hause entlassen.“

„Sie ist also wach? Kann ich sie sprechen?“

„Im Augenblick nicht, Mr Rutledge. Die Schwester sagt Ihnen Bescheid. Möchten Sie inzwischen einen Kaffee?“

Smith schüttelte den Kopf und nahm seine Wanderschaft wieder auf.

Es dauerte eine weitere Stunde, bis die Schwester erschien. „Wir haben ein Problem mit Mrs Smith“, eröffnete sie ihm. „Der Arzt möchte, dass sie über Nacht hierbleibt, aber sie will unbedingt gehen. Sie müsse nach ihrem Wohnmobil schauen, sagt sie. Und ihre Krankenversicherung würde angeblich nicht für einen Klinikaufenthalt zahlen. Mr Rutledge, sie sollte aber noch bleiben. Die schmerzstillenden Mittel haben sie benommen gemacht, sie bekommt eine Infusion und hat den Arm in Gips. So kann sie unmöglich Auto fahren. Könnten Sie ihr vielleicht gut zureden?“

Smith stand auf. „Ich will es versuchen.“

Die Frau, die er im Behandlungszimmer vorfand, hatte kaum noch Ähnlichkeit mit der auf dem Foto – oder mit dem aufsässigen Wesen, das die Schwester ihm beschrieben hatte. Sie trug einen Kopfverband, einen Gips vom Handgelenk bis zum Ellbogen, und eine Infusionsnadel steckte in der Armvene. Ihr Gesicht war fast so weiß wie das Kissen, ihre bläulichen Lider wiesen auf Erschöpfung hin, und sie schlief fest. Wie sie da so im Bett lag, wirkte sie zart und verletzlich, und ihr Anblick rührte etwas in ihm an. Plötzlich verspürte er das starke Bedürfnis, sie zu beschützen, und als er dann merkte, was hier vor sich ging, weckte das seinen Zorn.

Eine Krankenhausangestellte mit einem Klemmbrett stand vor dem Bett und versuchte, die Patientin wachzurütteln. „Mrs Smith, Mrs Smith, ich muss wissen, wie Ihre Versicherung heißt. Wie ist Ihre Adresse? Wer sind Ihre nächsten Verwandten? Mrs Smith?“

„Lassen Sie sie in Ruhe“, sagte Smith schroff.

„Aber ich muss wissen, wer ihre Rechnung zahlt, Sir.“

„Ich.“ Er zog eine Visitenkarte aus der Tasche und gab sie ihr. „Schicken Sie die Rechnung an mein Büro. Und jetzt gehen Sie bitte.“

Die Frau versteifte sich und drückte das Klemmbrett an ihren ausladenden Busen. „Ich tue nur meine Pflicht, Sir.“

Smith strich sich übers Gesicht. „Selbstverständlich. Es war nicht böse gemeint.“

Während er dann dastand und die schlafende Frau betrachtete, musste er selbst gegen den Drang ankämpfen, sie aufzuwecken. Er hatte auch eine Menge Fragen an sie.

Eine Schwester kam. „Ich glaube, das Beruhigungsmittel wirkt noch ein paar Stunden“, erklärte sie. „Wir bringen sie gleich auf die Station.“

„Geben Sie ihr ein Einzelzimmer mit Nebenraum“, sagte Smith.

„Aber Sir, ich bin nicht befugt, so etwas zu …“

Smith reichte ihr ebenfalls eine Visitenkarte. „Dann klären Sie das mit Ihrer Verwaltung.“ Wenn Jessica Smith über Nacht blieb, dann er auch. Er würde sie nicht aus den Augen lassen, bis er seine Antworten hatte.

Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, wurde Jessica in eine hübsch ausgestattete Suite verlegt, die sonst Prominenten vorbehalten war. Sie schlief noch immer.

Smith setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett und hoffte, sie würde bald aufwachen, damit er sie über die Fotos befragen konnte. Er wartete und beobachtete sie gespannt.

Sie schlief und schlief.

Gegen Mitternacht kannte er jeden ihrer Züge in- und auswendig, bis hin zu der winzigen Sommersprosse unter ihrer linken Augenbraue. Sie war eine attraktive Frau mit einem hübschen Gesicht: hohe Wangenknochen, volle Lippen und ein Grübchen im Kinn – allerdings war ihres nicht so tief wie seins.

Einmal, als sie unruhig wurde, strich er ihr das feuchte Haar aus der Stirn, nahm ihre unverletzte rechte Hand in seine und sprach besänftigend auf sie ein. Das kam ihm völlig natürlich vor.

Ihre Fingernägel waren kurz und gepflegt, aber unlackiert. Er schaute erneut nach einem Ring – da war keiner. Sie trug überhaupt keinen Schmuck, obwohl er bemerkte, dass ihre Ohrläppchen durchstochen waren. Die Schwester hatte ihm Jessicas Uhr zur Verwahrung gegeben. Es war eine billige Marke, die es in jedem Kaufhaus gab.

Zuvor hatte er ihre Kleidung nach irgendwelchen Hinweisen, die ihm womöglich weitergeholfen hätten, durchsucht. In einer Tasche ihrer Shorts fand er nur ein halbes Röhrchen Kopfschmerztabletten sowie etwas Kleingeld. Er stellte fest, dass die Shorts Größe 40 hatten, das ärmellose weiße Top war „medium“, und der Baumwoll-BH 75 C. Seine gute Erziehung verbot es ihm, ihren Slip näher zu untersuchen, er sah nur, dass er schlicht und zweckmäßig war. Ihre keineswegs neuen Turnschuhe hatten Größe sieben.

Das abgetragene blaue Maxishirt war so weit, dass es eher ihm gepasst hätte. Smith fragte sich, welcher Mann wohl der ursprüngliche Besitzer des Hemdes gewesen sein mochte, aber er fand weder ein Markenzeichen noch ein Etikett irgendeiner Reinigung, das ihm Aufschluss gegeben hätte.

Gegen drei Uhr morgens wurde Jessica erneut unruhig, warf sich im Bett hin und her und wimmerte im Schlaf. Es schnitt ihm ins Herz.

„Pscht“, flüsterte er, strich ihr wieder das feuchte Haar aus der Stirn und nahm ihre Hand in seine. „Schlaf ruhig.“

Plötzlich flatterten ihre Lider, und sie schlug die Augen auf. Sie lächelte. „Tom, du bist da“, murmelte sie undeutlich. „Du bist bestimmt ein Engel.“

Dann drückte sie seine Hand und schlief wieder ein.

2. KAPITEL

Jessicas Kopf schmerzte. Und sie hatte einen merkwürdigen Traum gehabt. Sie blinzelte ins Sonnenlicht, das durch die großen Fenster hereinströmte, und zwang sich, die Augen zu öffnen. Verwirrt schaute sie sich um. Wo war sie?

Ihr Arm tat weh, und etwas Schweres drückte auf ihr Bein. Mühsam hob sie sich an und sah, dass sie einen Gipsverband am Arm trug. Und der Kopf eines Mannes lag auf ihrem Bein. Sofort erkannte sie den üppigen rotbraunen Haarschopf.

Ihre Kehle wurde eng. „Tom!“, krächzte sie.

Aber es konnte unmöglich Tom sein. Tom war tot. Er war vor zwei Jahren gestorben.

Doch als der Kopf des Mannes jetzt hochfuhr, sah sie in Toms grüne Augen. Sehr ausdrucksstarke Augen, die seine Gefühle wiedergaben. Der Blick war klar und fest, nicht von Schmerzen getrübt, und der Körper war kräftig und gesund anstatt … Hilfe! Dachte sie.

„Bin ich gestorben?“

„Gestorben?“ Smith runzelte die Stirn. „Wovon reden Sie? Sie sind im Krankenhaus. In Harlingen, Texas. Sie sind gestürzt. Erinnern Sie sich nicht?“

Jessica rieb sich mit der gesunden Hand die Augen und blinzelte mehrmals, um den Traum zu vertreiben. Doch Tom verschwand nicht. Ihr Herz schlug schneller, Panik stieg in ihr auf. „Wieso bist du hier?“

„Ich habe ein paar Fragen an Sie. Wer sind Sie?“

„Ich bin deine Frau Jessica. Erkennst du mich denn nicht mehr wieder?“

„Lady, vor gestern Abend in der Cafeteria habe ich Sie noch nie im Leben gesehen. Was ist das für ein Spielchen, das Sie da treiben?“

Ihr Herz klopfte noch schneller, und ihr Mund wurde trocken. „Ich weiß nicht, was du meinst.“ Sie wollte sich aufsetzen, doch kaum hatte sie sich angehoben, da verschwamm ihr alles vor den Augen.

Smith nahm sie bei den Schultern und drückte sie sanft aufs Bett zurück. „Immer langsam. Sie hängen noch am Tropf. Sie müssen liegen bleiben.“

Seine Hände auf ihren Schultern fühlten sich sehr warm und sehr real an. Sie roch sogar das Aftershave, das er immer benutzte. Entsetzen befiel sie. „Du machst mir Angst. Geh weg, Tom. Lass mich bitte. Du bist tot.“ Sie kniff die Lider fest zusammen und bewegte wie in einem Gebet lautlos die Lippen.

„Ich bin nicht tot. Hier, fühlen Sie selbst.“ Er nahm ihre Hand und legte sie an sein Gesicht. „Ich bin äußerst lebendig. Und ich heiße nicht Tom.“

Jessica riss die Augen auf und starrte den Mann an. Unter ihren Fingern spürte sie die vertraute Nase, die deutliche Kerbe im Kinn. „Sie sehen aus wie Tom, Sie fühlen sich an wie Tom. Sie sprechen wie Tom. Ich begreife das nicht. Wer sind Sie?“

„Ich bin Smith Rutledge. Smith Allan Rutledge, Vorstandsvorsitzender der Smith Computer Corporation. Dämmert Ihnen jetzt etwas?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Außer … ich habe einen blauen Smithlaptop. Sind Sie dieser Smith?“

„Ganz richtig. Und wer sind Sie nun? Und wer ist Tom?“

„Ich heiße Jessica O’Connor Smith. Und Tom, genauer Thomas Edward Smith, ist … war mein Mann. Sie sehen genauso aus wie …“

Ein Arzt und eine Schwester betraten den Raum. „Guten Morgen, Jessica“, sagte der Arzt aufgeräumt. „Ich bin Dr. Vargas. Wie fühlen Sie sich heute? Besser?“

„Danke, es geht. Aber Sie müssen mich entlassen. Ich habe keine Zusatzversicherung und kann mir dies alles hier nicht leisten. Dieses Zimmer hier …“ Sie blickte sich um. „Das ist ja unbezahlbar.“

Dr. Vargas lächelte. „Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Konzentrieren Sie sich nur darauf, gesund zu werden. Ich habe mir Ihre Werte angesehen, und bis auf die Tatsache, dass Sie anämisch sind, ist alles okay. Sie können nach Hause gehen. Ich gebe Ihnen einen Diätplan und ein Rezept für ein Mittel gegen die Blutarmut sowie Schmerztabletten mit.“

Sie hob die eingegipste Hand. „Was ist damit passiert?“

„Sie haben sich das Handgelenk gebrochen. In sechs Wochen dürfte der Bruch ausgeheilt sein. Sie können mich jederzeit aufsuchen, wenn es Probleme gibt. Dann werden wir auch Ihr Hämoglobin überprüfen.“

„Sechs Wochen? Ich bin doch gar nicht von hier. Ich bin unterwegs nach Brownsville oder eigentlich nach Matamoros. Ich wollte mein Wohnmobil in Brownsville stehen lassen und über die Grenze …“ Jessica verstummte abrupt, die Einzelheiten hatten ja niemanden zu interessieren.

„Sie fahren ein Wohnmobil?“, erkundigte sich der Arzt, während er das Rezept ausschrieb. „Allein?“

„Ja, natürlich.“

„Ich rate Ihnen, eine Weile nicht zu fahren, schon gar keinen so schweren Wagen. Und wegen Ihrer Anämie sollten Sie sich schonen und die Diät einhalten, bis die Werte besser sind.“

„Aber ich kann nicht hierbleiben, Dr. Vargas. Ich kenne niemanden am Ort, und ich habe Verpflichtungen und …“

Smith Rutledge nahm dem Arzt das Rezept und die anderen Papiere aus der Hand. „Ich sorge dafür, dass sie Ihre Anweisungen befolgt, Dr. Vargas.“

„Sehr gut, Mr Rutledge. Wir wollen doch, dass unsere Patientin bald wieder auf dem Damm ist, nicht wahr?“ Er tätschelte Jessica betont wohlwollend das Knie und lächelte breit. „Wir sehen uns also in sechs Wochen.“ Damit rauschte er hinaus, die Schwester im Schlepptau.

„Was soll das heißen, Sie sorgen dafür, dass ich die Anweisungen befolge? Wer sind Sie überhaupt?“

Jetzt sah sie Smith zum ersten Mal lächeln. Sonst wirkte er ernst, fast einschüchternd. „Ich dachte, das hätten wir geklärt. Ich bin Smith Rutledge, der Mann, der eine Menge Fragen an Sie hat. Und ich nehme Sie jetzt mit zu mir.“

„Einen Teufel werden Sie tun!“

Hinterher hätte Jessica nicht zu sagen vermocht, wie Smith Rutledge es fertigbrachte, sie umzustimmen. Obwohl der Verwaltungsdirektor der Klinik und der Oberarzt für den tadellosen Charakter ihres prominenten Mitbürgers garantierten, hatte Jessica sich strikt geweigert, mit ihm zu gehen. Vielleicht lag es ja an den Medikamenten, die sie benommen machten, oder aber sie war noch immer so verblüfft über diesen Doppelgänger ihres verstorbenen Mannes, dass sie schließlich nachgab. Jedenfalls fand sie sich kurz darauf in eine Decke gehüllt auf dem Vordersitz eines Jeeps wieder, den Arm auf einem Kissen. Ihre Sachen lagen in einer Plastiktüte auf dem Rücksitz.

„Ich mache mir wirklich Sorgen wegen meines Wohnmobils“, sagte sie. „Fast alle meine Habe ist darin, und es steht noch immer auf dem Parkplatz der Cafeteria.“

„Kein Problem. Einer meiner Leute bringt es auf die Farm. Eigentlich müsste es schon da sein, wenn wir ankommen.“

Verdutzt sah sie ihn an. „Woher haben Sie den Schlüssel?“

„Aus Ihrem Monsterbeutel.“

„Sie haben in meine Tasche geschaut?“

„Selbstverständlich. Woher sollte ich sonst Ihren Namen wissen? Sie waren bewusstlos.“

Sie wollte protestieren, doch dann seufzte sie nur und rieb sich die Schläfe.

„Kopfschmerzen?“, fragte er.

„Ein bisschen. Ich reagiere sehr empfindlich auf Schmerzmittel. Ich bin ganz benommen und fühle mich wie verkatert. Außerdem ist diese Geschichte so seltsam. Mir ist, als würde ich träumen. Unglaublich, wie stark Sie meinem Mann ähneln. Ich habe zwar einmal gehört, dass jeder irgendwo auf der Welt einen Doppelgänger hat, aber das hier habe ich nicht für möglich gehalten. Es ist verrückt. Und so ein Zufall, dass wir uns begegnet sind.“

„Ich glaube nicht an Zufälle“, sagte er barsch. „Und das mit den Doppelgängern ist Unsinn.“

Jessica war einen Moment lang sprachlos und starrte ihn bloß an. „Wie erklären Sie es dann? Sie sehen genauso aus wie Tom.“

„Ich weiß es nicht. Ich hoffe, Sie klären mich auf.“

Sie bogen von der Straße ab in einen Weg, der von unzähligen Reihen niedriger Bäume gesäumt war, und passierten ein riesiges Tor mit der Aufschrift „Sugartime Farms“. Zumindest meinte Jessica, dies gelesen zu haben. Ihre Sicht war noch leicht getrübt.

„Wie soll ich etwas erklären, das ich selbst nicht verstehe?“, gab sie zurück.

„Wir unterhalten uns darüber später. Jetzt sind wir gleich da.“

„Wo da?“

„Bei mir zu Hause.“

Sie betrachtete die ausgedehnten Plantagen links und rechts des Weges. „Gehört das alles Ihnen?“

Er nickte.

„Was züchten Sie hier?“

„Grapefruits und Orangen.“

„Das gibt eine Menge Saft.“

Wieder nickte er. „Die Plantage hat circa achthundert Hektar.“

„Ich bin allergisch gegen Grapefruits.“

„Wird die Nähe der Bäume Ihnen Probleme machen?“

„Ich glaube nicht. Nur wenn ich den Saft trinke oder eine Frucht esse, schwellen meine Lippen an, und ich bekomme Ausschlag. Komisch, denn gegen Orangen und Zitronen bin ich nicht allergisch.“ Sie seufzte und lehnte den Kopf ans Seitenfenster.

„Schade. Unsere Ruby Reds sind so ziemlich die besten Grapefruits hier.“

Er umfuhr jetzt ein Rondell und hielt vor einem Haus, das sie in Staunen versetzte. Das mächtige Gebäude im spanischen Stil mit dem roten Ziegeldach und den rustikal verputzten weißen Wänden wirkte wie etwas, das sie eher in Beverly Hills vermutet hätte. Bougainvilleen und andere üppige Pflanzen rankten aus Töpfen und Hängekörben, und Jessica zählte drei Springbrunnen auf dem runden Vorplatz, die alle von bunten Blumen umgeben waren.

Sie versuchte, sich ihre Bewunderung nicht allzu sehr anmerken zu lassen. „Ihr Haus ist nicht schlecht“, bemerkte sie. In Wirklichkeit konnte sie sich kaum satt sehen.

„Danke, mir gefällt es auch.“

Er kam um den Wagen herum und half ihr beim Aussteigen. Beim Bewegen schmerzte ihr Kopf, und sie zuckte leicht zusammen.

Er runzelte die Stirn. „Sie sollten noch eine Tablette nehmen. Ich hoffe, die Schwester ist schon da.“

„Welche Schwester?“

„Die Krankenschwester, die sich um Sie kümmern wird.“

„Meine Güte, ich brauche wirklich nicht noch mehr Tabletten und eine Krankenschwester erst recht nicht. Ich habe doch nur einen verbundenen Arm.“ Sie hob den Arm in der Schlinge leicht an.

„Und Anämie. Der Arzt sagte, dafür brauchen Sie eine besondere Pflege.“

„Was für eine Pflege? Ein paar Eisentabletten pro Tag und ab und zu Leber mit Zwiebeln reichen völlig. Das ist doch kein Thema.“

„Und ob das ein Thema ist. Ich habe versprochen, auf Ihre Gesundheit zu achten, und das werde ich tun, Jessica. Jetzt ruhen Sie sich erst einmal eine Weile in Ihrem Zimmer aus, und dann sehen wir weiter.“

Smith legte ihr einen Arm um die Schultern, um sie zu führen, aber sie schüttelte ihn unwillig ab. „Moment mal, Mister. Hat Sie noch nie jemand mit einer Dampfwalze verglichen?“

Autor

Jan Hudson
Abgesehen von einem kurzen Aufenthalt in Fort Knox, wo ihr Mann eine Weile stationiert war, hat Jan ihr ganzes Leben lang in Texas gelebt. Eine ihrer frühesten Erinnerungen ist, wie sie abends, bereits im Pyjama, im Dorfladen ihrer Großeltern saß und den Geschichten lauschte, die die Erwachsenen erzählten.

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