Das Weihnachtswunder von Westwood

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Zu Weihnachten liegt Liebe in der Luft

Der Milliardär Duncan Patrick hat eigentlich keine Probleme. Nur sein Vorstand ist der Meinung, dass sein Name nicht schon wieder in den Top 3 der schlechtesten Arbeitgeber des Landes auftauchen soll. Als Duncan dann zufällig vor der süßen Erzieherin Annie McCoy steht, hat er eine Idee: Annie soll ihn bis Weihnachten bei allen wichtigen Terminen begleiten. Im Gegenzug erlässt er ihrem Bruder die Hälfte seiner Schulden. Tatsächlich schlägt Annie in den Handel ein und verhilft Duncan zu einem besseren Ansehen. Aber macht sie ihn auch zu einem besseren Menschen? Das wäre schon ein absolutes Weihnachtswunder!

»Susan Mallery ist eine Klasse für sich!« Romantic Times Book Reviews

»Liebesromane können kaum besser sein als Mallerys Mischung aus emotionaler Tiefe, Humor und erstklassigem Erzählen.« Booklist



  • Erscheinungstag 22.09.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783745751963
  • Seitenanzahl 320
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Liebe Leser*innen,

es gibt so viele Dinge, die ich an dieser Jahreszeit mag. Die kalten Tage und Nächte, die Weihnachtsdekorationen, all die verlockenden, festlichen Spezialitäten. Aber vor allem liebe ich es, mich vor einem knisternden Feuer zusammenzurollen, in der einen Hand eine Tasse heiße Schokolade, in der anderen einen wunderbaren Liebesroman. Wenn die hektische Zeit beginnt, versuche ich immer, ein paar ruhige Abende zu Hause einzuplanen und mich selbst ein bisschen zu verwöhnen.

Für meinen Helden Duncan Patrick sind die Feiertage überhaupt nichts Besonderes. Er glaubt nicht an Traditionen oder Familie, ja, noch nicht mal daran, dass man nett zu anderen Menschen sein sollte. Er wüsste nicht, weshalb. Für ihn geht es im Leben nur darum, wie viel Profit er am Ende herausschlagen kann. Er ist so erfolgreich, dass er jegliches Gefühl verloren hat für das, was wirklich zählt.

Ich gebe zu, dass ich diese Art von Helden liebe. Männer, die total auf dem Schlauch stehen und schlicht nicht sehen, was das Richtige für sie ist. Dabei ist es nicht die Liebe einer netten Frau, die ihr Leben verändert – es ist die Tatsache, dass sie eine nette Frau lieben. Es wird jemand ganz Spezielles brauchen, um Duncans Aufmerksamkeit zu erregen, und Annie McCoy ist genau die richtige Person dafür.

Es ist nicht so, als wäre Annie auf der Suche nach einem mächtigen, entschlossenen, dickköpfigen Typen, um ihr Bett zu wärmen, doch genau das wird sie bekommen. Und ich glaube, sie wird mir noch dankbar dafür sein.

Ich hoffe, Sie werden genauso viel Spaß daran haben, diese Geschichte zu lesen, wie ich es genossen habe, sie zu schreiben. Wie auch immer Sie diese Zeit des Jahres zelebrieren – mögen Ihre Tage von Freude und Glück erfüllt sein und mögen Sie sie mit den Menschen verbringen, die Sie lieben.

Susan Mallery

Prolog

CEO schaltet Konkurrenz aus

CEO Duncan Patrick hat wieder einmal seine Konkurrenten unschädlich gemacht. Der Speditions-Milliardär beschließt das Jahr mit dem Erwerb zweier neuer Unternehmen, darunter eine kleine europäische Spedition und eine äußerst profitable Eisenbahnstrecke in Südamerika. Nachdem Patrick Industries nun den weltweiten Speditions-Markt beherrscht, hätte man meinen können, dass der betuchte Milliardär es sich leisten könnte, etwas freundlicher zu anderen zu sein. Doch das ist anscheinend nicht der Fall: Zum zweiten Mal in Folge wurde Duncan zum miesesten CEO des Jahres gekürt. Da überrascht es nicht, dass der zurückgezogen lebende Milliardär nicht bereit war, sich für diesen Artikel interviewen zu lassen.

»Das ist ungeheuerlich«, sagte Lawrence Patrick und knallte die Wirtschaftszeitung auf den Besprechungstisch der Vorstandsetage.

Duncan lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und unterdrückte ein Gähnen. »Wär’s dir lieber gewesen, ich hätte das Interview gegeben?«

»Darum geht es nicht, und das weißt du auch.«

»Worum geht es denn dann?«, fragte Duncan und wandte sich von seinem Onkel ab und den anderen Vorstandsmitgliedern zu. »Kommt zu viel Geld rein? Sind die Investoren unzufrieden mit ihren Erträgen?«

»Es geht darum, dass du ständig negative Schlagzeilen machst«, blaffte Lawrence. »Du hast einen Trailerpark gekauft und dann sämtliche Bewohner rausgeschmissen. Die meisten von ihnen waren alt und mittellos.«

»Der Trailerpark befand sich direkt neben einer der größten Speditionsanlagen, die wir besitzen. Ich brauchte das Gelände, um zu expandieren, und der Vorstand hat den Kauf gutgeheißen.«

»Was wir nicht gutheißen, ist, alte Damen vor laufender Kamera weinen zu sehen, weil sie nicht wissen, wohin.«

Duncan rollte mit den Augen. »Ach, bitte. Es war Teil der Abmachung, dass wir den Bewohnern einen neuen Trailerpark zur Verfügung stellen, in dem sie größere Grundstücke haben und der sich in einem Wohn- statt in einem Industriegebiet befindet. Direkt vor dem Haupteingang fährt ein Bus ab. Wir haben sämtliche Kosten übernommen, niemand hat irgendwelche Verluste erlitten. Die Medien haben einfach nur versucht, eine große Story daraus zu machen.«

Eines der anderen Vorstandsmitglieder funkelte ihn wütend an. »Wollen Sie auch abstreiten, dass Sie Ihre Konkurrenz regelmäßig in den Ruin treiben?«

»Keineswegs. Wenn ich eine Firma erwerben möchte, der Besitzer sie mir aber nicht verkaufen will, finde ich eben einen anderen Weg.« Er richtete sich auf seinem Stuhl auf. »Einen legalen Weg, meine Herren. Sie alle haben in meine Firma investiert und außergewöhnliche Profite erwirtschaftet. Was die Presse von mir oder meiner Firma hält, ist mir scheißegal.«

»Genau da liegt das Problem«, sagte sein Onkel. »Uns ist das nämlich nicht egal. Patrick Industries hat einen entsetzlichen Ruf, genau wie du.«

»Und beides ist ungerechtfertigt.«

»Das spielt keine Rolle. Die Firma gehört nicht dir allein, Duncan. Du hast uns mit ins Boot geholt, als du Geld brauchtest, um deinen Partner rauszukaufen. Du bist uns Rechenschaft schuldig, das ist Teil unserer Vereinbarung.«

Duncan gefiel nicht, was er da hörte. Er war derjenige gewesen, der aus Patrick Industries – einem kleinen Unternehmen, das in großen Schwierigkeiten steckte – ein Imperium von Weltrang gemacht hatte. Nicht der Vorstand – er.

»Wenn ihr mir jetzt drohen wollt …«, setzte er an.

»Wir wollen Ihnen nicht drohen«, erwiderte ein anderes Vorstandsmitglied. »Duncan, uns ist klar, dass zwischen ›schonungslos‹ und ›mies‹ ein Unterschied besteht. Doch die Öffentlichkeit weiß das nicht. Wir wollen Sie daher bitten, sich in den nächsten paar Monaten etwas netter zu verhalten.«

»Du sollst aus dieser Liste verschwinden«, bekräftigte sein Onkel und wedelte mit der Zeitung. »Bald ist Weihnachten. Such dir eine gute Sache, für die du dich einsetzen kannst. Spende für Waisenkinder, rette einem Welpen das Leben, finde ausnahmsweise mal eine nette Frau, mit der du ausgehen kannst. Verdammt – es ist uns sogar egal, ob du dich wirklich änderst. Was zählt, ist die Außenwirkung. Das weißt du nur zu gut.«

Duncan schüttelte ungläubig den Kopf. »Dann ist es euch also egal, ob ich der mieseste Kerl auf der Welt bin, solange nur niemand etwas davon weiß?«

»Genau.«

»Nichts leichter als das«, sagte er und erhob sich. Er spielte gerne ein paar Monate lang den netten Typen von nebenan – währenddessen würde er genügend Geld auftreiben, um die Anteile sämtlicher Vorstandsmitglieder aufzukaufen. Und danach würde er sich überhaupt nicht mehr darum kümmern müssen, was andere von ihm dachten. Denn genau so war es ihm am liebsten.

1. Kapitel

Mit dem platten Reifen konnte Annie McCoy leben. Ihr Auto war alt, und die Reifen hätten schon im vergangenen Frühjahr ersetzt werden sollen. Ebenso konnte sie die Tatsache akzeptieren, dass der kleine Cody Erde auf dem Spielplatz gegessen hatte und sich daraufhin auf ihren Lieblingsrock erbrochen hatte. Und auch über die Benachrichtigung ihres Stromanbieters, der sie überaus höflich darauf hinwies, dass sie – wieder einmal – mit ihren Zahlungen im Rückstand war und man daher ihren monatlichen Abschlag erhöhen würde, beschwerte sie sich nicht. Die Sache war nur, dass all das an ein und demselben Tag passierte. Konnte das Universum ihr nicht mal eine winzige Verschnaufpause gönnen?

Sie stand vor ihrer leicht durchhängenden Veranda und sah schnell den Rest der Post durch. Keine weiteren Rechnungen – es sei denn, es handelte sich bei diesem offiziell aussehenden Brief von der University of California um eine Rechnung über Studiengebühren. Die gute Nachricht war, dass ihre Cousine Julie gerade ihr erstes Studienjahr an der prestigereichen Universität absolvierte. Die schlechte lautete, dass jemand dafür zahlen musste. Sogar wenn man nicht auf dem Campus, sondern noch zu Hause wohnte, waren die Kosten horrend, und Annie tat ihr Bestes, um ihr unter die Arme zu greifen.

Das Problem nehme ich mir später vor, dachte sie, während sie auf die Eingangstür zuging und sie öffnete.

Drinnen angekommen stellte sie die Tasche auf dem kleinen Tisch neben der Tür ab und ließ die Briefe in das mit Makkaroni und Goldspray verzierte Postkistchen fallen, das ihre Kitagruppe letztes Jahr für sie gebastelt hatte. Dann ging sie in die Küche, um einen Blick auf den Wochenplan zu werfen.

Es war Mittwoch. Julie hatte einen Abendkurs; Jenny, Julies Zwilling, absolvierte ihre Schicht in einem Restaurant in Westwood; Kami, die Austauschstudentin aus Guam, traf sich mit Freunden im Einkaufszentrum. Annie hatte also das Haus für sich … zumindest für ein paar Stunden. Ein Geschenk des Himmels.

Sie ging zum Kühlschrank, holte den Weißweinkarton heraus und zapfte sich ein Glas ab. Dann kickte sie die Schuhe von den Füßen und lief barfuß in den Garten.

Das Gras unter ihren Füßen fühlte sich angenehm kühl an. Überall entlang des Zauns wuchsen und blühten opulente Pflanzen. Schließlich befanden sie sich in L. A., wo man praktisch alles anbauen konnte – solange man kein Problem damit hatte, die Wasserrechnung zu bezahlen. Annie hatte durchaus ein Problem damit, doch die Pflanzen liebte sie mehr. Sie erinnerten sie an ihre Mom, die eine passionierte Gärtnerin gewesen war.

Sie hatte sich kaum auf der alten, quietschenden Holzschaukel neben der Bougainvillea niedergelassen, als die Türklingel ertönte. Sie überlegte kurz, sie zu ignorieren, brachte es dann aber doch nicht über sich. Also ging sie wieder hinein, öffnete und starrte überrascht den Mann an, der da auf ihrer Veranda stand.

Er war groß und gut gebaut. Der perfekt geschnittene Anzug vermochte seine Muskeln an Armen und Brust kaum zu verbergen, sodass es wirkte, als könnte er sich ohne Probleme etwas als Türsteher dazuverdienen. Er hatte dunkles Haar sowie die kältesten grauen Augen, die sie je gesehen hatte. Zudem sah er ernsthaft verärgert aus.

»Wer sind Sie?«, fragte er anstelle einer Begrüßung. »Die Freundin? Ist Tim hier?«

Annie wollte gerade ein »T« mit ihren beiden Händen formen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Zum Glück erinnerte sie sich rechtzeitig daran, dass sie ein Weinglas in der Hand hielt, und schaffte es gerade noch, den Inhalt nicht zu verschütten.

»Hallo«, sagte sie und wünschte sich, sie wäre so geistesgegenwärtig gewesen, einen Schluck zu nehmen, ehe sie die Tür öffnete. »Das ist doch sicher die Grußformel, mit der Sie das Gespräch eigentlich einleiten wollten.«

»Wie bitte?«

»Ein freundliches ›Hallo‹.«

Das Gesicht des Mannes verfinsterte sich. »Ich habe keine Zeit für Small Talk. Ist Tim McCoy hier?«

Sein Ton wurde keineswegs freundlicher, ebenso wenig wie seine Worte. Sie stellte ihr Glas auf dem winzigen Tisch neben der Tür ab und machte sich auf das Schlimmste gefasst.

»Tim ist mein Bruder. Und wer sind Sie?«

»Sein Chef.«

»Oh.«

Das kann nichts Gutes bedeuten, dachte sie und trat zurück, um den Mann hereinzulassen. Tim hatte nicht viel über seine noch recht neue Stelle erzählt, und Annie hatte Angst gehabt nachzufragen. Tim war … nun ja: ziemlich unberechenbar. Nein, das stimmte so nicht ganz, er konnte richtig süß und fürsorglich sein. Aber er hatte auch eine teuflische Seite an sich.

Der Mann trat ein und blickte sich im Wohnzimmer um. Es war klein und ein bisschen schäbig, aber heimelig, fand Annie. Jedenfalls redete sie sich das ein. An der Wand hingen ein paar gebastelte Papiertruthähne, und auf dem Couchtisch standen zwei schlichte Kerzenständer. Die würden jedoch an diesem Wochenende verschwinden, wenn sie mit der Weihnachtsdeko ernst machte.

»Ich bin Annie McCoy«, sagte sie und streckte ihm die Hand hin. »Tims Schwester.«

»Duncan Patrick.«

Sie schüttelten sich die Hände. Annie versuchte, nicht zusammenzuzucken, als seine großen Finger ihre umfassten. Glücklicherweise drückte der Mann nicht zu. So wie er aussah, hätte er ihre Knochen im Nu zu Staub zermahlen können.

»Oder zu Mehl, um ein Brot daraus zu backen«, murmelte sie.

»Wie bitte?«

»Oh, Entschuldigung. Ich hatte nur ein Märchen-Flashback. Die Hexe in Hänsel und Gretel – will die nicht die Knochen der beiden zu Mehl verarbeiten, um sich ihr Brot daraus zu backen? Ach nein, das sind die Riesen. Ich weiß es nicht mehr. Mist, jetzt muss ich das nachlesen.«

Duncan sah sie stirnrunzelnd an und trat einen Schritt zurück.

Sie konnte nicht umhin zu kichern. »Keine Sorge, das ist nicht ansteckend. Mir kommen nur manchmal seltsame Gedanken. Aber das wird nicht auf Sie überspringen, nur weil Sie sich im gleichen Raum befinden wie ich.« Sie hörte auf zu plappern und räusperte sich. »Was meinen Bruder betrifft, der wohnt hier nicht.«

Duncan runzelte erneut die Stirn. »Aber das hier ist doch sein Haus.«

Lag es an ihr oder war Duncan nicht gerade der Hellste? »Er wohnt hier nicht«, wiederholte sie etwas langsamer. Vielleicht lag es an den ganzen Muskeln. Zu viel Blut im Bizeps und nicht genug im Gehirn.

»Das habe ich verstanden, Ms. McCoy. Aber besitzt er dieses Haus? So hat er es mir nämlich erzählt.«

Annie gefiel überhaupt nicht, was sie da hörte. Sie ging zu dem Sessel hinüber, der neben der Tür stand, und hielt sich an der Lehne fest. »Nein. Das hier ist mein Haus.« Panik stieg in ihr auf, ihr wurde beinahe schlecht. »Weshalb fragen Sie?«

»Wissen Sie, wo Ihr Bruder sich aufhält?«

»Momentan nicht.«

Das ist übel, dachte sie verzweifelt. Sie spürte, dass etwas Schlimmes hinter seinen Fragen steckte. Duncan Patrick sah nicht aus wie jemand, der einfach nur aus Spaß vorbeikam. Was bedeutete, dass Tim diesmal etwas besonders Dummes angestellt haben musste.

»Sagen Sie es mir doch einfach«, sagte sie schnell. »Was hat er getan?«

»Er hat Gelder meiner Firma veruntreut.«

Der Raum um sie herum begann leicht zu schwanken. Annie drehte sich der Magen um, und sie fragte sich, ob sie es dem kleinen Cody gleichtun und sich auf ihren Rock übergeben würde.

Tim hatte seinen Arbeitgeber bestohlen. Fast hätte sie gefragt, wie es dazu kommen konnte, doch sie kannte die Antwort bereits. Tim hatte ein Problem: Er liebte das Glücksspiel. Und zwar über alle Maßen. Die Tatsache, dass sie nur fünf Autostunden von Las Vegas entfernt wohnten, machte das Ganze nicht einfacher.

»Wie viel?«, fragte sie flüsternd.

»Zweihundertfünfzigtausend Dollar.«

Ihr stockte der Atem – genauso gut hätte er eine Million sagen können. Oder zehn Millionen. Das war einfach viel zu viel Geld. So eine große Summe würde er niemals zurückzahlen können. Er war für alle Zeiten ruiniert.

»Ich entnehme Ihrem Gesichtsausdruck, dass Sie nichts davon wussten.«

Sie schüttelte den Kopf. »Meine letzte Info war, dass er seinen neuen Job liebt.«

»Wohl ein wenig zu sehr«, erwiderte Duncan trocken. »Ist es das erste Mal, dass er Geld veruntreut?«

Sie zögerte. »Er, ähm, hatte schon früher mal gewisse Probleme.«

»Mit dem Glücksspiel?«

»Sie wissen davon?«

»Er erwähnte es, als ich ihn heute sprach. Außerdem erzählte er mir, er besitze ein Haus, dessen Wert höher sei als der des veruntreuten Geldes.«

Ihre Augen weiteten sich. »Nein, das hat er nicht gesagt.«

»Ich fürchte doch, Ms. McCoy. Ist das hier das Haus, das er meinte?«

Jetzt wurde ihr endgültig übel. Tim hatte ihm das Haus angeboten? Ihr Haus? Das war alles, was sie besaß.

Als ihrer beider Mutter starb, hatte sie ihnen das Haus hinterlassen und eine Lebensversicherung, die sie unter sich aufteilen sollten. Annie hatte ihre Hälfte des Versicherungsgeldes dafür genutzt, Tim seinen Anteil am Haus abzukaufen. Er sollte mit dem Geld seine Studiengebühren abbezahlen und den Rest als Anzahlung für eine eigene Wohnung nutzen. Stattdessen war er damit nach Las Vegas gefahren. Das war jetzt fast fünf Jahre her.

»Das hier ist mein Haus«, sagte sie entschieden. »Im Grundbuch stehe nur ich.«

Duncans kalter Gesichtsausdruck hatte sich kein Stück verändert. »Besitzt Ihr Bruder andere Immobilien?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Danke für Ihre Zeit.« Er wandte sich zum Gehen.

»Moment.« Sie sprang zwischen ihn und die Tür. Tim mochte ein Vollidiot sein, aber er war immer noch ihr Bruder. »Was passiert jetzt?«

»Ihr Bruder kommt ins Gefängnis.«

»Er braucht Hilfe, keinen Knast. Hat Ihre Firma keinen Sozialplan? Können Sie ihn nicht in irgendein Entzugsprogramm stecken?«

»Das hätte ich tun können – bevor er sich bei meiner Firma bedient hat. Wenn er es mir nicht zurückzahlen kann, liefere ich ihn an die Polizei aus. Zweihundertfünfzigtausend Dollar sind ein Haufen Geld, Ms. McCoy.«

»Annie«, korrigierte sie gedankenverloren. Es war noch viel mehr als ihm bewusst war. »Kann Tim Ihnen die Summe nicht abstottern?«

»Nein.« Er sah sich erneut in ihrem Wohnzimmer um. »Aber wenn Sie bereit sind, eine Hypothek auf Ihr Haus aufzunehmen, würde ich es in Erwägung ziehen, von einer Anzeige abzusehen.«

Eine Hypothek auf ihr … »Mein Zuhause aufgeben? Das ist alles, was ich habe auf dieser Welt. Das kann ich nicht aufs Spiel setzen.«

»Noch nicht mal für Ihren Bruder?«

Jetzt packte er die miesen Tricks aus.

»Sie würden Ihr Haus nicht verlieren, wenn Sie der Bank regelmäßig ihr Geld zurückzahlen würden«, sagte er. »Oder haben Sie etwa auch ein Spielproblem?«

Die Verächtlichkeit, die aus seiner Stimme sprach, war wirklich ärgerlich, befand sie und funkelte ihn wütend an. Sie betrachtete seinen perfekt geschnittenen Anzug, die goldglänzende Uhr, die vermutlich mehr kostete, als sie in drei Monaten verdiente, und war sich sicher, dass sie nur einen Blick nach draußen werfen musste, um ein schickes neues Auto irgendeiner ausländischen Marke zu erblicken. Und zwar eins mit guten Reifen.

Es war alles zu viel. Sie war müde und hungrig, und das hier wirklich das letzte Problem, mit dem sie sich gerade auseinandersetzen konnte.

Sie nahm die Stromrechnung aus dem Kästchen und wedelte damit vor seiner Nase.

»Wissen Sie, was das hier ist?«

»Nein.«

»Das ist eine Rechnung. Besser gesagt eine Mahnung. Und wissen Sie, weshalb?«

»Ms. McCoy …«

»Beantworten Sie die Frage«, schrie sie. »Wissen Sie, weshalb?«

Er sah eher amüsiert als verängstigt aus, was sie nur noch mehr aufregte. »Nein. Weshalb?«

»Weil ich zurzeit meinen zwei Cousinen unter die Arme greife. Sie sind beide auf dem College und haben keine Vollstipendien, und ihre Mom, meine Tante, ist Friseurin und hat ihre eigenen Probleme. Haben Sie mal gesehen, wie viel junge Studentinnen so essen? Ich habe keine Ahnung, wie sie sich das alles einverleiben und gleichzeitig so schlank bleiben können, aber irgendwie gelingt ihnen das. Folgen Sie mir.«

Sie lief in die Küche. Zu ihrer Überraschung kam er ihr tatsächlich nach. Sie deutete auf die Wandtafel. »Sehen Sie das hier? Das ist unser Familienwochenplan. Kami ist Austauschstudentin. Obwohl, nicht wirklich, sie war hier schon auf der Highschool. Sie kommt aus Guam, und jetzt studiert sie hier. Sie ist mit meinen Cousinen befreundet und kann sich keine eigene Wohnung leisten, deshalb lebt sie auch hier bei mir. Zwar steuern alle so viel bei, wie sie können, aber das ist nicht gerade viel.«

Sie holte tief Luft. »Ich füttere drei Studentinnen durch, zahle die halben Studiengebühren sowie die meisten Bücher für sie und sorge dafür, dass sie ein Dach über dem Kopf haben. Außerdem habe ich ein altersschwaches Auto, ein Haus, in dem ständig Reparaturen anfallen, und dazu noch jede Menge Schulden von meinem eigenen Studium. Und das alles bewältige ich mit einem Erzieherinnengehalt. Daher nein – eine Hypothek auf mein Haus aufzunehmen, meinen einzigen Besitz, ist keine Option.«

Sie starrte den großen, muskulösen Mann in ihrer Küche an und betete, zu ihm durchgedrungen zu sein.

Sie war es nicht.

»Das ist alles sehr interessant«, sagte er. »Aber meine zweihundertfünfzigtausend Dollar bringt mir das nicht zurück. Falls Sie wissen, wo Ihr Bruder sich aufhält, sollten Sie ihm raten, sich zu stellen. Das wird angenehmer für ihn sein, als wenn er von der Polizei aufgegriffen wird.«

Es kam ihr plötzlich vor, als würde das Gewicht der ganzen Welt auf ihren Schultern lasten. »Nein, das können Sie nicht machen. Ich zahle die Summe ab. Hundert Dollar pro Monat. Zweihundert. Das schaffe ich, versprochen.« Vielleicht könnte sie sich einen zweiten Job besorgen. »Es sind keine vier Wochen mehr bis Weihnachten. Sie können Tim jetzt nicht ins Gefängnis stecken, er braucht Hilfe. Ihn einzusperren würde überhaupt nichts ändern. Außerdem brauchen Sie das Geld doch gar nicht.«

Seine kühlen, grauen Augen wurden regelrecht eisig. »Und das rechtfertigt, dass man mich bestiehlt?«

Sie zuckte zusammen. »Natürlich nicht. Es ist nur … bitte, ich kann für Sie arbeiten. Es ist doch meine Familie, um die es hier geht.«

»Dann nehmen Sie eine Hypothek auf Ihr Haus auf, Ms. McCoy.«

Aus seiner Stimme sprach Entschlossenheit – das Versprechen, dass es ihm ernst damit war, Tim ins Gefängnis zu stecken.

Wie sollte sie da eine Entscheidung treffen? Das Haus gegen Tims Freiheit. Das Problem war, dass sie ihrem Bruder nicht vertraute und nicht daran glaubte, dass er die Angelegenheit wieder in Ordnung bringen würde, wenn sie eine Hypothek aufnahm. Aber wie konnte sie zulassen, dass man ihn wegsperrte?

»Das geht nicht«, sagte sie.

»Eigentlich ist es ganz leicht.«

»Für Sie vielleicht«, blaffte sie. »Wer sind Sie eigentlich? Der mieseste Typ der Welt? Geben Sie mir doch ein bisschen Zeit.«

Er versteifte sich leicht. Hätte sie ihn nicht so intensiv angestarrt, hätte sie die plötzliche Spannung in seinen Schultern und die zusammengekniffenen Augen gar nicht bemerkt.

»Was haben Sie gerade gesagt?«, fragte er mit tiefer, kontrollierter Stimme.

»Ich sagte, geben Sie mir ein bisschen Zeit. Vielleicht findet sich ja noch eine andere Lösung, ein Kompromiss. Ich bin gut im Verhandeln.« Was sie eigentlich sagen wollte, war, dass sie gut im Verhandeln mit ungezogenen Kindern war. Sie bezweifelte jedoch, dass Duncan Patrick den Vergleich begrüßen würde.

»Sind Sie verheiratet, Ms. McCoy?«

»Wie bitte?« Sie blickte sich argwöhnisch um. »Nein. Aber meine Nachbarn kennen mich alle, und wenn ich losschreie, kommt sofort jemand angerannt.«

Wieder sah er amüsiert aus. »Ich bin nicht hier, um Ihnen zu drohen.«

»Na, hab ich ein Glück. Aber Sie sind hier, um meinem Bruder zu drohen. Das kommt praktisch aufs Gleiche raus.«

»Sie sind Erzieherin, sagen Sie? Wie lange schon?«

»Seit fünf Jahren.« Sie nannte ihm den Namen der Kindertagesstätte. »Wieso?«

»Sie mögen also Kinder?«

»Ähm, ja.«

»Konsumieren Sie Drogen? Haben Sie ein Alkoholproblem? Irgendwelche anderen Süchte?«

Eine unnatürlich große Liebe zu Schokolade, ja, doch das war so ein Frauending. »Nein, aber ich verstehe nicht …«

»Sitzt einer Ihrer Exfreunde im Gefängnis?«

Jetzt war sie an der Reihe damit, verärgert zu sein. »Hey, das ist mein Leben, von dem Sie da reden.«

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«

Sie rief sich in Erinnerung, dass Sie das auch nicht musste, dass ihn das alles gar nichts anging. Dennoch hörte sie sich sagen: »Nein, natürlich nicht.«

Er lehnte sich gegen die angeschlagene Küchentheke und musterte sie. »Was, wenn es tatsächlich eine dritte Option gäbe? Einen Weg, Ihren Bruder zu retten?«

»Und welcher wäre das?«

»Es sind noch vier Wochen bis Weihnachten. Ich möchte Sie für die Adventszeit anstellen. Bezahlen werde ich Sie, indem ich Tim die Hälfte seiner Schulden erlasse, ihn in eine Entzugsklinik schicke und für den Rest des Geldes einen Rückzahlungsplan aufstelle. Anfangen zu zahlen muss er erst, wenn er wieder draußen ist.«

Das klang zu schön, um wahr zu sein. »Was habe ich an mir, das über zweihunderttausend Dollar wert sein könnte?«

Zum ersten Mal seit er das Haus betreten hatte lächelte Duncan Patrick. Die unerwartete Bewegung in seiner Mimik veränderte sein Gesicht vollkommen und ließ ihn plötzlich jungenhaft und attraktiv zugleich wirken. Was Annie äußerst nervös machte.

Sie wich einen Schritt zurück. »Wir reden hier jetzt nicht von Sex, oder?«, fragte sie verzweifelt.

»Nein, Ms. McCoy. Ich will keinen Sex mit Ihnen.«

Sie spürte, wie ihr sogleich die Hitze ins Gesicht stieg und sie knallrot anlief. »Ich weiß, dass ich nicht wirklich der sexy Typ Frau bin.«

Duncan zog fragend eine Augenbraue hoch.

»Ich bin eher der Typ beste Freundin«, fuhr sie fort und spürte gleichzeitig, wie die Grube, die sie dabei war, sich zu graben, immer tiefer wurde. »Die Frau, mit der man redet, nicht die, mit der man schläft. Die Frau, die man mit nach Hause zu Mom nimmt, wenn man ihr beweisen will, dass man sich endlich ein nettes Mädchen geangelt hat.«

»Genau«, sagte er.

Wie bitte? »Sie wollen mich Ihrer Mutter vorstellen?«

»Nein. Aber allen anderen. Ich möchte, dass Sie meine Begleitung zu sämtlichen gesellschaftlichen Anlässen während der Adventszeit sind. Sie werden der Welt beweisen, dass ich kein mieser Typ bin.«

»Das verstehe ich nicht.« Er wollte sie als seine Partybegleitung anstellen? »Sie könnten doch mit jeder ausgehen, die Sie haben wollen.«

»Stimmt, aber die Frauen, mit denen ich ausgehen will, lösen mein Problem nicht. Sie schon.«

»Und wie?«

»Sie kümmern sich um kleine Kinder, um Ihre Familie. Sie sind eine nette Frau, und genau das brauche ich. Im Gegenzug geht Ihr Bruder nicht ins Gefängnis.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Annie, wenn Sie Ja sagen, bekommt Ihr Bruder die Hilfe, die er benötigt. Sagen Sie Nein, wandert er in den Knast.«

Als hätte sie das nicht schon von allein begriffen. »Fairplay ist nicht so Ihr Ding, oder?«

»Ich spiele, um zu gewinnen. Also, wofür entscheiden Sie sich?«

2. Kapitel

Während Duncan auf seine Antwort wartete, griff sich Annie einen Küchenstuhl, schleifte ihn zum Kühlschrank und kletterte darauf. Sie langte in den darüber hängenden Schrank, zog eine Schachtel ballaststoffreiche Frühstücksflocken hervor und aus dieser wiederum einen durchsichtigen Plastikbeutel voller orangefarbener und brauner M&Ms.

»Was machen Sie da?«, fragte er und überlegte, ob der ganze Stress sie zum Durchdrehen gebracht hatte.

»Das ist meine Notration. Ich wohne hier mit drei anderen Frauen zusammen. Wenn Sie glauben, dass offen herumliegende Schokolade hier mehr als fünfzehn Sekunden überlebt, liegen Sie falsch.« Sie nahm sich eine Handvoll, dann tat sie die Plastiktüte wieder in den Karton und schob ihn in den Schrank.

»Wieso haben die alle nur die zwei Farben?«

Sie sah ihn an, als wäre er der letzte Vollidiot, und kletterte vom Stuhl herunter. »Die sind noch von Halloween. Ich habe sie am ersten November gekauft, da kosten sie nur halb so viel. Das ist die ideale Zeit, um heruntergesetzte Süßigkeiten zu kaufen. Und schmecken tun sie genauso gut. Ich habe eine Schwäche für M&Ms.« Sie warf sich zwei in den Mund und seufzte erleichtert auf. »Jetzt geht’s mir besser.«

Okay, das ist jetzt tatsächlich etwas seltsam, dachte er. »Sie hatten doch vorhin ein Glas Wein in der Hand. Wollen Sie nicht lieber das trinken?«

»Statt Schokolade zu essen? Nein.«

Sie stand da, in einem unförmigen blauen Pullover, der dieselbe Farbe wie ihre Augen hatte, und einem gemusterten Rock, der ihr bis zu den Knien ging. Ihre Füße waren nackt und er stellte fest, dass sie sich kleine Gänsefüßchen auf die Zehen gemalt hatte. Abgesehen davon war Annie McCoy rein zweckmäßig gekleidet. Kein Make-up, keinerlei Schmuck, der diesen Namen verdient hätte. Nur eine schlichte, alles andere als wertvoll aussehende Uhr am linken Handgelenk. Ihr lockiges Haar hatte eine ansprechende Farbe – verschiedene Schattierungen von Gold – und fiel ihr bis über die Schultern. Sie war offensichtlich keine Frau, die viel Zeit auf ihr Aussehen verwendete.

Das war völlig in Ordnung für ihn – an ihrem Äußeren ließ sich leicht etwas ändern. Sehr viel wichtiger war ihr Charakter. Nach allem, was er in den letzten zehn Minuten von ihr mitbekommen hatte, war sie mitfühlend und fürsorglich und ließ sich stets von ihrem Herzen leiten. Mit anderen Worten: eine Loserin. Was in dem Fall eine gute Nachricht für ihn war. Denn eine sentimentale Wohltäterin war genau das, was er jetzt brauchte, damit seine Vorstandsmitglieder ihn eine Weile in Ruhe ließen und er währenddessen die volle Kontrolle über seine Firma wiedererlangen konnte.

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, erinnerte er sie.

Annie seufzte. »Ich weiß. Hauptsächlich weil ich immer noch nicht weiß, was Sie eigentlich von mir wollen.«

Er deutete auf die wackeligen Stühle, die um den Tisch herumstanden. »Setzen wir uns doch.«

Das hier war ihr Haus – eigentlich stand es nur ihr zu, ihn einzuladen, Platz zu nehmen. Doch Annie zog widerstandslos ihren Stuhl zum Tisch herüber und ließ sich darauffallen. Es wäre ein Gebot der Höflichkeit gewesen, ihm ein paar ihrer sorgsam gehüteten M&Ms anzubieten, aber sie hatte das Gefühl, dass sie sie später noch brauchen würde.

Er nahm ihr gegenüber Platz und stützte seine muskulösen Arme auf dem Tisch ab. »Ich führe ein Unternehmen«, begann er. »Patrick Industries.«

»Bitte sagen Sie mir, dass es sich um ein Familienunternehmen handelt«, sagte sie, ohne nachzudenken. »Sie haben es geerbt, oder? So ein Egomane sind Sie doch nicht, dass Sie es nach sich selbst benannt haben?«

Sein Mundwinkel zuckte. »Wie ich sehe, verleiht die Schokolade Ihnen Mut.«

»Ein bisschen.«

»Ich habe das Unternehmen geerbt, als ich noch studiert habe. In den letzten fünfzehn Jahren habe ich es aus der Bedeutungslosigkeit geholt und zu einem milliardenschweren Imperium gemacht.«

Schön für dich, dachte sie. In ihren Augen hatten sie rein gar nichts gemeinsam. Die Tatsache, dass sie beim landesweiten Uni-Zulassungstest zu den besten zwei Prozent gehört hatte, war kaum beeindruckend im Vergleich zu seinen Milliarden.

»Um in so kurzer Zeit so viel zu erreichen, musste ich skrupellos sein«, fuhr er fort. »Ich habe andere Firmen aufgekauft, sie mit meiner fusioniert und so verschlankt, dass sie profitabel wurden.«

Sie zählte die letzten M&Ms durch. Noch acht runde Häppchen Glückseligkeit. »Ist das die nette Art zu sagen, dass Sie Leute entlassen haben?«

Er nickte. »Die Geschäftswelt liebt Erfolgsgeschichten, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Mich findet man zu ruchlos, was mir schlechte Presse eingebracht hat. Und dagegen muss ich was unternehmen.«

»Weshalb interessiert es Sie, was andere Leute über Sie erzählen?«

»Mir ist das ganz egal, aber meinem Vorstand nicht. Deshalb soll ich jetzt den Leuten vormachen, ich hätte ein gutes Herz. Ich soll …«, er zögerte, »… netter wirken.«

Jetzt war es an ihr, amüsiert zu lächeln. »Wohl nicht so Ihre Stärke?«

»Nein.«

Er hat ungewöhnliche Augen, dachte sie gedankenverloren. Ihr Grau war leicht einschüchternd, aber nicht unattraktiv. Wenn sie doch nur nicht so kalt wären.

»Sie hingegen sind genau so, wie Sie nach außen hin erscheinen«, sagte er. »Eine hübsche, junge Erzieherin mit mehr Mitgefühl als Sinn und Verstand. Das mögen die Leute. Die Presse wird begeistert sein.«

Bis hierhin hatte sie ihm mühelos folgen können, doch der letzte Satz ließ sie stutzen. »Die Presse? Im Sinne von – die Medien?«

»Ja, aber nicht das Fernsehen oder irgendwelche Klatschreporter. Ich rede hier von Wirtschaftsjournalisten. Vor Weihnachten gibt es etwa ein Dutzend gesellschaftliche Anlässe, an denen ich teilnehmen muss. Ich möchte, dass Sie mich dorthin begleiten. Die Welt soll denken, dass wir zusammen sind und Sie vollkommen verrückt nach mir. Man wird Sie unglaublich nett finden und daher auch seine Meinung über mich ändern.«

Das klingt nicht so schwer, dachte sie. »Wäre es nicht viel einfacher, wenn Sie sich tatsächlich nett verhalten würden? Das Ganze erinnert mich an gewisse Mitschüler in der Highschool, die unglaublich viel Arbeit in ihre Spickzettel gesteckt haben. Hätten sie die gleiche Zeit ins Lernen investiert, hätten sie eine gute Note bekommen können, ganz ohne das Risiko, erwischt zu werden. Aber sie haben lieber geschummelt.«

Er zog seine dunklen Augenbrauen zusammen. »Meine Beweggründe stehen hier nicht zur Debatte.«

Sie nahm sich ein weiteres M&M. »Ich mein ja nur.«

»Wenn Sie zustimmen, kümmere ich mich gleich darum, dass Ihr Bruder in eine Entzugsklinik kommt – unter den genannten Bedingungen. Dann wird er die zweite Chance bekommen, von der Sie glauben, dass er sie verdient hat. Wenn Sie jedoch irgendjemandem verraten, dass unsere Beziehung nicht echt ist oder Sie etwas Negatives über mich erzählen, begibt sich Tim direkt ins Gefängnis.«

»Ohne über Los zu gehen und zweihundert Dollar einzuziehen.«

»Genau.«

Ein Pakt mit dem Teufel, dachte sie und fragte sich, wie ein nettes Mädchen wie sie in solch eine Situation hatte geraten können. Aber klar – anscheinend ging es ja genau darum, dass sie nett war. Sie seufzte.

Das Gefühl, in der Falle zu sitzen, kam ihr in diesem Moment äußerst real vor. Ebenso wie die Erkenntnis, dass man zwar von ihr erwartete, sich um ihre Cousinen, Tim und anscheinend sogar um Duncan Patrick zu kümmern, aber nie mal jemand auf die Idee kam, sich um sie zu sorgen.

»Na schön, aber meine Familie lüge ich nicht an«, sagte sie. »Meine Cousinen und Kami müssen eingeweiht sein.«

Duncan schien kurz darüber nachzudenken. »Gut, aber nur sie. Und wenn die es irgendjemandem verraten …«

Sie nickte. »Ich weiß, dann rollen Köpfe. Haben Sie mal ein Seminar zu Teamwork oder positiver Kommunikation besucht? Wenn Sie nur ein wenig an Ihrer sozialen Kompetenz arbeiten würden, könnten Sie …«

Seine grauen Augen erstarrten erneut zu Eis. Sie presste eilig die Lippen zusammen und hörte auf zu reden.

»Also, sind Sie einverstanden?«, fragte er.

Hatte sie denn eine Wahl? Tim brauchte Hilfe. Sie hatte schon so oft versucht, ihn zu überreden, sich welche zu suchen, doch er hatte sie jedes Mal zum Teufel gejagt. Vielleicht wäre es anders, wenn er dazu gezwungen würde, einige Zeit an einem sicheren Ort zu verbringen. Da die einzige Alternative darin bestand, dass er eines Verbrechens angeklagt würde, erschien es ihr unmöglich, das Angebot abzulehnen.

»In Ordnung«, begann sie, »ich werde von jetzt bis Weihnachten ihre verliebte Freundin spielen. Ich werde jedem, der es hören will, erzählen, wie nett und lieb Sie sind und dass Sie ein Herz aus Zuckerwatte haben.« Sie sah ihn stirnrunzelnd an. »Allerdings weiß ich rein gar nichts über Sie. Wie soll ich da so tun, als hätten wir eine Beziehung?«

»Ich werde Sie mit Informationsmaterial versorgen.«

»Na, das wird sicher eine spaßige Lektüre.«

Er ignorierte den Kommentar. »Im Gegenzug erhält Tim die Hilfe, die er benötigt, fünfzig Prozent seiner Schulden werden ihm erlassen, und für den Rest erstellen wir einen realistischen Ratenzahlungsplan. Besitzen Sie angemessene Kleidung?«

Sie knabberte an ihrem letzten M&M. »Definieren Sie angemessen.«

Er musterte sie mit einer Eindringlichkeit, die ihr den Atem stocken ließ. Ehe sie darauf reagieren konnte, wandte er den Blick von ihr ab und ließ ihn über ihre schrammelige Küche schweifen, bis er schließlich am durchgetretenen Vinylboden hängenblieb.

»Es wird sich jemand mit Ihnen in Verbindung setzen, um einen Termin mit einem Stylisten zu arrangieren«, sagte er. »Wenn der Monat vorbei ist, können Sie die Kleidung behalten.« Er erhob sich.

Sie stand ebenfalls auf und lief hinter ihm her. »Was für Kleidung?«

»Cocktailkleider und Abendroben.« An der Haustür blieb er stehen und sah sie an.

»Ich habe noch mein Kleid vom Schulabschlussball.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie sich bei den Veranstaltungen, die wir besuchen, darin nicht wohlfühlen würden.«

»Passiert das hier gerade eigentlich wirklich?«, fragte sie. »Findet dieses Gespräch tatsächlich statt?«

»Ja und ja. Die erste Party ist Samstagabend. Meine Assistentin wird Sie anrufen und Ihnen alle Infos durchgeben. Bitte stehen Sie pünktlich bereit.«

Er ließ ihr kleines Wohnzimmer zwergenhaft erscheinen, sah viel zu männlich aus für das Sofa mit dem Blumenmuster und die Spitzenvorhänge. Annie hätte sich nie träumen lassen, dass ein Mann wie er einmal Teil ihres Lebens werden würde, noch nicht mal, wenn es nur vorübergehend war.

»Es tut mir leid, dass mein Bruder Sie bestohlen hat«, sagte sie.

»Sie sind nicht für seine Taten verantwortlich.«

»Natürlich bin ich das. Er ist Teil meiner Familie.«

Eine Sekunde lang sah Duncan so aus, als wollte er etwas erwidern, doch dann ging er einfach. Annie schloss die Tür hinter ihm und fragte sich, wie sie ihren Cousinen und Kami beibringen sollte, was sie sich da mal wieder eingebrockt hatte.

Am Samstagmorgen starrten Jenny und Julie sie mit genau dem gleichen schockierten Gesichtsausdruck an – ihre grünen Augen waren weit aufgerissen, ihre Münder standen halb offen. Kami sah nicht weniger überrascht aus.

»Wie bitte?«, fragte Julie. »Du hast was?«

Annie hatte es so lange vor sich hergeschoben, es ihnen zu erzählen, wie sie nur konnte. Den Ordner, der ihr am Donnerstag gebracht worden war, hatte sie unter ihrem Bett versteckt und dann einfach so getan, als existierte er nicht. Ihr erstes »Date« mit Duncan war jedoch heute Abend, daher würde sie langsam mal einen Blick hineinwerfen müssen.

»Ich habe mich bereit erklärt, einen Monat lang mit Tims Boss auszugehen. Aber wir sind nicht wirklich zusammen«, fügte sie hastig hinzu, »wir tun nur bis Weihnachten so. Ich soll ihm helfen, sein Image aufzupolieren.«

Auch wenn ihr immer noch nicht ganz klar war, wie das genau vor sich gehen sollte. Erwartete Duncan von ihr, dass sie Interviews gab? Darin wäre sie sicher nicht besonders gut. In einem Raum voller Fünfjähriger konnte sie sich problemlos durchsetzen, aber ein Publikum aus Erwachsenen würde sie ganz schön nervös machen.

»Ich versteh das nicht«, sagte Kami und blinzelte verwirrt. »Wieso das Ganze?«

Jenny und Julie tauschten einen Blick aus. »Das ist alles wegen Tim, oder?«, fragte Jenny. »Er steckt mal wieder in Schwierigkeiten.«

»Ein wenig«, gab Annie zu. »Er, äh, hat ein bisschen Geld veruntreut. Aber Duncan steckt ihn in eine Entzugsklinik, das wird helfen.«

»Ihm vielleicht, dir jedoch nicht.« Julie strich sich ihr hellbraunes Haar hinter das Ohr. »Lass mich raten – Tim hat dich über die Klinge springen lassen. Was hat er seinem Chef über dich erzählt?«

»Er hat ihm nicht direkt von mir erzählt. Es war …« Sie räusperte sich. Zwar wollte sie ihren Cousinen nicht genau erläutern, was passiert war, doch sie war fest davon überzeugt, dass man stets ehrlich sein sollte. Nun ja, außer vielleicht wenn es um ihre geheime M&Ms-Ration ging.

Sie erzählte ihnen kurz von den zweihundertfünfzigtausend Dollar und davon, dass Duncan Tim die Hälfte der Schulden erlassen und ihm zugestehen würde, den Rest in Raten abzubezahlen, sobald er aus der Entzugsklinik kam und wieder arbeiten konnte.

Julie sprang auf. »Ich fasse es nicht, Annie, du bist echt unmöglich.«

»Ich? Was habe ich denn gemacht?«

»Du hast nachgegeben und zugelassen, dass Tim dir das schon wieder antut. Ständig hilfst du ihm aus der Patsche. Als er sieben war und im kleinen Laden um die Ecke geklaut hat, hast du den Kopf für ihn hingehalten und die Schokoriegel für ihn bezahlt. Als er auf der Highschool blaugemacht hat, hast du den Direktor überredet, ihn nicht von der Schule zu schmeißen. Er muss sich endlich mal den Konsequenzen seiner Taten stellen.«

»Aber dafür muss er doch nicht ins Gefängnis. Wie soll ihn das denn weiterbringen?«

»Wenn es so richtig wehtut, zieht er vielleicht auch mal eine Lehre daraus.«

Jenny nickte, während Kami nur betreten dreinblickte.

»Er braucht Hilfe«, sagte Annie starrsinnig. »Außerdem ist er mein Bruder.«

Autor

Susan Mallery

Die SPIEGEL-Bestsellerautorin Susan Mallery unterhält ein Millionenpublikum mit ihren Frauenromanen voll großer Gefühle und tiefgründigem Humor. Mallery lebt mit ihrem Ehemann und ihrem kleinen, aber unerschrockenen Zwergpudel in Seattle.

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