Bianca Extra Band 118

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WO UNSER GLÜCK GEBOREN WIRD von ELISSA SENATE
Harrison McCord ist entschlossen, die Dawson-Ranch zurückzubekommen! Doch dann muss er ausgerechnet Daisy Dawson im Nirgendwo dabei helfen, ihr Baby auf die Welt zu bringen. Es könnte die Geburtsstunde ihres Glücks sein, aber er muss sich entscheiden: die Ranch – oder Daisy …

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  • Erscheinungstag 10.01.2023
  • Bandnummer 118
  • ISBN / Artikelnummer 9783751516792
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Melissa Senate, Helen Lacey, Brenda Harlen, Jo McNally

BIANCA EXTRA BAND 118

1. KAPITEL

Daisy Dawson sollte gleich heiraten, aber vom Bräutigam war nichts zu sehen. Sie war im neunten Monat schwanger, und das Herumstehen fiel ihr nicht gerade leicht.

Sie streckte den Kopf zur Tür des Nebenraums hinaus, in dem sie sich umgezogen hatte. Der Veranstaltungssaal der Dawson Family Guest Ranch war dank ihrer Schwägerin Sara wunderschön geschmückt. Sara hatte an roten Rosen und weißem Tüll nicht gespart. Auf der Seite der Braut erblickte sie ihre fünf Brüder in der ersten Reihe, außerdem ihre Kollegen von der Ranch. Sie entdeckte alte Freunde und neuere Bekannte.

Aber die andere Seite war noch immer verdächtig leer. Noch waren keine Verwandte oder Freunde des Bräutigams da. Das war merkwürdig. Jacob kam zu spät und alle Leute, die er zu ihrer Hochzeit eingeladen hatte, auch?

Sicher doch, Daisy.

Sie zog sich zurück und schaute in den Spiegel. Die Erkenntnis traf sie wie ein Faustschlag ins Gesicht. Jacob würde zu seiner eigenen Hochzeit nicht kommen. Und da von seinen Gästen kein einziger da war, hatte er denen Bescheid gesagt. Wie nett von ihm, alle zu informieren – bis auf sie.

Alle Menschen, die ihr etwas bedeuteten, warteten darauf, dass sie den Mittelgang hinunterging. Und jetzt würde es keine Hochzeit geben. Sie schüttelte den Kopf. Wie dumm hatte sie sein können?

Ping!

Daisy musterte ihr Handy, das auf dem Toilettentisch lag. Die Textnachricht würde entweder von einem ihrer Brüder stammen, der nachfragte, ob alles okay war, oder sie kam von ihrem Verlobten Jacob, dem fiesen Feigling.

Sie griff nach dem Mobiltelefon. Es war Jacob.

Es tut mir wirklich leid. Aber heute Morgen ist mir klar geworden, dass wir uns nicht lieben. Und ich habe mir nur eingeredet, dass ich ein Dad sein könnte. Ich gehe wieder zurück nach Cheyenne. Vielleicht ziehe ich an die Ostküste. Dir und dem Baby wünsche ich alles Gute. J.

Schlagartig überwältigte sie Traurigkeit. Gleichzeitig durchfuhr sie heißer Zorn. Sie starrte ihr Spiegelbild an, durch den wunderschönen Spitzenschleier ihrer verstorbenen Mutter hindurch. Wenigstens hatte sie es versucht. Den ganzen Sommer lang hatte sie sich darum bemüht, dass die Beziehung mit Jacob funktionierte. Aber ihr Baby würde keinen Vater haben.

Sie steckte das Handy in die kleine, perlenbestickte Handtasche, stakste zur Hintertür hinaus, wo ihr Honda mit einem „Just Married“-Schild verziert und mit Girlanden geschmückt bereitstand.

Hastig stieg sie ins Auto und holte tief Luft. Sie lüftete ihren Schleier und schickte eine Nachricht an ihren Bruder Noah.

J. hat die Hochzeit abgesagt. Ich brauche etwas Zeit für mich.

Sie las Jacobs Nachricht noch einmal. Dir und dem Baby wünsche ich alles Gute. Wie konnte er es wagen? Sie schlug das Handy gegen das Lenkrad. Dann warf sie es aus dem Fenster, bevor sie ihren Verlobungsring vom Finger zog und hinterherwarf. Sie riss sich den Schleier vom Kopf und warf ihn auf den Rücksitz.

Dann raste sie davon. Während sie auf das Tor der Ranch zufuhr, sah sie die lächerlichen Girlanden flattern.

Wohin jetzt? fragte sie sich und bemühte sich, nicht zu weinen. Sie wohnte im Haupthaus der Ranch. Niemals würde sie es überstehen, wenn jetzt alle Verwandte und Freunde vorbeikamen, um sie zu bedauern.

Jacob hatte statt richtigen Flitterwochen ein Wochenende im Starlight B&B in Prairie City für sie gebucht, eine halbe Stunde Fahrt von hier. Sie könnte erstmal dorthin fahren, ihre Wunden lecken und den Zimmerservice nutzen. Ihre Schwangerschaftsgelüste waren wirklich verrückt. Alles, was sie wollte, war Pasta mit Speck und Erbsen. Und Knoblauchbrot. Und Schokoladenkuchen.

Der Gedanke an Essen lenkte sie beinahe davon ab, dass sie vor dem Altar verlassen worden war und ihre Zukunftspläne plötzlich ganz anders aussahen.

Nicht nur ihre. Auch die ihrer Brüder. Vier der fünf Dawson-Brüder lebten in alle Winde zerstreut in Wyoming. Daisy hatte gehofft, sie dazu bewegen zu können, nach Hause zu kommen und hier zu bleiben. Sie hatte große Pläne gehabt, auf dem Hochzeitsempfang den vier Junggesellen je eine unwiderstehliche Frau vorzustellen. Aber wie sollte sie es Ford, Axel, Zeke und Rex jetzt schmackhaft machen, in Bear Ridge zu bleiben?

Einer ihrer Brüder – Noah – hatte das schon getan. Das hatte Daisy Hoffnung gemacht. Und ihre eigene Hochzeit hatte dafür gesorgt, dass alle nach Hause kamen, obwohl sie sich auf der Ranch … unbehaglich fühlten. Aber sie hatten die Ranch erst letzten Winter von ihrem Vater geerbt, und nur Noah war hiergeblieben, um den heruntergewirtschafteten Familienbetrieb wiederaufzubauen. Daisy, damals im fünften Monat schwanger und allein, hatte sich Noah angeschlossen. Niemand hätte überraschter sein können als sie, als der Vater des Babys ihr gefolgt war. Er hatte behauptet, dass er eine zweite Chance wollte. Das hatte er vier Monate lang durchgehalten.

Sie hatte angenommen, dass sie heute heiraten würde. Sie hatte gedacht, sie könnte ihre Brüder davon überzeugen, dass es doch so etwas wie wahre Liebe gab, auch wenn das bei ihrem Vater und ihren Müttern nicht der Fall gewesen war – die Geschwister Dawson hatten drei verschiedene Mütter. Aber jetzt, wo sie mitansehen mussten, wie ihre Schwester am Altar verlassen worden war, würden die vier Junggesellen bestimmt die Flucht ergreifen.

Daisy stieß einen Seufzer aus und fuhr weiter. Plötzlich gab ihr Auto ein merkwürdiges, knatterndes Geräusch von sich. Knirsch-knarsch. Dann nochmal. Knarsch-knirsch.

Oh nein. Hastig hielt sie am Straßenrand, machte den Motor aus und versuchte dann, ihn wieder anzulassen. Nichts.

„Nein!“, schrie sie und schlug gegen das Lenkrad. Bitte, lieber Gott, mach, dass das alles nur ein schlimmer Traum ist. Sie sah sich um. Rechts und links nichts als Felder voller Heuballen. Kein anderes Auto weit und breit. Sie versuchte noch mal, den Motor zu starten. Nichts. Noch mal. Man konnte ja nie wissen. Immer noch nichts.

Einen Augenblick lang lehnte sie den Kopf gegen das Lenkrad. Die Bewegung sorgte dafür, dass ihr Hochzeitskleid an der Seite aufriss.

Heute war wirklich nicht ihr Tag.

Daisy griff nach ihrer Handtasche, um ihr Handy herauszuholen und einen Hilferuf abzusetzen. Dann verzog sie das Gesicht. „Verdammt, das war dämlich.“ Ihr Handy lag hinter den Rosenbüschen neben der Lodge. Neben ihrem Verlobungsring.

Eine Sekunde lang saß sie da und atmete tief durch. Da spürte sie auf einmal ein merkwürdiges Ziehen im Unterbauch. Das war seltsam. Sie legte die Hände auf ihren Bauch und fing an, so zu atmen, wie sie es im Geburtsvorbereitungskurs gelernt hatte. Ungefähr eine Minute später spürte sie es wieder. Oh nein. Nein, nein, nein. Waren das Wehen? Vielleicht waren das diese Scheinwehen, die die Kursleiterin gestern erwähnt hatte, als Jacob noch an ihrer Seite mitgeatmet hatte und sie noch geglaubt hatte, dass er sich wirklich für sie und ihr gemeinsames Kind entschieden hatte. Aber ihr Entbindungstermin war doch erst in drei Wochen!

Die Schmerzen wurden stärker. Sie starrte die silberne Armbanduhr mit dem Ziffernblatt aus Perlmutt an, die sie letztes Jahr von ihren Brüdern zu Weihnachten bekommen hatte. Der Minutenzeiger sagte ihr, dass die Wehen im Abstand von anderthalb Minuten kamen.

Sie hatte Wehen. Nachdem sie am Altar abserviert worden war, hatte sie jetzt drei Wochen zu früh Wehen.

Ohne Handy. Am Straßenrand.

Sie stieg aus dem Auto, als eine weitere Wehe sie packte und sie sich an der Tür festhalten musste. Sie schaute die Straße hinauf und hinunter und betete, dass ein Auto kommen würde. Ein Auto, in dem kein Axtmörder saß.

Sie fing an, auf und ab zu gehen, immer mit einer Hand am Auto. Aber es war Juli und fast dreißig Grad heiß. Eine Wehe! Sie krümmte sich vornüber und stieß einen Schrei aus.

Atmen, atmen, atmen, ermahnte sie sich. Sie hörte ein Geräusch in der Ferne. Ein Auto! Hurra! Es kam näher! Sie schaffte es, den Kopf zu heben. Oh, Gott sei Dank. Jemand näherte sich ihr und hielt hinter ihrem Auto an.

Ein silbernes SUV mit einem Kennzeichen aus Wyoming. Einer der Gäste auf der Ranch hatte so ein schickes Gefährt gehabt.

„Au-au-auuuu!“ Sie schrie auf und krümmte sich, als die nächste Wehe sie überwältigte.

Sie hörte, wie eine Autotür geöffnet und wieder geschlossen wurde und sich hastige Schritte näherten.

„Ich helfe Ihnen in mein Auto“, sagte ein Mann und kam näher. „Ich bin kein Fremder“, fügte er hastig hinzu. „Ich bin Gast auf der Ranch der Dawsons.“

Sie schaute auf. Es handelte sich tatsächlich um den Mann. Er war vielleicht kein Fremder und kein Axtmörder, aber er war ein bisschen merkwürdig. Seit zwei Tagen war er jetzt schon auf der Ranch und schien sich nicht mal ansatzweise für die angebotenen Aktivitäten zu interessieren. Sie hatte schon Noah gegenüber erwähnt, dass irgendwas mit dem Gast nicht stimmte, der ein Blockhaus für vier gebucht hatte, um ganz allein dort zu wohnen, und während seines ganzen Aufenthalts bisher nicht ein einziges Mal ausgeritten war.

Vielleicht war er doch ein Axtmörder.

„Keine Zeit“, krächzte sie mühsam und ließ sich erst auf ihre Knie und dann auf ihr Hinterteil sinken. „Das Baby … kommt … jetzt! Auuuuuu!“

Über ihren Aufschrei hinweg hörte sie, wie er nach Luft schnappte, und sah, wie er nach seinem Handy griff. Dann lauschte sie, wie er die Situation hastig der Notrufzentrale erklärte.

„Okay“, sagte er ins Mobiltelefon und nickte dabei. „Okay. Okay, ich denke, das schaffe ich. Okay.“

„Auuuuuu!“, schrie sie und kniff die Augen zusammen, während sie presste.

„Lieber Himmel“, sagte er und kniete sich eilig vor ihr hin.

Er hob den Saum ihres Hochzeitskleids hoch und schlug es über ihre Knie zurück. Sie hörte, wie er wegrannte. Nein, lass mich nicht allein, dachte sie. Aber da war er schon wieder da. Und sie spürte, wie er ihre albernen Schwangerschaftshöschen aus Spitze mit einem Taschenmesser aufschnitt.

Sie hatte wieder das Bedürfnis zu pressen. Sie stöhnte und tat genau das.

„Der Krankenwagen ist unterwegs“, versicherte er ihr. „Halte durch, Daisy.“

„Ich versuch’s“, sagte sie und schloss die Augen. Doch gleich darauf schrie sie: „Nein, ich kann nicht! Du … musst mein Baby … auuu-auuuu … auf die Welt … bringen!“

Harrison McCord bemühte sich, zu begreifen, was da gerade vor sich ging. Vor nicht einmal fünfundvierzig Minuten hatte er gesehen, wie Daisy im Hochzeitskleid in die Lodge der Ranch ging. Jetzt trug Daisy noch immer ihr Hochzeitskleid, aber sie saß allein am Straßenrand und hatte keinen Ring am Finger. Und wenn er sich nicht täuschte, hatte sie Wehen. Was zur Hölle war passiert?

„Was kann ich tun?“, fragte er voller Panik.

„Hilf mir aus … diesen engen … Schuhen!“, platzte sie heraus, bevor sie sich zurücklehnte und einen Schmerzensschrei ausstieß. Gefolgt von vier kurzen Atemzügen. Und dann nochmal vier.

Er zog ihr die weißen Schuhe von den Füßen. Eine Sekunde lang entspannte sie sich. Dann fing sie wieder an zu hecheln, zu stöhnen und zu schreien und rhythmisch zu atmen.

„Das Baby. Kommt. Jetzt!“, schrie sie. Sie verzog das Gesicht.

„Lieber Himmel“, sagte er. Erneut schlug er das Kleid über ihre Knie zurück. Er konnte den Kopf des Babys sehen. Wahnsinn.

Er hatte alles vergessen, was der Typ von der Notrufzentrale gesagt hatte. Was zur Hölle mache ich jetzt? Da musste sein Instinkt angesprungen sein, denn er zog sein Hemd aus und legte es unter den Kopf des Babys, während er dem Säugling – einem Jungen – behutsam auf die Welt half. Sanft wickelte er das verschmierte Neugeborene in sein Hemd und reichte ihn Daisy.

„Es ist ein Junge!“, verkündete er.

Vor Staunen blieb ihr der Mund offen stehen, als sie das Neugeborene in den Arm nahm und an sich presste. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter.

In der Ferne hörte er Sirenen, die näherkamen.

„Das ist der Krankenwagen“, sagte er. Erleichterung überkam ihn. Der Krankenwagen hielt vor Daisys Auto an. Zwei Männer und eine Frau sprangen heraus. Einer der Männer rollte eine Trage herbei. Dann hob einer der Sanitäter das Baby hoch, während die anderen beiden Daisy auf die Trage halfen.

„Danke“, sagte sie zu Harrison. Tränen standen ihr in den blauen Augen. „Danke.“

„Das war doch selbstverständlich.“ Sein Herz raste. Er musste sich setzen, sonst würde er ihn Ohnmacht fallen.

„Kannst du meinen Bruder Noah anrufen? Er ist der Vorarbeiter auf der Ranch“, rief sie ihm zu, als die Sanitäter sie in den Krankenwagen luden.

„Wird gemacht!“, erwiderte er.

Er hatte gerade ein Baby entbunden. Am Straßenrand. Er war dankbar, dass er unter seinem Hemd ein T-Shirt getragen hatte. Sonst hätte er dem Baby halbnackt auf die Welt geholfen.

Die Sirene des Krankenwagens schrillte beim Losfahren und sorgte dafür, dass Harrison sich in Bewegung versetzte. Er zog sein Handy aus der Tasche und rief bei der Ranch an. Dort bat er um die Handynummer von Noah Dawson und fügte hinzu, dass es sich um einen Notfall handelte. Er hatte Noah die letzten paar Tage beobachtet. Daisy auch. Leider schienen die Dawsons wirklich gute Menschen zu sein. Aber wie sein Dad immer so schön gesagt hatte, das nutzte nichts.

Er wählte Noahs Nummer. Noah ging sofort ran. „Noah Dawson. Was ist passiert?“

„Hier ist Harrison McCord aus der Blockhütte Eins“, sagte er. „Ich habe gerade Ihrer Schwester Daisy am Straßenrand der Zufahrt zur Route 26 bei der Geburt ihres Babys geholfen. Sie schien kein Handy dabeizuhaben. Der Krankenwagen hat sie ins Prairie City General gebracht.“

„Was?“, rief Noah. „Geht es dem Baby gut? Geht es Daisy gut?“

„Sah ganz so aus“, sagte er. „Es ist ein Junge.“

„Wir sind schon unterwegs. Vielen Dank, dass Sie Daisy geholfen haben.“

Harrison steckte sein Handy ein und ging zurück zu seinem Auto. Einen Augenblick lang saß er einfach hinter dem Lenkrad. Er konnte kaum fassen, was gerade passiert war. Als Single und Workaholic, ohne Geschwister, die ihm Nichten und Neffen schenken könnten, hatte er noch nie im Leben ein Baby im Arm gehalten – bis heute.

Er brauchte fünfzehn Minuten bis Prairie City. Dann hielt er auf dem Parkplatz des Krankenhauses. Im Geschenkeladen legte er einen Zwischenstopp ein. Es gab Ballons mit Aufschriften wie „Herzlichen Glückwunsch“ und „Gute Besserung“. Eine ganze Abteilung war Stofftieren gewidmet. Er musterte einen Teddybär mit karierter Fliege und kaufte ihn. Dann folgte er den Wegweisern zur Entbindungsstation.

Im Aufzug starrte er den Teddybär an und konnte immer noch nicht ganz begreifen, dass er jetzt hier war, mit einem Stofftier im Arm und auf dem Weg, eine junge Mutter zu besuchen. Eine junge Mutter, die ihn bis aufs Blut hassen würde, wenn sie herausfand, warum er wirklich auf der Ranch war.

Daisy lag auf Zimmer 508. Er holte tief Luft und warf einen Blick durch die offene Tür. Sie hatte jetzt ein Krankenhausnachthemd an und eine dünne, weiße Decke lag über ihren Beinen. Sie war allein – abgesehen von dem Baby in ihren Armen. Ihr Blick war so bezaubert, dass er sich wie ein Eindringling fühlte. Er wollte sich schon umdrehen und die Flucht ergreifen, als sie rief: „Da bist du ja! Mein Held!“

Harrison schenkte ihr ein unbehagliches Lächeln und betrat den Raum.

Sie lächelte ihn an. „Das tut mir so leid – als Gästemanagerin sollte ich eigentlich wissen, wie du heißt, wo du herkommst, ob du lieber echten oder entkoffeinierten Kaffee willst. Aber ich hatte mir diese Woche für die Hochzeit freigenommen.“ Sie schenkte ihm ein betörendes Lächeln. Wahnsinn, sie war wunderschön. Sie strahlte vor Glück. „Wenigstens habe ich dich als einen unserer Gäste erkannt. Ich schätze, du hast nicht erwartet, dass dein Tag so läuft.“

Er musste lachen. „Nein. Aber ich bin froh, dass ich zufällig die Straße lang gefahren bin. Du hattest kein Handy dabei?“

Sie runzelte die Stirn und senkte den Blick. „Wie du vermutlich aus meinem Aufzug und dem dämlichen Schild an meinem Auto geschlossen hast, hätte ich heute eigentlich heiraten sollen. Aber der Bräutigam und Vater meines Sohnes ist nicht aufgetaucht und hat mir zum Abschied nur eine Textnachricht geschickt. Da bin ich ausgerastet und hab mein Handy aus dem Fenster geworfen. Dämlich, ich weiß.“

Der Vater des Babys hatte sie am Altar verlassen? Während sie im neunten Monat schwanger war?

„Tut mir leid wegen der Hochzeit“, sagte er. Er konnte sich nicht vorstellen, wie sie sich gefühlt haben musste. Er war nie auch nur kurz davor gewesen zu heiraten. Oder jemandem einen Heiratsantrag zu machen. Aber er war schon im Stich gelassen worden, und er wusste, wie sich das anfühlte.

„Ich schätze, da habe ich Glück gehabt. Wir haben nicht zusammengepasst.“

Das fand er auch. Der Mann war so ein Surfer-Cowboy-Typ gewesen. Ihre Körpersprache hatte auch immer irgendwie unbehaglich gewirkt, wenn er die beiden beobachtet hatte. Sie hatten nie Händchen gehalten oder sich geküsst, obwohl sie oft zusammen spazieren gegangen waren. Er hatte sich gefragt, was für eine Beziehung sie hatten, weil sie kaum wie ein Paar wirkten.

Sie wedelte mit einer Hand. „Egal. Schnee von gestern. Das hier“, sagte sie und sah lächelnd auf ihr Baby herab, „ist jetzt alles was zählt.“

Die Liebe und Ehrfurcht und Aufrichtigkeit in ihrer Stimme überraschten ihnen. Einen Augenblick lang betrachteten sie gemeinsam ihr Baby. Schließlich räusperte er sich. „Ich bin Harrison McCord“, sagte er und setzte sich steif auf den Stuhl neben ihrem Bett. „Ich habe dir eine Kleinigkeit mitgebracht. Naja, eigentlich ihm.“ Er deutete auf den Winzling. „Ich wohne auf der Ranch in Blockhütte Eins. Die ganze Woche.“

„Allein?“, fragte sie. „Die Hütte ist doch für vier ausgelegt.“

„Nur ich“, sagte er.

Sie wartete einen Augenblick, als ob sie eine Erklärung erwartete. Aber jetzt war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt oder der richtige Ort dafür. Er würde ein paar Tage abwarten. Dann würde er um ein Gespräch mit ihr und ihrem Bruder bitten. Und die Bombe platzen lassen. Das Timing war nicht gut, aber da konnte man nichts daran ändern.

„Also, wie heißt er?“, fragte Harrison.

„Tony. Nach meinem verstorbenen Großvater, Anthony Dawson. Ich habe mich noch nicht entschieden, was den zweiten Vornamen angeht“, sagte sie. „In Anbetracht der Tatsache, was du für mich – für uns – getan hast, würde ich gerne den Anfangsbuchstaben von deinem zweiten Vornamen verwenden.“

Er starrte sie mit offenem Mund an. Nein, nein, nein. „Das ist sehr nett von dir, aber wirklich nicht nötig.“

„Du bist uns zu Hilfe gekommen, Harrison. Du hast dabei geholfen, dass dieser kleine Kerl das Licht der Welt erblickt hat. Das möchte ich würdigen.“

Er schluckte. Der Ausschnitt seines T-Shirts schien ihm plötzlich die Kehle zuzuschnüren. „Äh, ich … ich habe keinen zweiten Vornamen“, log er. Den hatte er allerdings: Leo. „Ich muss los“, fügte er hinzu und sprang auf. „Ich hab deinen Bruder angerufen. Er ist schon unterwegs.“ Er setzte den Teddybär auf den Tisch neben ihrem Bett.

Sie sah zu ihm auf. „Oh. Okay. Also, noch mal danke. Für alles.“

Als sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Baby zuwandte, warf er einen letzten Blick auf sie. Er wollte noch nicht gehen – aber wie konnte er noch bleiben? Jetzt, wo er Daisy Dawson unter diesen ungewöhnlichen Umständen kennengelernt hatte – nachdem er ihr bei der Entbindung ihres Babys geholfen hatte und sie im Krankenhaus besucht hatte und dem kleinen Tony einen Teddybär mitgebracht hatte und auch noch erfahren hatte, dass sie vor dem Altar verlassen worden war …, da verspürte er eine Verbindung zu der jungen Mutter. Die Neuigkeiten, die er zu verkünden hatte, schienen nicht mehr so in Stein gemeißelt, wie er gedacht hatte.

Das ist doch nur geschäftlich, ermahnte er sich. Nicht persönlich.

Sie wollte dem Baby einen zweiten Vornamen mit dem Anfangsbuchstaben seines zweiten Vornamens geben!

Auf einmal war alles, was Daisy Dawson anging, sehr persönlich für ihn.

2. KAPITEL

Okay, also dieser Gast aus Blockhütte Eins, der ihr so unerwartet bei der Entbindung ihres Babys geholfen hatte? Definitiv mysteriös. Ihr Wunsch, den Anfangsbuchstaben seines zweiten Vornamens für Tonys zweiten Vornamen zu benutzen, hatte ihn wie von der Tarantel gestochen aufspringen lassen. Was stimmte mit dem Typen nicht?

Andererseits war die letzte Stunde für ihn ziemlich ereignisreich gewesen.

„Also, Tony“, sagte sie und betrachtete ihren kleinen Sohn. „Da wären wir, nur du und ich. Und ich denke, ich werde den Anfangsbuchstaben vom Vornamen meiner Mutter für deinen zweiten Vornamen verwenden. Sie hieß Leah. Mal sehen … Liam. Lucas. Lawrence.“ Sie starrte Tony an. „Wie wäre es mit Lester?“, schlug sie vor. „Tony Lester Dawson. Tony Lucas Dawson. Tony Lincoln Dawson. Hey“, flüsterte sie. „Ich denke, das ist es. Hört sich sehr präsidentenmäßig an, oder? Anthony Lincoln Dawson, das passt.“

Zum Glück hatte sie sich entschieden, denn plötzlich füllte sich das Zimmer mit ihren fünf Brüdern und Sara, ihrer Schwägerin und besten Freundin. Bewunderung wurde laut und überall waren Blumen, Luftballons und Plüschtiere.

„Darf ich euch euren Neffen vorstellen? Anthony – Tony – Lincoln Dawson“, sagte sie. „Tony nach seinem ganz besonderen Urgroßvater, Anthony Dawson.“

„Das würde Gramps gefallen“, sagte Axel, und alle nickten ehrfürchtig.

„Das L in Lincoln gilt wohl Mom?“, fragte Noah mit einem sanften Lächeln.

Daisy nickte mit Tränen in den Augen, während sie daran dachte, was für eine wunderbare Oma Leah Dawson gewesen wäre. Die sechs Dawsons hatten drei verschiedene Mütter. Ford stammte aus der ersten Ehe ihres Vaters, Rex, Zeke und Axel aus der zweiten und Daisy und Noah aus der dritten. Die Geschwister hatten die Mutter von Daisy und Noah gut gekannt, weil sie so freundlich und offen gewesen war, dass ihre Mütter sie gerne mal ein Wochenende oder in den Sommerferien bei ihrem nicht unbedingt aufmerksamen Vater gelassen hatten. Damit war es jedoch vorbei gewesen, als Daisy elf war und Leah starb. Danach hatten die anderen beiden Mütter Bo Dawson ihre Kinder nur hin und wieder ein paar Stunden lang anvertraut.

„Das ist eine schöne Geste, Daisy“, sagte Noah. Sie sah ihm an, wie gerührt er war.

„Also Tony wegen Gramps, Lincoln für meine Mom. Und natürlich Dawson, weil Jacob die Hochzeit abgesagt hat und als Vater gekündigt hat.“ Sie erzählte von der Textnachricht. Und wie sie ihr Handy und den Ring weggeworfen hatte. Und wie dann ihr Auto auf der Zufahrtsstraße stehengeblieben war und Harrison McCord ihr zur Hilfe gekommen war.

„Da sind wir ihm was schuldig“, sagte Noah. „Gott sei Dank ist er vorbeigekommen.“

Daisy nickte. „Ich frage mich nur, warum er da war. Irgendwas stimmt nicht mit dem.“

„Was meinst du damit?“, fragte Ford, der bei der Polizei in Casper arbeitete, in seinem Polizistenton. Nichts entging seiner Aufmerksamkeit.

„Also, Noah wird bestätigen, wie merkwürdig es ist, dass jemand auf einer Gästeranch eine Blockhütte für vier Personen bucht und dann alleine aufkreuzt und an keiner Aktivität teilnimmt“, erklärte Daisy. „Soweit ich mitbekommen habe, läuft er einfach nur auf der Ranch herum. Ehrlich gesagt habe ich das Gefühl, dass er immer in der Nähe ist. Und dann fährt er auf einmal nur fünf Minuten nach mir die Zufahrtsstraße zum Freeway lang?“

Noah kniff die Augen zusammen. „Jetzt wo du es erwähnst, kommt mir das auch ungewöhnlich vor. Er hatte kein Interesse daran, ein Pferd zugeteilt zu bekommen. Aber ein oder zwei Mal, als ich im Stall war oder mit Mitarbeitern gesprochen habe, war er auf einmal da.“

„Das hört sich an, als würde er euch beobachten“, sagte Axel. Als Such- und Rettungsexperte glaubte Axel nicht an Zufälle.

Daisy zuckte die Achseln. „Aber er hat mir geholfen. Und dann hat er Tony und mich besucht. Der hier ist von ihm“, fügte sie hinzu und zeigte auf den Teddybär. „Ich hab gesagt, dass ich Tony gerne einen zweiten Vornamen geben würde, der mit dem Anfangsbuchstaben seines zweiten Vornamens anfängt. Da ist er bleich geworden. Hat gesagt, dass er keinen zweiten Vornamen hat und einen Vorwand gefunden, um zu verschwinden.“

Rex, der Geschäftsmann unter den Brüdern, verschränkte die Arme. „Hmm. Also, irgendwas stimmt da nicht. Aber er ist euch zur Hilfe gekommen. Tony und du, ihr seid gesund und munter.“

Noah nickte. „Das ist im Augenblick alles, was zählt.“

„Könnte aber nicht schaden, ihn mal zu überprüfen“, sagte Zeke. Und das kam von ihrem geheimnisvollen Bruder. Zeke weigerte sich stets, über seine Arbeit zu sprechen. Er sagte immer nur, dass alles streng vertraulich wäre. Manchmal vermutete Daisy, er sei Geheimagent.

„Da bin ich ganz deiner Meinung“, sagte Ford und holte sein Handy heraus. „Wie heißt dieser Gast? Ich fange mit einer Routineüberprüfung an. Nur zur Sicherheit.“

„Harrison McCord“, sagte Daisy. „Nummernschild aus Wyoming. Silberner Lexus.“

„Harrison McCord“, wiederholte Rex nachdenklich. „Der Name kommt mir bekannt vor. Ich habe schon von ihm gehört. In Geschäftskreisen, denke ich.“ Rex lebte in Jackson, Wyoming, ein paar Stunden von Bear Ridge entfernt.

Ford nickte und ging hinaus, das Mobiltelefon in der Hand. Es war gut, einen Polizisten in der Familie zu haben.

„Ich werde McCord im Auge behalten“, sagte Axel. „Ich muss sowieso noch ein oder zwei Wochen bleiben. Ich bin zu einem Zwangsurlaub verdonnert worden.“

Alle starrten Axel an. Er sprach selten von seinem Privatleben. Daisy fragte sich, was passiert war.

„Ich würde gerne bei dir im Haupthaus wohnen, Daisy“, sagte Axel. „Wenn du Gesellschaft möchtest.“

Sie strahlte. Dann könnte sie weiter daran arbeiten, Axel für immer hier zu behalten! „Liebend gern. Aber dann wirst du mitten in der Nacht vom Gebrüll eines Neugeborenen geweckt werden. Falls du noch nicht daran gedacht hast.“

Axel schaute den Säugling in ihren Armen an. Seine blauen Augen weiteten sich, und er fuhr sich mit einer Hand durchs dichte, dunkelbraune Haar. „Ich kann sowieso nicht schlafen. Also lass krachen, kleiner Neffe.“

Daisy lachte. Aber als sie Axel einen Blick zuwarf, konnte sie erkennen, dass ihm etwas zusetzte. Wahrscheinlich konnte er ein bisschen Ablenkung brauchen. Also würde sie ihre Pläne, ihn zu verkuppeln, in die Tat umsetzen. Nach diesen zwei Wochen würde er sowieso niemals mehr hier wegwollen, weil er viel zu verliebt sein würde. Er würde sich einen Job bei einem Such- und Rettungsteam in der Nähe von Bear Ridge suchen und sich ein Blockhaus am Rand der Ranch bauen. Das war ihr Traum – alle ihre Brüder wieder um sich zu haben.

„Der Kleine sieht genauso aus wie du“, sagte ihre Schwägerin Sara und bekam ganz feuchte Augen. „Ich kann es gar nicht abwarten, ihn seiner Cousine und seinem Cousin vorzustellen. Auf die passt übrigens gerade Cowboy Joe auf.“

Daisy lächelte. Cowboy Joe war der alte Koch auf der Gästeranch. Er liebte Babys.

Noah legte einen Arm um seine Frau, und sie betrachteten das Baby. „Willkommen in der Familie, Tony Lincoln Dawson“, sagte er zu seinem Neffen.

Daisy lächelte. Sie hatte so ein Glück, dass ihr Baby fünf unglaubliche Onkel, eine fantastische Tante, eine kleine Cousine und einen kleinen Cousin haben würde.

Ford kam wieder herein. „Harrison McCord ist ein erfolgreicher Geschäftsmann in Prairy City. Keine Vorstrafen. Engagiert sich ehrenamtlich. Hat einen tadellosen Ruf. Soweit man das auf dieser Grundlage sagen kann, handelt es sich um einen ehrenwerten Mann.“

„Also, er hat Tony auf die Welt geholfen und dabei ein Anzughemd ruiniert, das echt teuer ausgesehen hat“, sagte Daisy mit einem Lächeln. „Also ist das nicht völlig überraschend.“

„Er hat übrigens gelogen, was seinen zweiten Vornamen angeht“, fügte Ford hinzu. „Der ist Leo.“

„L wie Leo!“, rief Daisy. „Sieht so aus, als ob Harrison Leo McCord doch noch mit Tonys zweitem Vornamen geehrt wird, ob er nun will oder nicht.“

„Wahrscheinlich wollte er nur nicht, dass viel Aufhebens wegen seiner Hilfe gemacht wird“, meinte Rex.

„Trotzdem sollten wir ihn im Auge behalten“, warf Axel ein, und Daisy sah, wie Ford und Noah nickten.

Sie fragte sich, was hinter Harrisons sonderbarem Verhalten steckte. Doch als die Krankenschwester kam, um ihre Werte zu überprüfen und Tony auf die Neugeborenenstation zu bringen, zwang sie sich, nicht mehr an ihren spontanen Geburtshelfer zu denken, um sich ein bitter nötiges Schläfchen zu gönnen.

Kurz vor Ende der Besuchszeit im Hospiz „Gentle Winds“ saß Harrison am Bett des vierundneunzigjährigen Mo Burns. Zwischen ihnen befand sich ein Betttisch mit Spielkarten. Mo hatte Harrison wieder beim Poker geschlagen.

„Das war’s, Junge“, rief Mo. Seine trüben, blauen Augen strahlten vor Stolz.

Harrison half im Hospiz aus, seit seine Tante vor zehn Tagen als Patientin dort eingezogen war. Lolly hatte Krebs im Endstadium, der zu spät entdeckt worden war, um noch etwas dagegen zu tun. Harrison wollte in der Nähe seiner einzigen Familienangehörigen bleiben. Also hatte er sich erkundigt, ob er aushelfen konnte. Inzwischen verbrachte er jeden Tag, entweder vor oder nach seinem Besuch bei Lolly, Zeit mit verschiedenen Patienten. Er las ihnen vor, unterhielt sich über Sport, spielte mit ihnen Karten und hörte oft einfach den Erinnerungen am Ende eines langen Lebens zu.

„Wie geht es deiner Tante heute?“, fragte Mo.

„Lolly hat geschlafen, als ich da war. Ich seh’ nachher nochmal nach ihr.“

Mo nickte. „Du bist ein guter Neffe. Ich habe so viele Nichten und Neffen und Enkel und Urenkel, dass ich mir ihre Namen nicht merken kann. Aber es ist wunderbar, wenn sie ihren alten Großonkel Moey besuchen kommen.“

Harrison lachte. Er mochte Mo unwahrscheinlich gern. Dessen Familie war groß und überschwänglich, und ein paar seiner Verwandten kamen jeden Tag vorbei. Harrison hatte zuerst angenommen, er würde zu Patienten geschickt, die nicht viele Besucher bekamen. Aber tatsächlich wurde er jedem zugeteilt, der ein Formular ausgefüllt und um ehrenamtliche Besucher gebeten hatte. Was Mo anging, war er immer für mehr Besuch zu haben.

Harrisons Tante war nicht der Typ dafür, sich Besucher zu wünschen. Lolly war immer verschlossen gewesen und stets für sich geblieben. Harrison war ihr insofern viel zu ähnlich.

„Du wirkst heute ziemlich mitgenommen, mein Junge“, sagte Mo. „Spuck’s aus. Früher sind die Leute immer mit ihren Sorgen zu mir gekommen. Da hätte ich jedes Mal einen Zehner verlangen sollen.“

Harrison lächelte. „Mir geht’s prima.“ Mehr oder weniger. Abgesehen davon, dass ich erst vor ein paar Wochen meinen Dad verloren habe. Und jetzt muss ich mich auf den Abschied von meiner Tante vorbereiten. Und dann war da noch die Sache mit Daisy Dawson.

Eigentlich mit allen Dawsons. Aber jetzt ganz besonders Daisy.

„Stell dir vor“, sagte Harrison, „ich habe heute am Straßenrand dabei geholfen, ein Baby auf die Welt zu bringen.“ Er merkte, dass er lächelte und sich sein Staunen auf seinem Gesicht widerspiegelte. „Ist das nicht irre? Es ist ein Junge.“

Harrison dachte an Daisys große, blaue Augen. An den kleinen Tony, den er in sein Hemd gewickelt hatte. An Daisy, die sich bei ihm mit dem Anfangsbuchstaben von Tonys zweitem Vornamen bedanken wollte.

Da war er praktisch aus dem Zimmer gerannt. Aber morgen würde er ihr gegenübertreten müssen. Mit Neuigkeiten, die ihr nicht gefallen würden.

„Das hab ich auch mal gemacht!“, sagte Mo. „Ich schwör es bei Gott. Die Dame hat die Wehen bekommen, als ich ihr ein Haus gezeigt habe. Hab ich dir erzählt, dass ich Makler war? Da waren nur wir beide in dem Haus, und plötzlich kommt das Baby. Der Krankenwagen ist eine Minute zu spät gekommen. Ich hatte keine Ahnung, was in aller Welt ich da mache.“

Harrison starrte ihn an. „Ist das dein Ernst? Genau das ist mir passiert. Wie kann das so häufig vorkommen?“

„Hey, wir beide sind halt was Besonderes“, sagte Mo. „Das Baby war ein Mädchen und hat gebrüllt wie am Spieß.“

Harrison lachte. „Was ist dann passiert?“

„Also, ein paar Tage später ist der Ehemann der Dame zu mir gekommen und wollte mir hundert Dollar und eine Zigarre schenken. Die Zigarre hab ich genommen und ihm erklärt, dass jeder das Gleiche getan hätte. Aber ich sage dir, ich habe mich wie ein Held gefühlt.“

Harrison lächelte. „Ich mich auch.“ Aber dann verblasste sein Lächeln, als ihm klar wurde, dass er das Gegenteil eines Helden war. Er hatte geholfen, den kleinen Tony Dawson auf die Welt zu bringen – aber er war drauf und dran, Daisy etwas wegzunehmen.

Die Ranch ihrer Familie.

Die in Wirklichkeit die Ranch seiner Familie war.

Wie in aller Welt sollte er ihr das beibringen?

„Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun“, rief er sich den Lieblingsspruch seines Vaters ins Gedächtnis, wenn es darum ging, dass jemand Gefühle mit Geschäftlichem in Verbindung bringen wollte. Geschäft ist Geschäft. Die Dawson Family Guest Ranch war rechtmäßig Eigentum seines Vaters. Und jetzt gehörte sie ihm. Und er würde sie sich im Namen seines Vaters zurückholen.

Was Lolly anging – das war eine lange Geschichte, über die er lieber nicht nachdachte.

Mo fielen die Augen zu. Also packte Harrison die Spielkarten ein und tätschelte die Hand des reizenden alten Mannes.

„Wir sehen uns dann morgen, mein Freund“, sagte er.

Daisy hatte erwähnt, dass sie nachmittags am nächsten Tag entlassen werden sollte. Dann würde Harrison am frühen Abend vorbeischauen und die Situation erläutern. Wer er wirklich war. Warum er da war. Wie die Rechtslage sich darstellte.

Wie in aller Welt würde er Daisy sagen, dass er ihr das Zuhause und den Familienbetrieb wegnehmen würde?

Tonys Zuhause? Die Zukunft des Babys, bei dessen Entbindung er geholfen hatte … Plötzlich funktionierte das Argument „das eine hat mit dem anderen nichts zu tun“ nicht mehr. Und zwar kein bisschen.

3. KAPITEL

Spät am nächsten Nachmittag stand Daisy mit Noah und Sara im Kinderzimmer des Farmhauses. Behutsam stellte sie Tonys Babytrage auf den Boden und schnallte ihn ab. Dann nahm sie ihn vorsichtig auf den Arm und ging ungläubig durchs Zimmer. Das Kinderzimmer sah ganz anders aus als noch vor anderthalb Tagen. Sie hatte sich schon vor ein paar Monaten um die Grundausstattung gekümmert – Bettchen, Wickeltisch, Schaukelsessel. Aber jetzt warteten überall Überraschungen: In einer Ecke stand ein Kinderstuhl in Form eines Teddybären. Jemand hatte die Wand am Fußende des Bettchens mit Mond und Sternen verziert. Tonys Name war darauf gemalt. Und in einer Ecke stapelte sich Babysachen.

„Ford und Rex haben den Mond und die Sterne gemacht“, sagte Noah.

„Und Zeke und Axel waren im Babyladen und haben diesen süßen Teppich und die Stehlampe mitgebracht“, fügte Sara hinzu.

Das Zimmer war reizend und gemütlich. „Ihr bringt mich noch zum Heulen“, brachte Daisy heraus. Mit der freien Hand wischte sie sich die Augen ab.

Sie konnte nicht behaupten, dass ihre Brüder und sie sich sehr nahe stehen würden, aber die Jungs waren immer für sie da. Und sie waren alle gekommen, um Tony an dem Tag zu sehen, an dem er auf die Welt gekommen war.

Alle Geschwister hatten nicht die besten Erinnerungen an diesen Ort. Aber nachdem sie die Ranch von ihrem Vater geerbt hatten, hatten sie gemeinsam in den Wiederaufbau investiert.

Die Dawson Family Guest Ranch hatte sich völlig verändert. Die Ranch war jetzt eine wunderschön renovierte, moderne, aber rustikale Gästeranch in der Wildnis von Wyoming. Dank der Veränderungen hatte der Besuch bei den Brüdern nicht wie erwartet schlechte Erinnerungen geweckt. Aber sie wollten immer noch nicht hierbleiben. Immerhin war es ein gutes Zeichen, dass sie zu Besuch gekommen waren.

Noah grinste. „Im Wohnzimmer ist noch mehr.“

„Hast du Hunger?“, fragte Sara. „Ich hab deinen Kühlschrank und deine Gefriertruhe mit deinen Lieblingsspeisen vollgepackt.“

Sie legte einen Arm um ihre Schwägerin. „Du bist die Beste.“ Dann drehte sie sich zu ihrem Bruder um. „Das seid ihr alle. Vielen Dank für alles.“

Sie umarmten sich. Und dann war Daisy allein. Monatelang hatte sie sich auf den Tag gefreut, an dem sie ihr Baby nach Hause bringen würde.

Sie hatte aber nicht erwartet, dass das Haus noch so still sein würde mit dem Baby. Der Kleine hatte sich ins Bett legen lassen, ohne einen Laut von sich zu geben. Sie stand da und schaute auf ihn herab, beobachtete, wie seine Brust sich hob und senkte, und wie er neben seinem Ohr eine Faust gemacht hatte. Willkommen daheim, mein kleiner Tony-Bär. Sie konnte sich kaum losreißen, aber dann musste sie selbst gähnen, und ihr wurde klar, dass sie besser ein Schläfchen einschieben sollte.

Sie hatte ein Babyfon auf dem Nachtisch und stellte es auf ganz laut. Sie schlief ungefähr zwanzig Minuten lang. Als sie aufwachte, war sie groggy. Wunderbarerweise schlief Tony immer noch. Also ging sie nach unten, um sich eine Tasse Kaffee zu machen. Obwohl er entkoffeiniert war, sorgte allein die Illusion von Koffein dafür, dass ihr Gehirn aufwachte. Sie beantwortete gerade Textnachrichten von Familienmitgliedern, als das Gebrüll losging.

Es war absurd, wie begeistert Daisy darüber war. Sie rannte nach oben ins Babyzimmer, nahm ihren Sohn auf den Arm und trug ihn zum Schaukelsessel, um ihn zu stillen. Als er fertig war, stand sie auf und tätschelte ihn sanft, bis er rülpste. Dann wechselte sie seine Windeln und bewunderte ihn. Sie war furchtbar nervös, ob sie auch alles richtig machte. Aber Tony wirkte zufrieden. „Wie wäre es mit einer Hausführung?“, fragte sie. „Hast du gewusst, dass ich hier aufgewachsen bin?“

Da klingelte es an der Tür. Die Führung würde warten müssen. Sie fragte sich, wer sie wohl besuchen kam. Tony sicher in ihre Arme geschmiegt, ging sie vorsichtig nach unten und zur Haustür.

Sie zog den Vorhang zurück. Harrison McCord.

Was wollte der denn hier?

Ob er noch ein Geschenk für Tony in der Hand hielt oder nicht – diesmal war es ein gelber Plüschhase –, ob er nun attraktiv war oder nicht – mit seinem zerzausten, dunkelblonden Haar und den grünen Augen –, er hatte etwas zu verbergen. Definitiv.

„Entschuldige, dass ich einfach so vorbeikomme“, sagte Harrison. „Aber ich muss mit dir reden. Und mit deinem Bruder, dem Vorarbeiter.“

Sie kniff die Augen zusammen und musterte erst ihn und dann den dicken Umschlag, den er in der anderen Hand hielt. „Bis letzte Woche war ich noch die Gästemanagerin, also bin ich die Richtige für dich.“ Sie verzog das Gesicht. „Die richtige Ansprechpartnerin, wenn es ein Problem gibt, meine ich.“

„Nichts dergleichen“, sagte er. „Ich würde wirklich gerne mit euch reden – mit euch beiden.“

„Also, Noah ist im Augenblick beschäftigt. Er hat mir gerade eine Nachricht geschickt, dass er sich um unsere Ziege kümmern muss, Hermione, die Ausbrecherkönigin. Wird wie eine echte Königin behandelt und haut bei jeder Gelegenheit ab.“

Er rang sich ein schiefes Lächeln ab, aber das war so unbehaglich, dass bei Daisy alle Alarmglocken schrillten. Irgendwas stimmte hier nicht.

„Kann ich reinkommen?“, fragte er, während er den gelben Hasen praktisch erwürgte.

Widerstrebend trat Daisy zur Seite.

„Setzen wir uns ins Wohnzimmer. Ich habe entkoffeinierten Kaffee, Limonade, Tomatensaft, Orangensaft, Cranberrysaft. Ich mag Saft. Offensichtlich“, fügte sie hinzu und rollte dann die Augen, weil sie so nervös losplapperte.

„Cranberrysaft klingt gut“, sagte er. „Aber lass mich das machen. Du hast doch mit Tony alle Hände voll.“

„Ich leg ihn in den Stubenwagen“, sagte sie und bettete das Baby behutsam hinein.

Sie bemerkte, wie Harrison Tony anstarrte. Sein Gesichtsausdruck war … was genau? Eine Mischung aus Bedauern und Entschlossenheit. Worüber musste er mit ihnen sprechen?

Er sah sich im Zimmer um. Vor allem interessierte er sich für die Fotos auf dem Kaminsims. Ein Bild musterte er besonders aufmerksam: ihre Großeltern, wie sie vor dem großen Banner über dem Tor zur Dawson Family Guest Ranch standen. „Eröffnung vor zweiundfünfzig Jahren“, las er laut vor. Dann griff er nach dem nächsten Foto. Das zeigte die Geschwister Dawson an derselben Stelle mit einem ähnlichen Banner, aber auf diesem stand „Große Wiedereröffnung“.

„Noah hat hier wahre Wunder vollbracht“, sagte sie. „Das hier ist sein Herzensprojekt. Aber jetzt ist die Ranch auch mein Zufluchtsort. Seit ich aufgeschmissen war, als Jacob mich das erste Mal abserviert hat.“

Er starrte sie an. „Mir war nicht klar, dass Tonys Vater schon eine zweite Chance hatte. Das macht alles noch schlimmer.“

Wem sagte er das. „Ich wollte es wegen des Babys noch einmal versuchen.“ Warum in aller Welt erzählte sie diesem Mann solche persönlichen Details? Er war hier, um mit ihr über … etwas Ernstes zu sprechen, wie es aussah. Hol ihm den Cranberrysaft, damit er es hinter sich bringt.

„Bin gleich wieder da. Hast du solange ein Auge auf Tony?“, bat sie.

Seine Augen weiteten sich gerade so weit, dass sie die Reaktion bemerkte.

„Äh, okay“, sagte er und setzte sich auf die Sofakante neben dem Stubenwagen.

Sie kehrte mit zwei Gläsern Cranberrysaft und einem Teller Kokos-Karamell-Cookies zurück.

Sie setzte sich auf das Sofa. Von hier aus konnte sie Harrison und das Baby sehen. „Also, worum geht’s?“, fragte sie. „Willst du uns im Internet eine vernichtende Kritik hinterlassen?“

Das schien ihn aus dem Konzept zu bringen. Eine Sekunde lang lächelte er. Doch dann verblasste sein Lächeln. „Ich werde nicht lange um den heißen Brei herumreden, Daisy. Die Dawson Family Guest Ranch ist nicht das rechtmäßige Eigentum deiner Familie. Sie gehört meiner Familie.“

Sie starrte ihn an. „Wovon redest du?“

„Dein Vater, Bo Dawson, hat das Eigentum an der Ranch vor zehn Jahren an meinen Vater übertragen.“ Er griff nach dem Umschlag, öffnete ihn und zog eine vergilbte Serviette heraus. Die Art von Serviette, die Kellner auf den Tisch legen, bevor sie ein Glas Bier draufstellen. „Hier ist der Beweis“, sagte er und reichte sie ihr.

Was in aller Welt soll das? fragte sie sich und nahm die Serviette. Was sie vor sich sah, war die unverwechselbare, krakelige Handschrift ihres Vaters. Geschrieben mit einem schwarzen Stift. Datiert auf den 15. Juni vor zehn Jahren.

Ich habe die Wette verloren und übertrage hiermit das Eigentum an der Dawson Family Guest Ranch an Eric McCord.

Daisy schnappte nach Luft. Ihr Vater hatte die Ranch bei einer Wette verloren?

„Das ist doch nur ein Kneipenwitz unter Betrunkenen“, sagte sie. „Vor Gericht zählt das niemals.“ Sie musterte die Serviette erneut. Plötzlich wurde ihr schlecht. Sie gab ihm die Serviette zurück. Ihr Vater hatte viel zu viel getrunken. Vor allem in den letzten Jahren vor seinem Tod. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass er völlig besoffen gewesen war, als er die Ranch verspielt und dafür auch noch einen schriftlichen Beweis hinterlassen hatte.

„Ich habe zwei Anwälte konsultiert, die mir versichern, dass die Sache rechtlich unanfechtbar ist“, sagte Harrison.

Daisy reckte das Kinn. „Ich denke, ich sollte meine Brüder holen, bevor wir weiterreden. Nur Noah und Axel sind noch da. Ford, Rex, und Zeke sind heute früh abgefahren.“

Harrison nickte.

Dann griff sie nach ihrem Handy. Sie schickte Noah eine Textnachricht.

Notfall. Harrison McCord sagt, die Ranch gehört seiner Familie. Er hat eine Serviette als Beweis. Er ist bei mir im Farmhaus. Hol Axel und beeil dich!

Bin gleich da. Benachrichtige Axel, antwortete Noah.

Daisy saß stocksteif da, während sie die Hände im Schoß unaufhörlich verschränkte und wieder löste. Harrison tat es ihr nach. Sie schauten überallhin, nur einander sahen sie nicht an.

Ein paar Minuten später stürmte Noah herein, Axel auf den Fersen. Harrison erhob sich, den Umschlag in der Hand.

„Was zur Hölle soll das?“, fragte Noah. „Eine Serviette als Beweis? Wie bitte?“

Harrison reichte Noah den Umschlag, der ihn öffnete und die Serviette herausnahm.

„Das wird kein Gericht anerkennen“, sagte Noah und reichte die Serviette an Axel weiter. „Das ist offensichtlich der Unfug von Betrunkenen.“

Daisy zitterte, obwohl es über dreißig Grad heiß war. „Genau das habe ich auch gesagt. Er behauptet aber, zwei Anwälte hätten versichert, dass es anerkannt wird.“

„Was hat es mit der ganzen Sache auf sich?“, fragte Axel, nachdem er die Serviette selbst gelesen und wieder in den Umschlag gesteckt hatte.

Harrison riss ihm den Umschlag mehr oder weniger aus der Hand und umklammerte ihn.

„Setzen wir uns erst mal“, sagte Daisy.

Sie ließen sich nieder, ohne Harrison McCord aus den Augen zu lassen.

Harrison griff nach seinem Cranberrysaft. Den hätte Daisy ihm jetzt am liebsten über den Kopf geschüttet. Wie konnte er es wagen?

„Vor zwei Wochen hat mein Vater mir auf seinem Sterbebett erzählt, dass er vor zehn Jahren eine Schlägerei mit einem Bo Dawson hatte, um die Ehre seiner Schwester, meiner Tante Lolly, zu verteidigen, die Bo gerade mit zwei anderen Frauen betrogen hatte. Bo hat anscheinend gesagt, dass er zu attraktiv wäre, um sein gutes Aussehen aufs Spiel zu setzen. Stattdessen forderte er meinen Dad zu einem Pokerspiel heraus. Sollte mein Dad gewinnen, dürfte er Bo zu Brei schlagen. Aber wenn Bo gewann, müsste mein Dad ihn für immer in Ruhe lassen.“

Lieber Himmel. Das klang ganz nach ihrem Vater. „Und wie kam die Serviette ins Spiel?“

„In der Bar, wo sie spielen wollten, fing Bo an, mit der Kellnerin zu flirten, obwohl die einen Ehering trug. Mein Dad wurde noch wütender und verlangte einen höheren Einsatz. Oder er würde Bo an Ort und Stelle zusammenschlagen.“

„Also hat unser Dad seine Ranch verwettet?“, fragte Noah.

„Euer Vater hat meinem Dad erzählt, dass ihm eine beliebte Ferienranch in Bear Ridge gehört. Mein Dad hatte schon von der Ranch gehört. Also hat er gesagt: ‚Mach das schriftlich und dann spielen wir darum.‘ Das hat euer Dad getan.“ Er hielt den Umschlag hoch.

„Und unser Dad hat verloren“, fügte Axel kopfschüttelnd hinzu.

Harrison nickte. „Daher gehört die Ranch meiner Familie.“

„Jetzt warte mal eine Minute“, fuhr Daisy ihn an. Sie erhob sich und stemmte die Hände in die Hüften. „Das tut sie auf gar keinen Fall! Ein Betrunkener hat vor zehn Jahren irgendwas auf eine Serviette gekritzelt? Das hätte auch dein Vater schreiben können. Mein Dad hat nie eine verlorene Wette erwähnt. Die Serviette beweist gar nichts.“

„Aber es ist die Handschrift deines Vaters“, sagte Harrison. „Ich habe Nachforschungen angestellt.“

Daisy schnappte nach Luft. „Wie kannst du es wagen! Hier herumzuschleichen und uns auszuspionieren.“

Noah und Axel ließen sich auf ihre Sessel fallen.

„Das ist nichts Persönliches“, sagte Harrison. „Das ist rein geschäftlich. Euer Vater hat das Eigentum übertragen. Aber als mein Vater herausgefunden hat, dass die Ranch am Ende ist, hat er seinen Anspruch nicht geltend gemacht. Jetzt bin ich hier, um das an seiner Stelle zu tun.“

Daisy sah rot. „Oh, klar. Urplötzlich, nachdem Noah die Ranch wiederaufgebaut hat und wir fantastische Kritiken bekommen! Wenn du denkst, du kannst uns die Dawson Family Guest Ranch wegnehmen, dann wirst du dein blaues Wunder erleben.“ Sie zeigte auf die Tür. „Raus aus meinem Haus!“

Harrison hatte den Nerv, verletzt zu wirken. „Ich habe von der Wette erst erfahren, als mein Vater gestorben ist. Meine Tante Lolly spricht selten über ihr Privatleben, aber mein Vater hat mir anvertraut, wie Bo ihre Hoffnung auf Liebe zerstört hat. Nachdem er sie so schäbig behandelt hat, hatte sie nie wieder eine Beziehung. Sie hat einfach aufgegeben. Und jetzt liegt sie mutterseelenallein in einem Hospiz in Prairie City im Sterben.“

Einen Augenblick lang konnte Daisy nur daran danken, dass er vor zwei Wochen seinen Vater verloren hatte und dass seine Tante jetzt im Sterben lag. Daisy hatte als Kind ihre Mutter verloren und ihren Dad am letzten Weihnachtsfest. Sie hatte Mitleid mit Harrison. Bis sie sich daran erinnerte, warum er hier war.

„Mein Beileid“, sagte sie. „Und mit deiner Tante das tut mir auch sehr leid. Aber die Dawson Family Guest Ranch gehört uns.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

„Tut mir auch leid. Aber Geschäft ist Geschäft“, sagte Harrison. „Die Ranch gehört den McCords. Hier geht es um die Ehre meines Vaters und meiner Tante. Dann sehen wir uns wohl vor Gericht.“

Daisy schnappte nach Luft. Er wollte sie vor Gericht zerren?

„Verschwinde!“, schrie sie. Das Baby verzog das Gesicht und fing an zu weinen.

Harrison musterte Tony, dann verließ er überstürzt das Haus.

„Und nimm deinen dämlichen Hasen mit!“, kreischte Daisy und warf ihm das Plüschtier nach.

Es landete an der Tür, die Harrison gerade hinter sich geschlossen hatte.

„Sagt mir, dass diese alberne Serviette vor Gericht nicht standhalten wird“, sagte Daisy und schaute von Noah zu Axel.

Ihre Brüder sahen erst einander, dann Daisy an.

„Das könnte sehr wohl möglich sein“, sagte Noah. „Wetten sind in diesem Bundesstaat legal. Die Serviette ist datiert, der Inhalt ist eindeutig, und es ist eine Unterschrift drauf.“

Axel seufzte. „Wir werden auch einen Anwalt anheuern. Wir werden kämpfen.“

Verdammt richtig, das würden sie tun. Diese Ranch war ihr Erbe. Die Zukunft ihrer Kinder. Niemand würde sie ihnen wegnehmen.

Sie sah Tony an. Tony Lincoln Dawson. Erst gestern hatte sie sich über die Entdeckung gefreut, dass Harrisons zweiter Vorname mit L anfing und dass sie zufällig einen zweiten Vornamen mit diesem Anfangsbuchstaben ausgesucht hatte. Also, von jetzt an stand das L nur noch für Leah, den Namen ihrer Mutter. Harrison und sein zweiter Vorname konnten ihr gestohlen bleiben.

4. KAPITEL

Harrison wünschte sich, einen Zauber zu kennen, der Tante Lolly Seelenfrieden schenken könnte. Sie war jetzt seit zehn Tagen im „Gentle Winds“-Hospiz. Ihr Zustand verschlechterte sich. Er glaubte, dass der Verlust des geliebten Bruders daran schuld war. Das hatte sie sehr mitgenommen. Wenigstens wusste er, dass sie sich über seine Besuche sehr freute. Jetzt saß er neben ihrem Bett, und die Trauer lag ihm schwer im Magen. Lolly schlief, wie so oft. Und er saß da und dachte an Daisy Dawsons schönes, strahlendes Gesicht. An alles, was passiert war.

Als er fluchtartig das Haus verlassen hatte, hatte er sich wie der größte Mistkerl in ganz Wyoming gefühlt. Aber als er jetzt seine zerbrechliche Tante musterte, löste sich seine Anspannung. Sein Besuch bei Lolly rief ihm wieder ins Gedächtnis, was er tat und warum. Die Dawson Family Guest Ranch gehörte seinem Vater. Zu Ehren von Lolly McCord.

Lolly redete nicht über ihr Privatleben, aber Harrisons Dad hatte ihm alles erzählt; wie dieser Bastard Bo Dawson Lollys Glauben an die Liebe zerstört hatte, wie sie einfach „aufgegeben“ hatte. Im Alter von fünfundfünfzig Jahren, lange geschieden und kinderlos, hatte Lolly damals wirklich geglaubt, dass sie endlich eine zweite Chance in Sachen Liebe hatte. Doch das war anscheinend Bo Dawsons Strategie gewesen. Er hatte sich bei Frauen eingeschmeichelt und sie dann die Zeche zahlen lassen. Das Geld, das er sich von ihr und anderen Frauen erschlichen hatte, hatte er für Alkohol und Glücksspiel ausgegeben.

Lolly hatte ihr Herz nie wieder aufs Spiel gesetzt. Und jetzt war Lolly fünfundsechzig und war immer allein gewesen, seit Bo sie betrogen hatte.

Die paar Mal, als Harrison versucht hatte, bei Lolly im Hospiz das Gespräch auf Bo zu bringen, hatte sie gesagt, sie wollte nicht über schlechte Erinnerungen reden. Jedes Mal hatte das Harrisons Wut auf Bo Dawson wieder entfacht. Dieser Schurke hatte seinen Vater um die Genugtuung gebracht, ihm einen Kinnhaken zu verpassen, und um die Ranch, die er ihm überschrieben hatte. Bo hatte Lolly benutzt und ihr das Herz gebrochen. Oh ja, Harrison würde das alles wiedergutmachen.

Trotzdem fühlte er sich hundeelend. Den Dawsons zu sagen, dass er ihnen die Ranch wegnehmen würde, war viel schwerer, nachdem er einen der denkwürdigsten Augenblicke ihres Lebens mit Daisy Dawson geteilt hatte. Vielleicht den wichtigsten Augenblick überhaupt.

Und dann war da noch der Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie ihm befohlen hatte zu verschwinden. Er würde nie vergessen, wie sich Trauer, Wut und Verrat in diesen wunderschönen, blauen Augen widergespiegelt hatten. Er hatte das Baby zum Weinen gebracht.

Er verbarg den Kopf in seinen Händen. Er wünschte sich, er könnte das auch in Ordnung bringen.

Ich tu doch nur, was ich tun muss, Lolly, sagte er in Gedanken zu seiner Tante. Aber das Richtige fühlt sich selten so falsch an.

Verdammt. Sich zu nehmen, was rechtmäßig seiner Familie gehörte, war nicht falsch. Sein Vater hatte die Ranch als Wetteinsatz akzeptiert, weil er geglaubt hatte, dass sie profitabel war. Doch als Eric McCord hingefahren war, um sich das Anwesen anzusehen, war alles von Unkraut überwuchert gewesen. Weit und breit war kein Tier zu sehen gewesen, nicht mal eine streunende Katze. Bo Dawson hatte tatsächlich dort gelebt, in der Bruchbude von Blockhütte, in der früher der Vorarbeiter gewohnt hatte. Das halb zerstörte Haupthaus hatte ausgesehen, als ob jemand mit einem Pick-up-Truck hineingefahren war. Eric hatte daran gedacht, die Ranch wegen des Landbesitzes zu übernehmen. Aber er brauchte das Geld nicht. Und auch noch Geld in diese Ruine investieren? Niemals. Also war er wieder weggefahren – aber die Serviette hatte er behalten.

Eric McCord war ein wunderbarer Mann gewesen, authentisch, mitfühlend, freundlich. Harrison würde ihn nicht enttäuschen. Oder Tante Lolly. Die Ranch gehörte rechtmäßig den McCords.

Ich tue das Richtige, sagte er sich und drückte Lollys Hand ein letztes Mal.

Und als diesmal Daisy Dawsons wunderschönes Gesicht und Tonys seidige Löckchen und große, blaue Augen vor seinem geistigen Auge auftauchten, da zwang er sich, hart zu bleiben.

Das Baby in der Trage sicher vor der Brust, stand Daisy neben Sara in der Cafeteria der Ranch. Am Buffet konnten sich die Gäste jederzeit bedienen und sich Muffins, Obst und Getränke holen. Daisy und Sara waren dabei, nachzufüllen.

„Ich kann nicht glauben, dass er uns wirklich vor Gericht zerrt“, flüsterte Sara, nahm Müsliriegel von dem Servierwagen und legte sie in die große Schale. „Wie kann er das nur tun? Mit so fadenscheinigen Beweisen?“

„Ich weiß. Eine vergilbte, zehn Jahre alte Serviette.“ Sie rollte die Augen. Aber dann waren ihre Ängste gleich wieder da. „Noah und Axel sagen, die könnte rechtsgültig sein, weil mein Dad sie nicht nur datiert, sondern auch unterschrieben hat.“

Sara schüttelte den Kopf und legte noch einige Bananen in einen Korb. „Ich hab gehört, wie Noah gestern Abend bei einem Videoanruf mit Zeke, Rex und Ford geredet hat. Die waren auch alle besorgt.“

Daisy pflückte eine violette Traube von einem Bündel, das Sara in die Obstschale gelegt hatte, und steckte sie sich in den Mund. Dann noch eine. „Wie kann er auch nur im Traum daran denken, uns den Familienbetrieb wegzunehmen? Jetzt, wo die Ranch wieder geöffnet und ein Riesenerfolg ist, da macht er auf einmal seinen Anspruch geltend. So nicht, Mistkerl.“

„Aber echt!“, sagte Sara. „Es ist schwer zu glauben, dass ein Typ, der dir bei der Entbindung geholfen hat, zu so etwas fähig ist.“

Daisy nickte. „Genau. Das ergibt keinen Sinn. Harrison, so wie ich ihn kennengelernt habe, hat so freundlich und großzügig gewirkt. Er hat so warmherzige Augen. Und ich hatte so ein gutes Gefühl, was ihn angeht.“

„Er ist übrigens nicht abgereist“, sagte Sara. „Ich habe gedacht, er würde sofort verschwinden. Aber er ist noch immer da.“

„Wahrscheinlich, weil er denkt, dass hier alles schon ihm gehört.“ Daisy kniff die Augen zusammen. „Ich werde ihm sagen, dass er uns die Ranch nicht wegnehmen kann. Er hat uns doch schon persönlich kennengelernt. Das muss doch einen Unterschied machen.“

Sara schnappte nach Luft. „Daisy. Das ist es. Genau das ist es!“

„Was genau … jetzt genau?“

„Zeig diesem Mann, wer wir sind“, sagte Sara. „Wer die Dawsons sind. Was die Ranch uns allen bedeutet. Für diesen kleinen Kerl“, sagte sie, beugte sich vor und gab Tony einen Kuss aufs Köpfchen. „Wenn er nur ein halb so gutes Herz hat, wie du glaubst, dann wird er niemals auf der Wette eines Betrunkenen bestehen, die einem Baby, dem er auf die Welt geholfen hat, das Erbe nimmt.“

Daisy starrte Sara beeindruckt an. „Du hast recht. Mr. McCord steht auf Geschäfte? Also, dann werde ich ihm ein Geschäft vorschlagen.“

Harrison war um Punkt sieben Uhr früh in der Cafeteria der Ranch gewesen. Er hatte das Gebäude für sich gehabt. Das Tagesgericht war Western-Omelett. Das hatte er sich gegönnt, dazu Cowboy Joes fantastische Pommes und drei Tassen Kaffee.

Nach dem Frühstück machte er einen langen Spaziergang.

Harrison musste zugeben, dass er sich in die Ranch verliebt hatte. Obwohl seine Mission hier wenig angenehm war, schaffte er es, durchzuatmen, sich zu entspannen. Während er hier war, dachte er nicht an die Arbeit. Oder daran, was mit Bethany passiert war, als er gerade gedacht hatte, dass es ernst würde.

Ich weiß, wie du dich fühlst, Tante Lolly, dachte er. Die Vorstellung, den Rest seines Lebens allein zu verbringen, war trübselig. Aber der Gedanke, es wieder mit einem Date zu versuchen, war auch nicht besser.

Daisy Dawson und ihre blauen Augen kamen ihm in den Sinn. Ihr langes, honigbraunes Haar. Der kleine Tony, der ihr so ähnlich sah mit seinen Pausbäckchen. Harrison lächelte. Dann spürte er, wie dieses Lächeln verblasste. Erst wird die Frau am Altar verlassen. Dann bekommt sie einsam und allein am Straßenrand die Wehen. Dann findet sie heraus, dass irgendein Mistkerl ihrer Familie die Ranch wegnehmen wird.

Er war nicht stolz darauf, dieser „Mistkerl“ zu sein. Er ging davon aus, dass er im Recht war, aber es setzte ihm zu, dass sich das alles nicht wie etwas Geschäftliches anfühlte. Ehrlich gesagt, war es doch persönlich. Es ging nur um Gefühle. Um negative Gefühle.

Das war Harrison nicht gewöhnt. Ihm gefiel es, Geschäfte durch Verträge abzuwickeln. Alles Schwarz auf Weiß, dann noch eine Unterschrift, fertig. Das war sein Ding. Bei Bethany hatte er erst versucht, sich zu öffnen. Aber dann hatte er herausgefunden, dass sie ihn nur benutzt hatte, um an Informationen heranzukommen.

Vielleicht hatte Lolly ja recht. Für sie hatte es kein gebrochenes Herz mehr gegeben, keinen Streit, keine zerstörte Hoffnung oder enttäuschten Erwartungen. Einfach nur ein ruhiges Leben.

Nur musste sie jetzt sterben – ganz allein, abgesehen von Harrison. Ohne Lebensgefährten, ohne jemanden, der an ihrem Bett saß. Er seufzte.

Auf halbem Weg zurück zu seiner Blockhütte erblickte er Daisy Dawson, die mit einer blauen Babytrage vor dem Oberkörper auf seine Hütte zuging. Wollte sie ihn sehen? Oder handelte es sich um ein peinliches zufälliges Treffen?

Sie blieben an der Weggabelung stehen. „Guten Morgen“, sagte er. Er musterte die Tragehilfe. Unter einem gelben Mützchen konnte er Tonys Kopf erkennen.

„Hallo, Herr Geschäftsmann“, sagte sie. Ihre blauen Augen sprühten Funken. „Du stehst doch so auf Deals. Ich hätte da ein Geschäft für dich.“

„Ach ja?“, fragte er.

„Warum unterhalten wir uns nicht in deiner Blockhütte?“

„Okay“, sagte er, und sie gingen nebeneinander weiter.

„Hab dich gar nicht beim Frühstück gesehen“, sagte sie. „Da hast du ein großartiges Omelett verpasst.“

„Ich war da. Sogar als Allererster heute früh. Als ich fertig war, war von den anderen Gästen immer noch keiner zu sehen. Ich hatten den exzellenten Kaffee für mich allein. Und ein fantastisches Omelett mit grandiosen Pommes.“

„Da bin ich aber froh, dass du dich nicht in deiner Hütte verkriechst“, sagte sie und musterte ihn. „Vor allem, wo du doch im Voraus für die ganze Woche bezahlt hast.“

„Ich habe mich hier nicht mehr ganz wohl gefühlt, nachdem ihr jetzt wisst, warum ich hier bin. Aber ich war am Verhungern. Ich habe vor, heute abzureisen.“

Sie runzelte die Stirn. Das verwirrte ihn. Er hätte gedacht, sie wäre begeistert, dass er vorhatte zu verschwinden. „Also, ich freue mich wirklich, dass du Cowboy Joes unglaubliche Pommes erlebt hast. In den letzten Monaten meiner Schwangerschaft hatte ich ganz unglaubliche Gelüste nach denen. Cowboy Joe hat immer drei Portionen für mich reserviert. Sie sind so kross! Und diese winzigen Chilis und die Zwiebeln dazu. Lecker.“

Er starrte sie an. Sie war wirklich … freundlich. Gesprächig.

Seine Blockhütte lag vor ihnen, umgeben von Bäumen und Wildblumen, mit einer Anbindestange davor und einer überdachten Veranda auf der linken Seite. Lolly hätte es hier gefallen.

Er schloss die Tür auf und ging hinein. Der offene Grundriss sorgte dafür, dass der Innenraum hell und luftig und einladend wirkte. Links befand sich eine kleine Kochzeile und dahinter der Wohnbereich. Oben gab es zwei kleine Schlafzimmer mit einem Bad dazwischen. Alle Möbel waren bequem und gleichzeitig solide.

„Was kann ich dir zu Trinken anbieten?“, fragte er.

„Irgendwas Kaltes, Süßes.“

„Ginger Ale?“

„Perfekt!“, sagte sie so freundlich, dass er sie wieder anstarrte. Sie hatte gesagt, dass sie ein Geschäft für ihn hätte. Bei Geschäften ging es normalerweise nicht um Warmherzigkeit und Freundlichkeit. Wenigstens in seiner Welt.

Er ging zum Kühlschrank und fragte sich, was sie im Schilde führte. Wobei sie in dem hellgelben Sommerkleid mit dem weißen Stickmuster eher unschuldig wirkte. Sie hatte einen Schlapphut als Sonnenschutz auf und trug Flip-Flops. Er holte zwei Flaschen Ginger Ale und die Muffins aus dem Kühlschrank, die Cowboy Joe ihm an diesem Morgen noch aufgedrängt hatte, und stellte alles auf den Sofatisch.

Sie saß genau in der Mitte des Sofaelements. Er setzte sich mit angemessenem Abstand auf das Fußende der L-Form. „Tony schläft gerade. Er macht sich echt toll, was das angeht. Heute früh habe ich sogar zwei Minuten lang in Ruhe duschen können.“

Er reichte ihr ein Ginger Ale.

„Hör zu, Daisy“, sagte er. „Wenn es was hilft, mir tut das alles echt leid. Ich meine, die Serviette und alles.“

„Leid genug, um die Serviette zu zerreißen?“, fragte sie und sah ihn unverwandt an.

Wie unangenehm. „Äh, nein. Und das tut mir auch leid.“

„Ertrink nur nicht in deinem Mitleid“, sagte sie. „Ich hab gerade keinen Rettungsring dabei.“

Die Trage vor ihrem Oberkörper bewegte sich, und ein weinerlicher Laut ertönte. Daisy holte Tony heraus und nahm ihn auf den Arm. „Alles gut“, sagte sie und ging auf der anderen Seite des Sofatischs auf und ab.

Er starrte das Baby an, das sich an ihre Brust schmiegte. Tony war so klein! Harrison hatte dabei geholfen, dieses winzige Menschlein auf die Welt zu bringen. Er konnte immer noch kaum glauben, dass das wirklich passiert war. „Fast Zeit fürs Mittagessen, nicht wahr, mein kleiner Liebling?“, gurrte sie und sah das Baby liebevoll an. „Ich sag dir was, lass mich nur noch eine Minute mit Harrison reden und dann machen wir uns auf den Weg. Okay, Süßer?“

Tony hörte auf zu quengeln. Daisy setzte sich wieder.

„Du bist ein Naturtalent als Mutter“, sagte Harrison. „Ich meine, vor zwei Tagen gab es nur dich. Und jetzt hast du ein Baby und du wirkst, als wärst du schon immer Mutter gewesen.“ Er fragte sich, ob es auch so war, Vater zu sein. Nicht, dass es wahrscheinlich war, dass er das selbst erleben würde.

„Das ist ein schönes Kompliment, danke“, sagte sie. „Ehrlich gesagt hatte ich eine Riesenangst, dass ich alles falsch machen würde. Aber das Meiste scheint wirklich instinktiv zu sein. Und den Rest kann man im Internet nachschauen.“

Er lächelte. „Gott sei Dank gibt’s Suchmaschinen.“

„Nicht wahr?“ Sie lächelte und gab Tony ein Küsschen. Dann sah sie Harrison geradewegs in die Augen. „Ich würde dir gerne einen Deal vorschlagen.“

Er war unsagbar neugierig. „Ich bin ganz Ohr.“

„Was du vorhin gesagt hast, von wegen, wie unbehaglich du dich jetzt hier fühlst … das ist das perfekte Stichwort. Ich meine, hier sitzt du nun und denkst wahrscheinlich, dass wir alle gerade Voodoo-Püppchen mit deinem Gesicht basteln oder so und deswegen willst du nach nur drei Tagen schon wieder abreisen.“

Er schauderte bei dem Gedanken daran, wie die sechs Dawsons kleine Stoffpüppchen, die genauso aussahen wie er, mit Nadeln durchbohrten. „Naja, das vielleicht nicht unbedingt. Aber ja, ich nehme an, dass ihr mich jetzt alle verabscheut. Also denke ich, heute abzureisen ist eine gute Idee.“

„Dann bin ich froh, dass ich dich vorher getroffen habe“, sagte sie. „Denn mein Vorschlag ist folgender: Bleib hier. Noch fünf Tage. In der Zeit lerne uns kennen. Unsere Mitarbeiter. Lern die Pferde kennen und die Tiere aus dem Streichelzoo. Schau dir die Ranch an. Reite den Fluss entlang. Hör dir an, wie es war, hier aufzuwachsen. Wie wir hier etwas Besonderes erschaffen für zukünftige Generationen. Für diesen kleinen Mann hier und für die Cousins and Cousinen, die er mal haben wird, wenn meine anderen vier Brüder irgendwann ihr Liebesleben auf die Reihe bringen.“

Er kniff die Augen zusammen. „Du willst, dass ich dich und deine Familie mag, damit ich euch nicht die Ranch wegnehme. Das ist die reine Manipulation.“

„Ja“, sagte sie und rieb Tony sanft den Rücken. „Aber du sagst ja, es geht nur ums Geschäft. Um einen Deal. Ich stehe hier und sage dir, Harrison McCord, dass du uns in fünf Tagen viel zu gern haben wirst, um uns vor Gericht zu zerren.“

Er starrte sie an. Das konnte sie nicht ernst meinen. „Warum in aller Welt sollte ich mich dann darauf einlassen?“

„Weil du ein guter Mensch bist“, sagte sie. „Der Mann, der angehalten hat, um einer Frau am Straßenrand bei der Entbindung zu helfen, der ein teures Anzughemd dabei ruiniert hat, das ist ein freundlicher, großzügiger Mensch. Ich bitte dich, uns eine Chance zu geben, dir zu zeigen, wer wir sind, damit du uns nicht unseren Familienbetrieb wegnimmst.“

Er sollte ins Auto steigen und verschwinden. Er mochte Daisy ja jetzt schon. Und Tony. Aber er musste die Bitte seines Vaters in Ehren halten, Vergeltung für das gebrochene Herz seiner Schwester zu üben. Lolly lag im Sterben. Sein Vater war tot.

Sie sah ihn erwartungsvoll an.

„Ich wollte eigentlich nicht zu solchen Mitteln greifen, Harrison, aber dein Zögern lässt mir keine andere Wahl.“ Sie stand auf und kam ihm viel zu nahe. So nahe, dass er ihr Shampoo oder ihr Parfüm riechen konnte. Oder vielleicht war es Tony und sein magischer Babyduft. Egal was es war, es hüllte ihn ein. Der Geruch und ihre Worte.

Er musste stark bleiben.

Aber auf einmal schwitzte er. „Was für Mittel?“

„Dich anzuflehen. Bitte, bleib. Lerne mich kennen. Lerne meine Brüder kennen. Gib uns eine Chance. Das ist alles, worum ich dich bitte. Es ist nicht manipulativ, wenn ich das klipp und klar sage.“

Das musste er ihr lassen. Sie war verdammt clever. Und die Aufrichtigkeit, die ihr wunderschönes Gesicht zeigte, sorgte dafür, dass er sich ganz unbehaglich fühlte.

„Bitte, Harrison“, wiederholte sie. Diesmal berührte sie seinen Arm. „Gib mir einfach nur eine Chance.“

Oh, verdammt.

Er wandte den Blick von ihren hoffnungsvollen, entschlossenen blauen Augen und dem Baby in ihren Armen ab. Von dem Baby, dem er auf die Welt geholfen hatte.

Himmel. Natürlich musste er Ja sagen. Dann hätte Daisy wenigstens das Gefühl, dass sie alles tat, was sie konnte, um ihn aufzuhalten. Er dagegen wusste bereits, dass er den Dawsons vor Gericht gegenüberstehen würde. Insofern war das eine Win-Win-Situation für beide Seiten. Natürlich nur bis zum bitteren Ende, wenn er sich genau das nehmen würde, weswegen er gekommen war.

Tony wurde wieder unruhig. Harrison wusste, dass sie gehen musste.

Er erhob sich. „Ich würde deine Hand schütteln, wenn du nicht alle Hände voll zu tun hättest. Wir haben einen Deal, Ms. Dawson.“

Erleichterung spiegelte sich auf ihrem Gesicht wider. „Danke. Das werden wir beide nicht bereuen.“

„Das werden wir ja sehen“, sagte er. „Ich sollte dich warnen, Daisy. Ich habe auf jeden Fall vor, das Eigentum an dieser Ranch geltend zu machen. Ganz egal ob ich euch mag oder nicht.“

Sie reckte das Kinn. „Fünf Tage.“

„Fünf Tage“, wiederholte er.

Sie nickte und steckte Tony wieder in die Trage. Dann streckte sie die Hand aus.

Er schüttelte ihre Hand. Sie fühlte sich weich und warm an und … unerwartet voller Spannung.

„Fangen wir mit einem Rundgang über die Ranch an“, sagte sie. „Du hast ja noch fast nichts gesehen.“

„Okay“, stimmte er zu. „Eine Führung.“

Das ist nur ein kleiner Spaziergang. Sie wird dir die Lodge zeigen. Sie wird über ihre Großeltern reden. Du nickst ein bisschen. Dann geht ihr nach einer halben Stunde eurer Wege.

So läuft das dann fünf Tage lang.

Das konnte er schaffen. Ohne Verluste. Da war er sich zu fünfundsiebzig Prozent sicher.

„Ich würde mit der Führung gerne im Haupthaus anfangen“, sagte Daisy. „Da ist etwas, das ich dir zeigen will.“ Oh ja, sie würde Nägel mit Köpfen machen und wusste genau, womit sie anfangen wollte.

Harrison legte den Kopf in den Nacken und schloss eine Sekunde lang die Augen. Der strahlende Sonnenschein glitzerte auf seinem dichten, blonden Haar. „Also, es ist ja ein schöner Tag für die große Führung.“

Einen Augenblick lang erlaubte sie sich, einfach nur zu genießen, wie sexy sein Anblick war. Da ihre Niederkunft erst ein paar Tage her war, war allein die Tatsache, dass ihr das immer wieder auffiel, etwas Besonderes. Sie fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Dass er so sexy war, dass sie seinen Anblick auf rein körperlicher Ebene zu würdigen wusste?

Vielleicht konnte sie nicht anders, als sich zu ihm hingezogen zu fühlen, weil er ihr zu Hilfe gekommen war, als sie wirklich welche gebraucht hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, was sie ohne ihn getan hätte.

Sie hatten das Farmhaus erreicht. Es lag auf einer Anhöhe, dank der Bäume außer Sichtweite vom Rest der Ranch.

„Da sind wir. Home, Sweet Home.“ Sie blieb vor dem Haus stehen und bewunderte es. Früher war es eine traurige Bruchbude mit löcherigem Dach und abblätternder Farbe gewesen. Aber Noah hatte das Haus restauriert und in seinem ursprünglichen Glanz erstrahlen lassen. Auf der Veranda stand eine altmodische Hollywoodschaukel, und überall um das Haus herum blühten Blumen. Daisy liebte das Haus jetzt.

„Also teilst du dir das Haus mit Noah? Und mit Axel?“, fragte Harrison, als sie die Stufen zur Veranda hochgingen.

„Nein, ich habe das Haus für mich. Noah wohnt mit Sara und den Zwillingen im Blockhaus des Vorarbeiters – das ist keine fünfhundert Meter da lang“, fügte sie hinzu und deutete auf den Pfad. „Sara ist dort aufgewachsen, ihr Vater war hier Vorarbeiter. Willst du mal was Nettes über meinen Dad hören? In seinem Testament hat er Sara den Garten hinterlassen, den ihre verstorbene Mutter dort vor Jahren angelegt hat.“

„Das klingt wirklich nett. Sara war bestimmt gerührt.“

Daisy nickte. „Das war sie. Am Ende hatte mein Dad keine zweihundert Dollar mehr in der Tasche. Aber in seinen Briefen hat er uns einen unermesslichen Schatz hinterlassen.“

Er warf ihr einen Blick zu. „Ach ja? Was denn?“

Sie griff nach der Halskette, die sie unter ihrem Oberteil trug. Sie zeigte ihm die beiden Ringe daran. „Die Ringe meiner Mutter. Mein Dad hätte sie im Lauf der Jahre so oft verkaufen können. Aber er hat sie für mich aufgehoben, weil er gewusst hat, dass es mir viel bedeuten würde, sie zu bekommen.“

„Und er hat sie dir in seinem Testament hinterlassen?“, fragte Harrison, als sie die Treppe hinaufgingen.

Daisy legte eine Hand an Tonys Rücken in der Trage und ließ sich vorsichtig auf der Hollywoodschaukel nieder. Harrison setzte sich neben sie – so weit ans andere Ende der Schaukel, wie nur möglich, bemerkte sie. „Jawohl. Meine Mutter ist gestorben, als ich elf war. Ich habe meinen Dad schon damals um die Ringe gebeten. Aber er hat abgelehnt, weil ich sie nur verlieren würde, und gesagt, dass er sie für mich aufbewahren würde. Noah meinte, ich soll mir keine Hoffnungen machen und dass unser Dad sie wahrscheinlich verkauft hat, um seine Alkohol- und Spielsucht zu finanzieren. Aber ich hab mich in das Schlafzimmer von meinem Dad geschlichen und die Ringe unter seinen Socken in der Schublade gefunden.“

„Das muss eine Erleichterung gewesen sein“, sagte Harrison. Ein paar Sekunden lang erfüllte Wärme seinen Blick.

Sie nickte. „Mehr als nur eine Erleichterung. Mein Dad war schon immer ein Alkoholiker und er hat es nie geschafft, einer Frau treu zu sein. Schon mit elf habe ich gewusst, dass er meine Mom betrügt. Aber ich wollte trotzdem an meinen Dad glauben, weißt du. Glauben, dass er kein … kein schlechter Mensch war.“

„Das verstehe ich absolut“, sagte er – so sanft, dass sie beinahe in Tränen ausbrach. Es war für sie nie leicht, über ihren Dad zu sprechen. Dass Harrison so aufmerksam zuhörte und so freundlich und mitfühlend war, ließ fast alle Dämme brechen.

Sie wünschte sich beinahe, er würde einen Arm um sie legen. Im Augenblick könnte sie sogar eine Viertelumarmung brauchen. Aber ganz ehrlich – Harrison McCord war der Letzte, der sie trösten könnte. Er räusperte sich, als ob ihm das auch gerade klar geworden war, in Anbetracht seiner Mission. „Also, du wolltest mir etwas zeigen?“

Warum hatte sie gedacht, das wäre eine gute Idee? Vielleicht sollte sie diesen Teil ihres brillanten Plans lieber vergessen, denn er kam ihr auf einmal ein bisschen zu persönlich vor. Wenn sie ihn in ihr Haus und in ihre Vergangenheit, in ihre Familie einlud, würde sie sich völlig verletzlich fühlen. Ausgeliefert.

Aber die Sache persönlich zu machen ist der Plan, rief sie sich in Erinnerung und erhob sich. Reiß dich zusammen und komm zur Sache. Ganz persönlich.

„Hier entlang“, sagte sie und zeigte auf die Haustür.

Oh nein, dachte Harrison, als ihm klar wurde, was genau Daisy Dawson für ihn geplant hatte. Ein Wort: Heimkino. Sie saßen mit Eistee und Scones auf dem Sofa. Tony schlief im Stubenwagen neben ihnen. Der große Flachbildschirm zeigte Anthony Dawson und seine Frau Bess vor fünfzig Jahren, wie sie vor dem Schild zur großen Eröffnung der Gästeranch standen und strahlten. Das Video war nicht besonders gut erhalten, aber das verstärkte nur seinen Charme. Harrison fiel die Familienähnlichkeit ins Auge; Daisy sah ihrer Großmutter sehr ähnlich.

„Willst du was Verrücktes hören? Meine Großeltern haben sich als Teenager auf einer Gästeranch kennengelernt. Gramps war sechzehn und Gram fünfzehn. Sie waren beide mit ihren Familien im Urlaub. Sie haben zwei Stunden voneinander entfernt gewohnt, aber sie haben sich Briefe geschrieben. Und als Gram achtzehn geworden ist, haben sie geheiratet. Ihr Lebenstraum war, ihre eigene Gästeranch aufzumachen. Und diesen Traum haben sie wahrgemacht.“

Er starrte den Bildschirm an, wo gerade Anthony Dawson Bess Dawson einen Kuss gab und beide vor Glück und Stolz strahlten, während sie das rote Band am Tor zur Ranch mit einer riesigen Schere durchschnitten.

Das Video schwenkte zu den Stallungen, wo die Dawsons und zwei Mitarbeiter einer Reihe von Kindern auf Ponys halfen.

„Siehst du das Kind ganz hinten, den Jungen, der dem kleinen Mädchen versichert, dass das Pony ganz lieb ist?“, fragte Daisy und griff nach einem Scone. „Das ist mein Dad. Da war er ungefähr zehn. Meine Großeltern haben immer gesagt, was für eine große Hilfe er als Kind war. Er hat den anderen Kindern immer gezeigt, wie man alles macht, hat den Stadtkindern erklärt, warum man keine Angst vor einem Pferd haben muss oder davor, von einem Schaf gefressen zu werden.“ Sie biss sich mit einem wehmütigen Lächeln auf die Lippe. „Tut gut, diese alten Filme mal wieder zu sehen.“

Harrison schaute weiter zu. Bo Dawson im Lauf der Jahre, wie er als Kind und als Teenager auf der Ranch gearbeitet hatte. Bo hatte ein strahlendes Lächeln und machte Witze, die die Kinder zum Lachen brachten. Die Kinder himmelten Bo offensichtlich an. Er wirkte gutmütig und unbekümmert. Und als wäre er ein kleiner Unruhestifter.

Das Video machte ein paar Zeitsprünge nach vorne. Die Dawsons wurden älter. Bo tauchte im Lauf der Zeit mit drei unterschiedlichen Frauen auf – den Müttern seiner Kinder. Auf der Ranch tobten die Enkelkinder herum. Da saß Daisy als entzückendes kleines Mädchen auf einer Koppel und las den Ziegen ein Buch vor. Viele Clips von den sechs Enkelkindern der Dawsons gab es nicht, aber einer berührte Harrison wirklich: Anthony, Bess, Bo und die sechs Kinder saßen um einen großen Tisch im Esszimmer herum. Ein Kuchen mit brennenden Kerzen stand vor einem der Jungen. Es musste schön sein, so eine große Familie zu haben. Als Einzelkind hatte Harrison viel Zeit allein verbracht.

Er starrte auf den Bildschirm und beobachtete, wie das Geburtstagskind die Kerzen ausblies und die Kinder klatschten. Bo Dawson stand auf und schnitt den Kuchen an. Als der Kuchen gegessen war, verkündete Bo, dass er ein besonderes Geschenk für Ford hatte. Die ganze Truppe sprang auf und die Kamera folgte ihnen nach draußen, wo ein Mountainbike mit einer großen, roten Schleife am Lenker wartete.

Ford schlang die Arme um seinen Vater und einen Augenblick sah es so aus, als ob Bo Dawson zu Tränen gerührt war. Doch dann ließ er seinen Sohn frei, und alle beobachteten, wie Ford losfuhr.

Ein um Aufmerksamkeit heischendes Quengeln ertönte aus dem Stubenwagen. Harrison war noch nie so dankbar für Babygeschrei gewesen. Er stand auf. Sein Kragen schien ihm die Kehle zusammenzuschnüren, und er hatte ein flaues Gefühl im Magen.

„Äh, Daisy, mir ist gerade eingefallen, dass ich meiner Tante Lolly versprochen habe, heute früher zu kommen. Vielleicht können wir den Rest der Führung verschieben.“ Er brauchte frische Luft. Und Abstand.

Sie ging zum Stubenwagen und hob Tony hoch. Dann schmiegte sie das Baby an sich. „Natürlich. Vielleicht ein andermal. Das Filmmaterial von vor dem Wiederaufbau bis zu dem Tag, an dem ich geholfen habe, das Banner für die große Wiedereröffnung aufzuhängen – das ist einfach fantastisch.“

Er war sich nicht sicher, ob er davon irgendwas sehen wollte. Nein, er wusste ganz genau, dass er das nicht wollte. Das war alles zu viel für ihn. „Also, ich melde mich dann wieder bei dir.“

Genau. Freundlich bleiben, aber unpersönlich. „Ich melde mich dann“ war sicher und unverfänglich.

Sie musterte ihn. „Ach ja – das hätte ich beinahe vergessen! Ich muss dich um einen Gefallen bitten, Harrison.“

Er schluckte schwer. Wie sollte er innerlich auf Abstand gehen, wenn er ihr Gefallen tat?

Sie schenkte ihm dieses bezaubernde Lächeln. Das Lächeln, das so eine anziehende Wirkung auf ihn hatte wie sonst nichts auf der Welt. „Wenn du so gegen fünf Uhr nicht beschäftigt bist, wäre ich dir wirklich dankbar, wenn du mir helfen würdest, die Wiege zusammenzubauen, die mein Bruder Rex für Tony bestellt hat. Die Anweisungen sind meterlang und ich versteh nur Bahnhof. Axel ist vielleicht genial, wenn es um GPS und Landkarten geht, aber gib ihm eine einfache Aufbauanleitung und er hält das Papier falsch herum …“

Oh. Das war beinahe eine Erleichterung. Er würde die Wiege allein zusammenbauen. Ohne Unterhaltung. Ohne Familienvideos. Nur er, eine Bauanleitung und fünftausend Einzelteile einer Babywiege. „Ich bin handwerklich durchaus geschickt. Klar, da kann ich dir helfen.“

„Perfekt“, sagte sie. „Dann sehen wir uns so um fünf.“

Ein paar Minuten später, als er auf der Veranda stand, hatte er das Gefühl, den Kürzeren gezogen zu haben.

Es könnte sein, dass Harrison jetzt schon mehr für Daisy Dawson empfand – und heute war der erste Tag ihrer Abmachung.

5. KAPITEL

Tante Lolly war nicht nur wach, als Harrison im Hospiz „Gentle Winds“ ankam, sie unterhielt sich gerade mit einer Frau in ihrem Alter. Harrison war der Besucherin noch nie begegnet. Sie war zierlich und hatte kurze, blonde Locken.

„Harry“, sagte Lolly und richtete sich auf. Er war froh, sie mal wach zu sehen, aber sie hörte sich erschöpft an. „Ich will, dass du meine Freundin Eleanor kennenlernst. Sie hat einen entzückenden Hund.“

Lolly hatte eine Freundin? Seines Wissens hatte Lolly die letzten zehn Jahre ganz zurückgezogen gelebt. Als er sie gefragt hatte, ob er irgendwem Bescheid sagen sollte, dass sie im Hospiz war, hatte sie das entschieden verneint.

Er streckte die Hand aus, und die Frau erwiderte seinen Händedruck und lächelte ihn warmherzig an. „Ich bin Harrison McCord, Lollys Neffe. Schön, Sie kennenzulernen. Wohnen Sie auch in Prairie City?“

Eleanor nickte. „Nur zwei Häuser neben Lollys.“ Sie drehte sich zu Lolly um. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass du krank bist.“ Sie runzelte die Stirn. „Ich hab zufällig unseren Postboten gefragt, ob sie verreist ist oder so. Und da hat er mir erzählt, sie wäre im Hospiz. Ich war schockiert.“

Als sie sich zu Lolly umdrehten, war klar, dass sie eingeschlafen war. Das tat sie oft, manchmal mitten im Gespräch.

„Lolly ist ziemlich zurückhaltend“, sagte Harrison. „Aber ich bin froh, dass Sie hergekommen sind. Das hat Lolly ganz offensichtlich viel bedeutet.“

„Sie ist so ein wunderbarer Mensch. Haben Sie gewusst, dass sie eine Dose Hunde-Leckerli gekauft hat, nur damit sie immer welche für die Hunde in der Tasche hatte, denen sie auf ihren Spaziergängen begegnet ist?“

Harrison lächelte. Das klang ganz nach Lolly. „Sie hat Tiere schon immer geliebt.“

„Ihr Freund muss ja am Boden zerstört sein“, sagte Eleanor. „Ich habe die beiden ein paarmal zusammen gesehen. Sie sahen so glücklich aus, wie sie Händchen gehalten haben.“

Harrison schnappte nach Luft. „Warten Sie mal. Lolly hatte einen Partner?“

„Nun ja, ich habe sie mal nach ihm gefragt. Da hat sie gelächelt und gesagt, sie sei dabei, das Terrain zu sondieren. Dabei hat sie übers ganze Gesicht gestrahlt.“

Oh. Was war mit dem Mann passiert? Seit Lolly vor elf Tagen im Hospiz eingeliefert worden war, hatte niemand sie besucht.

„Kennen Sie zufällig seinen Namen?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Er sah aus, als ob er ungefähr in ihrem Alter war, so Mitte sechzig. Groß. Silberne Brille.“

Er griff in seine Brieftasche, holte eine seiner Visitenkarten heraus und schrieb seine Handynummer auf die Rückseite. „Falls Sie ihn wiedersehen, sagen Sie ihm bitte, dass ich gerne mit ihm über Lolly reden würde?“

„Das mache ich“, sagte sie, griff nach ihrer Handtasche und erhob sich. „Ich lass sie dann mal schlafen. War schön, Sie kennenzulernen, Harrison. Es tut mir so leid wegen Lolly.“ Kurz legte sie eine Hand auf Harrisons Arm.

Er sah seine Tante an, die friedlich schlummerte. Er wollte sie wecken und nach dem Mann fragen. Aber Lolly hatte ihn nie erwähnt. Hatten sie sich getrennt? Hatte Lolly ihm nicht gesagt, wie krank sie war?

Seine Fragen würden warten müssten. Es war fast vier, und um fünf musste er bei Daisy sein, um die Wiege zusammenzubauen.

Lolly und ihre „Sondierungen“ änderten jedoch nichts. Bo Dawson hatte die Ranch verwettet und verloren, und jetzt gehörte sie der Familie McCord. Ende der Geschichte.

Aber er hoffte definitiv, dass Lolly jemanden liebgewonnen hatte. Der Gedanke daran, wie seine Tante Händchen mit jemandem hielt, der sie glücklich machte, ließ ihm warm ums Herz werden wie schon lange nichts mehr.

Das Einzige, was an dieses Gefühl heranreichte, war der Gedanke daran, Daisy wiederzusehen. Er musste nur jedem Gespräch und allen Familienvideos aus dem Weg gehen. Dann war alles gut.

„Melde mich zum Arbeitseinsatz“, sagte Harrison, als er die Verandatreppe heraufkam. „Ran an die Wiege.“

Es überraschte sie, dass sein Enthusiasmus sie zum Lächeln bringen konnte. Aber das tat er. „Ich habe alles im Wohnzimmer.“

Er folgte ihr ins Haus. Der Gedanke, dass sie ihn erst gestern rausgeschmissen hatte, war verrückt. Und dann waren sie zusammen auf diesem Sofa gesessen und sie hatte ihm Szenen aus ihrer Familiengeschichte gezeigt. Jetzt würde er die Wiege für ihr Baby zusammenbauen. Als ob er ein geschätzter Freund der Familie wäre. Als ob!

Aber sie war sich so sicher, dass ihr Plan funktionieren würde. Das musste er.

„Wie war dein Besuch bei deiner Tante?“, fragte sie.

Er zögerte. „Sie war kurz wach. Das war schön. Und als ich hinkam, war eine Freundin von ihr da, die nicht gewusst hatte, dass Lolly im Hospiz ist, bis der Postbote das erwähnt hat. Lolly ist ziemlich zurückhaltend.“

„Ich bin froh, dass sie eine Freundin hat, die sich um sie kümmert“, sagte Daisy.

Wieder ein Zögern. „Ich auch“, sagte er schließlich.

Dann: „Hier wäre ein guter Platz für die Wiege.“ Er warf einen Blick auf das große Fenster neben dem Kamin.

„Das denke ich auch“, sagte sie.

Er lächelte und setzte sich vor die große Kiste, auf der sich die fünfseitige Bauanleitung und der alte Werkzeugkasten ihres Großvaters befand. „Schläft Tony gerade oben?“

„Nein, mein Bruder Axel hat ihn auf einen Spaziergang mitgenommen.“

Harrison legte die Bauanleitung weg und griff nach dem Werkzeugkasten. Er nahm ein paar Sachen heraus. Dann holte er die Bauelemente aus der Kiste und legte die Holzteile sowie die Dübel und Muttern und Schrauben in ihren kleinen Tüten um sich herum. „Ich bin überrascht, dass nur Noah und du zurückgekommen seid, um die Ranch wiederaufzubauen. Hatten die anderen zu viel zu tun?“

„Ja, das auch. Aber es war wohl eher, dass schlechte Erinnerungen sie ferngehalten haben. Mein Vater war echt schwierig. Als er die Ranch vor fünfzehn oder sechzehn Jahren übernommen hat, haben der Vorarbeiter und die anderen Mitarbeiter die Hauptarbeit gemacht. Und er als Boss war entweder feiern oder hat irgendwo seinen Rausch ausgeschlafen. Innerhalb eines Jahres war die Ranch am Ende.“

Harrison zog eine Augenbraue hoch. „Dein Dad kann doch gar nicht so schrecklich gewesen sein, wenn meine Tante sich so in ihn verlieben konnte.“

„Oh, er hat immer die wunderbarsten Frauen angezogen, die ihn ehrlich geliebt und die gedacht haben, sie könnten ihn dazu bringen, zur Ruhe zu kommen und mit dem Trinken aufzuhören.“

Er starrte sie an. „War er Alkoholiker?“

„Oh ja. Darum hat er die Ranch so vernachlässigt. Und als unser Vorarbeiter schließlich genug hatte und gekündigt hat, da musste mein Vater die Tiere verkaufen. Das war sehr traurig.“

Daisy schüttelte den Kopf. „Er hat seinen Truck bestimmt dreimal in die Scheune gefahren, wenn er betrunken nach Hause gekommen ist“, fuhr sie fort. „Noah hat mir erzählt, wie er die Autoschlüssel versteckt hat, damit unser Dad nicht fahren konnte. Einmal hat er Noah geschlagen, damit er ihm nicht mehr zusetzt.“

„Das hört sich echt übel an“, sagte Harrison. „Noah war doch erst ein Teenager.“

Daisy nickte. Schuldgefühle lagen ihr schwer im Magen. „Ich war auf dem College. An dem Tag, an dem er achtzehn Jahre alt geworden ist, hat er die Ranch verlassen. Als Noah weg war, gab es für keinen von uns noch einen Grund, nach Hause zu kommen.“ Tränen brannten ihr in den Augen, und sie blinzelte heftig.

„Das tut mir sehr leid“, sagte Harrison. Er sah so erschüttert aus, dass sie wusste, er meinte das ernst. Das alles laut auszusprechen, war ihr sehr schwergefallen. Es war hart gewesen, das alles zu erleben. Aber das war jetzt die Vergangenheit.

„Ich denke, er hat die Wette und die Serviette wegen seiner Alkoholsucht nie erwähnt“, fügte sie hinzu. „Wahrscheinlich war er wie üblich betrunken. Und als dein Dad die Ranch nicht wollte, da haben sie beide aufgeben.“

Harrison legte die Bauanleitung weg. „Dann denkst du, ich sollte auch aufgeben.“

„Ja“, sagte Daisy. „Das tue ich. Das Ganze ist zehn Jahre her, Harrison. Sie sind beide tot.“

Autor

Melissa Senate

Melissa Senate hat viele Romane für Harlequin Enterprises und andere Verlage geschrieben, inklusive ihres ersten veröffentlichten Romans „See Jane Date“, der für das Fernsehen verfilmt wurde. Unter dem Pseudonym Meg Maxwell war sie auch Autorin von sieben in der Harlequin Special Edition-Reihe erschienenen Büchern. Ihre Romane werden in über...

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