Baccara Spezial Band 13

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ENTFÜHRUNG UM MITTERNACHT von NICHOLE SEVERN
Mühsam kommt Benning zu sich. Irgendjemand hat ihn niedergeschlagen und seine sechsjährigen Zwillinge entführt! Die kleine Olivia taucht unvermittelt auf, aber Owen bleibt verschwunden. Kann die schöne Ana vom FBI, Bennings Ex-Geliebte, helfen, seinen Sohn zu finden?

GEFÄHRLICHE GEHEIMNISSE EINES MILLIARDÄRS von DEBRA WEBB
Dr. Devon Pierce ist erfolgsverwöhnt und viel zu arrogant, findet Ermittlerin Isabella Lytle. Aber der Mörder seiner Frau? Niemals, sagt ihr Instinkt. Genau das soll sie beweisen – und muss den sexy Milliardär dafür sehr genau kennenlernen …

BIS DIE HOFFNUNG STIRBT von RITA HERRON
Spurlos ist ihre neugeborene Tochter damals verschwunden. Fünf Jahre später sucht Cora immer noch verzweifelt nach der kleinen Alice. Und plötzlich hat sie den attraktiven Sheriff Jacob Maverick als Verbündeten! Ihr Herz schlägt schneller. Vor Hoffnung – oder Liebe?


  • Erscheinungstag 13.08.2021
  • Bandnummer 13
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500807
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Nichole Severn, Debra Webb, Rita Herron

BACCARA SPEZIAL BAND 13

NICHOLE SEVERN

Entführung um Mitternacht

Unter hochdramatischen Umständen sieht FBI-Agentin Ana ihren Ex Benning wieder: Sein sechsjähriger Sohn wurde aus dem Haus entführt! Jede Sekunde zählt, wenn sie den Kleinen lebend finden wollen. Ana hat viele Fragen: Wer will Benning unter Druck setzen? Was steht hinter der Entführung? Und hat ihre Liebe eine zweite Chance?

DEBRA WEBB

Gefährliche Geheimnisse eines Milliardärs

„Dr. Pierce, bitte kommen Sie in die Notaufnahme, Ihre Frau wurde schwer verletzt eingeliefert.“ Das kann nicht sein, denn die ist seit sechs Jahren tot! Irgendwer spielt falsch mit Devon Pierce. Er beauftragt die schöne Ermittlerin Isabella Lytle mit dem mysteriösen Fall, muss aber gleichzeitig verhindern, dass sie sein gefährliches Geheimnis lüftet …

RITA HERRON

Bis die Hoffnung stirbt

Privatdetektiv Philips wurde erschossen? Sheriff Jacob Maverick beschleicht ein dunkler Verdacht. Denn Philips arbeitete für Cora Reeves, deren Tochter als Säugling aus dem Krankenhaus entführt wurde. Hatte Philips eine Spur? Als Jacob mit Cora redet, würde er sie am liebsten tröstend an sich ziehen. Ihre verzweifelte Hoffnung berührt sein Herz …

PROLOG

Sie hatten ihn gewarnt, nicht die Polizei einzuschalten.

Er konnte nicht denken. Nicht atmen.

Trotzdem zwang er einen Fuß vor den anderen, während er versuchte, den quälenden Schmerz am Hinterkopf zu verdrängen, wo ihn der Kidnapper bewusstlos geschlagen hatte. Owen. Olivia. Sie waren irgendwo dort draußen. Allein. Verängstigt. Er hatte nicht die Kraft gehabt, sie zu beschützen, aber das würde ihn nicht davon abhalten, sie zu suchen. Nicht, bis er sie wiederhatte.

Schwindel überkam ihn, stellte die Welt auf den Kopf und ließ ihn mit einem Laternenmast kollidieren, der zum Glück nur aus Holz war. Sein schulterlanges Haar nahm ihm die Sicht, während er versuchte, das Gleichgewicht wiederzufinden. Er war erst vor fünfzehn Minuten wieder zu Bewusstsein gekommen und hinter den Rücklichtern des SUV hinterhergejagt, der auf der ungepflasterten Straße in die Stadt gerast war. Den Dreck im Mund konnte er immer noch schmecken. Weit konnten sie noch nicht sein. Irgendjemand musste etwas gesehen haben …

Trotz der sinkenden Temperaturen setzte sich Feuchtigkeit in seinen Lungen fest und Schweißperlen tropften von seinen Schläfen, als er sich wieder aufrichtete. Das Mondlicht schien auf ihn hinunter. Erschöpfung zog an jedem seiner Muskeln, aber er musste weitermachen. Er musste seine Kinder finden. Sie waren alles, was er noch hatte. Alles, was noch zählte.

Die farblosen, heruntergekommenen Tante-Emma-Läden an der Hauptstraße verschwammen vor seinen Augen.

Eine kleine Gruppe Teenager – so sahen sie zumindest aus – traf sich vor ihm auf dem Gehweg. Der Kidnapper war von seinem Grundstück am Stadtrand geflohen und es gab nur eine Handvoll Straßen, die den Mistkerl aus der Stadt bringen würden. Vielleicht konnte jemand von ihnen ihm sagen, wo er langgefahren war. Er packte einen der Jugendlichen am Kragen. „Hast du hier einen schwarzen SUV vorbeifahren sehen?“

Der Junge – sechzehn oder siebzehn – schüttelte den Kopf und wich zurück. „Lass mich los, Mann.“

Das Echo der Stimmen durchdrang das Rauschen in seinen Ohren, als sich die Teenager vor Seviervilles ältestem Haushaltswarenladen versammelten. Seine Lunge brannte von den gehetzten Atemzügen, während er die Straße auf einen Hinweis hin absuchte. Irgendjemand musste etwas gesehen haben. Irgendetwas. Er musste …

„Sie blutet!“, schrie ein Mädchen. „Ruft einen Krankenwagen!“

Seine Nackenhaare richteten sich vor Angst auf. Wer war verletzt? Er drängte sich durch die Schaulustigen und sein Blick fiel auf eine pinkfarbene Pyjamahose und grelle lila Zehennägel. Panik überkam ihn, als er sie erkannte. Sein Herz drohte, ihm aus der Brust zu springen, als er auf die Sechsjährige zustürzte, die bewusstlos auf dem Gehweg lag. Schmerz schoss ihm durch die Knie, als er sich auf das Pflaster fallen ließ und sie in die Arme nahm. „Olivia!“

1. KAPITEL

„Glückwunsch, Ramirez.“ Die Direktorin Jill Pembrook wischte mit ihrem Zeigefinger über das Tablet in ihrer Hand und die Monitore, die überall im Konferenzraum angebracht waren, erwachten zum Leben. „Sie haben einen neuen Auftrag.“

Ein neuer Fall? Es war so lange her, dass sie schon geglaubt hatte, ihre früheren Verfehlungen hätten ihre Stellung im Team negativ beeinflusst. Agent Ana Sofia Ramirez verkniff sich ein Lachen, als die übertriebenen Glückwünsche der anderen beiden Agenten den Raum erfüllten. Der Lederstuhl, auf dem sie saß, ächzte, als sie sich zurücklehnte, um den Hauptmonitor hinter der Direktorin zu sehen. Mit den Fingernägeln kratzte sie an der Tischplatte. „Was ist es für ein Fall?“

„Ein sechsjähriger Junge wurde entführt“, sagte die Direktorin.

Stille legte sich über den Raum. Unwillkürlich spannte Ana die Muskeln zwischen Schultern und Nacken an. Tief einatmend fixierte sie den Monitor vor sich. Sie war dafür ausgebildet worden, Vermisste zu finden, aber trotzdem würde niemand an diesem Tisch sich freiwillig für so eine Aufgabe melden. „Zeitraum?“

„Wir haben 24 Stunden. Der Vater besteht darauf, dass nur der von ihm angefragte Agent in die Rettung involviert ist. Aber die Zeit läuft uns davon und ich werde alle verfügbaren Ressourcen mobilisieren, ob ihm das gefällt oder nicht. Da kommen Sie ins Spiel.“ Pembrook schaltete den größten Monitor am Ende des Raums ein und rief eine Karte auf, die ein kleines Privatgrundstück etwas außerhalb von Sevierville, Tennessee, zeigte.

Die zierliche Frau mit dem angegrauten Haar und den scharfen Gesichtszügen war in den 40 Jahren, seit denen sie für das FBI arbeitete, noch nie zu unterschätzen gewesen. Man enttäuschte sie besser nicht und Ana wollte es nicht darauf ankommen lassen. Die Direktorin schob ihr einen Umschlag zu.

„Sie werden sich als Ex-Geliebte ausgeben, die zu Besuch in der Stadt ist und von der Entführung gehört hat. Ich will, dass Sie herausfinden, warum der Vater uns im Unklaren lässt. Die Agenten Cantrell und Duran werden Sie von hier aus unterstützen, bis Sie sie anderswo brauchen.“

Maldición. Verdammt.

„Wenn das eine gezielte Entführung gewesen ist, dann werden die Kidnapper sich mit dem Umfeld des Jungen vertraut gemacht haben.“ Ana sah zu den Männern am anderen Ende des Tisches. Agent JC Cantrell leitete die Observierungen und Evan Duran führte die Geiselverhandlungen. Ana tat alles, um Vermisste wiederzufinden. Die drei bildeten nur einen kleinen Teil der Tactical Crime Division, und jetzt waren sie auf dem Weg nach Sevierville, dem Ort, an den sie keinen Fuß mehr setzen wollte. Zu viele schmerzvolle Erinnerungen verband sie mit ihm. Diesen Fall aber konnte sie nicht ablehnen, nicht, nachdem sie so hart dafür gekämpft hatte, das Vergangene wiedergutzumachen. „Wie wollen wir garantieren, dass meine Tarnung nicht sofort auffliegt, wenn ich den Vater kontaktiere?“

„Das wird diesmal kein Problem sein“, versicherte ihr Pembrook.

Das FBI verfügte über weitreichende Informationen zu kriminellen Aktivitäten im ganzen Land. Das Hauptquartier befand sich in Washington D. C., aber um kleinere Polizeibehörden zu unterstützen, hatte das FBI Außenstellen in weiteren Großstädten eingerichtet. Kleinere Städte blieben zumeist ohne Unterstützung, aber immer häufiger zog es die Bundesbehörde auch an abgelegenere Orte, um Verbrechen aufzuklären: Terrorakte, Geiselnahmen, Entführungen, Schießereien. Angesichts der zunehmenden Bedrohungen, auf die zügig reagiert werden muss, sah sich das FBI gezwungen, ein Team zusammenzustellen, das Spezialisten aus mehreren Einheiten vereinte. Zusammen bildeten sie die Tactical Crime Division.

„Wie lange ist der Junge schon verschwunden?“ Als einer der erfolgreichsten Verhandlungsführer in der Geschichte des FBI hatte Agent Evan Duran bereits hunderte Leben gerettet. Ana vertraute auf ihn, die nötigen Informationen zu beschaffen, um das Opfer zu finden. „Irgendwelche Forderungen?“

„Seit sechs Stunden.“ Direktor Pembrook nahm auf ihrem Stuhl am Kopfende des Tisches Platz. „Und nein.“

„Es gab noch keine Lösegeldforderung?“ Ana blätterte auf dem Monitor vor sich durch die Akte. In den USA verschwand alle 40 Sekunden ein Kind. Jedes Jahr wurden mehr als 460.000 als vermisst gemeldet. Fast 1.500 von ihnen wurden entführt, die meisten von einem Elternteil oder einem Verwandten. Die Mutter des Jungen könnte es getan haben, das würde die fehlende Lösegeldforderung erklären. Oder …

Ana erstarrte, als sie den Namen des Vaters in der Polizeiakte las. „Benning Reeves.“

Der Junge, der entführt worden war, war Bennings Sohn Owen.

„Er hat ausdrücklich nach Ihnen gefragt, Ramirez.“ Pembrooks Blick lastete schwer auf ihr. Ana war die Agentin, die Benning verlangt hatte. Hatte man ihr deshalb die Leitung des Falls übertragen? Nicht wegen ihrer Erfahrung, sondern weil sie den Mann kannte, der das FBI während der Ermittlungen auf Abstand halten wollte?

Die Direktorin hatte recht. Ihre Tarnung würde kein Problem darstellen. Weil es keine war.

Ana fuhr sich mit der Zunge über die ausgetrockneten Lippen. „Was ist mit dem Mädchen? Olivia.“

„Sie wurde auch entführt, aber die Polizei konnte sie wenige Minuten später finden.“ Erleichtert atmete Ana auf und Pembrook beobachtete sie noch eindringlicher. Sie durfte jetzt keine Schwäche zeigen. Jemand hatte Bennings Sohn gekidnappt und die Zeit wurde knapp. Die Frage war: Warum? Soweit sie wusste hatte Benning seine Stelle als Bauinspektor bei der Stadt über all die Jahre behalten, er war nicht verschuldet, und er war auch nicht die Sorte Mann, die sich in kriminelle Machenschaften verstrickte. Wenn das eine persönliche Angelegenheit war, warum hatte es jemand auf seine Kinder abgesehen?

„Die Beamten gehen davon aus, dass das Mädchen während der Fahrt aus dem Wagen des Kidnappers entkommen ist, aber das werden wir erst mit Sicherheit erfahren, wenn wir es befragen können. Sie müssen dort sein, wenn Olivia aufwacht und herausfinden, was sie weiß. Egal ob der Vater will, dass die TCD offiziell involviert ist oder nicht.“

Sie nickte. Die Mutter der Zwillinge konnten sie immerhin schon von der Liste der Verdächtigen streichen. Lilly Reeves war vor sechs Jahren während der Geburt der Kinder gestorben. Ana war nervös. Nach dem, was passiert war, als sie das letzte Mal in einem Raum – in einem Bett – mit Benning gewesen war, konnte sie nicht verstehen, warum er sich ausgerechnet an sie wandte. Ein einziger Anruf hatte alles zwischen ihnen verändert und kurz nachdem Ana gegangen war, hatte er Lilly geheiratet und mit ihr die Zwillinge bekommen. Und nun sollte sie sich wieder in sein Leben drängen, um seinen vermissten Sohn zu finden?

Es gab andere Agenten, die wesentlich qualifizierter wären, um diese Ermittlung zu leiten. Agenten, die nicht wegen einer falschen Entscheidung ihre ganze Karriere aufs Spiel gesetzt oder eine persönliche Verbindung zu dem Fall hatten. Was sollte sie nach all den Jahren zu ihm sagen? Seit dieser Nacht hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen, obwohl sie sich immer bei ihm melden wollte. Bei der Person, von der sie sich nicht lösen konnte. Sie schluckte schwer. Egal, was zwischen ihr und Benning geschehen war, sie konnte ihr Urteilsvermögen nicht von ihren Gefühlen beeinflussen lassen. Das Leben eines kleinen Jungen war in Gefahr.

„Ich sehe mir die Aufnahmen der Verkehrskameras an“, sagte Agent JC Cantrell und stand auf. Der ehemalige Soldat leitete die meisten Observierungseinsätze der TCD. Ob er dabei immer vollkommen legal vorging, war eine andere Frage. Aber Ana war das im Moment egal. Ein sechsjähriger Junge war irgendwo dort draußen – allein und verängstigt. Ihre Einheit war für solche Aufgaben ausgebildet und sie selbst ebenfalls. Sie würde den Fehler nicht wiederholen, den sie begangen hatte, als sie ihr Leben schon einmal mit Benning geteilt hatte. JC ging zur Tür, Duran folgte ihm. „Mit etwas Glück habe ich in einer Stunde ein Kennzeichen für dich.“

„Haltet mich auf dem Laufenden und nehmt immer eure Handys mit. Ich rufe an, wenn ich euch brauche.“ Ana schob ihren Stuhl zurück. Als sie aufstand, fiel ihr das lange schwarze Haar über die Schulter nach vorn, das sie von ihrem lateinamerikanischen Vater geerbt hatte. Sevierville lag nicht weit weg vom TCD-Hauptquartier in Knoxville, nur 30 Meilen entfernt in Richtung Südwesten. Aber wenn sie Bennings Tochter sprechen wollte, bevor die Ärzte es der Polizei erlaubten, musste sie sofort aufbrechen. Sie nickte Direktor Pembrook zu und schob den Stuhl an den Tisch. „Ich informiere Sie sofort, wenn ich Olivia Reeves befragt habe.“

„Seien Sie vorsichtig, Ramirez.“ Die Stimme der Direktorin schallte durch den Konferenzraum und ließ Ana innehalten, als sie gerade durch die Glastür flüchten wollte. Die stahlgrauen Augen ihrer Chefin durchbohrten sie förmlich. „Ich habe Ihnen diesen Fall übertragen, weil Sie den Vater des Opfers kennen und er mir klargemacht hat, dass er mit niemand anderem kooperieren wird. Aber lassen Sie sich von Ihren Gefühlen nicht davon abhalten, Ihre Arbeit zu erledigen.“ Pembrooks Stimme nahm einen sanfteren Ton an. „Wir können es uns nicht leisten, noch jemanden zu verlieren. Verstanden?“

Sie verspürte ein Prickeln im Nacken. Sich umzudrehen und sich der Wahrheit dieser Warnung zu stellen, erschien ihr plötzlich unmöglich. Ana spürte, wie die Schwerkraft an ihrem Körper zog. Ihre Knie begannen zu zittern, als sich die Erinnerungen einen Weg durch die Mauer bahnten, die sie vor über sieben Jahren um sich aufgebaut hatte. Sie presste die Fingernägel in ihre Handflächen, und so schnell die Erinnerungen gekommen waren, so schnell hatte sie sie wieder ganz hinten in ihrem Gedächtnis verstaut.

Sie war gut darin geworden, sich von Gefühlen zu lösen, die sie sich nicht eingestehen wollte. Vor allem, wenn sie Benning Reeves betrafen. Aber sie verstand, was ihr die Direktorin sagen wollte. Bennings Sohn nach Hause zu seiner Familie zu bringen, würde die letzte Chance sein, ihre Karriere zu retten. Sie hatte schon einmal versagt. Das würde ihr nicht wieder passieren. „Ja, Ma’am.“

Benning Reeves durchquerte das kleine Zimmer zum achten Mal. Oder war es schon das neunte Mal? Es war fünf Stunden her, dass er in seinem Haus erwacht und seine Kinder verschwunden waren. Und seit Olivia …

Er blieb an ihrem Krankenbett stehen. Ihr kleiner Körper verschwand beinahe unter all den Kissen und Decken, die er um sie gelegt hatte. Gleichmäßig hob und senkte sich ihre Brust. Durch das Beruhigungsmittel, das ihr die Krankenschwester gegeben hatte, würde sie noch ein paar Stunden schlafen. Nur so konnte sichergestellt werden, dass ihr Körper die nötige Erholung bekam. Er strich ihr das kurze braune Haar aus dem Gesicht. Die Ärzte konnten nicht sagen, ob sie sich jemals erinnern würde. Sie hatten etwas von traumabedingter Amnesie gesagt. Olivia hatte sich nicht mal an den Namen ihres Bruders erinnern können, geschweige denn an das, was passiert war, als sie aus dem SUV entkommen war.

Bennings Hände zitterten. Er zwang sich, einen Schritt zurückzutreten, um seine Tochter nicht aufzuwecken. Der Kidnapper hätte ihn schon längst kontaktieren müssen, um ihm weitere Anweisungen zu geben. In seinen Ohren dröhnte es. Er musste nach seinem Sohn suchen, aber er wagte es nicht, Olivia allein zu lassen. Nicht nach dem, was sie erlebt hatte. Ihm wurde heiß, als er sich erinnerte. Jemand war in sein Haus eingebrochen, hatte ihn bewusstlos geschlagen und seine Kinder entführt. Nur wegen dem, was er auf der Baustelle gefunden hatte.

Hitze breitete sich unter seiner Haut aus. Er schloss die Augen, als das altbekannte Gefühl der Instabilität, das er all die Jahre in Schach gehalten hatte, drohte, ihn zu überwältigen. Benning nahm sein Handy zur Hand. Der Anblick des Fotos hinter dem zerschlagenen Glas ertränkte das Rauschen in seinen Ohren. Sein Puls beruhigte sich, während er die lächelnden Gesichter seiner Zwillinge ansah, die sich von hinten auf ihn stürzten. Er würde Owen zurückbekommen. Er hatte schon zu viele Menschen verloren. Er konnte nicht auch noch seine Kinder verlieren.

Plötzlich führte ihn eine seltsame Vorahnung zur Tür des Krankenzimmers. Braune-grüne Augen richteten sich auf ihn und es zog ihm den Boden unter den Füßen weg. Sie war gekommen. Nach Olivias Ankunft im Krankenhaus hatte er nicht gewusst, wen er sonst anrufen sollte. Oder ob sie überhaupt nach Sevierville kommen würde. Bevor er Benning bewusstlos geschlagen hatte, hatte der Entführer ihn davor gewarnt, die Behörden zu alarmieren, aber Ana Sofia Ramirez war nicht irgendeine Bundesagentin. Einst hatte sie ihm alles bedeutet. Bevor sie ihm ohne Vorwarnung das Herz herausgerissen hatte.

Ihren Wangenknochen und ihrer Nase sah man ihre lateinamerikanischen Wurzeln an, und das dunkle seidige Haar reflektierte das Licht, genau so, wie er es in Erinnerung hatte. Auf diesen Augenblick hatte er seit sieben Jahren gewartet. Er wollte sie einfach nur wieder in den Arm nehmen. „Ana.“

„Ich bin sofort gekommen, als ich es gehört habe.“ Sie eilte zu ihm, ließ ihre Tasche auf den Boden fallen und schlang die Arme um seine Taille. Die Frau, die ihn einst sitzengelassen hatte, schmiegte sich endlich wieder an ihn und er beruhigte sich sofort. Unsicherheit, Wut, Angst und das Gefühl, versagt zu haben, wurden von Ruhe und Klarheit abgelöst. Der sanfte Duft ihres Parfums – etwas Leichtes, Frisches – kitzelte ihn im Rachen, als er die Nase in ihrem Haar vergrub. Mit einer Größe von 1,65 Meter passte ihr Körper perfekt zu seinem. Gegen Ende ihrer Beziehung hatte er sogar gedacht, sie wäre extra für ihn geschaffen worden.

Mit dem Kinn streifte sie über seine Schulter und setzte ihren Mund an sein Ohr. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. „Der Entführer könnte zuhören. Tu so, als wären wir alte Freunde, die sich zufällig wiedertreffen, und mein Team und ich werden alles tun, um deinen Sohn zurückzubekommen“, flüsterte sie.

Sein Magen zog sich zusammen. Stimmt. Ihr Team. Es war keine intime Umarmung, sie hatte ihm nur etwas mitteilen müssen. Sie war gekommen, um ihren Job zu erledigen. Angesichts der Tatsache, dass seine Kinder angegriffen worden waren, um an ihn heranzukommen, würde er alles tun, was sie befahl. Er wollte seinen Sohn zurück. Egal, was es kostete. Er löste sich von ihr und räusperte sich. „Warum bist du in der Stadt?“

„Meine Eltern feiern ihren 40. Hochzeitstag. Meine Brüder und ich sind hergeflogen, um sie zu überraschen. Als ich gehört habe, was geschehen ist, wollte ich sehen, wie es dir geht.“ Sie verwob die Wahrheit mit der Lüge. Er hatte davon gelesen, dass verdeckte Ermittler beigebracht bekamen, Details ihres wahren Lebens in ihre Undercover-Arbeit einzuflechten. Ana hatte tatsächlich drei Brüder, aber er war sich sicher, dass sie den Hochzeitstag und den Wunsch, ihn zu sehen, improvisiert hatte.

Sie band sich einen Pferdeschwanz und drehte sich zu Olivia um, die immer noch in ihrem Bett schlief. Dann hockte sie sich hin und zog den Reißverschluss ihrer Reisetasche auf. Im nächsten Augenblick stand sie auf und ging auf das Bett zu, wobei sie einen kleinen schwarzen Kasten vor sich hielt. Grüne Lichtimpulse huschten über den Bildschirm, während sie durch das Zimmer lief. „Wie geht es ihr? Gibt es Neuigkeiten zu Owen?“

Sie glaubte, dass der Kidnapper zuhörte, hatte sie gesagt. Wartete er darauf, dass Benning die Polizei verständigte? Aber wie hätte der Einbrecher wissen können, dass Olivia entkommen und in diesem Zimmer unterkommen würde? Benning war die ganze Zeit bei ihr geblieben und nur die Ärzte und Krankenschwestern waren hereingekommen. „Noch nicht. Olivia hat sich eine Gehirnerschütterung zugezogen, als sie aus dem SUV entkommen ist. Die Ärzte wissen noch nicht, ob nur ihr Kurzzeitgedächtnis in Mitleidenschaft gezogen wurde. Aber sie …“

Ana blieb stehen, als ein rotes Licht an dem Gerät in ihrer Hand aufleuchtete. Nachdem sie ihm einen kurzen Blick über die Schulter zugeworfen hatte, griff sie hinter das Kopfteil von Olivias Bett und zog etwas hervor. Sie ging einen Schritt zurück und zeigte ihm ein kleines kreisförmiges Stück Metall. Mit dem Zeigefinger der anderen Hand bedeutete sie ihm, weiterzureden.

Jemand hatte eine Wanze im Krankenzimmer seiner Tochter installiert. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, während er im Kopf eine Liste aller Personen durchging, die das Zimmer betreten hatten. Jemand aus dem Ärzteteam musste die Wanze angebracht haben, als Olivias Wunden versorgt wurden. Er schluckte und versuchte, seiner Stimme einen ruhigen Ton zu verleihen. „Sobald sie aufwacht, werden sie noch mehr Tests durchführen.“

„Wie geht es dir?“ Sie nickte ihm zu, bevor sie sich an ihm vorbeimanövrierte und die Wanze in ein Wasserglas neben dem Krankenbett fallen ließ. Scheinbar uninteressiert an seiner Antwort durchsuchte sie den Rest des Zimmers.

„Es war eine lange Nacht“, sagte er.

Der Detektor leuchtete weiterhin grün. Ihr Gesicht entspannte sich und sie ließ den kleinen Kasten in der Tasche ihres knielangen Mantels verschwinden. Eine Spur der Frau, die er einmal gekannt hatte, kehrte zurück. „Der Rest des Zimmers ist sauber. Jetzt wird niemand mehr etwas hören. Ich lasse die Wanze von meinem Team untersuchen. Vielleicht können wir sie zu ihrem Besitzer zurückverfolgen und finden so heraus, wer deinen Sohn entführt hat.“

Da war sie wieder. Die Bundesagentin, der er sofort verfallen war, als sie vor sieben Jahren auf seiner Baustelle aufgetaucht war, um die Bauarbeiter zum Verschwinden eines jungen Mädchens zu befragen. Benning klammerte sich an das Krankenbett seiner Tochter, um einen klaren Kopf zu behalten. „Vorausgesetzt, der Entführer ist derselbe Kerl, der die Wanze angebracht hat.“

Wie wahrscheinlich war das?

„Ja.“ Sie nickte ihm zu, ihre Stimme klang nüchtern, gefühllos und sein Magen verhärtete sich. „Du blutest. Hat sich jemand die Wunde an deinem Hinterkopf angesehen? Ich kann bei ihr …“

„Mir geht es gut.“ Das war gelogen. Aber er würde nicht von Olivias Seite weichen. Sie hatte schon zu viel durchgemacht, sie sollte nicht auch noch ohne ihn aufwachen müssen. Er beobachtete jede von Anas Bewegungen mit einer Aufmerksamkeit, die er seit der Nacht vor vielen Jahren nicht mehr von sich kannte, in der sie Sevierville verlassen hatte. Ihm fiel eine kleine Wölbung an ihrer linken Körperseite auf. Ihre Dienstwaffe. Unzählige Male hatte er sich gefragt, was er Ana sagen und wie sie reagieren würde. Niemals hätte er sich vorstellen können, dass er sie bitten müsste, ihm bei der Suche nach seinem vermissten Kind zu helfen.

Sie hatte ihre Wahl getroffen, entschieden, dass ihr die Karriere wichtiger als ihre gemeinsame Zukunft war, und war fortgegangen, um die Welt zu retten.

Er war geblieben und hatte den größten Fehler seines Lebens begangen, als er mit seiner Ex geschlafen hatte. Nachdem Lilly ihm von der Schwangerschaft erzählt hatte, hatte er alles daran gesetzt, dass aus ihnen eine echte Familie würde. Zum Wohle der Zwillinge, obwohl er Lilly nicht geliebt hatte. Es hatte nicht mehr als ein One-Night-Stand sein sollen, aber er hatte sein ganzes Leben verändert. Benning steckte die Hände in seine Jeanstaschen. „Ana, ich weiß, warum du mich verlassen hast, aber …“

„Jetzt zählt nur, deinen Sohn zu finden.“ Sie ging um das Bett herum und warf ihre Tasche auf einen leeren Stuhl. „Darum sollte ich doch herkommen, oder? Das ist mein Job.“

Richtig. Er hatte die Artikel auf der Titelseite von „The Mountain Press“ und die Interviews im Fernsehen gesehen. Demnach hatte sie die größte Erfolgsrate beim FBI. Wenn es darum ging, Vermisste zu finden, war Agentin Ana Sofia Ramirez die Beste. Und er brauchte die Hilfe der Besten.

In all den Jahren hatte er immer wieder das Verlangen unterdrückt, sie anzurufen. Er hatte sich gesagt, dass sie ihre Gründe gehabt hatte, ihn zu verlassen, und dass er der letzte Mensch wäre, von dem sie hören wollte. Aber er würde niemals über sie hinwegkommen. „Der Einbruch, die Entführung … Ich denke, das hat mit einer Baustelle zu tun, die ich inspiziert …“

Ein roter Punkt erschien über ihrem Herzen. Benning sprang nach vorn.

Ein Schuss ertönte.

Glasscherben flogen durch die Luft, landeten auf dem Fußende von Olivias Bett und schnitten Benning in die Arme. Schmerzhaft kam er mit den Handgelenken auf dem kalten Fliesenboden auf. Anas scharfe Atemzüge streiften über die empfindliche Haut unter seinem Kinn und das Herz schlug ihm bis zum Hals.

Ana rollte ihn von sich und begann zu kriechen; die Dienstwaffe schon in der Hand.

Ein vertrauter Schrei durchbrach die Stille.

„Olivia.“ Benning versuchte, sich so klein wie möglich zu machen, und kroch auf das Bett zu. Das Sonnenlicht spiegelte sich in ihren strahlend blauen Augen, die seinen eigenen so ähnelten. Schnell nahm er ihre Hand. Die Blutergüsse an Olivias Handgelenken und Armen waren im Verlauf der letzten Stunden noch dunkler geworden. Aber was noch viel beunruhigender war: Jemand hatte gerade auf sie drei geschossen. „Alles ist gut, meine Kleine. Ich bin bei dir.“

Ana presste den Rücken gegen die Wand neben dem Fenster und richtete sich vorsichtig auf, um über das Fensterbrett zu sehen. „Wir müssen hier raus.“

„Ich lasse sie nicht allein.“ Bennings Handy vibrierte. Er nahm es aus der Tasche. Die Nummer war unterdrückt. Seine Schultermuskeln versteiften sich. Das war er, der Anruf, auf den er gewartet hatte. Er richtete den Blick auf Ana, nahm den Anruf entgegen und stellte den Lautsprecher an. „Wer ist da?“

„Ich habe Ihnen doch verboten, die Polizei einzuschalten, Mr. Reeves“, sagte eine unbekannte Stimme. „Jetzt wird Ihr Sohn für Ihren Fehler bezahlen müssen.“

„Lassen Sie mich mit meinem Sohn reden.“ Keine Antwort. Benning umklammerte die Hand seiner Tochter, seine Atemzüge wurden kürzer und schneller. „Geben Sie mir meinen Sohn!“

Der Anrufer legte auf.

2. KAPITEL

Weder eine Forderung noch ein Lebenszeichen. Wer auch immer Bennings Sohn entführt hatte, folgte nicht den typischen Mustern. Es war also keine normale Entführung. Jemand wollte Benning wehtun, ihn manipulieren. Oder er wollte etwas von ihm. Aber warum nur?

Ana ließ ihren Blick noch zweimal gründlich über den Parkplatz schweifen. Der Schütze hätte nicht ungesehen auf das Krankenhaus schießen können, aber nirgendwo war eine Spur von ihm zu erkennen. Sie umklammerte ihre Waffe und drehte sich zu Benning um. Hier drin waren sie leichte Beute. „Hol sie aus dem Bett. Wir müssen hier weg.“

Er schüttelte den Kopf. „Olivia bleibt hier. Sie muss sich ausruhen. Ihr Kopf …“

„Siehst du die blauen Flecken?“ Ana trat ans Bett und hob Olivias Handgelenk sanft an. „Das war kein Seil und es waren auch keine Handschellen, sondern Kabelbinder, Benning. Sie ist nicht stark genug, um sich selbst daraus zu befreien.“

„Was meinst du damit?“

„Er hat sie laufen lassen.“ Sie versuchte, ruhig zu klingen. Benning war ein intelligenter Mann, aber die Angst um das eigene Kind brachte die meisten Eltern dazu, nicht mehr klar zu denken. „Der Täter wollte, dass sie gefunden wird. Er wollte dich hier in diesem Zimmer haben und er hat die Wanze angebracht, damit er sicherstellen kann, dass du seinen Anweisungen folgst.“

In seinem Gesicht suchte sie nach einem Hinweis darauf, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, und fand ihn. Sie hatte recht, der Anruf von eben hatte es bestätigt. Der Entführer hatte gedroht, Owen etwas anzutun, wenn Benning die Behörden alarmierte. Er war noch nicht fertig mit ihm. „Die wissen, wo du bist. Willst du hierbleiben und Olivia noch mehr in Gefahr bringen oder willst du deine Kinder retten?“

Behutsam nahm Benning seine Tochter auf den Arm und griff sich den halbvollen Infusionsbeutel. Durchdringend sah er Ana mit seinen blauen Augen an. Sie spürte, wie sie rot wurde beim Anblick des Muskelspiels seiner starken Arme. Er hatte sich kaum verändert, nur dass er nun eine Stärke ausstrahlte, die vorher noch nicht dagewesen war. „Tu einfach alles, um sie in Sicherheit zu bringen. Nur sie zählt.“

„Ich bringe euch beide hier raus, das schwöre ich.“ Sie hatte sich den Grundriss des Krankenhauses eingeprägt. Am besten würden sie die Treppe auf der Rückseite des Gebäudes nehmen. Sie ging zur Zimmertür, öffnete sie einen Spaltbreit und spähte auf den Flur. Olivias Zimmer befand sich nah bei den Treppen. Irgendwie hatte es der Täter unbemerkt betreten und die Wanze verstecken können. Er war kein Amateur. „Bleib hinter mir und benutze mich, wenn nötig, als Schild.“

„Okay“, brummte er, als wollte er seiner Stimme jeglichen Ausdruck nehmen.

„Wenn wir in Sicherheit sind, erzählst du mir, warum es jemand auf deine Kinder abgesehen hat, um an dich heranzukommen, und mit wem du gerade telefoniert hast.“ Er musste ihr vertrauen, sonst würde er seinen Sohn vielleicht nicht mehr lebend wiedersehen.

Vorsichtig gingen sie die Treppe hinunter und traten aus dem Hinterausgang in die eisige Winterluft. Zügig eilten sie über den Parkplatz zu Anas Wagen. Plötzlich registrierte sie links neben sich eine Bewegung. Sofort stieß sie Benning und Olivia hinter das nächste parkende Auto und schon hallten Schüsse über den Asphalt. Eine Kugel durchschlug den dicken Stoff ihres Mantels. Ana nahm den maskierten Schützen ins Visier und feuerte. Einmal, zweimal.

Olivia schrie, doch Ana konnte sich jetzt nicht darauf konzentrieren. Sie nahm hinter einem anderen Auto Deckung und drückte noch dreimal ab. Aber es war zu spät. Der Schütze stieg in einen schwarzen Geländewagen – vielleicht denselben, mit dem Owen und Olivia entführt worden waren – und raste davon.

Hijo de 

„Ich bin anscheinend enttarnt worden.“ Sie drehte sich zu den beiden um. Olivia hielt sich die Ohren zu. Am liebsten hätte sie die Kleine getröstet, stattdessen steckte sie die Waffe weg und zog ihren Mantel über die Wunde, bevor das Mädchen das Blut sehen konnte. Es hatte schon genug mitgemacht. „Verschwinden wir lieber, bevor der Kerl zurückkommt.“

Vorsichtig setzte Benning seine Tochter auf den Rücksitz. Seine breiten Schultern wirkten riesig im Vergleich zu dem kleinen Wesen, dem er über das Kinn wischte und etwas ins Ohr flüsterte. Er ging so behutsam mit ihr um. Ana hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, zu der sie sich mit ihm Kinder gewünscht hatte. Sie schloss die Augen. Diese Zukunft hatte sie verworfen, als sie damals heimlich aus dem Zimmer geschlichen war.

„Geht es dir gut?“ Er hob die Hand, um sie zu berühren, doch sie wich zurück. Enttäuscht ließ er die Hand sinken. „Ich dachte, du wärst getroffen worden.“

„Alles in Ordnung“, log sie. Der Schmerz war so schlimm, dass sie kaum atmen konnte. Die Wunde musste bestimmt genäht oder vielleicht sogar operiert werden. Aber jetzt konnte sie sich darum keine Gedanken machen.

Nach dem, was sie ihm angetan hatte, hätte er eigentlich jeden Grund, sie zu hassen. Dennoch sah er sie so an, als wäre sie die einzige Frau auf der Welt. Es wäre einfach, in alte Gewohnheiten zu verfallen. Aber sie hatte eine Aufgabe in Sevierville zu erfüllen: Owen Reeves zu finden. Und um das zu bewerkstelligen, musste sie alle Einzelheiten erfahren, die Hintergründe erforschen.

Ana presste eine Hand auf die Wunde und öffnete die Fahrertür. Jede Minute, die sie hier verschwendeten, war eine weitere Minute, die Owen in den Händen des Kidnappers verbringen musste. Sie wollte ihn nach Hause bringen. Musste es. „Steig ein.“

Als Benning auf dem Beifahrersitz Platz nahm, erfüllte sein wilder Duft nach Kiefern und Erde den Innenraum. Ana atmete tief ein, um den Schmerz zu betäuben. Sie hatte diesen Geruch vermisst. Sie hatte ihn vermisst.

„Du kannst nicht nach Hause. Der Schütze könnte dort warten.“ Ana fuhr den Wagen vom Parkplatz, während sich Sirenengeheul näherte. Die Polizei war unterwegs zum Tatort. Sie drückte den Telefonknopf am Lenkrad.

„Brauchst du schon Hilfe?“, fragte JC. „Das hat doch wohl nichts mit der Schießerei am Krankenhaus zu tun, oder?“

„Du kannst Gedanken lesen. Der Schütze flieht in einem schwarzen SUV ohne Nummernschild. Die Polizei ist bereits auf dem Weg hierher.“ Sie trat auf das Gaspedal. „Kannst du dich darum kümmern?“

„Mit Vergnügen. Ich habe mir die Aufnahmen der Verkehrskameras angesehen, aber darauf ist nichts zu sehen. Die IT-Leute versuchen schon zu zaubern, aber jemand hat die Kameras manipuliert oder wusste, wo sie stehen, und ist woanders langgefahren. Wir haben nichts.“

Die Entführung war also geplant gewesen. Hier war ein Profi am Werk.

Benning fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und stützte seinen Ellenbogen auf der Beifahrertür ab. Er sah frustriert aus und in diesem Moment sagte ihr Instinkt, dass es hier um mehr ging als eine einfache Entführung.

„Danke, JC. Die Polizei wird eine Wanze sicherstellen, die ich am Krankenbett des Mädchens gefunden habe. Versuch bitte, sie zu ihrem Besitzer zurückzuverfolgen. Ruf mich an, wenn es Neuigkeiten gibt.“ Sie beendete den Anruf, sah in den Rückspiegel und trat auf die Bremse, bis der Wagen hielt.

„Was tust du da?“ Benning setzte sich gerade hin. Er strich sich eine Strähne hinters Ohr und drehte sich zu ihr um. „Der Schütze könnte uns verfolgen.“

„Wie soll ich meine Arbeit erledigen, wenn du mir Informationen vorenthältst? Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, um mir zu sagen, wer deinen Sohn entführt hat, findest du nicht?“ Der Geruch von heißem Gummi vertrieb seinen Duft aus ihrem Körper. „Der Entführer hat dich schon einmal kontaktiert, oder? Er hat dich gewarnt, nicht die Polizei einzuschalten, und da dachtest du, dass er es nicht erfahren würde, wenn du eine alte Bekannte kontaktierst, die zufällig beim FBI arbeitet. Die Wanze, der Schuss durch das Fenster … Der Typ ist ein Profi, Benning, und er hat es auf dich abgesehen. Was will er?“

Er sah aus dem Fenster. Sekunden vergingen, in denen sie immer angespannter wurde. Als er endlich seine blauen Augen auf sie richtete, wusste sie, dass ihr die nächsten Worte, die aus seinem Mund kämen, nicht gefallen würden. „Er will den Schädel, den ich gefunden habe.“

„Einen menschlichen Schädel?“, fragte sie.

Schneeflocken tanzten über die Windschutzscheibe und die Januarkälte kroch Benning bis unter das T-Shirt.

Die Erinnerung an das, was er gefunden hatte – der Beweis für das, was der Mörder getan hatte – würde ihn für den Rest seines Lebens verfolgen. Jemand hatte seine Kinder entführt und auf Ana geschossen. Alles nur seinetwegen. Er konnte die Wahrheit nicht länger für sich behalten.

„Vor zwei Wochen hat mir eine Frau 50.000 Dollar angeboten, wenn ich ein neues Wohnungsbauprojekt freigebe, bei dem die Arbeiter gepfuscht haben.“ Er legte die Hände auf seine Oberschenkel. Blut klebte an seinen Fingern. Olivias Blut. Er spähte zu ihr auf den Rücksitz und beobachtete, wie sie schlief – alles war ihm recht, das ihn von der Tatsache ablenkte, dass er sie vor sechs Stunden fast verloren hätte und dass sein Sohn entführt worden war. „Ich konnte die Mängel aber nicht ignorieren und habe abgelehnt.“

Anas Augen, von denen er seit Jahren geträumt hatte, nahmen einen sanfteren Ausdruck an. „Was ist dann geschehen?“

„Ich wurde den Gedanken nicht los, dass sie wahrscheinlich schon andere Bauinspektoren geschmiert hatte, weil sie die Sache so gelassen angegangen war. Also habe ich mir die anderen Projekte ihrer Firma angesehen.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe herausgefunden, dass Britland Construction sich schon mehrfach mit Mietern außergerichtlich geeinigt hatte, weil ihre Häuser nicht den Standards entsprachen. Es ging um Millionen von Dollar. Die Probleme wurden immer größer, aber die Bauprojekte wurden dennoch genehmigt. Ich wollte wissen, warum.“

„Du hast selbst ermittelt.“ Entspannt lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück. Wie konnte sie so distanziert wirken, nach allem, was zwischen ihnen gewesen war?

„Ich bin zur Polizei gegangen. Man hat die Frau vernommen, aber es gab nicht genug Beweise. Dutzende Familien hatten schon unter dieser gierigen Firma leiden müssen. Damit konnte ich die nicht davonkommen lassen. Weil ich derzeit der einziger Bauinspektor der Stadt bin, wurde ich geschickt, um deren neuestes Projekt zu überprüfen. Also bin ich gestern Abend zur Baustelle gefahren. Ich habe eine Wand geöffnet, um mir die Elektrik anzusehen.“ Er nahm sein Handy und zeigte ihr ein Foto. „Das habe ich dort gefunden.“

Als sie ihm das Handy aus der Hand nahm, streifte sie seine Finger und schon loderte ein Feuer in seinem Körper auf. So war es schon immer gewesen. Nur mit einer winzigen Berührung konnte sie die Kontrolle über ihn übernehmen. Aber er durfte sich diesen Gefühlen nicht hingeben.

„Das ist eindeutig ein Schädel.“ Sie hielt den Bildschirm noch näher an ihr Gesicht. „Dieses Loch im Stirnbein sieht für mich nach einer Schussverletzung aus.“

Dasselbe dachte er auch.

„Ich wollte gerade die Polizei anrufen, als jemand hinter mir etwas sagte. Ich habe mich umgedreht und plötzlich bedrohte mich ein Mann mit einer Pistole und blendete mich mit einer Taschenlampe. Zuerst habe ich gedacht, er wäre vom Sicherheitsdienst, aber dann habe ich die Sturmhaube gesehen. Er hat gesagt, es täte ihm leid, und als er gerade abdrücken wollte, ist der echte Mann vom Sicherheitsdienst aufgetaucht und es kam zu einer Schießerei. Ich habe mir nur den Schädel geschnappt und bin abgehauen.“

„Ist dir sonst irgendwas an ihm aufgefallen, wodurch wir ihn identifizieren könnten?“

„Nein, nichts.“

Sie gab ihm das Handy zurück und vermied es, ihn erneut zu berühren. „Wo ist der Schädel jetzt?“

„In Sicherheit.“ Er steckte sein Handy wieder weg. „Zuerst dachte ich nicht, dass Britland Construction dafür verantwortlich war. Das wäre zu offensichtlich gewesen. Aber immerhin gab es ja belastende Unterlagen über Bestechungsgelder und der Schädel war in einem ihrer Gebäude eingemauert worden. Wie dem auch sei. Als ich die Baustelle verlassen habe, wusste ich, dass ich nicht nach Hause konnte. Zumindest nicht sofort, falls der Kerl mit der Sturmhaube mir gefolgt wäre.“

Wut brodelte in ihm auf. Er hätte vorsichtiger sein und den Schädel direkt zur Polizei bringen sollen. Er räusperte sich und seine Augen brannten. „Meine Nanny – Jo West – hatte die Kinder zu einer Pyjamaparty bei einem Freund bringen sollen, aber sie hat mich angerufen, weil Owen sich krank fühlte und wollte, dass ich nach Hause komme.“ Die Nanny war auch verschwunden.

„Als ich angekommen bin, habe ich als Erstes den Schädel versteckt – in einem alten, halbfertigen Kamin auf meinem Grundstück. Mein Vater hatte begonnen, ihn zu bauen, als ich noch ein Kind war. Dann bin ich ins Haus, habe mich um Owen gekümmert und die Nanny gebeten, bis zum Morgen zu bleiben, weil ich in der Früh sofort zur Polizei gehen wollte. Aber mitten in der Nacht bin ich wach geworden, weil ich etwas gehört habe. Ich bin zur Haustür gegangen und der Kerl hat mich von hinten niedergeschlagen. Als ich wieder zu mir gekommen bin, hat mein Handy vibriert und im Haus war es still. Jo und die Kinder … Sie waren verschwunden.“

Jetzt hatte der Mistkerl seinen Sohn.

„Er hat gesagt, ich dürfe die Polizei oder das FBI nicht einschalten, sonst würde ich meine Kinder nicht wiedersehen. Ich hätte 24 Stunden, um den Schädel zurückzugeben, dann würde er anfangen, ihnen wehzutun. Mir ist klar, worum ich dich bitte, Ana. Ich weiß, dass du nicht hier sein willst, aber diese Leute haben meine Familie angegriffen. Du bist die Einzige, die mir helfen kann, meinen Sohn zu finden, bevor es zu spät ist.“

Die Wunde an seinem Hinterkopf pochte schmerzhaft im Rhythmus seines wild schlagenden Herzes.

„Dann ist es ja gut, dass ich hergekommen bin, um meine Eltern zu ihrem Hochzeitstag zu überraschen.“ Der harte Gesichtsausdruck bröckelte, hinter dem Ana sich versteckt hatte, seit sie in das Krankenzimmer seiner Tochter getreten war, und einer ihrer Mundwinkel verzog sich zu einem Lächeln.

Sie startete den Motor und ordnete sich in den fließenden Verkehr ein. „Es gibt außerhalb der Stadt ein Safe House des FBI. Olivia und du könnt dort bleiben, während ich deinen körperlosen Freund aus dem Kamin hole. Dann kann unser Forensik-Team die Zähne und die DNA abgleichen, um das Opfer zu identifizieren und es hoffentlich zu dem Kidnapper zurückzuverfolgen. Wenn er den Schädel unbedingt haben will, dann wird es einen Grund dafür geben. Ich werde herausfinden, welcher Grund das ist, damit wir deinen Sohn zurückholen können.“

Sie fuhren immer weiter aus der Stadt. Olivias leises Schnarchen beruhigte ihn, doch das angespannte Schweigen zwischen ihm und der Frau, die sich für seine Tochter in Gefahr gebracht hatte, konnte er nicht ignorieren. „Danke, dass du den Fall übernommen hast. Ich wusste nicht, nach wem ich sonst fragen soll.“

„Du musst mir nicht danken.“ Die schmalen Fältchen um ihre Augen vertieften sich, als würde sie einen inneren Kampf austragen. „Das ist mein Job.“

War das alles? Nur ein Job? Sein Magen verkrampfte sich. Er hätte es besser wissen müssen, hätte wissen müssen, dass es nichts ändern würde. Er hätte genug Verstand haben sollen, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Aber seit er an jenem Morgen allein aufgewacht war, konnte er nicht aufhören, sich vorzustellen, was hätte sein können.

Gedankenverloren sah er sie an und entdeckte plötzlich den Blutfleck auf ihrer Hose. Verdammt. Sie war angeschossen worden und die Wunde hatte schon die ganze Zeit geblutet, ohne dass sie etwas gesagt hatte. „Mensch, Ana, du bist verletzt. Fahr rechts ran.“

„Mir geht es gut. Dein Sohn ist seit sechs Stunden verschwunden. Wenn wir rumtrödeln, finden wir ihn nicht, bis das Ultimatum ausläuft.“ Sie schluckte. Ihr linker Arm hing schlaff herunter. Mit der freien Hand hielt sie das Lenkrad fest umklammert. „Außerdem habe ich schon viel Schlimmeres überlebt als eine Schussverletzung. Erzähl mir von Owen.“

Viel Schlimmeres? Was zur Hölle sollte das heißen?

Er zögerte, aber ihm fiel kein Gegenargument ein. „Er hasst Erdnussbutter. Alles, was er tun möchte, ist, vor dem Tablet zu sitzen und blöde Videos von anderen Kindern anzuschauen, in denen sie mit Spielzeug spielen. Ich lasse ihn, weil ihn das glücklich macht.“ Das Adrenalin von der Schießerei verließ langsam seinen Körper, je länger er über Owen redete. „Als Lilly schwanger war, habe ich eine Decke gekauft. Die schleppt er immer mit sich herum. Nur nicht in der Schule. Da musste ich eine Grenze ziehen.“

Das verdammte Ding lag jetzt mitten im Wohnzimmer, wo Owen es verloren hatte. Benning wünschte sich, er hätte es mitgenommen, damit er sich an etwas festhalten konnte.

„Das mit Lilly tut mir leid. Ich wollte mich melden … aber ich wusste nicht, wie. War es schwierig ohne sie?“

Er dachte einen Moment lang nach. „Anfangs. An die ersten paar Monate kann ich mich kaum noch erinnern. Ich habe nur Windeln gewechselt und versucht, mich an das Leben als alleinerziehender Vater zu gewöhnen. Ich bin immer noch unsicher. Aber ich bin froh, dass ich das überhaupt erleben kann. Lilly kann es nicht.“

„Tut mir leid“, sagte sie ehrlich. „Ich wollte nicht …“

„Schon gut.“ Diese Wunde war schon lange verheilt. „Lilly und ich wussten, worauf wir uns einlassen, und auch, dass es vielleicht nicht funktionieren wird. Wir wussten, dass wir einen Fehler gemacht hatten, aber ich bereue ihn nicht.“ Er drehte sich kurz zu Olivia um und wandte sich dann wieder an Ana. „Was ist mit dir? Wartet in Knoxville jemand auf dich?“

Die Vorstellung, dass sie mit einem anderen Mann glücklich geworden sein könnte, versetzte ihm einen Schlag. Obwohl sie ihn zutiefst enttäuscht hatte, fand sie immer wieder einen Weg in seine Gedanken.

„Nein, bei den Fällen, an denen ich arbeite, und den Dingen, die ich gesehen habe …“ Sie fuhr vom Highway ab und auf einen Schotterweg, der zu einer abgelegenen Hütte führte. „Wenn man sich immer nur durch die Dunkelheit bewegt, dann ist es unmöglich, Glück zu finden.“

3. KAPITEL

Die Hütte war von hohen Bäumen umgeben, die sie von der Außenwelt abschnitten. Das alte Holz knarzte unter ihren Stiefeln, als Ana die kleinen Stufen zu der überdachten Veranda hinaufging. Niemand würde sie hier draußen finden, und da die Berge den Handyempfang behinderten, waren sie, Benning und Olivia fast vollkommen auf sich allein gestellt.

Ana schloss die Haustür auf und trat in das geräumige Wohnzimmer, wo sie ihren Mantel ablegte. Das Eingabefeld der Alarmanlage piepste, bis sie den Code eingetippt hatte. Sie würde zuerst das Haus sichern, dann die Kugel aus ihrer Seite entfernen und danach das Beweisstück sichern, das Benning auf der Baustelle gefunden hatte. „Bring Olivia in eines der Schlafzimmer. Im Kühlschrank ist etwas zu essen, falls ihr Hunger habt. Ich lasse jemanden von meinem Team bei ihren Ärzten nachfragen, wie wir sie behandeln sollen.“

Das Mädchen war ganz blass geworden. Ana versuchte sich auszumalen, was für Albträume es durchleben musste, nachdem es entführt und verletzt worden war. So viel Schmerz in so jungen Jahren. Olivia würde ihn für den Rest ihres Lebens mit sich tragen.

„Danke.“ Als Benning an ihr vorbeiging, bemerkte sie, wie sich seine Muskeln bei jedem Schritt anspannten. Wieder nahm sie seinen vertrauten Geruch wahr. Sie wusste nicht, ob sie ihn jemals ganz vergessen könnte, aber jetzt musste sie Abstand halten. Das Leben seines Sohnes hing davon ab.

Infierno. Sie versuchte, sich auf ihre Verletzung zu konzentrieren, um sich von ihm abzulenken. Die Wunde hatte fast aufgehört zu bluten, aber das Risiko einer Infektion war groß. Sie waren meilenweit vom nächsten Krankenhaus entfernt und da sich die Kugel immer noch in ihrem Körper befand, konnte eine falsche Bewegung weiteren Schaden anrichten. Sie stöhnte vor Schmerz, als sie ihren Mantel wieder anzog.

„Wo willst du denn hin?“ Diese Stimme. Seine Stimme. Selbst nach all den Jahren ließ dieser Klang ihr Herz immer noch schneller schlagen. Wie konnte das sein?

„Ich muss das Gelände sichern.“ Der Schnee der letzten Wochen konnte die Alarmsysteme beeinträchtigt haben. Damit Olivia und Benning hier sicher waren, musste sie jedes einzelne überprüfen. Aber vor allem wollte sie ihn aus ihrem Kopf bekommen. „Das sollte nicht lange dauern. Ich werde auch meine Chefin informieren. In einer Stunde sollte dann ein Team an deinem Haus sein.“

„Ana, warte“, flüsterte er. Sie konnte nicht zu ihm aufsehen, damit er nicht erkannte, wie sie mit sich rang. „Hör mir kurz zu.“

Vier Wörter und das Feuer der Hoffnung in ihr war wieder entfacht. Aber sie durfte es nicht weiter schüren. Ihre Beziehung – so überwältigend sie auch gewesen war – war zu Ende. Dafür hatte sie gesorgt, als sie nach D. C. gegangen war.

„Meine Kinder sind alles, was ich habe, und ich werde alles Notwendige tun, um sie zu beschützen.“ Ein Schritt. Zwei. Er kam immer näher. „Auch wenn das bedeutet, die Ermittlungen zu behindern.“

Was sollte das bedeuten?

„Ich werde deinen Sohn zurückholen und der Kerl wird für seine Taten büßen. Aber dafür musst du mir vertrauen.“ Sie ging auf die Haustür zu, um nach draußen zu gehen. Dorthin, wo sie hingehörte. Nicht zu Benning und Olivia. Früher hatten sie über eine gemeinsame Familie gesprochen, aber das war vorbei.

Vor sieben Jahren hatte sie schmerzhaft erfahren müssen, was es bedeutet, sich zu sehr mit einem Opfer und dessen Familie zu identifizieren. Sie hatte sich ablenken lassen, Fehler gemacht und ein Mädchen hatte dafür den Preis gezahlt. „Ihr solltet euch ausruhen.“

Ihr wurde schwindlig und sie musste sich an der Wand abstützen.

„Du gehst nirgendwohin.“ Mit einem Arm zog er sie an seine kräftige Brust. Er war über die Jahre viel muskulöser geworden, überragte Ana mit seinen zwei Metern deutlich und war auch viel stärker als sie. Aber seine körperlichen Vorzüge hatte er nie ausgenutzt, um sie einzuschüchtern. So war er einfach nicht. Er ließ sie los, aber sie konnte sich nicht rühren. „Du blutest durch deinen Mantel.“

„Das gehört dazu, wenn man angeschossen wird.“

Er manövrierte sie zum Esstisch und holte den Erste-Hilfe-Kasten.

Ana hielt sich die Seite und ließ sich auf einen der Stühle fallen. Schweiß rann ihr den Rücken hinunter und ihr Herz raste. Vor zwei Stunden war sie angeschossen worden und ihr Körper hatte beschlossen, das nicht länger zu ignorieren.

„Zieh dein T-Shirt aus.“

Sie griff zu Nadel und Faden. „Ich kann die Wunde selbst nähen.“

„Ich weiß.“ Er nahm ihr beides aus der Hand. „Aber ich mache das lieber, bevor du ohnmächtig wirst.“

„Weißt du, wie das geht?“ Eigentlich war es ihr egal.

„Owen hat sich letztes Jahr am Kamin den Kopf gestoßen. Für ihn haben meine Fähigkeiten gereicht.“ Sie erzitterte, als er die Stelle mit einem Wattebausch und Desinfektionsmittel reinigte. Stille senkte sich über sie. Ana registrierte jede seiner Bewegungen, jede Berührung ihrer Haut, jeden seiner Atemzüge. Sie wusste, was ihm durch den Kopf ging. „Warum bist du zurückgekommen?“, sprach er seinen Gedanken aus.

„Weißt du nicht mehr? Ich soll die Ermittlungen leiten.“ Sie betrachtete die tiefen Linien um seinen Mund. Er war noch genauso attraktiv wie früher, aber seine Augen sahen trauriger aus. Die Belastung, die Kinder allein großzuziehen und die Firma über Wasser zu halten, hatten ihren Tribut gefordert. Aber die Art, wie er sie ansah, und wie sie auf seine Berührungen reagierte … Alles andere war jetzt unwichtig.

„Du hättest sie einem Kollegen übertragen können.“ Er warf den Wattebausch weg und desinfizierte eine Pinzette. Dann stand er auf, was ihren Blick unwillkürlich auf seine starken Oberschenkel lenkte. „Aber du hast den Auftrag angenommen“, sagte er und reichte ihr seinen Gürtel. „Beiß da drauf.“

Ana nahm den Gürtel zwischen die Zähne. Sie versuchte, entspannt zu bleiben, während er die Wunde mit der Pinzette öffnete, aber der Schmerz überwältigte sie. Ana schrie, als er in der Wunde nach der Kugel suchte. Glücklicherweise ließ er sie schon wenige Sekunden später auf den Küchentisch fallen. Am liebsten hätte Ana sich nach vorn gelehnt, um in seinen Armen Trost zu suchen, aber sie blieb standhaft und spuckte stattdessen nur den Gürtel aus.

„Spielt das eine Rolle? Hauptsache ist, dass ich deinen Sohn zurückholen werde.“

Er nickte. Nachdem er die Wunde genäht hatte, klebte er ein Pflaster darüber. Er blieb vor ihr stehen und wirkte größer als noch vor einer Minute. „Das wirst du. Aber wenn nicht, wird der Mistkerl sich wünschen, er hätte mich getötet.“

Benning strich Olivia über die Stirn. Die Schwellung war zurückgegangen und er hatte die Wunde so versorgt, wie es die Ärzte ihm erklärt hatten. Da es in der Hütte nur zwei Betten gab, würde er sich eines mit Olivia teilen. Doch er konnte nicht schlafen. Nicht solange Owen irgendwo allein dort draußen war. Würde der Kidnapper seinen Sohn wirklich freilassen, wenn er ihm den Schädel gab? Was sollte den Kerl davon abhalten, den Jungen umzubringen?

„Kannst du nicht schlafen?“ Ihre Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Da hatte er seine Antwort. Ana würde den Mistkerl aufhalten. So wie schon viele andere. Sie sah zu Olivia und reichte ihm eine Tasse Kaffee.

„Sie hat das Bett in Beschlag genommen.“ Die heiße Tasse reizte seine Haut, aber er ließ es geschehen, um sich daran zu erinnern, dass Ana nur hier war, um den Fall zu bearbeiten. Er trank einen Schluck. Entkoffeiniert. „Wollen wir uns deins teilen?“ Ein paar verlockende Ideen waren ihm gekommen.

„Du hast mich doch schon genug befummelt, als du die Kugel entfernt hast.“ Ihr breites Lächeln, das er in all den Jahren nicht hatte vergessen können, brachte seine Nervenenden zum Brennen. Wegen dieser Neckereien hatte er sich in sie verliebt. Selbst wenn die Situation ausweglos schien, hatte sie es immer geschafft, die Stimmung aufzuheitern. Doch nun, nach so vielen Jahren, riss die Wunde wieder auf, die ihr plötzlicher Abschied bei ihm hinterlassen hatte.

„Ich habe meine Vorgesetzte informiert. Zwei Kollegen sind unterwegs zu deinem Haus, um den Tatort zu sichern. Das sind gute Leute. Die wissen, was sie tun. Mit etwas Glück haben sie schon bald etwas gefunden, womit wir deinen Sohn finden können.“

Er musste nicht erst auf seine Uhr sehen, um zu wissen, wie viele Stunden ihm noch blieben, um das Ultimatum zu erfüllen. Es war, als wäre das Ticken der Uhr Teil seines Bewusstseins geworden. Es war immer da und zählte die Sekunden herunter. Owen war vor fast neun Stunden entführt worden. Man hatte ihm 24 Stunden gegeben, um den Schädel zu überbringen. Würden die Agenten der TCD das Haus rechtzeitig auf den Kopf stellen können?

Das altbekannte Gefühl der Unsicherheit überkam ihn wieder.

„Ich muss das Beweisstück übergeben.“ Benning stand auf, unfähig, weiter tatenlos herumzusitzen. Er musste etwas unternehmen, anstatt sich zu verstecken und sich auszumalen, was alles schiefgehen könnte. Die Sonne ging bereits unter und die Zeit lief ihnen davon. Alles – die Entführung und die Schießerei – war seine Schuld. „Hätte ich nicht die Nase in die Angelegenheiten von Britland Construction gesteckt, wäre das alles nicht passiert. Ich bin für ihn verantwortlich. Ich habe ihm versprochen, immer auf ihn aufzupassen, und jetzt ist Owen in den Händen eines mutmaßlichen Mörders. Nur weil ich Detektiv spielen wollte.“

„Wir wissen beide, dass er euch nicht gehen lassen wird, wenn du ihm den Schädel gibst. Du stellst ein zu großes Risiko dar.“ Durch den sanften Klang ihrer Stimme beruhigte er sich langsam. Vorsichtig stand sie auf und kam zu ihm. Mit dem Kopf nickte sie in Olivias Richtung, aber er konnte den Blick nicht von ihrem Gesicht lösen. „Siehst du das wunderschöne kleine Mädchen dort? Es ist dank dir am Leben, Benning. Du hast Olivia und mich gerettet, bevor der Schütze uns erwischen konnte. Keine von uns wäre hier, wenn du nicht gewesen wärst.“

Sie hatte recht. Es würde nichts bringen, den Schädel zu übergeben, aber seine Ruhelosigkeit verlangte, dass er etwas unternahm. „Ich muss nach ihm suchen.“

„Ich weiß, es kommt dir so vor, als würdest du nicht helfen, aber ich versichere dir, dass du genau dort bist, wo du sein musst.“ Sie legte die Hand auf seinen Unterarm. Ein warmes und elektrisierendes Gefühl durchfuhr seinen Körper. Ihr Parfum weckte Gedanken, die er versucht hatte zu vergessen, und es verlangte ihm alles ab, sich ihnen nicht hinzugeben. „Wir werden deinen Sohn zurückholen.“

Ihre Zuversicht zügelte sein rasendes Herz, und plötzlich sah er sie klarer vor sich als jemals zuvor; den Pony, der ihre Wangen umrahmte, die volle Unterlippe und die intensiven braun-grünen Augen. Sie war eine starke, intelligente und selbstbewusste Frau, die sich dem Kampf gegen das Verbrechen verschrieben hatte. Bewundernswert. Ehrlich. Aufmerksam. All das erträumte er sich von einer Lebensgefährtin. Aber eine Frage ließ ihn nicht los. „Warum habe ich erst von deiner Versetzung erfahren, nachdem du gegangen bist?“

Sie ließ die Hand nach unten gleiten. Ein kalter Luftzug vertrieb das brennende Gefühl ihrer Berührung. „Benning, wir müssen darüber jetzt nicht reden.“

„Ich habe gedacht, du wärst tot.“ Ihr das zu gestehen, zerriss ihm das Herz. „Ich habe die Polizei, die Krankenhäuser und das FBI, einfach jeden angerufen, der mir vielleicht hätte sagen können, wo du bist oder was dir zugestoßen ist. Drei Tage lang habe ich dich gesucht, Ana, und du hast dich nicht gemeldet.“ Er zwang sich, leiser zu sprechen, um Olivia nicht zu wecken. „Ich bin aufgewacht und du warst … weg. Ich will wissen, warum.“

„Weil mein Partner ihre Leiche gefunden hat.“ Ihr Gesicht war wie versteinert, die Stimme tonlos. Sie zeigte keinerlei Emotionen. Innerhalb einer Sekunde war die Frau verschwunden, mit der er gerade noch gescherzt hatte. Geblieben war die kalte, distanzierte Bundesagentin, für die er sie nach ihrem Verschwinden gehalten hatte.

„Wessen Leiche?“, fragte er verwirrt.

„Samantha Perrys“, antwortete sie.

Er hatte diesen Namen schon einmal gehört. Betrübt ließ er die Hände sinken. Er erinnerte sich an seine erste Begegnung mit Ana. Damals hatte sie einen anderen Partner gehabt, an dessen Namen er sich nicht mehr erinnern konnte, aber den Namen Samantha Perry hatte er nie vergessen können. „Die Jugendliche, wegen der du nach Sevierville gekommen bist.“

„Sie haben sie in einer Gasse zwischen zwei Restaurants in Knoxville gefunden. Abgelegt wie Müll, drei Monate nach ihrem Verschwinden.“ Geistesabwesend starrte sie vor sich hin. „Harold Wood, der Hausmeister ihrer Schule, hatte sie entführt. Wir haben seine Wohnung, sein Auto und die ganze Schule abgesucht, aber es gab keine Spur von ihr. Ich hatte ihrer Familie versprochen, sie zu finden, aber ich habe sie im Stich gelassen.“ Plötzlich erwachte Ana aus ihrer Trance. „Sie ist gestorben, weil ich mich habe ablenken lassen. Von dir.“

Die Worte trafen ihn wie ein Schlag. Ich habe sie abgelenkt?

„Nachdem mich mein Partner angerufen hat, habe ich mir geschworen, dass ich mein Urteilsvermögen nie wieder von meinen Gefühlen beeinträchtigen lasse. Also habe ich meine Versetzung beantragt. Denn je länger ich mich nicht auf Samantha Perry konzentriert habe, desto länger war sie gefoltert und missbraucht worden.“ Ihr Gesicht entspannte sich, als könnte sie ihre Erschöpfung und den Blutverlust nicht länger ignorieren. „Ich kann nicht mit der Last leben, einen weiteren Menschen auf dem Gewissen zu haben. Nicht mal für dich, Benning.“

4. KAPITEL

Fest umklammerte sie das Verandageländer und starrte in die Dunkelheit. Dass sie diese gescheiterte Ermittlung einmal mit Benning bereden müsste, hätte sie nicht gedacht.

„Bist du eine Spionin?“, fragte eine Kinderstimme hinter ihr.

„Was …“ Ana drehte sich um und entdeckte Olivia, die eingehüllt in eine Decke hinter ihr stand. Braune Locken umrahmten die runden Wangen und blauen Augen, die sie neugierig ansahen. „Was machst du denn hier? Es ist viel zu kalt.“

„Von der eigentlichen Frage ablenken.“ Das Mädchen neigte den Kopf zur Seite und sah plötzlich viel älter aus als sechs Jahre. „Genau das würde eine Spionin auch tun.“

„Ich bin keine Spionin.“ Ana konnte sich ein Lachen nicht verkneifen und griff in ihre Tasche, um das FBI-Abzeichen hervorzuholen. „Ich bin eine Bundesagentin, siehst du?“

„Agent Ana Sofia Ramirez vom FBI.“ Olivia grinste breit. „Cool! Ich habe noch nie eine Bundesagentin kennengelernt. Aber ich habe von ihnen gelesen. Auch von Detektivinnen.“

„Ach ja? Hast du auch eine Lieblingsdetektivin?“, fragte Ana.

„Es gibt eine ganze Buchreihe über ein Mädchen, das wie Sherlock Holmes Fälle löst, sich aber als Junge ausgeben muss, damit die Polizei nichts bemerkt. Ich habe jedes Buch sechsmal gelesen“, sagte Olivia stolz.

„Wow, du liest aber gerne.“ Ana zuckte zusammen, als ihr Magen laut knurrte. „Weißt du was? Ich habe lange nichts mehr gegessen und hätte Lust auf Schokoladen-Cookies. Wie wäre es, wenn ich welche backe und du mir alles über deine Bücher erzählst?“

Das Mädchen nickte und ging hinein. Ana folgte ihm und fragte sich, ob Benning wusste, dass seine Tochter aufgewacht war. Sie war keine Ärztin und konnte nicht entscheiden, ob Olivia schon auf den Beinen sein sollte. Aber Benning konnte es und sie wollte seine Autorität nicht in Frage stellen. Die Atmosphäre zwischen ihnen war schon angespannt genug. „Meinst du, dein Vater möchte auch welche?“

„Er duscht gerade.“ Olivia kletterte auf einen Stuhl, wobei ihr die Decke von der Schulter rutschte, und dunkle Blutergüsse offenbarte. Sie und ihr Zwillingsbruder waren vor zehn Stunden entführt worden, also blieben noch vierzehn, um Owen zurückzubringen. „Er weiß nicht, dass ich wach bin, aber ich wollte nicht mehr schlafen.“

„Verstehe.“ Ana holte die Zutaten – das FBI hatte aber auch wirklich an alles gedacht – und gab sie in eine Schüssel. Dann reichte sie Olivia einen Schneebesen. „Ich verrate ihm nichts, wenn du ihm nicht verrätst, wie wenig von dem Teig wirklich zu Cookies gebacken worden ist. Einverstanden?“

„Einverstanden.“ Olivia begann die Zutaten so schnell sie konnte zu verrühren. Mehl, Ei und Zucker flogen über den Rand der Schüssel auf die Arbeitsfläche. Ihr Lachen übertönte sogar das kratzende Geräusch des Schneebesens auf dem Schüsselboden.

„Langsamer.“ Mit beiden Händen versuchte Ana den Rest vom Teig zu retten, aber schon nach wenigen Sekunden klebte fast der gesamte Schüsselinhalt an Olivias Pyjama, auf der Arbeitsfläche und in Anas Haaren. Das Leuchten in Olivias Augen löste den Knoten in Anas Magen. Das Mädchen hob den Schneebesen, von dem die unvermischten Zutaten tropften, und grinste breit. Ana erkannte die Gefahr. „O nein. Ich schwöre, Olivia, wenn du mich damit bewirfst …“

Mit nur einer kurzen Handbewegung flogen die klebrigen Teigklumpen durch die Luft und landeten mitten in Anas Gesicht, von wo aus sie nach unten auf ihr T-Shirt und den Boden fielen. Santa madre de … „Das habe ich gerade erst angezogen“, sagte Ana mit vorgetäuschter Entrüstung.

Das Mädchen sprang vom Stuhl und flüchtete mit dem Schneebesen in der Hand. Ana griff sich einen Teigschaber, kratzte etwas Teig aus der Schüssel und warf ihn durch die Küche. Minutenlang lieferten sich die beiden eine ausgelassene Teigschlacht und lachten laut, bis sie erschöpft waren und sich auf den Boden sinken ließen.

Über 800 Stunden härtestes FBI-Training und eine Sechsjährige mit einer Vorliebe für Krimis macht mich fertig, dachte Ana und schnappte nach Luft. Die Küche war das reinste Chaos, aber zum Aufräumen war später noch Zeit. Die Wunde in ihrer Seite schmerzte, als ihre Lunge versuchte, mit ihrem Herzschlag mitzuhalten. „Du bist eine würdige Gegnerin. Ich glaube, du hast mich öfter getroffen als ich dich.“

„Ich gewinne auch immer gegen Owen, wenn wir mit Wasserpistolen spielen.“

Ana wusste, dass sie es langsam angehen musste, wenn sie Olivia befragen wollte. Es war möglich, dass sie sich nicht an das, was passiert war, erinnern konnte oder wollte. „Können wir über deinen Bruder reden? Über das, was passiert ist, nachdem der fremde Mann aufgetaucht ist?“

Das Mädchen sah nervös aus. „Ich erinnere mich an nichts.“

„Okay.“ Ana glaubte ihr nicht. „Deine Lieblingsdetektivin kann einen Fall nur lösen, wenn sie alle Informationen hat. Ich würde deinen Bruder gern finden. Für dich und deinen Vater. Willst du das nicht auch?“

„Nein!“ Das Mädchen sprang auf und rannte durch die Küche davon.

„Olivia, warte!“ Ana lief ihr hinterher.

„Warum bist du nicht im Bett?“ Bennings Stimme eilte ihm voraus. Wasser tropfte aus seinen Haaren auf seine nackte Brust. Er trug lediglich eine Jeans und Anas Herz drohte, ihr aus der Brust zu springen. „Was ist passiert?“

Schluchzend ließ sich Olivia um seinen Hals fallen. Jeder Moment der Freude, den sie und Olivia gerade erlebt hatten, war mit nur wenigen Worten in Vergessenheit geraten. „Ich will mich nicht erinnern!“

Benning schloss die Tür zu Olivias Zimmer. Er konnte es ihr nicht verübeln, dass sie sich nicht daran erinnern wollte, was ihrem Bruder und ihr zugestoßen war. Es gab nichts, was er tun konnte, damit sie sich nicht die Schuld dafür gab, und er wollte sie nicht weiter bedrängen. Olivia hatte in den letzten zehn Stunden mehr erlebt als andere Kinder in ihrem ganzen Leben.

Er nahm sich ein T-Shirt und ging barfuß zurück in die Küche. Trotz allem konnte er nicht vergessen, was Ana gesagt hatte. Dass sie sich für den Tod des Mädchens verantwortlich fühlte. Dass sie eigentlich ihm die Schuld dafür gab. Hatte sie das nicht gemeint, als sie gesagt hatte, dass sie ihr Urteilsvermögen nicht wieder von ihren Gefühlen beeinträchtigen lassen wollte? Ihre wenigen gemeinsamen Monate waren die intensivsten seines Lebens gewesen. Er erinnerte sich an jede Sekunde, und dass sie versuchte, das alles zu vergessen, schmerzte ihn.

Er erstarrte, als er in etwas trat, von dem er hoffte, dass es Plätzchenteig war. Die Küche sah aus wie ein Schlachtfeld und mittendrin stand Ana und versuchte, aufzuräumen. Er konnte nicht anders und musste lächeln, als er die schmalen Fußabdrücke und die schweren Stiefelspuren auf dem Boden entdeckte. „Hast du wenigstens gewonnen?“

„Nein, aber wenn ich schon aufräumen muss, kann ich es wenigstens genießen“, sagte sie und aß einen Löffel Teig. Bennings Herz machte einen Sprung. In diesem Moment war sie nicht die ernste Bundesagentin, sondern die Frau, die seine Tochter zum Lachen gebracht hatte. Der Klang von Olivias ausgelassener Freude würde ihm für immer in Erinnerung bleiben. Für einen kurzen Moment hatte er all die schrecklichen Ereignisse vergessen und seine Vorstellung von einer glücklichen Familie war Wirklichkeit geworden.

„Hierfür lohnt es sich, zu verlieren, aber ich teile nicht“, kündigte sie an. Er sah sie von oben nach unten an und erinnerte sich daran, wie sich ihre Haut anfühlt, und wie er jede einzelne ihrer Narben und Leberflecke mit dem Zeigefinger nachgezeichnet hatte. Im Lauf der Jahre hatte sie sich kaum verändert. Wenn überhaupt, war sie noch schöner, noch verführerischer geworden. „Aber ich hätte nicht gedacht, dass sie mich so abziehen würde.“

„Sie hat dich fertiggemacht.“ Er hüpfte auf einem Bein zum Spülbecken, um sich den Teig vom Fuß zu wischen. „Schon mit vier wollte sie alle möglichen Tricks lernen, um der Polizei beim Lösen von Kriminalfällen zu helfen. Sie liebt die Vorstellung, Menschen zu retten und Verbrecher zu stellen. Am liebsten wäre ihr, dass wir zur Polizei fahren und fragen, ob sie helfen kann.“

„Vielleicht kann ich ihr ja mal eines Tages unser Hauptquartier zeigen, damit sie sieht, was wir Bundesagenten wirklich machen.“ Würde es für sie ein „eines Tages“ geben? Würde sie nicht aus seinem Leben verschwinden, sobald Owen wieder zu Hause war? Sie räusperte sich, als hätte sie sich dabei ertappt, wie sie unhaltbare Versprechungen machte. Genau wie bei Samantha Perrys Familie. „Du musst stolz sein. Sie wird eines Tages eine verdammt gute Agentin abgeben.“

„Das ist ihr Plan. Wahrscheinlich hat sie sich dir deshalb so geöffnet. Sie bewundert dich für das, was du tust.“ Benning stellte sich gerade hin und warf das Stück Küchenrolle weg, mit dem er sich den Fuß abgewischt hatte. Er musste an eines ihrer früheren Gespräche denken. „Ehrlich gesagt tue ich das auch. Du rettest mit deinem Team Leben. Ich habe mich schon bedankt, aber ich meine es wirklich so.“

„Du musst mir nicht danken.“ Ihr Blick fiel auf die Arbeitsfläche vor sich. Mit einer Hand wischte sie die Mehlreste in die Spüle, mit der anderen kratzte sie sich an der Nase. Sich im Gesicht zu berühren, war schon immer eine nervöse Angewohnheit von ihr gewesen. „Das gehört alles zum Job.“

„Ist es das für dich, Ana? Einfach nur ein Job? Denn für mich ist das etwas Persönliches.“ Benning ging um die Arbeitsplatte herum zu ihr. Seine nackte Brust berührte beinahe ihren Arm. Er legte seine Hand auf ihre. Die Wärme ihres Körpers drang in seine Haut und seine Muskeln, bis in die Knochen. „Nach dem, was du mir über den Samantha-Perry-Fall erzählt hast, verstehe ich, wie schwer es für dich sein muss, hierher zurückzukommen. Aber du siehst aus, als würde es dich nicht kümmern. Geht es dir wirklich so?“

Er wollte – er musste – es wissen. Würde es wieder so enden wie beim letzten Mal? War es ein Fehler gewesen, dass er sie um Hilfe gebeten hatte?

Sie öffnete den Mund. „Ich …“

Er streichelte ihre Hand und ließ seine Finger ihren Arm hinaufwandern, und alles andere war vergessen. Es gab nur noch sie beide. Ihre makellose Haut fühlte sich weich an. Nach allem, was sie in der kurzen Zeit erlebt hatten, fiel es ihm schwer, die Unsicherheit, die Wut und die Angst in Schach zu halten und für Olivia stark zu bleiben. Ihr zu beweisen, dass er sie vor allem beschützen konnte; der Vater zu sein, den sie und Owen verdient hatten. Doch Ana hatte ihn von diesen Sorgen befreit. Sie war wirklich hier. Keine Erinnerung, keine Einbildung – und es nötigte ihm alles ab, sich von ihr zu befreien. „Du hast da etwas Teig am Kinn.“

Ana war gegangen, weil er sie von ihrer Arbeit abgelenkt hatte, und er würde die Sache nicht noch einmal verkomplizieren. Nicht jetzt, da das Leben seines Sohnes in Gefahr war. Egal, was passiert, Ana würde seinen Sohn zurückbringen. Daran musste er glauben. Er musste an sie glauben. Sonst würde er alles verlieren. „Danke.“

Ein sanftes Brummen durchbrach die Stille zwischen ihnen, aber Ana rührte sich nicht.

„Ich glaube, dein Telefon klingelt.“ Er räusperte sich, um die aufkommende Lust zu vertreiben, und ging zur Seite. Es war das Beste so. Alles, was zwischen ihnen passieren könnte, würde sie nur von ihrer eigentlichen Aufgabe ablenken und er wollte Owen nicht in Gefahr bringen.

Ana holte das Handy aus ihrer Gesäßtasche und stellte es laut. „Was gibt’s Neues, JC?“

Der Kollege, den sie vom Auto aus angerufen hatte. Benning konzentrierte sich auf den Mann am anderen Ende der Leitung. Hatte das Team in seinem Haus einen Anhaltspunkt dafür gefunden, wo Owen festgehalten wurde? Er zog sich das T-Shirt an.

„Die Polizei untersucht den Tatort noch, aber ich kann dir schon sagen, dass es nicht gut aussieht.“ Aufregung machte sich in Benning breit. Was hatte das zu bedeuten?

Ana zog die Augenbrauen zusammen. „Was meinst du?“

„Wir haben das Grundstück abgesucht und auch den Kamin gefunden. Er war kaum zu übersehen, schließlich hat er lichterloh gebrannt. Die schlechte Nachricht ist, dass der Schädel von dem Foto, das du uns geschickt hast, nicht mehr da ist“, berichtete JC.

„Wie ist das möglich?“ Benning verstand es nicht. „Niemand wusste, dass ich ihn dort versteckt habe.“

„Das ist noch nicht alles“, fuhr JC fort. „Den Schädel haben wir zwar nicht gefunden, dafür aber ein komplettes Skelett. Ana, es wird fast unmöglich sein, die Identität festzustellen. Dem Opfer wurden zuerst die Finger abgeschnitten und dann hat der Täter anscheinend Brandbeschleuniger benutzt, um es zu verbrennen und ja alle DNA-Spuren zu vernichten. Nur noch ein paar Knochen sind übriggeblieben. Ansonsten haben wir hier nur noch etwas Seltsames auf dem Boden gefunden. Einen Anhänger. Ich schicke dir ein Foto.“

Das Handy vibrierte erneut, als es die Nachricht mit dem Foto empfing. Es zeigte einen Silberanhänger in der Form des Sternzeichens Waage. Die Öse war verbogen, als wäre es von einer Kette oder einem Armband abgerissen worden.

„Was?“, rief Ana panisch.

„Erkennst du ihn?“, fragte JC. „Ramirez?“

„Ja, ich erkenne ihn. Er hat einer Fünfzehnjährigen gehört, die entführt und ermordet wurde. Ihr Name war Samantha Perry. Und es war mein Fall.“

5. KAPITEL

Das war unmöglich. Samantha Perrys Anhänger konnte nicht am Tatort sein. Außer … Die Kante ihres Handys drückte ihr in die Hand und riss sie aus ihren Gedanken. Ana blickte nach oben in Bennings Augen. „Sucht den Rest des Grundstücks ab. Ihr müsst den Schädel finden und das Opfer identifizieren. Sofort!“, befahl sie JC.

Zitternd beendete sie den Anruf, als würde Sevierville von einem Erdbeben heimgesucht. Vielleicht war sie aber auch nur davon erschüttert, dass ein altbekannter Täter wieder sein Unwesen zu treiben schien. Seit sieben Jahren war das FBI ihm auf den Fersen, aber es gab weder neue Spuren, neue Beweise, noch neue Tatorte. Bis jetzt. Das konnte kein Zufall sein. Sie versuchte, ruhig zu atmen, aber von all diesen überraschenden Neuigkeiten wurde ihr ganz schwindelig.

„Ana?“ Ihr Name auf seinen Lippen. Dieser verführerische Klang, der den Schutzwall, den sie um sich errichtet hatte, einzureißen drohte. „Sag mir, was passiert ist.“

„Hast du diesen Anhänger schon mal gesehen? Könnte er Olivia oder einer ihrer Freundinnen gehören?“ Sie hielt ihm den Handybildschirm vors Gesicht.

„Nein. Olivia hat nur eine selbstgebastelte Perlenkette.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich lasse die Kinder allein nicht so weit in den Wald gehen. Nicht, nachdem sich Owen an dem Kamin gestoßen hat.“

„Das Mädchen, das verschwunden war … Samantha Perry …“ Ana zögerte. Sie durfte sich nicht wieder von ihren Gefühlen für ihn ablenken lassen. Es gab zu viele Parallelen zu dem Fall von damals. „Sie hatte genauso einen Anhänger besessen. Ihre beste Freundin auch. Aber Samanthas Anhänger haben wir damals nicht gefunden. Nur das Armband.“

Er berührte sie, als er das Handy aus ihrer taub gewordenen Hand nahm, doch diesmal spürte sie nichts dabei. „Eine Waage?“

„Wie das Sternzeichen. Die Mädchen haben am gleichen Tag Geburtstag. Es waren Freundschaftsanhänger.“ Wie wahrscheinlich war es, dass derselbe Anhänger ausgerechnet dann auftauchte, wenn Ana wieder in Sevierville war? „Mein Partner und ich sind davon ausgegangen, dass Samanthas Mörder ihn als Trophäe behalten hat, aber das konnten wir nicht beweisen. Und kurz darauf war Harold Wood einfach verschwunden. Er hat seinen Job an der Schule gekündigt und seine Nachbarn und seine Familie haben ihn nicht mehr gesehen. Seit sieben Jahren hat ihn niemand ausfindig machen können.“

„Aber jetzt ist der Anhänger aufgetaucht und jemand wurde in meinem Kamin verbrannt.“ Benning reichte ihr das Handy und taumelte rückwärts. Die Farbe war ihm aus dem Gesicht gewichen. Wasser tropfte noch immer aus dem nassen Haar auf seine Schultern. „Du denkst, der Mörder von Samantha Perry hat etwas mit der Entführung zu tun?“ Fahrig fuhr er sich mit der Hand durch die dunklen Strähnen. „Was ist mit der Leiche, die sie gefunden haben? War es … Könnte es …“

„Nein.“ Ana eilte zu ihm, um ihn zu stützen.

Autor

Debra Webb
<p>Debra Webb wurde in Alabama geboren und wuchs als Tochter von Eltern auf, die ihr beibrachten, dass alles möglich ist, wenn man es nur zielstrebig verfolgt. Debra liebte es schon immer, Geschichten zu erzählen und begann schon mit neun Jahren zu schreiben. Die Farm, auf der sie aufwuchs bot viel...
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